Sôsa 捜査
Ich muss den Überblick behalten. Irgendwie zumindest. Die Dinge aufzählen, die feststehen, damit ich ungefähr weiß, wie meine Lage aussieht.
Erstens, ich bin menschenseelenallein. Nur ich und eine sprechende Schlange. Zweitens, ich habe nicht die geringste Ahnung, was dieses Loch in der Decke war, woher es kam und was das sollte. Und drittens, Kabutos sogenannten Medikamente sind weg, und zwar absolut alle!
Das stellt mich wirklich vor ein Problem: ich bin abhängig von dem Zeug. Wenn ich nicht mindestens dreimal täglich diesen Tablettencocktail schlucke, den Kabuto mir hinstellt, erwartet mich der Entzug mit totaler Leere, psychischer Unberechenbarkeit und Anfällen panischer Angst.
Ich gehe zu der blau schimmernden Schuppe hinüber, hebe sie vorsichtig auf und nehme sie und die Perle mit zurück in mein Zimmer. Soll die Schlange sich mal nützlich machen und drauf aufpassen.
Auf dem Weg zu meinem Zimmer spüre ich kurz ein merkwürdiges Kribbeln, das jedoch gleich wieder verschwindet.
Die Schlange blinzelt mich an, mit diesem klaren goldenen Blick, als ich ihr beides hinlege, um sie dann wieder allein zu lassen. Wenn ich schon mal alleine hier bin, kann ich doch ein bisschen herumlaufen, während ich auf den unweigerlichen Entzug warte, der nach Kabutos Worten etwa zwei Stunden nach Abbau der letzten Einnahme beginnt. Mist, hier gibt es nicht mal mehr eine Uhr!
Jeder meiner Schritte hallt an den Wänden wider, die Kerzen flackern, sobald ich an ihnen vorbei gehe und werfen meinen Schatten wie ein langes, verzerrtes Tuschebild auf den Boden aus trockenem Lehm.
Ich lasse mich ziellos von meinen eigenen Schritten leiten, die auf das Gefängnis zusteuern, in der vagen, irrationalen Hoffnung, dort noch irgendetwas Lebendes zu finden.
Aber dort ist natürlich niemand mehr. Zumindest wohl niemand, der noch lebt. Ich hätte es wissen müssen, schließlich spüre ich keine Präsenzen mehr an diesem Ort. Aber sicher ist sicher. Ich steige langsam die Stufen zwischen den Zellen hinauf und halte unbewusst den Atem an. Das Gefängnis riecht deutlich nach Tod, nach verlorenen Überlebenskämpfen und gebrochenem Lebenswillen.
Wie oft hat Orochimaru mich hierher zu den Gefangenen geschickt, einfach weil er keine Lust hatte, mich selbst zu trainieren!
„Bring ein paar von denen um, Sasuke. Die meisten sind bis an den Rand des Lebens ausgeschöpft, taugen also gerade noch dazu, dass du dein Schwert an ihnen übst.“ Das waren seine Worte. Und ich bin ihnen gefolgt. Wie viele der Gefangenen, die zuvor unzählige Male Opfer von Kabutos Experimenten geworden waren, ich in den letzten Jahren getötet habe, weiß ich nicht. Ich habe nicht mitgezählt. Aber es sind wohl Hunderte, gewesen, unheimlich viele. Alles durch meine Hand. Ich kann eigentlich stolz auf mich sein, obwohl mein Schlag für die meisten von ihnen nur das gnädige Ende gewesen sein muss.
Kabuto versteht es wie kein Zweiter, ein lebendes Wesen vollkommen auszunutzen, sodass nur noch ein kaum verwertbarer Rest davon übrig bleibt. Eine Art Zombie, der nichts mehr von dem Menschen enthält, der er war, bevor er bei uns gelandet ist. Die glühenden gelben Augen dieser fast nicht mehr menschlichen Kreaturen sind ein deutliches Zeichen dafür.
Ich bleibe stehen und riskiere einen vorsichtigen Blick in die nächstbeste Zelle neben mir. Dort liegen alte, zerrissene Kleider auf dem Boden, neben einer dünn mit Stroh bestreuten Fläche und einer kleinen, zerkratzten Metallschale. In die steinerne Wand sind Zeichen eingeritzt, die ich nur bei genauem Hinsehen erkennen könnte. Aber ich schaue nicht genau hin. Ich sehe nur, dass in der hintersten Ecke der Zelle einige leblose Felle liegen, nein, es sind ganze, abgemagerte, tote Körper von kleinen Tieren. Das eine sieht aus wie ein Eichhörnchen, ein anderes wie ein Hase oder ein Kaninchen. Hat es jemand tatsächlich gewagt, sich hier Tiere mit reinzuholen und sie mit der eigenen, mageren Essensration durchzufüttern? Aber warum? Um sich noch ein klein wenig Gefühl, ein winziges bisschen Normalität zu bewahren?
Normalerweise würde ich dazu irgendeine sarkastische Bemerkung machen, wie dumm es doch sei, seine wertvolle Nahrung mit einem kleinen Tier zu teilen. Aber mir ist gerade überhaupt nicht nach Sarkasmus und abfälligen Worten zumute.
Wo sind sie alle hin? Wie lange ist diese Zelle schon leer? Habe ich denjenigen, der versucht hat, sich dem vollständigen Zerfall seiner Gefühle durch die Haltung kleiner Waldtiere zu entziehen, längst erschlagen oder hat er heute mit allen anderen zusammen entkommen können?
Aber warum habe ich davon eigentlich nichts mitbekommen? Ich war doch nur draußen, ganz in der Nähe!
Meine Hände fangen schon anfallsweise an zu zittern, ich versuche, ein inneres Zeitgefühl zu bekommen und die ersten Vorahnungen, dass der Entzug begonnen hat, kommen in meinem Bewusstsein hoch.
Ich sollte aus dieser Höhle verschwinden. Die Kreaturen, die bis heute Morgen in diesen Zellen vor sich hin vegetierten, sind irgendwohin verschwunden, genau wie Orochimaru und Kabuto.
Aber wohin soll ich dann gehen? Gibt es hier einen Raum, den ich schon immer mal betreten wollte, es aber nicht durfte?
Ja, den gibt es. Orochimaru hat noch einen weiteren Privatraum, eine Art Archiv, dem ich mich merkwürdigerweise nicht einmal nähern durfte. Vielleicht ist dort noch irgendwas, das ich gebrauchen kann.
Gerade, als ich das Gefängnis verlassen will, höre ich doch noch etwas. Eine Stimme, die kaum mehr nach etwas Lebendem klingt, geschweige denn menschlich. Ohne recht zu wissen, warum, nähere ich mich der Zelle, aus der die leblose Stimme kommt.
Zwei starre, gelbe Augen sehen mich an. Der Körper, zu dem sie gehören, ist dunkelgrau, übersät von deutlichen Narben unterschiedlichsten Ursprungs und bedeckt von etwas, das wie eine zweite, ebenso graue, zerfetzte Haut an ihm klebt. Ob es Kleidung oder wirklich Haut ist, kann ich unmöglich sagen. Er riecht nach Tod, so wie alles hier. Seine Lebensenergie ist schon kaum mehr spürbar, ich war ja auch wirklich überzeugt davon, allein hier zu sein. Langsam streckt er eine Hand aus der Zelle, greift vergeblich nach meinem Fußknöchel, bevor die ausgezehrte, graue Hand mit den übel zerrissenen Nägeln erschöpft gen Boden sinkt und liegen bleibt.
„Du bist der Letzte“, stelle ich mit gefühlloser Stimme fest.
„…letzte …?“, das Wort ist kaum mehr als ein tonloses Röcheln.
„Sonst ist hier niemand mehr. Orochimaru und Kabuto sind weg.“
„Du… ein…sam … än…dern …“ Sein Gehirn und seine Lunge scheinen derart in Mitleidenschaft gezogen zu sein, dass er wohl kaum mehr als diese halben Sätze bilden kann. Dieser Mann, oder was auch immer das einmal war, hat keine Chance mehr. Nicht mal die berühmte Tsunade könnte ihm noch helfen.
Ich greife nach Kusanagi.
„…f… flieh … du… lebst… n…noch …“
„Ich sehe vielleicht nicht so aus, aber innen bin ich längst tot“, antworte ich.
„… n…noch … Plä…ne … Z…zu…kunft …“, flüstert er.
„Meine Pläne gehen dich nichts an. Du bist am Ende. Ich kann dir nur helfen, dass es schneller geht.“
Ich ziehe Kusanagi, es springt von ganz allein und schlägt mit demselben Blitz zu wie immer.
Aber dieses Mal kann ich nicht hinsehen. Weil der, dessen Kopf ich mit einem dumpfen Geräusch auf die Steine fallen höre, und dessen dunkles Blut auf dem kalten Boden einen nach Eisen und Rost riechenden See bildet, zuvor mit mir gesprochen hat. Und mir mit seinen letzten Worten noch etwas mitgeben wollte. Ein ergrautes Wesen, das einmal ein Mensch war, diese Hölle tatsächlich um eine Stunde überlebt hat und in seinen letzten Worten noch versuchte, demjenigen einen Rat zu geben, der vor seinen Augen unzählige andere Opfer kaltblütig mit einem absolut unbesiegbaren Schwert erschlagen hat. Warum er noch so etwas zu mir gesagt hat, weiß ich nicht.
Jetzt bin ich wirklich allein.
Mit einem Ruck schüttelt Kusanagi das beinahe schwarze Blut von seiner kalten Klinge, ich stecke es wieder ein, drehe mich um und gehe, um nach dem Raum zu suchen, in dem ich noch nicht war. Dieses Versteck ist eines, das im Abstand von halben Jahren immer wieder benutzt wird und wenn man unseren Aufenthaltsort gründlich genug in der Unterwelt sucht, bekommt man diesen Ort genannt. Es ist sozusagen unser Hauptversteck. Hier hat uns sogar einmal Jiraiya gefunden. Und ein merkwürdiger Typ von Akatsuki, der mit Orochimaru über irgendwas verhandeln wollte. Ich weiß seinen Namen nicht, kann mich aber noch erinnern, dass seine Schritte und jede seiner Bewegungen merkwürdig hölzern klangen.
Wieder gehe ich allein durch die Gänge, in denen es nichts als Kerzen, das Geräusch meiner Schritte, das tiefe Dunkel und meinen Schatten gibt. Die totale Leere, während ich nach diesem Raum suche und hoffe, dass derjenige, der alle anderen Räume hier offenbar ausgeräumt hat, nicht dort war. Wer das war, interessiert mich erst mal nicht weiter, ich kann es im Augenblick sowieso nicht herausfinden. Er hat keine einzige verwertbare Spur hinterlassen. Nur eine Perle und eine Schuppe, die ich überhaupt nicht zuordnen kann.
Die Leere breitet sich in mir aus, überall da, wo sonst die namenlosen Medikamente aus Kabutos Chemielabor dafür sorgen, dass ich jedes gute Gefühl vergesse und mich nur auf meinen Hass konzentriere. Je weiter mein Körper diese Stoffe abbaut, umso unruhiger werde ich.
In absehbarer Zeit werde ich keinen Zugang zu irgendwelchen Tabletten bekommen. Ich muss irgendwie durchhalten, über den Entzug rüber, falls dort irgendwas ist. Wie eine gefährliche Brücke, ab der Mitte in dichten Nebel gehüllt, und ich habe keine Wahl, als hinüberzugehen und das anzunehmen, was mich auf der gänzlich unbekannten anderen Seite erwartet.
Als ich die gut verschlossene Tür des besagten Raumes erreiche, schwanken meine Schritte schon ein wenig und ich spüre die sich ausbreitende Leere immer deutlicher. Spüre, wie sie mich immer weiter umfängt, um mir etwas weg zu nehmen, das ich um jeden Preis brauche.
Drinnen finde ich auf einem massiven Schreibtisch und deckenhohen Wandregalen eine derartige Menge von Schriftrollen, Papieren und Büchern vor, dass es mich auf den ersten Blick beinahe erschlägt. Hier sind sie also aufbewahrt, die wertvollen Informationen, von denen Orochimaru immer spricht. Die Ergebnisse seiner zahllosen Experimente und der unnachgiebigen Suche nach allem, was auch nur im Entferntesten nach Macht aussieht.
Wieso stiehlt jemand Kabutos ganzes verräterisches Zeug, lässt aber diesen doch recht unsicher verschlossenen Raum mit sämtlichen Beweisen für Orochimarus Verbrechen vollkommen unangetastet?
Ja, natürlich ist mir klar, dass die Vorgänge hier schwere Verbrechen sind! Aber ich hänge unrettbar tief mit drin und will es auch nicht anders. Weil es mich im Grunde nicht im Geringsten interessiert, ob man das Verbrechen nennt.
In meinem Leben ist nichts mehr gut oder auch nur halbwegs in Ordnung, also kann es mir egal sein, wenn noch ein Loch mehr in meiner Seele ist. Sie besteht sowieso nur noch aus Löchern. Und deshalb wird mich auch absolut nichts und niemand retten können. Keine Sakura, kein Kakashi und auch kein Naruto. Niemand. Ich lebe nur noch, um mich an Itachi zu rächen.
Aber so lange ich jetzt nicht weiß, wo Orochimaru und Kabuto sind, und wann die beiden zurückkehren, werde ich die Gelegenheit nutzen, um mir diese gewaltige Informationssammlung genauer anzusehen.
Werden sie überhaupt zurückkehren? Oder wurden sie von dem, der hier war, besiegt und mitgenommen?
Das kann eigentlich nicht sein. Orochimaru ist einer der stärksten Ninja überhaupt und er hat Kabuto bei sich. Die beiden zusammen sind nicht zu besiegen und schon gar nicht so schnell und einfach.
Aber trotzdem: ich habe das bestimmte Gefühl, dass ich weder den einen, noch den anderen in absehbarer Zukunft wiedersehen werde.
Meine Hände zittern inzwischen immer stärker und als ich um den großen, hölzernen Schreibtisch herumgehe, um wahllos eine der Schubladen zu öffnen, stößt mein Ellbogen an einen Stapel Schriftrollen, die raschelnd neben mir zu Boden gehen und eine Staubwolke aufwirbeln. Als sie sich wieder gelegt hat, fällt mir ein blassrotes Papiersiegel auf, das an der untersten Schublade klebt: Ich knie mich auf den Boden, ziehe Kusanagi samt Hülle aus dem Gürtel und lehne es an die Wand.
Auf dem verblassten Siegelpapier steht „Sicher vor Sasuke Uchiha“.
Ach, nee! Der Alte hat also tatsächlich solche Geheimnisse vor mir, dass er etwas in einer namentlich versiegelten Schublade verstecken muss? Für wie dumm, neugierig und kindisch hält der mich bitte?!
Wann auch immer er dieses Siegel angebracht hat, jetzt ist es alt und ich kann es ganz einfach abreißen. Da bin ich ja mal gespannt, was Orochimaru so vor mir zu verbergen hat!
Mit förmlich fliegenden Händen öffne ich die Schublade, als es mich ohne Vorwarnung überfällt: ein gedankenübertönendes, laut quietschendes Geschrei. Intuitiv weiß ich, dass es nicht irgendwo hier im Versteck, sondern einzig und allein in meinem Kopf ist, aber trotzdem hört es sich an, als wäre hier in der Nähe ein Tier, das groß und bescheuert genug ist, derartig herumzuschreien.
Was zur Hölle ist das?!
Das Kreischen verstummt so plötzlich, wie es gekommen ist. So, als wäre es nie da gewesen. Nein, da ist etwas geblieben: ein merkwürdiges Stechen in meiner rechten Handfläche.
Doch auch das verschwindet, als ich die Hand ausstrecke und in die Schublade greife, um den Inhalt herauszuholen und zu erfahren, warum Orochimaru die Papierumschläge, die ich aus dem Dunkel ans Licht der allgegenwärtigen Kerzen befördere, so unbedingt vor mir verstecken wollte.
Briefe?!
Tatsächlich. Fünf vergilbte, verstaubte Umschläge mit den typischen Bindfadenverschlüssen, jedoch ohne Sendestempel.
Mein Herz, oder das, was davon noch lebendig ist, setzt einen Schlag aus, als mein Blick auf die Schrift fällt, in der mein Name, Sasuke Uchiha, oben rechts auf die glatten Seite des ersten Umschlages geschrieben wurde.
Diese kleine, zusammenhängende Romaji-Schrift! Obwohl ich sie seit Jahren nicht gesehen habe, weiß ich sofort: es gibt nur einen, der so schreibt:
Itachi!