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Blutgift

von

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Disclaimer: Batman & Co gehören DC Comics, Autor Bill Finger und dem Zeichner Bob Kane
 

1. Kapitel
 

Eigentlich betritt Alfred die Bathöhle nur, weil er auf der Suche nach seiner Lesebrille ist und dies der letzte Ort, wo er noch nicht nachgesehen hat. Wahrscheinlich hat er sie irgendwo in der kleinen Laborecke liegengelassen. Immerhin – Batmans letzter Fall war, wie er sich einzugestehen gestattet , sehr aufregend gewesen. Schließlich hat man es nicht jede Nacht mit Graf Dracula persönlich zu tun, da konnte man in der Hitze des Gefechts schon mal so etwas Profanes wie eine Lesebrille verlegen.

Alfred ignoriert den leichten Schmerz in seiner Schulter, ein Andenken an die beeindruckende Stärke des transsilvanischen Blutsaugers, und eilt zu besagter Laborecke hinüber. Tatsächlich liegt der vermisste Gegenstand direkt neben dem Mikroskop.

Zufrieden, sich jetzt wieder seiner Bettlektüre widmen zu können, geht er schon Richtung Fahrstuhl, als ihn ein leises Geräusch innehalten lässt. Er erstarrt und dreht lauschend den Kopf zur Seite.

Zuerst hört er nur die übliche Geräuschkulisse, bestehend aus dem entfernten Rauschen des Wasserfalls, dem Summen der Computeranlage und das leise Quieken der Fledermäuse, doch dann wiederholt es sich: ein merkwürdiges Rascheln, das Alfred nicht einordnen kann.

Und da er nicht einmal eine Richtung herausfiltern kann, aus der dieses Geräusch kommt, geht er hinüber zu den Computern - vielleicht können ihm die Bilder der überall in der Bathöhle angebrachten Überwachungskameras weiterhelfen.

Ein Blick genügt und er erkennt das Problem. irritiert runzelt er die Stirn und starrt auf das Bild einer Zelle, die eigentlich gar nicht mehr belegt sein sollte.

Nun, scheint, als werde nicht nur ich vergesslich.

Alfred seufzt einmal leise auf und geht wieder zurück zum Lift. Der Zellentrakt befindet sich zwar nur zwei Level über ihm, aber er ist müde und spürt seine Schulter stärker als je zuvor.

Oben angekommen, betätigt er als erstes den Lichtschalter - schließlich ist er keine Fledermaus. Warmes, gelbes Licht aus unzähligen LED-Lämpchen (Bruce hat wirklich ein Talent dafür, Dinge wie diese Weihnachtslichterkette intelligent zweck zu entfremden) erhellt das Areal und gibt den Blick frei auf natürliche Nischen in der Felswand und Gitterkäfige. Sie sind groß und stabil, dafür gemacht, einen Feind zumindest so lange hier einzusperren, bis dieser den örtlichen Behörden übergeben werden kann. Sie werden selten benutzt, schließlich ist die Bathöhle ein geheimer Ort, in den man nicht jeden x-beliebigen mitbringt.

Aber manchmal bleibt Batman eben keine andere Wahl. So wie bei seinem letzten Fall.

Alfred denkt nur mit einem gewissen Unwohlsein daran zurück.

Den Joker hier einzusperren war ein kalkulierbares Risiko, darin stimmt er mit Batman überein - schließlich benötigten sie jemanden, der von Dracula gebissen worden war, um ein Heilmittel dagegen zu entwickeln.

Doch er - genauso wie Bruce - hatte den emotionalen Stress unterschätzt, den der Umgang mit einem Vampir-Joker bedeuten konnte.

Hinter Gittern konnte er ihnen zwar körperlich nicht gefährlich werden, aber sein Anblick und sein Benehmen dagegen waren mehr als verstörend.

Es war offensichtlich, dass er seine neuen Kräfte einerseits sehr genoss, andererseits sich aber dessen bewusst war, dass er von Graf Dracula kontrolliert wurde und dagegen ankämpfte.

Anders als die anderen Vampiropfer, ließ er sich nicht nur von seinen Instinkten leiten - alleine das fand Alfred schon bemerkenswert. Denn wer hätte das gedacht: ausgerechnet der Joker, dieser Mann, für den der Begriff „Wahnsinn" völlig neu definiert werden müsste, blieb menschlicher als alle anderen.

Wenn man all die üblichen Drohungen und Beleidigungen mal außer Acht ließ, hatten die kurzen, wenigen Wortwechsel mit ihm beinahe den Charakter einer ganz normalen Konversation. Jedenfalls so lange, bis sein Hunger nach Blut übermächtig wurde.

Zeitweise, wenn der Hunger so groß wurde, dass seine Selbstbeherrschung zerbröckelte, wurde er zu einem schreienden, winselnden Etwas, das sich verzweifelt bemühte, sich auf vielfache Art und Weise durch die Gitterstäbe zu quetschen. Ein völlig unmögliches Unterfangen, aber wie jedes gefangene Tier versuchte er es trotzdem, ungeachtet der Schmerzen, die er sich dabei selber zufügte.

Es war ein erbärmlicher und erschreckender Anblick.

Nun, zum Glück ist das jetzt alles vorbei. Das Mittel hat gewirkt und der Joker ist wieder ein Mensch … soweit man das von ihm behaupten kann.
 

Aber warum ist er immer noch hier? Ich dachte, Bruce hätte ihn zurück nach Arkham gebracht. Und wieso ... Alfred runzelt wieder die Stirn und starrt konsterniert auf die offenstehende Zellentür.
 

Okay, das ist mehr als seltsam. Noch wesentlich seltsamer ist allerdings, dass der Joker diese Gelegenheit zur Flucht offensichtlich nicht genutzt hat.

Wenn das ein Trick ist, dann kein sehr konstruktiver.
 

Trotzdem ist Alfred auf der Hut, als er langsam auf die Zelle zugeht. Seine allererste Handlung besteht darin, die Tür zu schließen und zu verriegeln, wobei er keine Sekunde den Blick von dem Gefangenen abwendet.

Doch seine Vorsicht ist überflüssig. Der Joker zeigt keine Reaktion auf Alfreds Anwesenheit. Er liegt auf dem harten Felsboden, auf der Seite zusammengerollt und der Tür den Rücken zugewandt. Alfred kann sein Gesicht nicht sehen, aber es sieht aus, als würde der Mann schlafen.
 

SEHR tief schlafen.
 

Alfred starrt ihn durch die Gitter hinweg konzentriert an, achtet auf ein Lebenszeichen, und gerade, als er sich entschieden hat, das Wagnis einzugehen und die Zelle zu betreten, um nach dem Puls zu fühlen, zieht der Joker seine Beine noch etwas enger an seinen Körper. Stoff raschelt und Alfred begreift, dass dies das Geräusch ist, welches ihn hierhergeführt hat.

Zu seiner eigenen Überraschung ist Alfred wirklich, wirklich erleichtert, dass es dem Joker gut zu gehen scheint. Nicht, dass er ihm viel Sympathie entgegenbringt, aber er ist eine Konstante, und Alfred ist in einem Alter, wo man so etwas zu schätzen beginnt.
 

Und auch wenn Bruce es niemals zugeben würde - er braucht den Joker, und das ist Alfred nicht verborgen geblieben. Die Tage, in denen Bruce dachte, der Joker sei tot, waren schlimm, und so lange es in Alfreds Macht liegt, wird er verhindern, dass sein junger Arbeitgeber je wieder so leiden muss.
 

Und deshalb, beschließt der Brite, wird er dem Clown Prince of Crime eine Decke und etwas zu essen bringen, bevor er sich dann endlich selbst zur Nachtruhe begeben kann.

Das ist sogar möglich ohne die Tür wieder öffnen zu müssen.
 

***
 

2. Kapitel

Der Geruch nach Spiegeleiern mit Speck durchzieht die gesamte untere Etage des alten Gemäuers, aber als Bruce Wayne die Küche betritt, steht nichts auf der Anrichte, und auch die Pfannen sind alle leer. Benutzt, aber leer.

Wo ist mein Frühstück? Wo ist Alfred?

Mürrisch geht der Millionär zur Cappuccino Maschine und macht sich eine Tasse seines üblichen sieben-Uhr-morgens-Muntermachers.

Er ist ein Morgenmuffel, immer schon gewesen, und sein Leben als Batman hat die Sache nur noch verschlimmert. Auch, wenn er letzte Nacht gar nicht in Cape und Maske geschlüpft ist, sondern einen schönen Abend - und eine noch viel schönere Nacht - mit der bezaubernden Vicky Vale verbracht hat. Normalerweise fühlt er sich nach so etwas frischer und ausgeruhter als sonst - also eher die Light-Version eines Morgenmuffels - aber diesmal ... nun, um ehrlich zu sein, war das die unbefriedigendste Nacht seit langem. Klar, der Sex war nett und erfüllte alle seine Ansprüche, aber irgend etwas fehlte.

Er hat einfach zu viel Stress und kann sich daher nicht richtig fallenlassen.

Aber er will nicht aufgeben. Schon morgen Abend trifft er sich erneut mit Vicky und diesmal wird es besser, bestimmt.

„Guten Morgen, Sir.” Gutgelaunt betritt Alfred die Küche.

Bruce murmelt abwesend einen Gruß zurück und starrt dabei irritiert auf das Tablett in Alfreds Händen, auf dem sich ein Pappteller mit einem trockenen, unangerührten Sandwich befindet. Bruce' detektivischer Spürsinn verrät ihm, dass sein Butler dieses Sandwich gerade von irgend woher (zurück?) geholt hat.

„Wo kommst du her, Alfred?"

Und wo, zum Teufel, sind meine Spiegeleier hin?

„In der Bathöhle natürlich, Sir", erwidert Alfred seelenruhig, während er Pappteller und altes Sandwich in den Müllschlucker wirft und das Tablett mit einem feuchten Lappen abwischt. „Ich habe unserem Gast etwas zu essen gebracht. Auch, wenn ich befürchte, dass er es genauso wenig anrühren wird wie die letzte Mahlzeit. Er schläft immer noch."

„Gast?" wiederholt Bruce und blinzelt verwirrt. „Welchen Gast?"

„Natürlich den Joker, Sir."

Schockiert starrt der junge Millionär ihn an.

„Was?" bringt er schließlich ungläubig hervor.

Alfred mustert ihn mit hochgezogener linker Augenbraue und wendet sich dann dem Herd zu.

„Spiegeleier mit Speck wie immer, Master Bruce?"

Bruce holt einmal tief Luft. „Der Joker ... ist unten in der Bathöhle?"

Alfred nickt schweigend.

„Und er . . . ist immer noch in seiner Zelle?" Er macht einen so schuldbewussten und verstörten Eindruck, dass Alfred ein Schmunzeln unterdrücken muss.

Aber so leicht will er den jungen Mann nicht davonkommen lassen.

„Selbstverständlich", erklärt er daher mit einem betont vorwurfsvollen Unterton. „Als ich um Mitternacht noch einmal nach unten ging und meine Brille gesucht habe, fand ich seine Zelle offen und ihn selbst schlafend auf dem Fußboden. Natürlich habe ich die Tür sofort verschlossen. Wir wollen ja nicht, dass der Joker frei herumläuft, oder?"

„Nein", stimmt ihm Bruce gehorsam zu.

Sekundenlang steht er einfach nur da und starrt abwesend in die Luft, dann, mit einem Ruck, kehrt das Leben in ihn zurück. Er wirbelt auf dem Absatz herum und rennt aus der Küche.

Alfred seufzt einmal schwer, betrachtet etwas wehmütig die gerade in die Pfanne geschlagenen Eier, schaltet dann aber den Herd aus und folgt ihm. Er kennt das Temperament seines Arbeitgebers, und daher gilt seine Sorge nicht dem jungen Millionär, sondern dem Joker.
 

***
 

Als Bruce in die Zelle stürmt, interessiert es ihn nicht im Geringsten, ob der Joker noch schläft oder sonstwie beschäftigt sein könnte und noch viel weniger, ob und wie sehr er diesen erschrecken könnte. Alles, was für den Millionär zählt, ist diese heiße Wut, die in seiner Brust wühlt und ein Ventil sucht.

Eben noch tief und fest schlafend, irgendwo verloren in der Dunkelheit eines Traumes, fühlt sich der Joker plötzlich am Kragen gepackt und hochgezerrt. Sein Körper reagiert sofort, schüttet Adrenalin aus und versetzt ihn in große Alarmbereitschaft, aber die Wirkung ist nur temporär, reicht gerade mal, um ihn aufzuwecken.

Irgend etwas stimmt nicht mit ihm, normalerweise hätte sich sein Fluchtinstinkt aktiviert und er wäre schon dreißig Meter weit gelaufen, bis sich sein Verstand eingeschaltet hätte. Aber diesmal reicht seine Energie gerade mal, um wach zu werden.

Und er benötigt noch wesentlich länger, um in den farbigen Flecken in seinem Sichtfeld ein Gesicht zu erkennen. Der dazugehörige Name will ihm schon mal gar nicht einfallen.

Doch er erkennt die Stimme sofort, auch wenn die ersten Worte nur gedämpft bei ihm ankommen. Das mühsame, heftige Klopfen seines eigenen Herzen dröhnt dafür allzu sehr in seinen Ohren und übertönt alles.

„Warum?" schreit Bruce Wayne alias Batman ihn an. „Warum bist du immer noch hier? Warum bist du nicht abgehauen? Habe ich dir ganz umsonst die Tür aufgelassen? Idiot! Jetzt bleibt mir nichts anderes mehr übrig, jetzt muss ich dich nach Arkham bringen!"

Doch der Joker blinzelt ihn nur aus leeren Augen an. Dann jedoch, nach ungefähr einem Herzschlag, kommt endlich wieder Leben in diese Augen. Doch es ist nicht die Reaktion, auf die Bruce gehofft hat. Da ist kein Ärger, kein Protest, kein ... Verstehen.

Irritiert lockert er seinen Griff und beobachtet, wie sich sein Gefangener langsam in eine kniende Position aufrappelt, um sich dann mit dem verständnislosen Blick eines Mannes umzusehen, der an einem Ort eingeschlafen und an einem völlig anderen wieder aufgewacht ist.

Nachdenklich runzelt Bruce die Stirn. Er weiß, dass das Heilmittel zu einem Gedächtnisverlust geführt hat - keines der Opfer kann sich daran erinnern, gebissen und danach ein Vampir gewesen zu sein. Ob das hier vielleicht ein weiteres Symptom ist?

Er nimmt sich vor, zu überprüfen, ob in den letzten Stunden die schon bekannten Patienten mit Amnesie in den Gothamer Krankenhäusern erneut vorstellig wurden. Nicht, dass das Mittel das Gedächtnis permanent in Mitleidenschaft gezogen hat.

Seine Wut verraucht unter diesem neuen Aspekt beinahe sofort.

Der Joker inzwischen hat den vollbeladenen Teller entdeckt, den Alfred vor wenigen Minuten zwischen den Gitterstäben hindurchgeschoben hat und stürzt sich darauf wie ein halbverhungertes Tier. Beim Anblick, wie er mit seinen schmutzverkrusteten Fingern die glibberigen Spiegeleier in sich hineinschaufelt, verzieht Bruce angewidert das Gesicht.

Es erinnert ihn unwillkürlich an diese Szene in der Blutbank, wo der Joker wie ein Tier mit der Zunge das Blut vom Fußboden aufgeleckt hatte. Jetzt benutzt er zwar wenigstens seine Finger, aber es ist dennoch unappetitlich.

Und er riecht ziemlich streng. Nach getrocknetem Blut, kaltem Schweiß und nassem Hund.

Bruce rümpft die Nase und verlässt die Zelle ohne ein weiteres Wort. Diesmal geht er jedoch sicher, dass er die Tür mehrfach verschließt.

Zu seiner großen Überraschung wartet zehn Meter weiter, am Lift, Alfred auf ihn. Innerlich zögert Bruce, unangenehm berührt - hat Alfred ihn etwa beobachtet? - nach außen hin lässt er sich jedoch nichts anmerken, geht ruhigen, gemessenen Schrittes weiter auf ihn zu.

Der ältere Mann, der ihn nach dem Tod seiner Eltern wie einen eigenen Sohn großgezogen hat - obwohl er damals nicht viel älter war als Bruce jetzt - sieht ihm schweigend entgegen und wie so oft ist seiner Miene nicht anzusehen, was er gerade denkt. Nur für einen winzigkleinen Moment, als sein Blick kurz hinüber zu dem Joker hinter ihm huscht, da flackert so etwas wie Besorgnis über sein Gesicht.

Bruce hätte fast geschmunzelt. Der gute Alfred. Immer macht er sich Sorgen um ihn, selbst wenn die Gefahr so eindeutig hinter Gittern sitzt wie jetzt.

Keiner von ihnen sagt ein Wort, während sie zusammen hinauf ins Mansion fahren. Erst als sie wieder in der Eingangshalle stehen, bricht Alfred das Schweigen.

„Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Date mit Miss Vale nicht so verlief, wie Sie es sich vorgestellt haben?”

„Natürlich", knurrt Bruce abwehrend zurück. „Wir hatten eine sehr schöne Nacht zusammen."

„Aber…?"  insistiert Alfred.

Bruce wirft ihm einen giftigen Blick zu. „Nichts aber, Alfred. Meine Güte, wieso bist du so penetrant? Seit wann mischst du dich in mein Liebesleben ein?"

„Nun", kommt die gelassene Antwort, „normalerweise sind Sie nach einem gelungenen Rendezvous auch nicht gereizt wie ein Bär, den man in seinem Winterschlaf gestört hat. Da liegt die Vermutung nahe, dass etwas nicht nach Ihren Wünschen gelaufen ist."

„Wie sollte ich nicht gereizt sein, wenn du einfach hinunter zum Joker gehst? Du weißt, er ist gefährlich."

„Master Bruce ...", fragt Alfred ihn streng, „wer hat bei Ihnen, als Sie ein kleiner Junge waren, das Interesse für asiatische Kampfkünste geweckt? Wen haben Sie damals gefragt, ob er Ihnen Judogriffe beibringen könne?"

„Dich", gibt Bruce widerstrebend zu. „Aber..."

„Der Joker ist nicht nur Ihr Problem", unterbricht Alfred ihn in einem Tonfall, den Bruce schon seit langem nicht mehr von ihm zu hören bekommen hat. So hatte er das letzte Mal zu ihm gesprochen, als Bruce als Jugendlicher über die Stränge geschlagen und während einer Party das halbe Mansion verwüstet hatte. Mit diesem Tonfall und Blick hatte Alfred ihn damals gezwungen, den Dreck eigenhändig zu beseitigen und Bruce Achtung vor dem Berufsstand der Reinigungskräfte beigebracht.

„Er ist ein Mensch und hat Rechte. Und solange er sich auf Ihrem Grund und Boden aufhält, ist es meine Pflicht, genauso für sein leibliches Wohl zu sorgen wie für Ihres. Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen, erst recht, wenn die Gefahr hinter Gittern sitzt." Er hält kurz inne und mustert Bruce durchdringend. „Ich war es nicht, der die Zellentür aufgelassen hat, Bruce."

Bruce schluckt einmal betreten. „Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe..." gibt er kleinlaut zu.

Alfred starrt ihn schweigend an, dann scheint er irgend etwas zu sehen, denn seine Miene wird weich und um seine Mundwinkel zuckt ein kleines Lächeln, als er näher tritt und Bruce eine Hand auf den Arm legt. Es ist eine tröstende und verständnisvolle Geste zugleich.

„Die letzten Tage haben Ihnen viel abverlangt. Gönnen Sie sich und Batman eine Pause. Nur - um des Jokers Willen - entscheiden sie sich, ob Sie ihn als Gast oder Gefangenen behandeln wollen, ob Sie ihm ein Zimmer mit Bett zugestehen wollen oder ob er weiter in der Zelle bleiben soll. Wenn Sie sich für letzteres entscheiden, bedenken Sie bitte, dass diese Zellen keine hygienischen Einrichtungen haben und ihn einer von uns dann mehrmals täglich ins Bad geleiten muss. Eine Dusche braucht er jetzt schon. Mit Verlaub, er stinkt, als hätte man ihn gerade aus dem Gotham River gefischt."

„Du hast die dritte Möglichkeit vergessen", murmelt Bruce, der über Alfreds Sinn fürs Praktische wie immer etwas lächeln muss. „Ich könnte ihn auch zurück nach Arkham bringen."

Ernst drückt Alfred seinen Arm und sieht ihm dabei gerade in die Augen, und Bruce hat den Eindruck, als würde er sich heimlich über ihn amüsieren.

„Nein, Master Bruce, diese Option steht erst einmal nicht zur Debatte."

Er denkt kurz nach und überlegt sich seine nächsten Worte ganz genau. Bruce' innere Zerrissenheit ist für ihn nur allzu offensichtlich - auch wenn der Millionär selbst sich dessen nicht bewusst zu sein scheint. Es geht hier nicht nur um eine angeblich versehentlich offengelassene Zellentür oder um die schlecht unterdrückte Trauer um den Joker, die Bruce noch vor ein paar Tagen zu dieser wilden Entschlossenheit antrieb, Gotham mehr als sonst zu beschützen oder um eine unbefriedigende Liebesnacht ... all das sind nur Symptome für ein wesentlich tiefer liegendes Problem.

 Alfred hat eine gewisse Ahnung, worum es dabei geht, aber er weiß, wie fatal es wäre, dies seinem Arbeitgeber direkt auf den Kopf zu zusagen. Er würde es abstreiten, verleugnen und sich selbst damit nur noch länger quälen, und das ist das letzte, was Alfred will. Besser, er zäumt das Pferd von der anderen Seite auf.

„Der Joker hatte die Gelegenheit zur Flucht. Bevor wir nicht herausgefunden haben, wieso er sie nicht genutzt hat, sollten wir ihn hierbehalten. Vielleicht plant er etwas. Vielleicht ist er genauso erschöpft wie Sie. Fakt ist: aus Arkham würde er nur sofort wieder ausbrechen, hier ist Gotham erst einmal vor ihm sicher."

Bruce überlegt kurz. Alfreds Argumente klingen einleuchtend. Diese untypische Passivität des Jokers ist wirklich beunruhigend.

„Behandeln wir ihn erst einmal als Gefangenen, Alfred. Mal sehen, wie gesprächig ihn das macht."

„Einverstanden, Sir." Alfred wendet sich wieder zum Lift um, hält vor der Tür allerdings noch einmal inne. „Dann werde ich unseren Freund jetzt mal zu einer Dusche überreden."

„Das übernehme ich", erklärt Bruce beinahe sofort. Da Alfred ihm den Rücken zuwendet, entgeht ihm dessen Grinsen.
 

***
 


 

In seiner Zelle leckt sich Joker noch einmal über die Lippen, bevor er sich seine Hände an seinem schmutzigen Mantel abwischt und sich dann in eine Ecke zurückzieht. Unterwegs rafft er noch die Decke zusammen, die bisher völlig unbeachtet herumlag und wickelt sich darin ein.

Für einen Moment war der Hunger vorherrschend, aber jetzt, wo dieser gestillt ist, kehrt die Müdigkeit zurück.

Es ist nicht so, dass Joker den Millionär nicht verstanden hätte. Er hielt es nur nicht für nötig, ihm darauf zu antworten. Reden ist anstrengend, wenn es nur in einer Diskussion enden kann, in der man unterliegt, weil einem das Denken schwer fällt.

Er ist müde. Alles, was er will, ist schlafen.

Es ist, als wolle sein Körper jetzt all die schlaflosen Nächte der letzten Jahre nachholen - und davon gibt es mehr als genug. Diese Rastlosigkeit, unter der er seit seiner Mutation leidet, ist einer solch tiefgreifenden Erschöpfung gewichen, dass es ihm schon egal ist, ob und wo er eingesperrt ist. Arkham? Bathöhle? Ph. Egal. Hauptsache, man lässt ihn in Ruhe.

Er würde darüber lachen, aber selbst dazu fehlt ihm die nötige Kraft.

In seinem Inneren tobt ein Krieg, von dem er nichts weiß.

Er spürt nur die Auswirkungen.

Er weiß nicht, dass die Mutationen, die sein Körper vor ein paar Jahren durchgemacht hat, nur der Anfang waren.
 

***
 


 

3. Kapitel

Bevor er sich mit dem Problem Joker auseinandersetzt, genießt Bruce Wayne erst einmal sein Frühstück und die Morgenzeitung. Dann hackt er sich am Laptop in die Aufnahmedaten der Gothamer Krankenhäuser ein. Aber keiner der ehemaligen Vampiropfer ist dort vorstellig geworden. Darüber ist er wirklich erleichtert.

Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Er wird das im Auge behalten müssen.

Schließlich geht er seine Geschäftsmails durch.

 Es ist gegen neun Uhr, als ihm die Ausreden ausgehen.

Außerdem werden Alfreds Blicke immer strenger.

Beinahe bereut er es, Alfred davon abgehalten zu haben, derjenige zu sein, der den Joker zum ersten Mal ins Bad begleitet. Aber Alfred ist nicht mehr so jung wie er, und Bruce würde es sich nie verzeihen, wenn ihm etwas zustieße, also beugt er sich der Notwendigkeit und geht zu seinem Gefangenen hinunter.

Er tröstet sich damit, dass er ja spätestens in zwei Stunden in seiner Firma zu einem Geschäftsessen mit ausländischen Partnern erscheinen muss. Er hat also gar nicht die Zeit, sich mehr als nötig mit dem Joker zu befassen. Nicht, dass er das will - Himmel, nein!

Aber so - mit diesem Termin im Nacken - muss er auch nicht die Geduld mitbringen, die Sperenzien des Jokers zu ertragen. Wenn der Typ ihm Schwierigkeiten macht, wird er also nicht erst lange mit ihm herumdiskutieren.

Er erwartet manisches Gelächter und spöttische Bemerkungen, aber alles, was ihn begrüßt, als er aus dem Lift in die Bathöhle tritt, ist - Stille.

Absolute Stille.

„Joker?" Der Name kommt ihm über die Lippen, bevor er richtig darüber nachdenken kann und es klingt erschreckend unsicher. Zum Glück scheint ihn der Angesprochene nicht gehört zu haben und als Bruce näher an die Zelle tritt, sieht er auch, warum: der Joker schläft.

Wieder einmal.

Er liegt in einer Ecke der Zelle, unter einer Decke zusammengerollt, und alles, was Bruce von ihm erkennen kann, ist sein grüner Haarschopf. Das Bild ist so harmlos, so friedlich, dass Bruce‘ Ärger sofort verfliegt und einem ganz anderen Gefühl Platz macht.

Aber er kann diese Wärme, die in seinem Magen beginnt und sich von dort über den Rest seines Körpers ausbreitet, nicht einordnen. Das verunsichert ihn, und mit der Unsicherheit kehrt der Ärger zurück.

 Aber diesmal beherrscht er sich. Anders als das letzte Mal ist er nicht grob, als er den Joker weckt. Und er gibt sich Mühe, ihn nicht zu erschrecken.

Aber genau wie das letzte Mal sind Jokers rote Augen blank und leer, wie bei einem Schlafwandler, doch er nickt, als Bruce ihm erklärt, was nun folgen wird und gibt mit einem leisen „okay" sein Einverständnis. Bruce gibt sich damit zufrieden, packt ihn am Oberarm und hilft ihm, aufzustehen. Seine Finger weiterhin um Jokers linken Oberarm, führt er ihn aus der Zelle hinüber zum Lift.

Dabei ist er bemüht, nicht allzu tief einzuatmen, denn Alfred hatte recht, als er meinte, der Joker rieche, als wäre er gerade erst aus dem Gotham River gekrochen. Das, was Bruce bisher in den letzten sechsunddreißig Stunden nie so intensiv wahrgenommen hat, sticht ihm nun geradezu schmerzhaft in die Nase.

Der Gotham River ist ein kränkelnder Fluss, jahrzehntelang verunreinigt durch Chemieabfälle und andere Abwässer, und obwohl Wayne Industries inzwischen teure Filteranlagen hat bauen lassen und die Wasserqualität langsam Grund zur Hoffnung gibt, ist der Gestank noch immer nasenbeleidigend.

Die Tatsache, dass Bruce genau weiß, wie und wann und durch wessen Schuld der Joker im Gotham River gelandet ist, macht das Ganze nicht besser. Er würde sich gerne entschuldigen, aber er weiß nicht, wie.

Jokers Passivität, sein andauerndes Schweigen, sein abwesender Blick - all das ist so untypisch, dass ihm jegliches freundliche Wort im Halse stecken bleibt. Knappe, präzise Anweisungen dagegen fallen ihm leicht. Das ist die Art, wie er es gewohnt ist mit ihm zu reden und die einzige Möglichkeit, nicht ebenfalls in Schweigen zu verfallen.

Der Joker benimmt sich so fügsam, als wäre diese Behandlung nicht das erste Mal in seinem Leben. Und hätte Bruce ihn gefragt, hätte der Joker ihm erzählt, dass er es aus Arkham her gewohnt ist, mehrmals täglich zu festgelegten Zeiten auf die Toilette geführt zu werden. Für ihn ist es nicht erniedrigender als die üblichen Leibesvisitationen oder von feixenden Wärtern mit einem Wasserschlauch abgespritzt zu werden. Es berührt ihn nicht, hat es noch nie. Diejenigen, die auf der anderen Seite stehen, haben damit viel mehr Probleme als er, und auch jetzt steht es Bruce deutlich ins Gesicht geschrieben, wie unangenehm ihm das alles hier ist.

Joker findet das lustig, aber er lacht nicht, denn dazu fehlt ihm die Kraft.

Sein Körper fühlt sich an, als gehöre er jemand anderem, zwischen ihm und seiner Umgebung scheint eine dicke Watteschicht zu liegen, jedes Geräusch, alles, was er sieht oder fühlt, erreicht ihn nur in abgeschwächter Form. Das ist nicht wirklich schlecht, denn so hat er die Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, herauszufinden, was eigentlich passiert ist.

Wieso er hier ist.

Das letzte, woran er sich deutlich erinnert, ist der Gothamer Friedhof, aber er weiß, da ist noch mehr, ganz tief verborgen, er muss es nur finden.

Bruce Waynes rauhe Stimme reißt ihn schließlich aus seinem tranceähnlichen Zustand.

„Hier sind wir."

Verdutzt bemerkt der Joker, dass sie vor einem großzügig eingerichteten Badezimmer stehen. Sehr luxuriös, sehr aquamarinfarben, sehr ... schön. Wow. Er hat mit etwas kleinerem, zweckmäßigerem gerechnet. Aber andererseits - sie befinden sich hier mitten im Wayne Manor, nicht wahr?

„Wenn du aus dem Fenster klettern willst, vergiss es gleich", warnt ihn Bruce. „Die Gitter sind aus bestem Stahl."

Der Joker nickt nur. Er hat nicht vor zu fliehen, nicht bei diesem Traumbad!

Bruce hat ihn losgelassen und er nutzt die Gelegenheit und inspiziert sofort interessiert die riesige Wanne.

Bruce lässt ihn gewähren.

„Du hast vierzig Minuten Zeit. Ich stehe vor der Tür."

Wieder nickt der Joker nur. Er fackelt nicht lange und beginnt sofort, sich auszuziehen. Bruce beobachtet ihn einen Moment lang und trifft dann eine weitere Entscheidung.

„Dort in der Ecke ist eine Wäscherutsche. Schmeiß deine Klamotten da rein, sie werden dann gewaschen."

Wieder ein stummes Nicken.

Bruce schließt die Tür hinter sich, als er geht. Er hat keine Lust, dem Joker dabei zuzusehen, wie dieser sich auszieht. Außerdem muss er mit Alfred reden, dass dieser ein paar alte Klamotten von Bruce heraussucht, die dem Joker passen könnten. Natürlich kein Armani-Anzug, ein paar einfache Jeans und ein T-Shirt sollten reichen. Und Unterwäsche. Bruce schaudert leicht. Er ist wirklich erleichtert, diese Aufgabe in Alfreds erfahrene Hände übergeben zu können.
 

***
 

Entgegen dem was andere von ihm halten mögen, besitzt der Joker durchaus einen Sinn für Hygiene. Er hat nur nicht oft die Gelegenheit, ihr zu frönen. In seinen Verstecken gibt es meist nicht einmal so etwas wie fließendes Wasser, geschweige denn eine funktionierende Toilette, und in Arkham ist alles zeitlich streng reglementiert.

Vierzig Minuten, sagte Bruce.

Das ist eine Ewigkeit.

Eine Ewigkeit im Himmel.

So erledigt Joker das Nötigste im Schnellverfahren, bevor er sich den angenehmen Dingen zuwendet: einem entspannenden, heißen Bad. Er sieht sogar darüber hinweg, dass er Badelotion, die nach grünem Apfel riecht, normalerweise nicht bevorzugt.  Das ist immer noch besser als L’Eau de Gotham River.

Und als er dann seinen ermatteten Körper langsam ins heiße Wasser gleiten lässt, kann er einen wohligen Seufzer nicht zurückhalten. Die Nässe hat zeitweise sogar eine belebende Wirkung, doch nur so lange, bis sich sein Kreislauf an die Veränderung angepasst hat.

Doch weder  das wattige Gefühl in seinem Kopf noch das harte Vibrieren seines Herzschlages in seinen Knochen vermag es, ihn aus seinem derzeitigen Himmelreich zu vertreiben.

Träge lässt er seine Finger durch den Schaum auf seinem Körper gleiten, während seine Gedanken auf Wanderschaft gehen.

Seine Erinnerungen an sein Leben vor seinem Chemieunfall sind wie Fische in einem trüben Teich. Manchmal schwimmen sie dicht unter der Oberfläche und blitzen verlockend auf, aber immer, wenn er sie zu fangen versucht, glitschen sie ihm zwischen den Fingern davon.

Es ärgert ihn, wenn sein Gehirn seinen Körper auf diese Art betrügt. Deshalb denkt er auch selten darüber nach und lebt lieber im Hier und Jetzt.

Es ist daher beängstigend, plötzlich in einer Zelle aufzuwachen, in Batmans grimmiges Gesicht zu starren und wieder im Trüben zu fischen. Er weiß nicht, wie viele Stunden oder Tage – vielleicht gar Wochen oder Jahre … lieber Himmel, bitte nicht! – er verloren hat.

Dass niemand daran denkt, ihn aufzuklären, verstärkt das beklemmende Gefühl nur noch. Das letzte, woran er sich klar und deutlich erinnert, ist dieser angebliche Schatz auf dem Friedhof, der Pinguin und so ein komischer Typ in einem Sarg. Danach … Fische im trüben Teichwasser.

Leise aufstöhnend massiert er sich die schmerzenden Schläfen. Allein der Versuch, sich zu erinnern, jagt eine Schwadron Düsenjäger durch seinen Kopf.

Doch er spürt, dass diese Gedächtnislücken anders sind. Diesmal wird er sich erinnern. Irgendwann.

Also gibt er es auf, etwas mit Gewalt erreichen zu wollen, was ihm sowieso irgendwann in den Schoss fällt und lässt seine Gedanken einfach wieder treiben und genießt das warme, nach Apfel duftende Wasser, diesen Luxus.

Er döst tatsächlich ein. Zehn Minuten lang treibt er ruhig im Wasser, und dieses Gefühl löst eine völlig andere Erinnerung in ihm aus. Lose Fäden verbinden sich und eine Frage, die schon seit Tagen in seinem Unterbewusstsein auf ihre große Chance wartet, springt ihm mitten ins Gesicht.

Er schnappt nach Luft, reißt die Augen auf und schießt in die Höhe. Die Beantwortung dieser Frage ist so dringlich, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt als die Wanne, seinen Hort der Gemütlichkeit, sein Himmelreich, zu verlassen.

„Warum?" keucht er atemlos, als er die Tür aufreißt und direkt in Bruce Waynes verdutztes Gesicht blickt.

„Warum..." er stockt, bemüht, die Worte, die wie aufgeregte Kolibris in seinem Kopf herumschwirren, zu einer sinnvollen Frage zusammen zu fügen. „Warum hast du mich nicht gerettet? Damals? Als ich vom Aquädukt fiel? Als ich im Fluss landete? Die Joy-Buzzer waren schnell kaputt, sie gaben keine Elektrizität mehr ab. Als es keine Elektroschocks mehr gab ... als keine Gefahr mehr bestand ... wieso bist du dann nicht hinterhergesprungen? Und seit wann kümmert es dich, wie gefährlich es für dich ist, wenn du jemanden retten willst?"

Er trifft einen Nerv, er erkennt es daran, wie Bruce das Gesicht verzieht. Merkwürdig, wie gut er seine Miene beherrscht, wenn er als Batman unterwegs ist und wie wenig er als Bruce darauf achtet.

Joker weiß nicht, wie einschüchternd er in diesem Moment auf Bruce wirkt. Eben dachte der Millionär noch an nichts Böses, vertieft in seine Börsenberichte auf seinem Smartphone, und plötzlich steht dieser tropfnasse, nackte Mann vor ihm, einem Derwisch gleich, und genauso schnell redet und gestikuliert er auch.

Nachdem er stundenlang so schweigsam und ruhig war, ist das hier jetzt doppelt erschreckend.

Und er stellt ihm ausgerechnet diese Frage!

Bruce versucht, über eine angemessene Antwort nachzudenken, doch das fällt ihm schwer, Jokers unmittelbare Präsenz ist zu ablenkend.

Während ihrer Kämpfe fällt es ihm nicht oft auf, aber diesmal ist es nicht zu übersehen, dass der Joker eine gute Handbreit größer ist als er - und noch eine weitere wegen seiner Haare. Er wirkt nur immer kleiner, weil er nicht so massig ist wie Bruce. Er hat die sehnige Statur eines Tänzers und Bruce die eines Boxers.

Bruce versucht wirklich, nicht allzu sehr zu starren, vor allem ist er bemüht, seinen Blick nicht unter Jokers Gürtellinie rutschen zu lassen. Wie gesagt, er ist nackt! Und Bruce will nicht, dass dieser Mann mit den wilden roten Augen, den grünen Dreadlocks und dieser schneeweißen Haut, dieses gefährliche ... Wesen, plötzlich zu einem verwundbaren Menschen wird.

Er ist nicht verwundbar. Er ist stark, schnell und gerissen, und auf alle Fälle gefährlich, aber niemals so verwundbar wie jeder andere Mensch auch.

„Batsy?"

Jokers ungeduldige Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. Richtig, er wartet ja noch auf eine Antwort.

„Ich weiß es nicht", erwidert der Millionär ehrlich und schuldbewusst zugleich. Er wird nicht gerne daran erinnert, denn er schämt sich deswegen zutiefst.

Joker mag diese Antwort nicht. Sie ist nicht ausreichend. Wenn es nach ihm ginge, würde er es dabei belassen, aber da ist dieser Drang, tiefer zu bohren. Weil Bruce es braucht. Weil es wichtig ist, damit das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Er steht für das Chaos, aber Batman - Bruce - für die Ordnung, es ist nicht hinnehmbar, dass in Bruce so viele chaotische Dinge passieren.

Wie von selbst gleiten ihm die nächsten Worte von der Zunge.

„Du warst wie gelähmt, genau wie damals, als deine Eltern starben."

Zwei Schüsse, die durch die Nacht hallen, das Geräusch von zwei Körpern, die leblos auf dem Boden aufprallen. Perlen, die im Licht der Straßenlaterne weiß aufleuchten und dann klirrend in den Rinnstein fallen. Und ein kleiner Junge, der schockiert daneben steht. Joker sieht es, als wäre er dabei gewesen. Doch er war es nicht. Er war damals selbst noch ein Kind.

Schmerz explodiert hinter seiner Stirn, weiß und blendend, instinktiv drückt er den Handballen gegen seine Stirn, um den Schmerz einzudämmen. Doch er gibt nicht auf und hält diesen Gedanken fest.

„Du fühltest dich so hilflos. Damals bei ihnen. Und auch bei mir. Damals warst du ein Kind, du konntest gar nichts tun, aber du hast dich trotzdem wie ein Versager gefühlt. Als ich fiel und im Fluss versank ... da war es dasselbe Gefühl. Und du fühltest dich doppelt als Versager, weil du inzwischen kein Kind mehr bist und weißt, was zu tun ist. Weil du es jetzt kannst. Helfen. Anderen helfen. Sie beschützen. Gotham. Die ganze Welt."

Der Schmerz wird zu stark, er verliert den Faden. Die Welt um ihn herum beginnt zu schwanken wie ein Schiff im Sturm, doch es ist zu spät. Er erkennt die Wahrheit. Sie liegt vor ihm, strahlend hell wie Gold. Und sie ist so simpel und zugleich so essenziell, dass er nur darüber lachen kann.

Bruce ist schockiert und entsetzt zugleich über Jokers Worte - sie spiegeln genau seine eigenen Gedanken und Empfindungen wider, aber wie kann Joker das alles wissen? - aber auch über dieses so wohlbekannte, irre Gelächter, das so urplötzlich und völlig sinnlos aus dem anderen hervorbricht. Trotz seiner ebenso schnell aufkeimenden Wut - wie kann er es wagen, so mit ihm zu reden? - hält er ihn fest, als er zu taumeln beginnt und zu fallen droht. Sein Griff ist allerdings härter als nötig. Seine Finger graben sich so tief in Jokers Oberarme, dass er fast auf den Knochen stößt.

Trotz seiner Gleichgewichtsprobleme hört der Joker nicht auf zu lachen.

Bruce, der nicht weiß, wie er auf das alles reagieren soll, schiebt seine Ungeduld und seinen Ärger beiseite und wartet erst einmal geduldig ab. Er weiß aus Erfahrung, dass die Stimmungen des Jokers schneller wechseln als ein flüchtender Hase die Richtung.

Es dauert nicht lange, da geht Jokers Gelächter in ein Kichern über.

Und dann, völlig unvermittelt, läuft alles furchtbar falsch.

Plötzlich lehnt sich der Joker zu ihm vor, und Bruce spürt weiche, warme Lippen, die sich fest auf seine pressen, und während er regelrecht erstarrt, gesellt sich zu diesen Lippen eine gierige Zunge.

Bruce‘ Gedanken rasen und stehen dann plötzlich still, als er sich am Handgelenk gepackt fühlt. Verdächtig warme Finger dirigieren seine rechte Hand nach unten, zwischen ihre Körper; und Bruce, dessen gesamte Konzentration auf diesem unerwünschten Kuss gerichtet ist, bemerkt es erst, als diese langen Finger seine eigenen zwingen, sich um hartes, pochendes Fleisch zu legen. Es dauert eine geraume Weile, bis er begreift, aber dann trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag.

Erschrocken reißt er die Augen auf, von denen er gar nicht wusste, dass er sie geschlossen hatte. Joker starrt ihn unter halb gesenkten Lidern an, und in seinen Augen, in seinem gesamten Gesicht, leuchtet eine Lebensgier, die auf ihre Art noch wesentlich erschreckender ist als sein üblicher Wahnsinn.

Bruce möchte schreien, ihn von sich stoßen, ihm seine Faust ins Gesicht rammen, vor allem aber seine Hand von dort wegnehmen, doch stattdessen …  beginnen seine Finger dort unten völlig von selbst mit einer zärtlichen Massage.

Er ekelt sich vor sich selbst, aber er kann nicht damit aufhören. Fasziniert beobachtet er, wie Jokers Körper ein Zittern durchläuft und ja, er genießt die Macht, die ihm diese kleine Berührung über den anderen gibt.

Er genießt diesen Anblick, wie die Augenlider des Jokers zu flattern beginnen, während er sich  gequält auf die Unterlippe beißt, sie sich blutig beißt, in dem vergeblichen Versuch,  ein Keuchen zurückzuhalten. Wie er den Kopf zurückwirft und wie das Blut eine schmale Spur über sein spitzes  Kinn zieht. Scharlachrot auf schneeweiß.

Für einen Moment starrt er fasziniert darauf, doch dann erkennt er, dass es sich um Blut handelt, und das löst die Starre. Er zieht seine Hand zurück und weicht einen großen Schritt nach hinten.

Joker gibt einen enttäuschten Laut von sich, es klingt wie eine Mischung aus Knurren und Schluchzen. Bruce derweil hat endlich wieder zu sich selbst zurückgefunden. Schuld und Reue und Scham treiben ihm das Blut in die Wangen.

Noch während er um die richtigen Worte ringt, wird der Joker ganz still.

Die Arme jetzt locker an seiner Seite baumelnd, steht er da, nackt und immer noch erregt. Doch das Feuer in seinen Augen ist erloschen, jetzt glänzen sie kalt und hart. Seine Mundwinkel zucken, verziehen sich zu dem gefürchteten Grinsen.

Just in dieser Sekunde betritt Alfred, mit einem Stapel sorgfältig zusammengelegter Kleidungsstücke im Arm, den Raum und rettet Bruce aus dieser peinlichen Situation.

Der junge Millionär ergreift die Chance zu einem geordneten Rückzug und eilt an dem ihm irritiert nachstarrenden Butler vorbei, hinaus aus der Tür, bestrebt, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Joker zu bringen.

Aber er ist nicht schnell genug.

Das an- und abschwellende Gelächter des Jokers folgt ihm wie der Schatten eines Alptraumes.
 

***
 


 

Bruce Wayne fühlt sich wie ein erbärmlicher Feigling. Er ist einfach davongerannt wie ein eingeschüchtertes Kind. Und warum? Nur, weil ihm der Joker eine weitere, kranke Seite von sich gezeigt hat?

Nein, das ist es nicht, und das weißt du auch.

Ach, halt die Klappe.

Über Bruce‘ Miene huscht ein schwaches Grinsen. wenn er schon anfängt, mit sich selbst zu streiten, ist er wohl auch bald reif für eine Therapie, oder?

Er holt einmal tief Luft und versucht, sich zu beruhigen. Himmel, das Ganze ist fünfundzwanzig Minuten her, allmählich sollte er darüber hinweg sein.

Es war sein eigener Fehler. Er hat den Joker nie als ein sexuelles wesen betrachtet, und das rächt sich jetzt. Er muss diese Erkenntnis endlich hinnehmen, dass unter all diesem abartigen Benehmen und dem wilden Aussehen jenseits aller Blutlust und  Kriminalität ein mindestens genauso abartiger, wilder Mann steckt mit denselben Bedürfnissen wie alle anderen Männer auch. Ja, sogar wie er selbst.

Der Joker ist krank, es ist nicht seine Schuld.

Und jetzt sollte ich mich wirklich um mein Leben kümmern.

Ein Geschäftsessen wartet auf ihn. Er schlüpft gerade in seinen Mantel und greift nach den Autoschlüsseln, als Alfred hinter ihm auftaucht.

„Es tut mir leid, Alfred“, murmelt Bruce zerknirscht.

Der ältere Mann nickt nur und streicht sich kurz über seinen Schnurrbart. „Ich dachte mir nur, es interessiert Sie zu hören, dass ich den Joker wieder zurück in die Zelle gebracht habe.“

Bruce nickt einmal und fährt sich verlegen mit den Fingern durchs Haar.

„Hör zu, was da vorgefallen ist…“

„Oh, keine Sorge, Master Bruce. Mir ist durchaus bewusst, dass der Joker über eine sprunghafte, teilweise erschreckend schamlose Persönlichkeit verfügt. Neben allem anderen“, fügt er dann noch trocken hinzu.

„Es tut mir leid, dich mit ihm allein lassen zu müssen…“

„Auch darüber machen Sie sich bitte keine Sorgen.“ Es scheint kurz, als wolle er noch etwas dazu sagen, doch dann zuckt er nur mit den Schultern.

„Darf ich Sie heute Abend zum Dinner zurückerwarten, Sir, oder haben Sie noch etwas anderes vor?“

Bruce zögert mit der Antwort. Aber so wenig wie er sich den Launen des Jokers aussetzen will, so wenig will er sich auch mit dem hohlen Geschwätz der Gothamer High Society auseinander setzen. Er hat keine Lust, seine Zeit in einem der zahlreichen Clubs für Superreiche zu verschwenden.

Und sein Date mit Vicky Vale ist erst morgen Abend.

Also wählt er das kleinere Übel.

„Nein, Alfred, ich habe nichts vor. Ich bin also zum Dinner wieder zurück.“
 

***
 


 

4. Kapitel

Durst.

Das war das erste, woran er denken konnte, als er diesmal aufwachte. Er bat Alfred um ein Glas Wasser und er bekam es auch.

Aber jetzt hat er immer noch Durst. Seine Kehle ist so trocken wie Staub und seine Zunge fühlt sich an wie ausgedörrt.

Doch er ist nicht das Tier, für das ihn alle halten. Er hat Manieren. Er weiß, wann er sich zurückhalten muss. Und auch wenn er es nicht gerne zugibt - aber sich selbst gegenüber darf er es schon, findet er - hat diese ganze Situation etwas so Erhabenes an sich, dass sogar Harley vor Ehrfurcht verstummt wäre.

Der Gedanke an Harley, die süße, kleine, nervtötende Harley schmerzt - aber der Moment der Schwäche ist schnell vorbei. Er vermisst sie, aber er musste sie loswerden. Er hatte sie zu nahe an sich herangelassen, letztendlich war sie wie ein Seil, das sich so oft um ihn wickelte, bis es ihm letztendlich die Luft abschnürte.

Aber das passiert nun einmal, wenn man ein Stück von einem Kuchen abhaben will, der nicht für einen selbst bestimmt ist. Wenn die Pfade eigentlich auseinandertreiben.

Jetzt saugt sie Poison Ivy die Energie aus den Knochen. Aber das macht nichts, denn die pflanzenverrückte Rothaarige ist auch nicht anders. Die beiden passen zusammen wie Pflanze und Topf.

Über den Vergleich muss er beinahe kichern. Wenn seine Kehle nur nicht so sehr schmerzen würde.

Rote Augen fixieren die Wasserkaraffe vor sich auf dem Tisch gierig. Seine Hände zucken, doch er hält sich eisern zurück. Geduld, Geduld. Wenn er sich jetzt nicht zu beherrschen weiß, landet er wieder unten in der Zelle, wo nicht immer jemand zugegen ist, den er um Wasser bitten kann.

Um sich abzulenken senkt er den Blick auf den Teller vor sich und die Ansammlung von Besteck daneben. Er weiß, man beginnt von außen nach innen, aber - verdammt - wie viele Gänge hat dieser Alfred geplant? Und das Porzellan und die Stoffservietten sind doch viel zu elegant und kostbar, um benutzt zu werden. Da muss er sich wirklich anstrengen, keine Kratzer beziehungsweise Flecken zu hinterlassen.

Aber da er sowieso keinen großen Hunger hat ... nur Durst.

Als er bemerkt, wie sein Blick wieder zu der Wasserkaraffe hinübergleitet, zwingt er sich, in eine andere Richtung zu sehen. Zum Glück bietet dieser Raum genug Ablenkung. Es ist ein sehr großer Raum, beinahe schon ein Saal mit holzvertäfelten Wänden und hohen Fenstern, die hinaus auf einen Balkon führen. Dort draußen winkt die Freiheit, es wäre für ihn ein leichtes, durch das Fenster zu springen, und wäre er in einer besseren Verfassung, würde er vielleicht ernsthaft darüber nachdenken. So aber nimmt er es nur genauso zur Kenntnis wie alles andere in diesem Raum.

Außer dem großen Mahagonitisch, an dem er sitzt, befindet sich auf der Südseite vor dem gemauerten Kamin noch eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder. An den Wänden hängen Landschaftsbilder und an gewissen Plätzen - die wahrscheinlich nach Feng Shui oder ähnlichen Gesichtspunkten ausgerichtet sind - stehen große Kübelpflanzen.

Abgerundet wird der Reichtum und Stil vermittelnde Raum durch einen alten Kristalllüster. Eine Scheußlichkeit, wie sie nur eine Frau hat aussuchen können.

„Oh Thomas, ist das nicht wunderschön?"

„Ja, Darling." Der Mann mit dem eleganten Schnurrbart lächelt nachsichtig und zieht seine Frau in seine Arme, gibt ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, während er mit der rechten Hand über ihren kugelrunden Babybauch streichelt.

Joker schließt die Augen. Geister. Dieses Haus ist voller Geister.

Er atmet einmal tief durch, und als er die Augen wieder aufreißt, stammt das einzige Wispern von den anderen beiden atmenden Personen am anderen Ende des Raumes.

 „Was hast du dir dabei gedacht, Alfred?” Bruce hat seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Er steht unter dem Türrahmen zwischen Küche und großen Esszimmer und lässt den grünhaarigen Mann, der dort etwas verloren an dem riesigen Esstisch sitzt, nicht eine Sekunde aus den Augen.

Bruce ist gereizt, er hatte auf einen ruhigen Abend gehofft, und fest damit gerechnet, dass der Joker unten in seiner Zelle sitzt. Er hatte nicht vor, sich heute noch einmal mit ihm auseinander zu setzen.

Aber jetzt hat ihm ausgerechnet Alfred einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Alfred füllt die letzte Kelle in die Suppenterrine und drückt diese völlig unzeremoniell dem jungen Millionär in die Hand. Dass er seinen Arbeitgeber hier quasi zur Mitarbeit einspannt, ist ein deutlicher Hinweis, dass sich Bruce soeben einen Fauxpas geleistet hat.

Ansonsten ist er die Ruhe selbst.

„Master Bruce, Sie haben doch gewiss Fragen an den Joker, oder?"

„Ja", gibt Bruce widerstrebend zu.

„Nun, schon die alten Römer wussten die angenehme Atmosphäre eines guten Essens zu schätzen, um ihren Gegnern Informationen zu entlocken."

„Die Römer wussten aber auch gute Gladiatorenkämpfe zu schätzen."

So weit muss es ja nicht kommen, Master Bruce." Alfred sagt es leichthin, doch die Warnung in seinen Augen ist unmissverständlich.

Bruce spürt Ärger in sich aufwallen.

„Du bist viel zu nett zu ihm, Alfred."

„Manchmal kommt man mit Freundlichkeit weiter als mit Schlägen, Bruce. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, nicht wahr?" Mit diesen Worten schnappt sich Alfred das kleine Weidenkörbchen mit den zurechtgeschnittenen Brotscheiben und trägt es vorbei an Bruce ins Esszimmer.

Der junge Millionär folgt ihm missmutig, und er macht daraus auch gar keinen Hehl. Er kann nicht verstehen, wieso Alfred trotz seiner ausdrücklichen Anweisung darauf besteht, den Joker wie einen willkommenen Gast zu behandeln. Ob da irgend etwas in seiner Abwesenheit zwischen den beiden passiert ist? Aber nein, davon hätte Alfred ihm erzählt.

Wahrscheinlich hat Alfred einfach nur Mitleid mit dem Joker.

Und eines muss Bruce zugeben: zur Zeit fällt es auch ihm zunehmend schwerer, den Joker als Gefahr zu betrachten. Er wirkt nicht so, nicht, wenn er weder grinst noch lacht und einfach nur teilnahmslos vor sich hinstarrt. Oder, so wie jetzt, unschlüssig mit dem Löffel in seiner Suppe herumrührt.

Da er jetzt nur ein schlichtes dunkles T-Shirt und eine schwarze Jeans trägt, wirkt er nicht nur bleich, sondern weiß wie ein Gespenst - unheimlich und bedauernswert zugleich. Aber er riecht jetzt wenigstens besser. Und so frischgewaschen glänzt sein Haar in einem erfrischenden Grünton - wie das Moos unter der alten Eiche draußen in der Parkanlage, die zum Manor gehört.

Es ist still am Tisch, ein richtiges Gespräch zwischen ihm und Alfred will einfach nicht zustande kommen. Bruce' Antworten auf die Fragen seines alten Freundes, wie sein Geschäftsessen und der Rest des Tages in der Firma so gelaufen sei, sind mehr als kurzsilbig. Sein Widerwillen, sein Geschäftsleben vor dem Joker auszubreiten, ist mehr als offensichtlich.

Alfred ist enttäuscht über die Eigensinnigkeit seines Arbeitgebers und wirft ihm einen mehr als eindeutigen Blick zu. Sieht er denn nicht, wie elend es dem Joker geht?

Alfred ist kein Arzt, aber er blickt auf viele Jahre der Erfahrung mit Bruce zurück. Dieser war als Kind schon bemüht tapfer und lässt sich auch jetzt als Erwachsener nichts anmerken, wenn seine Gesundheit angegriffen ist. Alfred hat daher gelernt, die Zeichen zu erkennen. Zeichen, die er jetzt am Joker wiedererkennt. Hier ein beinahe unmerkliches Händezittern, dort ein angespannter Wangenmuskel oder müde herabhängende Schultern.

Und es ist bestimmt kein Anzeichen von Gesundheit, wenn ein Mann den Großteil des Tages einfach nur damit verbringt, zu schlafen.

Alfred geht kurz in die Küche um den Hauptgang zu holen, und als er wiederkommt und ihn dieses eisige Schweigen begrüßt, ergreift er kurzerhand die Initiative mit einer Frage, die ihm schon den ganzen Tag im Kopf herumgeistert.

„Es ist kalt unten in der Bathöhle. Warum tragen Sie nicht den Pullover und die Schuhe, die ich Ihnen gegeben habe, Joker? Und wie ich sehe, tragen Sie ja nicht einmal Socken. Da ist die Erkältung ja schon vorprogrammiert."

Doch bei seinem Satz ist es Bruce, dem er einen vorwurfsvollen Blick zuwirft. Dieser versteht den Wink und besitzt sogar den Anstand, beschämt den Blick zu senken.

Joker allerdings hört auf, seine Erbsen von einer Tellerseite auf die andere zu schieben und starrt Alfred aus großen Augen an. Ganz offensichtlich hat ihm noch niemand zuvor diese oder eine ähnliche Frage gestellt.

„Mir ist nicht kalt", erwidert der Joker schließlich zögernd, gießt sich ein neues Glas Wasser ein  - schon das vierte, wie Alfred erstaunt feststellt - und trinkt es bis zur Neige. Ganz offensichtlich eine Verlegenheitshandlung, damit er über die richtige Antwort nachdenken kann.

„Ich laufe gerne barfuß", erklärt er dann. „Schuhe irritieren mich nur."

„Ich laufe auch gerne barfuß", stimmt ihm Alfred freundlich zu. „Aber nur im Garten. Und im Sommer. Nicht auf den Straßen. Nicht, wenn man bedenkt, was man sich da alles eintreten kann. Haben Sie keine Angst, dass Sie in einen rostigen Nagel oder Glas treten und sich eine Blutvergiftung holen könnten?"

Joker lässt das Glas, aus dem er eben trinken wollte, wieder sinken, legt den Kopf schief und blinzelt ihn irritiert an.

„Ich ... was?" und dann huscht sein Blick hinüber zu Bruce, als erhoffe er sich von diesem Unterstützung.

Doch dieser schützt Desinteresse vor und widmet sich voller Konzentration seinem inzwischen schon halbgeleerten Teller. Aber Alfred kann ihm ansehen, dass er sehr wohl die Ohren spitzt.

Alfred versucht sich an einem kleinen Lächeln.

„Und wenn ich erst an all ihre Kämpfe mit Batman denke. Auf den Dächern und in dreckigen Hinterhöfen. Die Dinge, die dann an Batmans Stiefelsohlen kleben, spotten jeder Beschreibung."

Bruce krümmt sich innerlich, als Alfred sein alter Ego erwähnt. Es ist ihm immer noch unangenehm, dass er jahrelang versucht hat, etwas vor dem Joker zu verbergen, was dieser schon längst wusste. Er will sich gar nicht vorstellen, wie oft der Clown Prince of Crime deswegen über ihn gelacht hat.

„Und im Winter", fährt Alfred fort und schaudert übertrieben. „Wie können Sie es da nur aushalten? Barfuß im Schnee? Allein der Gedanke verursacht mir Frostbeulen."

Der Joker starrt ihn einen Moment lang an und dreht sich dann zur Seite, streckt ein langes Bein aus und betrachtet nachdenklich seinen Fuß. Probehalber wackelt er mit den Zehen. Und muss sich plötzlich am Tisch festkrallen, weil ihm schwarz vor Augen wird. Aber der Schwindelanfall verschwindet genauso schnell wieder, wie er gekommen ist, und niemand scheint etwas bemerkt zu haben.

Wie war die Frage nochmal? Ach ja, genau …

Soll er lügen? Er zögert, entscheidet sich dann aber für die Wahrheit. Lügen sind anstrengender, man muss sie sich genau merken, und dazu fühlt er sich momentan wirklich nicht in der Lage.

„Manchmal brauche ich den Schmerz, damit ich nicht vergesse, dass ich lebe."

Die plötzliche Stille und die betretenen Mienen verraten ihm, dass eine Lüge wohl doch besser gewesen wäre. Für einen Moment fühlt er sich tatsächlich schuldig, doch dann bemerkt er, dass sein Glas wieder leer ist. Das erscheint ihm wesentlich wichtiger als alles andere um ihn herum. Schnell greift er nach der Karaffe, die nur noch zu einem Drittel mit der kostbaren Flüssigkeit gefüllt ist und füllt sein Glas wieder auf— dabei wird er skeptisch von Alfred beäugt.

Die Antwort des Jokers schockiert diesen weniger als dessen merkwürdiges Gebaren.

Der Kerl säuft wie ein Kamel am Wasserloch. Aber seine Augen wirken nicht fiebrig. Merkwürdig. Ich behalte das mal im Auge.

Bruce derweil hat schwer an Jokers Worten zu schlucken. Denn das wirft alles ein ganz anderes Licht auf Jokers halsbrecherische Aktionen und seine Reaktionen, wenn ein Teil seines Körpers mit Batmans Faust zusammentrifft - wieso er dann meistens nur darüber lacht. Aber anstatt ihn einfach mal danach zu fragen (dass der Joker ihm vielleicht nie eine so ehrliche Antwort gegeben hätte wie eben, ist dabei unerheblich), hatte er ihn einfach als Psychopath mit sadistisch-masochistischen Zügen abgestempelt - genau wie die Ärzte in Arkham.

Langsam und nachdenklich lässt Bruce seinen Blick über den Joker wandern, und es kommt ihm so vor, als würde er ihn zum ersten Mal richtig sehen. Er erhaschte mal einen flüchtigen Blick auf den eher durchschnittlichen, zweifellos aber gut aussehenden Mann, der Joker früher einmal gewesen war, vor seinem Chemieunfall.

Schuld verknotet seitdem Batmans Magen, hervorgerufen durch das Wissen, dass er dafür mitverantwortlich ist. Dass eine einzige Sekunde des Zögerns, der falschen Entscheidung, aus einem bisher unbescholtenen Mann eine solch rücksichtslose Naturgewalt wie den Joker gemacht hat. Ein Wesen, das sich von der Menschheit so weit entfernt hat, dass es Schmerz zufügen und erleiden muss, um sich lebendig zu fühlen.

„Es tut mir Leid, Joker."

Joker lässt sein Wasserglas sinken und legt fragend den Kopf schief.

„Ha? Was denn?"

Bruce macht eine unbestimmte Handbewegung. „Es ist meine Schuld, dass du so bist, wie du bist. Es ist meine Schuld, dass du in den Chemie-Tank gefallen bist. Kein Wunder, dass du mich hasst."

Jokers Lippen verziehen sich zu einem Grinsen und entblößen zwei Reihen gelber Zähne.

Aber sie sind nicht wirklich gelb, stellt Bruce mit plötzlichem Erstaunen fest. Sie wirken nur so dunkel, weil seine Haut so hell ist.

Und er selbst hat das nie erkannt, weil er nie wirklich hingesehen hat.

„Ich hasse dich doch nicht deswegen, Batsy."

„Nein?"

„Nein."

„Weswegen denn dann?"

„Na, weil du mir ständig bei allem dazwischenfunkst." Plötzlich erlischt Jokers Grinsen. Er nimmt noch einen weiteren Schluck aus seinem Glas und zieht kurz die Luft durch die Nase. Der Duft, der auf einmal von dem Millionär auszugehen scheint, berührt etwas tief in ihm. Er erinnert sich, so etwas schon einmal gerochen zu haben. Es ist süß und bitter und verheißungsvoll, ein wenig wie Honig und Mandeln und ... Kupfer?

Die Übelkeit kommt plötzlich und heftig. Mühsam schluckt er die Galle hinunter, die ihm die Kehle hinaufdrängt und trinkt etwas Wasser. Es scheint zu helfen. Sein Magen beruhigt sich wieder.

Nur wie aus weiter Ferne dringen Batmans Worte an sein Ohr.

„Ich hindere dich nur daran, gegen das Gesetz zu verstoßen und Unschuldige zu verletzen."

Joker starrt ihn an. Er spürt, wie die altbekannte, dunkle Wut mit ihrer kleinen Schwester, der bitteren Enttäuschung, wieder in ihm emporsteigt.

„Selbst wenn ich nur mal eine Cola kaufen will, stehst du sofort vor mir und willst mich wieder zurück nach Arkham bringen. Wenn's nach dir ginge, sollte ich dort verfaulen. Du willst Gotham vor mir beschützen. Und gleichzeitig willst du mich vor mir selbst beschützen? Und das alles nur, weil du dich für das, was ich bin, verantwortlich fühlst? Himmel, Bats, hör auf, dich wegen alles und jedem schuldig oder als Versager zu fühlen! Das hilft niemandem! Ich weiß nicht, wer ich vor meinem Unfall war, und das stört mich nicht, so lange ich weiß, wer ich jetzt bin. Und wenn ich dafür manchmal den Schmerz von aufgerissenen Füßen oder einem blauen Auge brauche, dann ist das verdammt nochmal weder dein Problem noch deine Schuld! Du weißt gar nichts von mir, und du brauchst gar nicht glauben, dass du anfangen kannst an mir herumzuanalysieren. Das versuchen diese sogenannten Ärzte in Arkham seit Jahren vergeblich."

Er holt einmal tief Luft und lacht plötzlich. „Nur, weil du einmal in meinem Kopf warst, heißt das nicht, dass du dich dort auskennst."

Bruce blinzelt verblüfft. Wieder einmal hat der Joker auf jene Gedanken geantwortet, die ihm seit langem schon im Kopf herumschwirren. Und tatsächlich dachte er, den Joker seit diesem Gedankenübertragungsexperiment von Dr. Strange etwas genauer verstehen zu können.

„Es ist laut in deinem Kopf', erklärt er überzeugt, „so viele Stimmen und Persönlichkeiten... du musst vor dir selbst beschützt werden. Du bringst dich selbst in Gefahr und bemerkst es nicht einmal." Dabei denkt er besonders an Jokers Sturz vom Aquädukt vor einer knappen Woche.

„Du bist so überheblich, Brucie. Du warst vielleicht in meinem Kopf, aber ich habe dir nur gezeigt, was du sehen solltest." Er spuckt die letzten vier Worte regelrecht aus: „Du weißt gar nichts!"

Alfred, der die Diskussion bisher still verfolgt hat, runzelt bei diesem Tonfall leicht die Stirn. Der Joker klingt eher enttäuscht als wütend.

Bruce' Reaktion wundert ihn allerdings nicht - dass der Wayne-Erbe wieder nur das Offensichtliche erkennt, war zu erwarten. Er ist so blind, was den Joker betrifft.

„Du vergisst, ich habe dich überlistet!" Bruce lacht triumphierend. „In deinem eigenen Kopf! Und es war noch nicht einmal schwer!"

„Fuck ja!" Plötzlich springt der Joker auf und wirft mit seinem Teller nach ihm. Bruce weicht dem Geschoß mit Leichtigkeit aus und das edle Porzellan zerschellt ein paar Meter weiter auf dem Parkettboden. Da der Joker kaum etwas gegessen hat, spritzen Kartoffeln, Erbsen und Krabben in alle Richtungen.

„Du und dieser Scheiß-Doktor habt mich mental vergewaltigt und du bist sogar noch einen Schritt weiter gegangen und es war dir scheißegal! Und alles nur, um deine geliebte Detective Yin zu finden! Fuck! Die Hexe hatte eine Lektion verdient! Und du auch!"

Außer sich vor Zorn schreit der Joker auf und nun fliegt die Karaffe in Bruce' Richtung.

Dieser fängt sie diesmal jedoch rechtzeitig auf, und darüber ist Alfred wirklich erleichtert. Das gute Stück besitzt einen hohen ideellen Wert, weil es Bruce' verstorbener Mutter gehörte.

Leider überhört Bruce wieder mal das Wichtigste in Jokers kleiner Ansprache.

„Ellen hat dir nie etwas getan! Niemand hat dir je etwas getan. Immer bringst du Unschuldige in Gefahr! Immer ruinierst du die Leben anderer! Und ich werde dich jedes Mal daran hindern. Und es ist mir egal, was ich dafür machen muss! Ob ich dafür in deinen Kopf gehen, dich verprügeln oder einsperren muss! So lange ich lebe, werde ich dich aufhalten!"

„Sie sind nicht unschuldig! Niemand von ihnen!"

„Ach ja? Was hat dir Ellen getan, dass du sie allein im letzten halben Jahr dreimal entführt hast? Du wolltest sie in die Luft sprengen!"

„Was regst du dich auf?" höhnt Joker und verschränkt die Arme vor der Brust. In Alfreds Augen sieht er aus wie eine eifersüchtige Ehefrau. „Du hast sie doch immer rechtzeitig gerettet. Du Held!"

„Und was hat dir Ethan getan?"

„Wer?"

„Ethan Bennett. Clayface! Er war mein Freund und du hast aus ihm ein Monster gemacht!"

„Der korrupte Cop?"

„Er war nicht korrupt!"

Joker gibt nur ein verächtliches Schnauben von sich. „Wie schade, dass du dir selbst im Wege stehst, nicht wahr? Du würdest mich so gerne für all das umbringen."

„Nein. Du tust mir einfach nur leid."

Du tust mir leid. Du bist genauso blind wie alle anderen."

Bevor noch irgend etwas anderes geworfen werden kann oder gar die Fäuste fliegen, ertönt der durchdringende Signalton des Batarings. Instinktiv greift Bruce nach seiner Hosentasche.

„Ja“, knurrt Joker und macht eine abschätzige Geste, „geh ruhig ran. Auch wenn ich nicht weiß, was Commissioner Gordon von dir will, schließlich bin ich doch hier.“

„Die Welt dreht sich nicht nur um dich“, zischt Bruce, zieht das kleine Gerät aus seiner Hosentasche und wirft einen Blick auf das Display. Für einen Moment ist er wirklich versucht, ungläubig aufzulachen, denn die kurze Nachricht besagt ihm, dass Gordon tatsächlich über den Joker mit ihm sprechen möchte. Da er aber seiner grünhaarigen Nemesis diesen Triumph nicht gönnen will, setzt er eine betont gleichgültige Miene auf.

Eigentlich will er sich nicht in sein Batman-Outfit zwängen, er hatte sich auf einen Abend ohne den dunklen Ritter gefreut, aber die Vertrauensbasis zwischen ihm und den Commissioner ist noch zu zerbrechlich. Er kann ihn nicht enttäuschen, nicht jetzt, wo die Polizei endlich beginnt, in ihm eine Unterstützung, eine Hilfe zu sehen.

Und dazu musste er nur ein paar mal Detective Yin retten – wenn das mal nicht ironisch war. Ausgerechnet dem Joker und dessen Übergriffen auf Polizisten hat er es zu verdanken, dass der Polizeichef nun Batman vertraut.

„Batman muss los“, entschuldigt er sich bei Alfred.

„Natürlich, Master Bruce“, ertönt Alfreds Stimme hinter ihm.

Irritiert dreht sich Bruce um und sieht seinen Butler im Türrahmen stehen, eine Kehrschaufel und einen Handfeger in den Händen.

Der Brite lächelt nachsichtig. Sein junger Arbeitgeber und dessen Erzfeind waren so sehr damit beschäftigt, sich ihre gegenseitige Antipathie unter die Nase zu reiben, dass keiner von ihnen bemerkt hatte, wie er den Tisch verließ und kurz in die Küche ging.

„Wir kommen schon zurecht“, erklärt Alfred und zwinkert dem Joker zu. „Unser Gast hier putzt jetzt erst einmal die Bescherung weg, die er verursacht hat und dann stecke ich ihn zurück in seine Zelle.“

Zu Bruce‘ großer  Überraschung – und Alfreds nicht ganz so großer – lässt sich der verrückteste Kriminelle Gothams widerspruchslos Schaufel und Feger in die Hand drücken und geht damit hinüber zu den Scherben seines Dinners.

„Bekomme ich eine Luftmatratze oder wenigstens eine Iso-Matte?“ fragt er  währenddessen. „Das Felsgestein wird langsam unbequem und in diesen Klamotten spüre ich jede Unebenheit. Und besteht die Chance, dass ich irgendwann mal wieder meine eigenen Sachen tragen kann? Ich vermisse meinen Mantel.“

Es ist wirklich erstaunlich, wie abrupt seine Stimmungen wechseln. Ungläubig schüttelt Bruce den Kopf. Er zögert, er traut den Frieden nicht. vielleicht sollte er doch noch die paar Minuten abwarten und den Joker dann selbst in die Zelle zurückbringen.

Doch dann begegnet er Alfreds auffordernden Blick und gibt nach.

So merkwürdig es klingt – Alfred scheint den Joker absolut im Griff zu haben.

Warum aber fühlt sich Bruce bei diesem Gedanken dann so unwohl?
 

***
 


 

Kapitel 5 - 7

5. Kapitel
 

Im Vernehmungsraum des Gothamer Polizeihauptquartiers flackert das übliche helle Neonlicht. Es verursacht Kopf-schmerzen, doch Batman lässt sich nichts anmerken. Vielleicht ist seine Miene etwas stoischer als sonst, aber er bezweifelt, dass der Mann ihm gegenüber das als das erkennt, was es wirklich ist: Kopfschmerzen und absolute Langeweile.

Batman wünschte, er wäre wieder zurück im Manor. Das hier ist die reinste Zeitverschwendung. Lieber ärgert er sich wei-terhin mit dem Joker herum. Der Streit mit ihm vorhin, der hat richtig gutgetan - nicht, dass Batman das jemals offen zu-geben würde, aber er liebt es, seine Nemesis auf hundertachtzig zu sehen. Das gefällt ihm viel besser, als Jokers momentan so passives Verhalten. Der Joker ist laut, chaotisch, und immer irgendwie in Bewegung, aber niemals so still und leise und ruhig wie in letzter Zeit. Das ist einfach nicht richtig.

Eine Bewegung vor ihm auf der anderen Seite des festgeschraubten Metalltisches reißt ihn aus seinen Gedanken. Dort sitzt der Pinguin, rückt sich sein Monokel gerade und beobachtet ihn mit deutlichem Widerwillen. Batman ist leicht amüsiert - immerhin war es doch der Pinguin, der dieses Gespräch hier wollte.

„Also, Cobblepot, du weißt etwas über den Joker, das du mir unbedingt sagen musst?"

Der zu klein und kompakt geratene Mann vor ihm nickt gewichtig.

„Allerdings. Obwohl du es nicht verdient hast, nachdem du mich so hast hängen lassen. Wenn du den Mumm gehabt hät-test, meine Geschichte zu bestätigen, hätte mir das einige peinliche Therapiestunden erspart."

Er klingt bitter und feindselig, aber das ist nichts Neues. Obwohl ihm Batman in diesem Falle Recht geben muss. Wenn auch nur ein kleines bisschen.

Aber es war einfach zu lustig gewesen, zuzusehen, wie der Pinguin im unbarmherzigen Griff der Polizisten vom Friedhof geführt wurde und dabei etwas von Vampiren schrie. Natürlich glaubte ihm niemand. Die Ärzte in Arkham dürften einen Riesenspaß gehabt haben.

„Eine zusätzliche Therapie sollte dir nicht geschadet haben", erklärt er trocken. „Außerdem - wenn ich das richtig sehe, haben deine Anwälte dich doch schon längst freigeboxt."

„Ja. Haha", kommt es übelgelaunt zurück. Mit einer für seine Größe und Statur erstaunlichen Gelenkigkeit hebt der Pingu-in sein rechtes Bein und platziert seinen Fuß auf der Tischkante, rollt sein Hosenbein höher und deutet vielsagend auf seinen Unterschenkel, an dem ein kleines Gerät festgeschnallt ist.

„Hier, ich stehe jetzt unter Hausarrest."

Batman kann sich nur wundern, was alles möglich ist, wenn man nur genug Geld für die richtigen Anwälte besitzt. Aber er ist damit zufrieden. Die größte Strafe für Oswald Chesterfield Cobblepot war es schon immer, wenn man ihm nicht glaub-te.

Und im Grunde war er ja auch ein Opfer von Dracula - wenn er auch nicht gebissen und transformiert wurde, sondern „nur" unter dessen Bann stehend als Sargwächter diente.

Trotzdem - dieses Gespräch beginnt, ihn wirklich zu langweilen.

„Komm zur Sache, Pinguin."

„Zur Sache? Ja, gut, ich komme zur Sache. Die Sache ist, dass da draußen ein gefährlicher Irrer frei herumläuft, der dies-mal noch gefährlicher ist als sonst." Er stellt seinen Fuß wieder auf die Erde und verschränkt beide Arme vor der Brust. „ Aber mir kann das ja egal sein, wenn ich zuhause in Sicherheit sitze."

„Wirklich? Für mich klingt das eher, als wünschst du dich nach Arkham zurück. Hinter dicke Mauern und sichere Türen."

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht."

„Ist das die wichtige Information, wegen der du mit mir reden wolltest? Dass der Joker gefährlich ist und frei herumläuft?" Doch dann sieht Batman den Gesichtsausdruck des Pinguins und sein Ärger verfliegt. Interessiert beugt er sich etwas weiter nach vorne und mustert seinen ärgsten Feind neben dem Joker durchdringend.

„Sehe ich da etwa Furcht in deinem Gesicht? Seit wann fürchtet der Pinguin den Joker?"

Cobblepot schluckt einmal schwer und rückt sich nervös das Monokel zurecht. Er widerspricht Batman nicht, auch, wenn das seinen Stolz verletzt. Ihn und den Joker verbindet eine jahrelange Feindschaft, die mehr auf Konkurrenzdenken als auf wirklicher Antipathie beruht. Es gab sogar schon Situationen, da haben sie einträchtig zusammen gearbeitet - auch wenn sie sich niemals gegenseitig vertrauen können, haben sie gelernt, einander zu respektieren. Auch Dank einiger gemeinsamer Schachpartien im Arkham Asylum.

Das Problem ist nur: Cobblepot respektiert den Joker auf dieselbe Art und Weise, wie er ein gefährliches Raubtier respek-tiert. Nicht mehr und nicht weniger. Und zur Zeit eher weniger.

„Wenn du schlau wärst, würdest du ihn auch fürchten." Der Pinguin räuspert sich einmal und wirft einen schnellen Blick hinüber zu dem Spiegel an der Wand, hinter der, wie jeder weiß, immer ein oder mehrere Polizisten stehen und sie ganz genau beobachten. Deshalb senkt er auch die Stimme zu einem Flüstern.

„Du und ich, wir wissen, dass Vampire existieren, dass Graf Dracula existiert hat. Sag, Batman, als du in den Katakomben warst und gegen Draculas Kinder gekämpft und ihnen dein Gegenmittel gegeben hast, war unter ihnen auch der Joker?”

„Nein", erwidert Batman ehrlich und hält ein Lächeln zurück. Natürlich nicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte er den Joker schon längst geheilt. Auch wenn er damals, als er sich gegen Draculas Opfer wehrte, angenommen hatte, dass der grünhaa-rige Harlequin of hate schon längst auf und davon wäre, schließlich hatte er die Zellentür absichtlich offen gelassen.

Ich habe immer noch keine Antwort von ihm erhalten, wieso er nicht getürmt ist, fällt ihm plötzlich ein. Er beschließt, das so bald wie möglich einzufordern.

„Natürlich nicht!" Pinguins triumphierende Stimme holt ihn zurück in die Gegenwart. „Und in Arkham ist er auch nicht, sonst wäre ich ihm gestern und heute da begegnet. Da draußen läuft immer noch ein Vampir herum, Batman! Und er ist nicht irgend ein Vampir."

Batman verbeißt sich ein Lachen. Dieses Gespräch wird ja immer besser.

„Der Joker?" erkundigt er sich betont skeptisch. „Ein Vampir?"

„Nicht irgend ein Vampir", wird er in verschwörerischen Tonfall verbessert. Nun lehnt sich auch der Pinguin etwas nach vorne und Batman sieht die Angst in seinen Augen. „Nicht so wie die anderen armen Teufel. Weißt du, was er gemacht hat, als der Graf ihn biss? Er biss zurück."

Batman blinzelt verblüfft.

„Ja, da staunst du, was?" zischt Copplepot. „Dracula staunte auch. Er hatte sie alle unter Kontrolle, nur ihn nicht. Höchs-tens sporadisch. Wenn überhaupt. Wahrscheinlich ist die Stimme des Blutsaugers unter all den anderen in Jokers Kopf einfach untergegangen. Und er läuft da draußen immer noch frei herum."

„Dracula ist nur noch ein Häuflein Asche. Jeder, den er gebissen hat, ist geheilt. Und jeder, der unter seinem Bann stand, auch."

„Hast du mir nicht zugehört, Flattermann? Der Joker hat den Grafen zurückgebissen! Kennst du denn gar keine Vampirge-schichten? Wenn der Meistervampir von einem Opfer gebissen wird, wird dieses selbst zu einem Meister!"

Batman winkt ab. Natürlich hat er sich informiert - und das nicht zu knapp.

„Das ist nur eine Legende unter Tausenden."

Cobblepot starrt ihn an, er zittert vor Wut. Er kann es wirklich nicht ausstehen, wenn man ihn nicht so ernst nimmt, wie er es gerne hätte.

„Gott, ich hoffe, du findest ihn und er zerfleischt dich!"

Batman erhebt sich wortlos und geht zur Tür. Der Pinguin wirft ihm noch ein paar sehr kreative Beleidigungen hinterher, doch der maskierte Ritter lässt sich nicht davon provozieren.

Er hat genug zu tun, nicht laut herauszulachen. Denn - mal ehrlich: die Vorstellung dass Joker den Vampir aller Vampire rotzfrech zurückgebissen hat, ist doch einfach nur herrlich!

Er geht in den kleinen Beobachtungsraum hinter dem Spiegel, wo ihn Commissioner Gordon und Detective Yin erwarten. Der Anblick der bildschönen, dunkelhaarigen Polizistin ist wie ein Lichtblick, erst recht, wenn sie ihn so anlächelt wie jetzt. In einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, wäre aus ihnen vielleicht ein Paar geworden, aber hier und jetzt sind sie nur gute Freunde.

Wenigstens heute Nacht wird ihr der Joker nichts antun können, schießt es ihm in Erinnerung an die keine Stunde zurück-liegende Diskussion durch den Kopf. Wenigstens heute Nacht sind sie alle vor ihm sicher. Eine weitere Nacht ohne den Clown Prince of Crime für Gotham.

„Glauben Sie ihm?" reißt ihn Gordons Stimme aus seinen Gedanken. „Dieses ganze Gerede von Vampiren und so?" Der Polzeichef klingt eher besorgt als belustigt. Auch wenn er den Aussagen des Pinguins keinen Glauben schenken mag, hat auch er schon zu viel gesehen und erlebt, um so etwas von vorneherein ad acta zu legen.

„Ich glaube ihm, dass der Joker gefährlich ist", erwidert Batman schlicht.

„Wir haben eine Spur vom Joker", wirft da Detective Yin ein. „Heute Morgen kam ein Anruf von einer Polizeiwache aus Blüdhaven. Ein Fischer gab dort zu Protokoll, den Joker vor sechs Tagen mit dem Netz vor der Bucht aus dem Wasser gefischt zu haben. Der arme Mann stand noch immer halb unter Schock."

„Gut, dann werde ich dort mit meiner Suche anfangen", sagt Batman, während er innerlich frohlockt.

Einem Fischer bist du also ins Netz gegangen? Na, sieh mal einer an. Und dann? Die Blüdhaven Bucht ist hundertfünfzig Meilen entfernt. Bist du den ganzen Weg zurück nach Gotham gelaufen? Wieso? Wieso bist du zurück gekommen? Ich hielt dich für tot. Das war doch die Gelegenheit für dich. Was bedeutet dir Gotham, dass du immer wieder zurückkommst?

Er wechselt noch ein paar freundliche, aber belanglose Worte mit Commissioner Gordon und Detective Ellen Yin, bevor er sich schließlich verabschiedet.

Aber er führt nicht sofort zurück in die Bathöhle. Er muss nachdenken, und zehn Meter über der Straße, auf dem denkmalgeschützten Museum neben einem steinernen Wasserspeier ist dafür genau der richtige Ort.

Von hier oben sehen die Menschen und Fahrzeuge klein aus, aber noch nicht unbedeutend.

Die Nacht ist gerade angebrochen, die letzten Pendler sind genauso unterwegs wie die ersten Nachtschwärmer. Gegenüber lockt das Theater elegant gekleidete Frauen und Männer zur Abendvorstellung, manche fahren sogar mit ihren Limousinen vor. Das sind die Kreise, in denen er sich als Bruce Wayne bewegt, aber er hat dafür schon längst nur noch ein müdes Lächeln übrig. Wirklich wohl fühlt er sich nur, wenn er Spenden für Bedürftige sammelt oder in der Maske Batmans seine Stadt beschützt. Wenn er Gutes erwirken kann.

Gutes erwirken…

Der Gedanke, der ihn schon seit Stunden quält und den er bisher erfolgreich unterdrückte, drängt nun endlich an die Ober-fläche. Machtvoll und mit sehr, sehr scharfen Zähnen.

Jokers Worte sind nicht an ihm abgeprallt, es ist ihm nicht einmal gelungen, sie erfolgreich zu überhören. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten seine Gefühle die Oberhand. Es ist alles wieder hochgekocht, wie immer, wenn jemand Ethan Bennetts Namen erwähne: Seine Wut, aber vor allem seine Enttäuschung darüber, was aus seinem ehemaligen Freund geworden ist.

Trotz allem hatte Ethan ab einem Punkt die Wahl, als Clayface hat er die Fähigkeit, jede beliebige Gestalt anzunehmen und mit viel Training war es ihm auch gelungen, in seinem alten Körper stabil zu bleiben. Tagelang. Er hätte den Rest seines Lebens als Ethan Bennett verbringen können, doch letztendlich entschied er sich für einen anderen Weg, entschied sich für Clayface, für Rache und Kriminalität.

Und es war unfair von ihm – Batman - dafür allein den Joker verantwortlich zu machen. Der Joker war für Ethans Zustand verantwortlich, aber nicht für dessen Entscheidungen.

Ob es das ist, was er immer meint, wenn er vom Chaos spricht? Er löst Ereignisse aus, stürzt uns über die metaphorische Klippe und steht dann einfach da und beobachtet, was aus uns wird? Beobachtet, welchen Weg wir einschlagen?

Ethan.

Harleen Quinzel.

All die vielen Namenlosen, die er überfüllt und terrorisiert? Verteidigen sie sich, verteidigen sie ihre Familien, werden sie zu Helden oder zu Feiglingen? Aber was ist mit denen, die er tötet? Den Unschuldigen? Was meint er damit, wenn er immer sagt, sie sind nicht unschuldig?

Gutes erwirken ... der Gedanke bringt sich wieder in Erinnerung, und er bemerkt, dass er schon wieder abgeschweift ist. Es ist wie ein Abwehrreflex. Doch diesmal bleibt er dabei.

Ich bin Batman. Ich versuche, Gutes zu bewirken. So gut ich kann. Aber nicht um jeden Preis ... oder?

Doch! Die Erkenntnis wirkt wie ein Schlag in den Magen. Wenn es um jemanden geht, der ihm nahe steht, verliert er seine Zurückhaltung. Das macht ihn zwar menschlich, aber er ist der dunkle Ritter Gothams, nicht der dunkle Rächer.

Bin ich übereifrig? Bin ich grausam? War ich eben nicht auch grausam, als ich Cobblepot gegenüber so tat, als würde ich ihm nicht glauben, genau wissend, dass es ihn härter trifft als jeder Schlag von mir?

Ethan gegenüber bin ich immer viel nachsichtiger. Bei ihm versuche ich immer noch, das Gute in ihm zu sehen.

Und was ist mit dem Joker? Ich habe damals nicht eine Sekunde daran gedacht, was es für ihn bedeuten könnte, wenn ich in seinen Geist eindringe. Würde das jemand mit mir machen, würde es sich für mich nicht auch die rücksichtslose Über-tretung einer roten Linie bedeuten? Ein Eindringen in meine Privatsphäre? Eine ... Vergewaltigung?

Batman schluckt einmal schwer. Er fühlt sich immer schlechter. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Joker ihm schon sehr früh einen Hinweis darauf gegeben hatte, wo er Detective Yin gefangenhielt.

Cobblepot hatte ganz recht. Ich höre nicht richtig zu.

Batman beschließt, das zu ändern.

Mit diesem guten Vorsatz macht er sich auf den Heimweg.
 

***
 

Er schläft ohne vorher sediert worden zu sein oder sich völlig verausgabt zu haben. Schon das allein ist bemerkenswert. Noch viel bemerkenswerter allerdings ist die Tatsache, dass er auch träumt.

In seinen Träumen ist er stark. Stärker als sonst. Stärker als Batsy. In seinen Träumen schleudert er Batsy einmal quer durch den Raum und ist verblüfft über seine eigene Stärke. Und er kann die Wände hochklettern wie Spiderman.

Aber vor allem sind seine Träume voller Blut. Er spürt es. Er riecht es. Aber vor allem schmeckt er es.

Und er kann es noch immer auf seiner Zunge schmecken, als er die Augen öffnet. Süß und warm und metallisch zugleich. Aber das ist falsch. Er weiß, wie Blut schmeckt, und es hat noch niemals so gut geschmeckt. So … dunkel. Wie die Fins-ternis selbst. Als wäre jeder einzelne Tropfen einen Schritt weiter hinunter ins sichere Verderben.

Es ist der falsche Pfad. Wenn er sich schon fürs Verderben entscheiden muss, dann definitiv nicht dieses. Falsch. Einfach nur falsch.

In seiner Zelle liegt der Joker auf dem Rücken und starrt mit weitgeöffneten, leeren Augen ins Nichts. Seine Atmung ist heftig und schnell, als hätte er gerade einen schweren Kampf mit Batman hinter sich. Schweiß glitzert auf seiner Stirn und aus seiner Kehle kommt ein tiefes Grollen, während sich seine Finger so fest in den felsigen Untergrund krallen, dass die Nägel splittern.

Er sieht nicht die Gitterstäbe oder die Höhlendecke über sich, er sieht nur dieses blasse Gesicht mit den aristokratischen Gesichtszügen, die zwingende Kraft in diesen hellen Augen und die spitzen Zähne hinter dem triumphierendem Lächeln.

Joker hasst dieses Gesicht, hasst es mit jeder Faser seines Körpers, denn dieser Kerl war in seinen Gedanken, in seinem Kopf und hat versucht, ihn zu kontrollieren! Hat versucht, ihn zu beherrschen!

Hat ihm Bilder gezeigt. Erinnerungen. Davon, wie er gegen seinen Batsy kämpfte. Hat ihm gezeigt, was er mit seinem Batsy vorhatte!

Aber niemand niemandniemandniemand nimmt ihm seinen Honeycake weg!

Und niemand niemandniemandNIEMAND kontrolliert den Joker!

Schmor in der Hölle, Bastard!

Aber das tust du ja schon längst, nicht wahr?

Jokers Lippen verziehen sich zu einem zufriedenen Grinsen. Er erinnert sich wieder. Sein Batsy-Honeycake hat diesen arroganten Graf Dracula besiegt.

Gut. Sehr gut. Der Pfad wurde nicht verlassen.

Erleichtert schließt er die Augen. Sein Puls beruhigt sich wieder.

Als er das nächste Mal das Bewusstsein wiedererlangt, nicht erwacht, neineinein, wach ist er schon etwas länger, ganz offensichtlich, sind seine Hände feucht und dieser Geruch hängt in der Luft. Auf seiner Zunge liegt wieder dieser kupferne Geschmack. Und oh ja, er ist durstig. Wieder.

War er irgend wann einmal nicht durstig?

Seine Fingerspitzen pochen im Takt seines Herzens. Oh, er mag dieses Gefühl, wenn der Schmerz so niedrig, aber konstant und lang anhaltend bleibt.

Ganz verloren in diesem Gefühl knabbert und nuckelt er weiter an den ruinierten Fingerspitzen seiner rechten Hand herum, während er mit der Linken über sich in der Luft das wispernde Orchester dirigiert, das niemand außer ihm hören kann. Zumindest trifft das auf die meisten Menschen zu, einige scheinen es doch irgendwie wahrzunehmen, denn manchmal wird eine neue Single von einem Musiker, einer Band oder einem Interpreten veröffentlicht, auf der er dann einige dieser Akkorde wiedererkennt.

Die Melodie ist immer anders, stets im Fluss, wie das nun mal so ist mit dem Leben; und meist ist sie nicht mehr als ein Hintergrundrauschen, wenn sie jedoch lauter wird, anschwillt wie ein Fluss nach der Schneeschmelze, dann kann er gar nicht mehr anders: er muss zuhören. Mitsingen. Mittanzen. Oder, so wie jetzt, die farbenfrohen Noten in der Luft nach-zeichnen.

Zuzusehen, wie sich sein Blut mit den lustig flackernden Farben vermischt, verursacht ihm ein Hochgefühl, wie er es sonst nur vom Crackrausch her kennt.

Und dann, ganz plötzlich, verkrampft er sich unter einer unerwarteten Hitzewelle. Oh. Ob er deswegen solchen Durst hat?

Er will gerade darüber nachdenken, als er dieses andere Gefühl spürt. Es ist altbekannt und immer willkommen, als würde eine innere Saite von ihm zum Klingen gebracht.

Das Orchester, eben noch Crescendo, wird wieder zu einem Wispern.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung richtet er sich in eine kniende Position auf und legt lauschend den Kopf schief. Das Röhren des Motors ist noch in weiter Ferne, noch wird es vom Rauschen des Wasserfalls übertönt. Um seine Lippen zuckt ein verzücktes Lächeln.

„Batsy is home."
 

***
 

In der Bathöhle erwartet ihn die vertraute Stille. Jedenfalls für die ersten drei Sekunden, bis er sich aus dem Batmobil ge-schwungen hat. Bis er die Fahrertür hinter sich schließt. Es ist, als wäre das leise Klicken ein Startschuss gewesen.

„Bist du das, Batsy?" schallt es durch sein Refugium. „Hmmm, ich weiß, dass du es bist! Ich habe Durst! Hey, Zimmerser-vice!" Und schon weht dieses manische Lachen zu ihm hinunter.

Aufseufzend schiebt sich Batman seine Maske wie eine Kapuze in den Nacken und massiert sich die Nasenwurzel.

Nicht ausflippen, beschwört er sich. Gaaaaanz ruhig bleiben.

Er atmet ein paar Mal tief durch, wie er es von seinen Meditationsübungen her kennt und geht zurück zu seinem Batmobil. Aus dem Handschuhfach holt er eine kleine 0,5 l Wasserflasche und macht sich damit dann auf den Weg nach oben zu den Zellen.

Jokers Stimme, durchdringend wie immer, begleitet ihn den ganzen Weg über, eine einzige Folge spöttischer Bemerkungen und wahrlich kreativer Schimpfnamen.

Und ja, Bruce ist grausam, aber diesmal mit voller Absicht, denn er nimmt den längeren, den langsameren Weg.

„So, Joker", ruft er, dessen Litanei mühelos übertönend, „da bin-"

Er stockt mitten im Satz und bleibt wie angewurzelt stehen. Seine Augen weiten sich fassungslos, als er sieht, was ihn erwartet.

„Batsy." Jokers Stimme ist das reinste Schnurren, als er sich an den Gitterstäben in die Höhe zieht. Dort, wo seine Hände das Metall berühren, hinterlassen sie feuchtglänzende, rote Abdrücke. Seine Hände sind so vollständig mit Blut besudelt, dass es aussieht, als trage er scharlachrote Handschuhe.

„Hey, Honeycake." Er drückt sein Gesicht an die Gitterstäbe und lächelt. Eine unheimliche Grimasse, denn Lippen und Kinn sind blutverschmiert und überall dort, wo er sich mit den Fingern durchs Gesicht gefahren ist, blühen rote Schmier-flecken.

Beinahe flehend streckt er den rechten Arm durchs Gitter.

„Ich habe Durst!"
 

***
 

Alfred kann nicht schlafen. Das ist ein Zustand, an den er sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre gewöhnt hat. Es ist der Preis, den er dafür zahlt, den Wayne-Erben quasi als seinen eigenen Sohn aufzuziehen. Zuerst waren da diese Nächte, in denen er die Alpträume und Monster unter dem Bett eines Kindes verscheuchen musste, später kamen die Zeiten, wo er aufblieb, darauf wartend, dass ein Teenager von wilden Partys zurückkehrte und jetzt wartet er ebenfalls, einen erste-Hilfe-Koffer immer griffbereit, auf Batmans Rückkehr.

So etwas wie ein Privatleben kennt er nicht, und er vermisst es auch nicht.

Der Junge brauchte ihn damals, die Scheidungspapiere waren schon unterschrieben und seine Frau mit den Kindern auf dem Weg nach Florida. Sie haben noch Kontakt und er besucht seine Kinder regelmäßig, doch das ist alles an Privatleben, was er braucht.

Das Leben mit einem Mann wie Bruce Wayne ist aufregend genug. Und jetzt, wo sich auch noch der Joker dazugesellt, erst recht.

Nachdenklich rührt Alfred den Zucker unter seinen Tee und setzt sich dann an den Küchentresen. Nicht zum ersten Mal fragt er sich, wann Bruce, eigensinnig wie er ist, endlich auch erkennt, was für ihn so offensichtlich ist. Bruce' Trauer um den Joker, als er dachte, dieser sei tot, hatte nichts mit Selbstvorwürfen über eine misslungene Rettung zu tun, genauso wenig wie dessen Freude über Jokers Rückkehr. Oder Bruce' Entscheidung, die Zellentür offen zu lassen. Und all diese vorgeschobenen Gründe, wieso er ihn jetzt hier behält ... Alfred seufzt leise auf.

Wann wird er es sich endlich eingestehen?

Das für morgen geplante zweite Date mit Vicky Vale bereitet dem treuen Butler daher erhebliche Kopfschmerzen. Er be-fürchtet, dass sich sein junger Freund in etwas stürzt, nur, um seinen wahren Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Das wird ihn nur ins Unglück stürzen.

Und was es für den Joker bedeuten mag, will er sich gar nicht erst vorstellen. Der Mann ist absolut besessen. Sein ganzes Denken, sein ganzes Streben dreht sich seit ihrem ersten Kampf nur noch um Batman. Und seit er weiß, wer sich hinter Maske und Cape verbirgt, auch noch um Bruce Wayne. Deshalb ist es so leicht, den Zeitpunkt zu bestimmen, wann genau er begriff, wer Batman ist - ab dieser Sekunde drehten sich fünfundneunzig Prozent seiner kriminellen Aktivitäten um den Wayne-Erben. Er raubte dessen Partygäste aus, entführte dessen Freunde, entführte Bruce Wayne selbst und sprengte quasi alles in die Luft, was auch nur annähernd mit Wayne Industries zusammenhing.

Es fiel nur deshalb nicht auf, weil es in dieser Stadt quasi nichts gibt, was nicht irgendwie mit Bruce Wayne in Verbindung steht.

Was wird er erst anrichten, wenn er hautnah miterlebt, wie Bruce zu seinem Date geht?

Alfred weiß, dieser Gedanke ist unfair, aber er hofft dennoch, dass der Joker, der in seinen Augen eindeutig eine Krankheit mit sich herumschleppt, morgen Abend schon zu schwach sein wird, um überhaupt zu bemerken, dass Bruce ausgeht.

Aber am allerliebsten wäre es ihm, wenn die beiden - der eine zu ignorant und der andere zu obsessiv - endlich aufhören würden umeinander herumzutanzen. Er weiß zwar nicht, wie das gut enden könnte, aber es wäre zumindest ein Anfang.

Himmel hilf— habe ich das eben wirklich gedacht? Fange ich etwa an den Joker ... zu mögen? Ja, bin denn ICH jetzt verrückt geworden?

„Alfred!" Bruce' aufgeregte Stimme, die aus dem Funkgerät dringt, das er immer wenn Batman unterwegs ist, bei sich trägt, reißt ihn aus seinen Gedanken.

„Ja, Master Bruce?" meldet er sich alarmiert.

Er glaubt, am anderen Ende ein erleichtertes Aufatmen zu hören. „Geht's dir gut, Alfred?"

„Ja, Master Bruce", entgegnet der Butler stirnrunzelnd. Sicherheitshalber steht er schon einmal auf. Es macht ganz den Anschein, als werde seine Anwesenheit in der Bathöhle benötigt.

Und tatsächlich...

„Ich brauche hier unten deine Hilfe, alter Freund. Und ... bring Knoblauch mit."

„Knoblauch, Bruce?" Alfred spürt, wie es ihm eiskalt den Rücken hinunterläuft.

Oh nein, bitte nicht SCHON WIEDER.
 

***
 

6. Kapitel
 

Es ist schlimmer als es jeder Schmerz sein könnte. Sein gesamtes Inneres krampft sich vor Abscheu zusammen, und ehe er es sich versieht, spuckt, hustet und würgt er die wenigen Schlucke Wasser, die er eben zu sich genommen hat, in hohem Bogen wieder aus.

Es ist ein reiner Schutzreflex, der ihn dazu zwingt, die Wasserflasche – diese Ursache seiner Probleme – von sich zu schleudern. Doch er bereut es noch im selben Moment, denn er ist so verdammt durstig!

Und dennoch schnürt ihm nur allein der Gedanke an Wasser die Kehle zusammen und verwandelt seinen Magen in einen heißen Knoten.

Frustriert aufschreiend fällt er auf die Knie. Seine Hände zucken hoch zu seinen Haaren, verkrallen sich in seinen Dread-locks und beginnen, daran zu ziehen. Es ist der verzweifelte Versuch, den einen Schmerz mit einem anderen zu ersetzen, der kontrollierbarer ist.

Aber letztendlich ist es doch nicht der Schmerz, der ihm Erleichterung verschafft, sondern etwas viel Simpleres. Es beginnt mit der Präsenz eines großen, starken Körpers neben ihm, der den unverwechselbaren Geruch von Honig und Mandeln mit sich bringt und endet mit dem Gewicht einer Hand auf seiner Schulter.

Er hört auf an seinen Haaren zu ziehen und dreht den Kopf.

Leuchtend blaue Augen bohren sich in seine und die Welt – seine Welt – hört auf, sich zu drehen.

Und sie dreht sich erst weiter, wenn auch quälend langsam, als sein ganz persönlicher dunkler Ritter die Hand ausstreckt und sein Gesicht berührt.
 

***
 

Scharlachrotes Blut auf weißer Haut. Obwohl er diesen Anblick von ihren Kämpfen her kennt, ist das Gefühl, das dieser Anblick diesmal bei ihm auslöst, ein grundlegend anderes.

Es schmerzt ihn, den Joker so zu sehen.

Eine behandschuhte Hand berührt vorsichtig ein spitzes Kinn und wischt mit dem Daumen etwas von dieser scharlachroten Flüssigkeit beiseite. Doch er macht es nur noch schlimmer. Noch mehr Rot auf weißer Haut.

Rubinrote Augen bohren sich bei dieser Berührung in seine azurblauen, ein leiser, kaum wahrnehmbarer Atemzug zittert zwischen ihnen, und dann entwindet sich der Joker seinem Griff und dreht seinen Kopf beiseite. Er starrt hinüber zu der Wasserflasche, die jetzt außerhalb der Zelle liegt und deren Inhalt im Felsen versickert.

„Ich habe Durst." Seine Stimme ist nur ein Hauch, so schwach, dass Batman ihn kaum verstehen kann, doch in ihr steckt die ganze Verzweiflung einer gemarterten Seele. Und dann, mit diesem unheimlich abwesenden Ausdruck auf dem Ge-sicht, führt er seine rechte, blutende Hand hoch zu seinem Mund.

Batman schluckt einmal schwer.

Das, was er den ganzen Tag über krampfhaft beiseite geschoben hat, worüber er nicht eine Sekunde lang nachdenken wollte, ist plötzlich wieder präsent.

Das Gefühl von Jokers weichen Lippen auf seinen eigenen, seine Wärme, sein Duft, die Art, wie er unter seinen Finger-spitzen erzitterte, wie heiß und schwer er sich in seiner Hand anfühlte ... das alles war einfach nur perfekt.

Für einen kleinen, nur allzu flüchtigen Augenblick war es einfach nur perfekt.

Ein perfekter, sorgenloser Augenblick, der Freiheit suggerierte, fern von allen Verpflichtungen und Nöten, wo er einfach nur er selbst sein konnte. Nicht Bruce Wayne und auch nicht Batman. Sondern einfach nur... er selbst.

Er und der Joker, gefangen in einem Mikrokosmos, wo außer ihnen beiden nichts mehr zählte.

Aber das ist falsch, weil das Universum so nun einmal nicht funktioniert.

Sie leben beide in völlig unterschiedlichen Welten - der Joker sogar in einer völlig andersgearteten als der Rest der Menschheit - und sie begegnen sich nur dann, wenn sich ihre Wirkungskreise überschneiden, wenn Joker ein Gesetz über-tritt und Batman einschreitet, wenn sie gegeneinander bis aufs Blut bekämpfen. Außerhalb dieser Begegnungen wissen sie nichts von dem anderen.

Wobei der Joker allerdings dank Bruce Waynes ständiger Medienpräsenz im Vorteil sein dürfte - es gibt genug Artikel, in denen das Privatleben von Gothams beliebtesten Playboy ausgeschlachtet wird.

Und das lässt Bruce instinktiv Distanz bewahren. Es verursacht ihm einfach ein flaues Gefühl im Magen, zu wissen, dass der Joker Batmans Identität schon seit Jahren kennt, dass er alles über Bruce Wayne erfahren kann - und dafür ist nicht mehr nötig als seinen Namen einmal in einer Internetsuchmaschine eingeben zu müssen - während er selbst noch immer ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Natürlich ist Bruce selbst daran schuld, alles, was ihn an dem Joker je interessierte, waren dessen Pläne und wie er diese vereiteln kann. Joker ist das große Unbekannte, das unberechenbare Etwas, gefährlich und gerissen wie ein Raubtier, ein manipulativer Bastard, ein psychotischer Sadist mit einem abartigem Sinn für Humor - kurz: niemand, mit dem man sich länger beschäftigen sollte als unbedingt notwendig.

Niemand, von dem man will, dass er weiß, wo man wohnt.

Und noch viel weniger jemand, in dessen Nähe man Herzklopfen bekommen sollte - außer vor Angst natürlich.

Und das ist der Zwiespalt, in dem sich Bruce befindet, wieso er ihn niemals, niemals! zu nahe an sich herankommen lassen darf.

Doch ihn jetzt hier so verletzlich zu sehen, blutend, verzweifelt und mit diesem unverständlichen Hang zur Selbstver-stümmelung (und so ernst, so ungewohnt ernst, nie hätte er das gedacht, aber er vermisst Jokers Lachen), lässt Bruce keine Sekunde mehr zögern.

Er handelt rein instinktiv.

Als er sieht, wie der Joker an seinen Fingern zu saugen beginnt, während seine andere Hand auch schon hoch zu seinem Mund wandert, um der ersten dort Gesellschaft zu leisten, greift er ein.

„Nicht", erklärt er leise. „Bitte nicht."

Behandschuhte Finger legen sich behutsam, aber dennoch unnachgiebig um die Handgelenke des Jokers und ziehen dessen Gliedmaßen fort von diesen scharfen, gelben Zähnen.

„Nein", wiederholt Bruce und mustert ihn eindringlich. Er kann sich nicht helfen, aber der Anblick des Blutes in Verbindung mit Pinguins Worten hat Zweifel geweckt. Dieselben Zweifel, die ihn dazu bewogen, Alfred zu bitten, sofort mit Knoblauch in die Bathöhle zu kommen.

Aber der Joker zeigt keine Anzeichen einer erneuten Infektion – kein Verblassen der Farben, keine Veränderung der Iris-farbe und vor allem: keine spitzen Reißzähne.

Und seine Haut ist alles andere als kalt. Sie glüht regelrecht, das kann er sogar durch den Stoff seiner Handschuhe spüren. Wieso auch immer er sich so verhält – es liegt nicht daran, dass er wieder ein Vampir ist.

Später, wenn man ihn fragt, warum er das getan hat, wird er keine Antwort darauf wissen. Es ist einer jener seltenen Mo-mente in seinem Leben, wo er einfach handelt ohne darüber nachzudenken, ganz egal, welche Konsequenzen oder Gefah-ren das für ihn nach sich ziehen könnte.

Der Impuls dazu entspringt derselben Quelle wie jener, der ihn vor einiger Zeit veranlasste, die Zellentür offen zu lassen und dem Joker damit eine Fluchtmöglichkeit zu bieten. Es ist dasselbe nebulöse Motiv, das ihn immer antreibt, sich aus einer Gruppe von Kriminellen stets den Joker als denjenigen zu wählen, den es zuerst gilt wieder dingfest zu machen.

Und vielleicht, ja vielleicht liegt es auch an diesem verlockenden Duft, der kaum wahrnehmbar zwischen ihnen in der Luft liegt und der ihn an wilde Beeren erinnert. So fruchtig und süß und vermischt mit dem schweren Geruch von frisch ver-gossenem Blut.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung beugt er sich nach vorne und verschließt die Lippen des Jokers mit einem Kuss.

Er schmeckt Blut und Salz und spürt, wie sich der Joker gegen seinen Griff wehrt, doch er hält ihn unbarmherzig fest, geht sogar noch weiter, indem er die Hände des Jokers fest gegen seinen Oberkörper presst. Er will ihm zeigen, wie heftig sein Herz klopft, will ihm zeigen, was er in ihm ausgelöst hat. Und tatsächlich - Jokers Widerstand erlahmt.

Er fühlt, wie sich Jokers Lippen gegen seine bewegen, wie er den Kuss erwidert, aber dann, plötzlich, spürt er auch scharfe Zähne an seiner Unterlippe. Bruce erstarrt. Aber noch bevor der Millionär seine eigene Vertrauensseligkeit bereuen kann, dreht der Joker seinen Kopf von selbst beiseite.

Bruce' Lippen rutschen ab und anstatt auf diesem warmen, köstlichen Mund landen sie nun auf einer leicht geröteten Wange. Eigentlich auch keine so üble Position, wie Bruce feststellt. Nur etwas verdächtig heiß. Fiebrig.

Er weiß nicht, wie viel Selbstbeherrschung es den Joker kostet, ihn nicht zu beißen, er weiß nicht einmal, ob er ihn über-haupt beißen wollte. Aber alles an seinem Benehmen spricht dafür, dass er es nicht tun wird.

„Ich war ein Vampir." Jokers Stimme ist nur ein Flüstern. Er zittert.

Merkwürdigerweise ist Bruce nicht ganz so überrascht darüber, dass er sich wieder erinnern kann, wie er eigentlich sein sollte.

„Sieh mich an", befiehlt er in seinem typischen Batman-Tonfall. Doch er hält ihn niedrig und so freundlich wie möglich.

Seltsam genug, aber Joker gehorcht. Sein Gesicht ist leer, völlig ausdruckslos, doch in seinen Augen lauern Schatten, die in Bruce das Verlangen auslösen, ihn zu beschützen. Bruce weiß nicht, woher dieses Gefühl plötzlich kommt, aber er weiß ja auch nicht, wieso er ihn küssen will. Später wird er vielleicht darüber nachdenken, aber nicht jetzt.

„Du hast niemals jemanden gebissen." Bruce hat nur eine ungefähre Vorstellung davon, was im Kopf des Jokers gerade vorgehen mag - und so, wie er dessen Kopf kennt, ist das nur einer von unzähligen anderen Gedanken - aber er hält etwas Aufmunterung für angebracht.

„Und ich werde nicht zulassen, dass du jetzt ausgerechnet bei dir selbst damit anfängst."

Vielsagend verstärkt er seinen Druck um Jokers blutverschmierte Hände, und bevor dieser noch irgend etwas darauf erwi-dern kann, verschließt Bruce seine Lippen wieder mit einem Kuss.

Verdammt, daran könnte er sich wirklich gewöhnen!

Und da ist er nicht der einzige. Aber anders als Bruce ist sich der Joker nicht sicher, inwieweit das hier real ist. Etwas, was sich so gut anfühlt, etwas, das seinen heimlichen Träumen so nahe kommt, kann erfahrungsgemäß gar nicht real sein.

Schmerzen ... Schmerzen sind real. Schmerzen wie seine pochenden Fingerspitzen und der Druck gegen seine Knochen, dort, wo Batman seine Hände festhält.

Oder die Schmerzen in seinen Knien, weil der Felsboden trotz der Isomatte doch recht hart ist.

Er hat immer noch quälenden Durst und versteht nicht, wieso er das Wasser nicht einmal ansehen kann, ohne dass es ihm den Magen umdreht, aber auf der anderen Seite ist er auch merkwürdig beruhigt. Sein Batsy ist hier, er hält ihn fest, und auch, wenn diese Küsse nur seiner Einbildung entspringen, für Batmans Präsenz gilt das nicht. Sein dunkler Ritter ist hier und zerquetscht ihm fast seine lädierten Finger. Alles wird gut.

Und - hey! - auch wenn diese Küsse vielleicht nicht real sind, heißt das nicht, dass er sie deshalb nicht genießen sollte, oder?

Aber nicht beißen, ermahnt er sich. Er will nicht, dass Bruce abermals erstarrt. Er soll nicht beunruhigt sein. Er will nicht, dass er sich ihm entzieht und weggeht. Er soll nicht denken, dass er immer noch ein Vampir ist und wieder gegen ihn kämpfen will.

Er braucht seinen Batsy, hier an Ort und Stelle. Hier, bei ihm. Er braucht seine starke, warme Präsenz, er braucht den Schmerz, den er ihm zufügt, weil er sonst aus der Welt fällt.
 

***
 

Als Alfred aus dem Lift stürmt, bewaffnet mit zwei Knoblauchketten und einem Steakmesser, ist er auf alles gefasst: einen wieder zum Vampir gewordenen Joker, der sich gierig auf Bruce stürzt oder einen verletzten, wenn nicht gar halbtoten Bruce, gebissen, ausgeblutet, selbst infiziert.

Doch seine schlimmsten Fantasien können ihn nicht auf das vorbereiten, was ihm in der Zelle begegnet. Sein Kampfschrei erstirbt ihm auf den Lippen und er lässt das zum Stoß erhobene Messer wieder sinken.

Er blinzelt. Einmal. Zweimal.

Doch das Bild verändert sich nicht.

Er fährt sich einmal mit der Zunge über die plötzlich trockenen Lippen und räuspert sich vorsichtig.

Dann kratzt er sich mit der freien Hand im Nacken.

„Bruce?"

Leicht irritiert wandert sein Blick über die in der Zelle knienden Männer. Bruce trägt immer noch sein Batman-Kostüm und er hat sein Cape wie eine Decke um den anderen Mann vor sich geschlungen, es sieht aus, als wären sie zu einem einzigen großen, schwarzen Wesen verschmolzen.

Und ... sie küssen sich.

Als Alfred sich dessen bewusst wird, klappt er seinen gerade geöffneten Mund wieder zu und spart sich jedes weitere Wort.

Er erkennt einen Fehlalarm, wenn er einem begegnet, denn Bruce' Miene nach zu urteilen, geschieht dies hier nicht gegen dessen Willen.

Er kennt Bruce' Küsse, hat sie oft genug mehr oder weniger unfreiwillig beobachten können. Und irgendwann konnte er nur anhand der Art, wie Bruce eine seiner vielen Freundinnen küsste, vorhersagen, wie lange diese Affäre dauern würde. Da gibt es die leichten, zarten Schmetterlingsküsse, die kurzen und die, die etwas länger dauern, die mit Zunge und die ohne und die, wo er die Augen offenlässt oder genüsslich schließt.

Dieser hier allerdings ist völlig anders, so einen hat selbst er noch nie gesehen.

Dieser Kuss ist ein sanftes, vorsichtiges Herantasten, einem Flehen gleich und doch drückt er zugleich diese unnachgiebige Entschlossenheit aus, wie sie für Bruce bei allem, was den Joker betrifft, so typisch ist. Während des gesamten Kusses hält Bruce seine Augen geschlossen - anders als der Joker. Dessen Lider sind nur auf Halbmast gesenkt. Aber seinem leerem Blick nach zu urteilen ist das unerheblich, ist er doch schon längst wieder in Sphären versunken, die noch viel weiter weg liegen als alles, was normale Menschen je erreichen können.

Alfred macht einen vorsichtigen Schritt auf sie zu. Und dann noch einen. Und noch einen. Im Gehen bückt er sich und hebt mechanisch eine herumliegende Wasserflasche auf. Sie ist noch halbvoll, aber die nassen Spuren auf dem Felsen verraten ihm, wo das meiste ihres Inhalts gelandet ist.

„Bruce?" fragt er noch einmal behutsam.

Bruce beendet diesen Kuss und sofort fühlt sich Alfred schuldig, die beiden gestört zu haben.

„Tut mir leid, wenn ich dich in Aufregung versetzt habe, Alfred", murmelt Bruce über seine Schulter hinweg. Aus irgend einem Grund lässt er den Joker dabei nicht eine Sekunde aus den Augen. „Ich habe überreagiert, als ich das ganze Blut gesehen habe. Das Gerede des Pinguins über Vampire hat mich nervös gemacht."

Blut? Beunruhigt runzelt Alfred die Stirn. Welches Blut?

Doch dann lüftet Batman sein Cape und gibt den Blick auf Jokers Hände frei, die er fest umklammert hält.

„Okay. Hm." Plötzlich kommt sich Alfred mit seinen „Vampir-Abwehrutensilien" sehr lächerlich vor. Während er das Messer in seiner Jackettasche verschwinden lässt, bleiben die Knoblauchketten aber mangels Alternative weiterhin um seinen Hals hängen.

„Was ist passiert?" erkundigt er sich leise, tritt noch näher und beäugt dabei besonders die Hände des Jokers. Dass er sich dabei auch direkt vor die Tür stellt, ist kein wirklicher Zufall, sondern seiner Ausbildung beim Secret Service, jahrelanger Erfahrung und nie nachlassender Vorsicht geschuldet.

„Ich hab ihm das Wasser gegeben", erwidert Bruce. „Aber aus irgend einem Grund konnte er es nicht bei sich behalten."

„Ich meinte seine Hände."

Wortlos dreht Bruce die rechte Hand des Jokers in seinem Griff so, dass Alfred sie besser sehen kann.

Schon nach dem ersten Blick zuckt der Brite zurück. „Oh mein Gott."

Voller Grauen starrt er auf die übel zerbissenen Fingerkuppen.

„Ich wusste nicht, wie ich ihn weiter daran hindern kann", murmelt Bruce. Zuerst versteht Alfred nicht, was er damit meint, aber als sich Bruce wieder nach vorne lehnt und die Lippen des anderen zu einem weiteren besinnlichen Kuss einfängt, bleiben keine Fragen mehr offen.

„Oh. Nun, das stellt Sie vor ein ernstes Problem, Sir. Sie können ihn schließlich nicht ewig auf diese Art daran hindern, sich weiterhin selbst zu verletzen."

Ein leises, zustimmendes Geräusch, das tief aus Bruce' Kehle kommt ist das einzige Zeichen darauf, dass er ihn wohl ver-standen hat. Oder es bedeutet etwas völlig anderes.

Um Alfreds Lippen zuckt ein kleines Lächeln.

„Obwohl es Ihnen anscheinend sehr viel Spaß macht."

Diesmal erfolgt überhaupt keine Reaktion auf seine Worte. Alfreds Lächeln verwandelt sich in ein breites, völlig atypisches Grinsen.

„Gut, ich werde dann mal den Erste-Hilfe-Koffer holen."

Mit diesen Worten dreht er sich um. Er kann sich irren, aber er hätte schwören können, dass Bruce ihm diesmal geantwor-tet hat. Und es klang ganz so wie „lass dir Zeit."
 

***
 

7. Kapitel
 

„Laaaaangweilig.”

Bruce versucht, das genauso zu überhören wie die letzten fünf „laaaangweilig" davor, doch diesmal will es ihm nicht mehr gelingen, die Gänsehaut - eine sehr angenehme Gänsehaut - die Jokers Stimme bei ihm hervorruft, zu ignorieren. Und so hört er auf, auf den Monitor zu starren und dreht sich auf seinem Stuhl zu jenem Mann herum, den er vor einer knappen Stunde noch so begeistert geküsst hat. Er bereut es nicht, und das irritiert ihn, doch er hat keine Zeit, gründlich darüber nachzudenken, denn er muss herausfinden, woran der Joker diesmal leidet.

Bisher hat er nur eine eindeutig erhöhte Leukozytenanzahl (daher das Fieber) und akuten Eisenmangel diagnostizieren können. Aber was genau dafür verantwortlich ist, hat das medizinische Programm noch nicht ausgespuckt. Beruhigender-weise gibt es wenigstens keine Anzeichen dafür, dass das Vampirvirus wieder aktiv ist.

„Bruciiiiiie - kann ich nicht wenigstens den Fernseher anmachen?" Es gibt ein leises, patschendes Geräusch, als der rechte nackte Fuß des Jokers den Felsboden berührt, Schwung holt, um den Stuhl, auf dem er sitzt, erneut um sich selbst drehen zu lassen. Kindisch? Ja, absolut. Aber auch sehr jokertypisch, und darüber ist Bruce sehr froh.

Sekundenlang sieht er ihm einfach nur zu und kann sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Als der Schüttelfrost ein-setzte, wollte Alfred ihren „Gast" sofort aus der zugigen Höhle nach oben in ein Gästebett stecken, doch es war der Joker, der sich sehr vehement gegen diesen Vorschlag wehrte. Letztendlich lieh Batman ihm sein Cape, und nun sitzt der Joker seit einer Stunde hier, kuschelt sich in den schwarzen Stoff und stellt den Drehstuhl auf eine harte Belastungsprobe.

Wenn da nicht seine glasigen Augen und seine geröteten Wangen wären, käme Bruce nie auf den Gedanken, dass er Fieber hätte.

Obwohl - die roten Wangen könnten auch vom Likör stammen. Alkohol und Fieber - keine sehr vorteilhafte Kombination, wie Bruce zugeben muss, doch es ist ein Getränk, das Jokers Durst löscht und das er nicht sofort wieder ausspuckt. Es liegt am Eisengehalt der schwarzen Johannisbeere, aus der der Likör besteht. Es ist wirklich ein riesiger Glücksfall, dass Alfred noch einige Flaschen seines selbstgebrauten Likörs übrighat und dass er sich daran erinnerte, dass schwarze Johannisbee-ren bei Eisenmangel hilfreich sind.

Bruce kann nur mutmaßen, aber im Zuge seiner Ermittlungen gegen Graf Dracula fielen ihm auch Abhandlungen in die Hände, in denen als ein Grund für Vampirismus auch akuter Eisenmangel vermutet wird. Vielleicht, so vermutet er, hat sich Joker deswegen seine Fingerspitzen zerbissen und sein eigenes Blut getrunken. Vielleicht hat sich da aber auch nur eine weitere nervöse Störung manifestiert.

Die Hauptsache ist jedoch, dass der Joker seine Fingerspitzen nicht mehr als Kauknochen missbraucht. Dank seiner Immunität gegen viele Gifte steigt ihm der Alkohol auch nicht so schnell zu Kopf wie es bei einem normalen Mann seines Gewichts der Fall gewesen wäre. Das heißt aber noch lange nicht, dass er nach dem Genuss von einem halben Liter Likör noch nüchtern wäre - beileibe nicht.

Jokers nörgelnde Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken.

„Du arbeitest jetzt schon seit einer Stunde daran. Was hoffst du zu finden, was du bisher noch nicht gefunden hast?"

Meine innere Ruhe, ist Bruce versucht zu sagen. Denn ich weiß nicht, wie ich auf dich reagieren soll... Er weiß, er flüchte-te sich ganz bewusst in die Daten, starrte lieber auf den Monitor, weil es ihm so schwer fiel, ihn nicht mehr zu küssen. Zumindest in der ersten halben Stunde. Jetzt, eine weitere halbe Stunde konzentriertes Arbeiten später, hat sich zumindest sein körperliches Verlangen etwas abgekühlt.

Was hat der Kerl nur an sich? Und warum ER? Er ist ein KERL! Und warum muss er sich ausgerechnet JETZT sexuell neu orientieren?

Ob das daran liegt, dass er schon seit Monaten nicht mehr mit einer hübschen Frau intim war? Verdammt, er muss damit aufhören, schließlich rechnet er sich gute Chancen bei Vicky Vale aus.

Seufzend fährt er sich mit den gespreizten Fingern durch das Haar und beobachtet den Joker mehr oder weniger verstohlen.

Dieser lässt seinen Stuhl ausschwingen und starrt zurück. Auch er erinnert sich sehr deutlich an ihre Küsse, aber mag auch alles in ihm nach mehr schreien, so weiß er doch, dass es für alles einen rechten Augenblick gibt und seiner … nun, seiner ist erst einmal vorbei.

Das hält ihn aber nicht davon ab, die Nähe des Millionärs zu suchen - der wahre Grund, wieso er nicht in ein Gästezimmer wollte. Aber dass ihn dieser dann so lange ignorierte, ist einfach nur frustrierend. Er ist daher nicht gewillt, jetzt, wo er endlich seine Aufmerksamkeit errungen hat, diese so schnell wieder aufzugeben. Bruce soll sich mit ihm unterhalten und er verfällt daher auf die altbewährte Methode der nervtötenden Provokation.

„Komm schon, Brucie. Entspann dich mal. Du arbeitest viel zu viel. Das ist ungesund."

„Entschuldige bitte", zischt Bruce da auch schon zurück, „dass ich dir helfen will."

„Oh, das verzeihe ich dir", Joker macht eine wegwerfende Handbewegung, „aber was ich dir nicht verzeihe, ist, dass du dir wieder Vorwürfe machst und denkst, du würdest versagen."

Sprachlos starrt Bruce ihn an. Die Fähigkeit seiner Nemesis, ihn so mühelos zu durchschauen, wird ihm allmählich un-heimlich.

„Ehrlich, Batsy, du darfst das alles nicht immer so ernst nehmen. Du kannst nicht jeden retten.”

Endlich findet Bruce seine Stimme wieder.

„Ich will nicht jeden retten", braust er auf. „Hier und jetzt und heute will ich dich retten! Also hör auf, dich über mich lustig zu machen!"

„Sonst was?" unterbricht ihn Joker und kichert belustigt. Es ist ein lang vermisstes Geräusch, und doch wünscht sich Bruce, es käme zu einem anderen Zeitpunkt. „Sonst wirst du es dir doch noch einmal überlegen? Sonst wirst du mir nicht helfen? Das glaube ich kaum. Das widerspräche nämlich allem, was du so vehement verteidigst."

Bruce seufzt einmal tief auf, schüttelt den Kopf und will sich wieder seinem Computer zuwenden. Dieses Gespräch geht ihm zunehmend an die Nieren - er kann sich gegen alles verteidigen, aber gegen die Wahrheit aus dem Munde dieser rotäugigen Pest ist er einfach machtlos.

„Hey Batsy!"

Hinter ihm ertönt das Rascheln von Stoff, gefolgt von dem Geräusch nackter Füße auf Stein, und plötzlich ist die Stimme des Jokers ganz nah und er spürt eine leichte Berührung an seiner rechten Schulter. Er dreht den Kopf und sieht direkt in ein blasses, ungewohnt besorgtes Gesicht.

„Sei nicht gleich beleidigt, Bruce. Ich bin nicht undankbar, wirklich nicht. Aber manchmal kann man eben nichts tun. Du musst lernen, das zu akzeptieren, sonst gehst du daran kaputt. Und das", Joker zögert kurz und für den Bruchteil einer Sekunde flackert sein Blick zu einem Punkt über Bruce' Schulter, „würden deine Eltern bestimmt nicht wollen. Sie haben schließlich versucht, dich zu einem glücklichen, optimistischen Menschen zu erziehen. Du ... du solltest dir angewöhnen, dich an die schönen Dinge zu erinnern und ... und lernen, dass auch in jeder noch so schlimmen Situation etwas Positives versteckt ist." Er grinst und beginnt dann zu lachen. „Sei ein wenig mehr wie ich, Brucie-boy."

„Wie kannst du es wagen?!” Mit einem Satz ist Bruce aufgesprungen, packt ihn am Kragen und schüttelt ihn mit blitzen-den Augen durch. Joker lässt das Cape los, in das er sich bisher eingewickelt hatte und der schwarze Stoff gleitet zu Boden wie ein riesiger, dunkler Schatten, gefolgt von einem Likörglas, das er noch in einer Hand gehalten hat und das jetzt auf dem Felsen in unzählige kleine Scherben zersplittert.

In einer instinktiven Abwehrbewegung hebt Joker die Hände, doch seine mit Pflaster umwickelten Finger rutschen nur kraftlos an Bruce' behandschuhten Händen ab.

„Du weißt nichts von meinen Eltern! Wage es nie wieder, sie zu erwähnen, du elender Bastard!"

Mit aller Kraft und noch viel mehr Verachtung stößt er den Joker von sich. Dieser taumelt durch den unerwarteten Schwung nach hinten und fällt höhst unelegant über den Stuhl, auf dem er bis vor zwanzig Sekunden noch gesessen hat. Mit einem höchst unangenehmen Geräusch schließt sein Hinterkopf Bekanntschaft mit dem harten Felsboden.

Oh. Mein. Gott. Bruce ist vor Schreck wie erstarrt. Scheiße.

„Joker! Joker, es tut mir leid! Das hab ich nicht gewollt!"

Der Joker liegt keuchend auf dem Rücken. Die Wucht des Aufpralls nimmt ihm vorübergehend den Atem und das ist fast schlimmer als der aufbrandende Schmerz in seinem Hinterkopf.

Für eine Weile wird alles Schwarz, doch er hat Übung darin, sich an seinem Bewusstsein festzukrallen. Es dauert nicht länger als eine oder zwei Sekunden, bis seine Welt wieder feste Formen annimmt, und dann ist das erste, was sich heraus-kristallisiert, Bruce Waynes reuevolles und besorgtes Gesicht.

„Es tut mir wirklich leid. So sehr leid."

Bruce hebt eine zitternde Hand und berührt damit vorsichtig Jokers Kopf. Es ist eine sehr hilflose Geste, die mehr auf Instinkt denn auf Rationalität beruht, denn alles, was er zwischen die Finger bekommt, sind Jokers dicke, grüne Dread-locks.

Aus Jokers Kehle löst sich ein glucksendes Geräusch, das schnell zu einem Kichern wird.

„Oh, so viel Zorn! So viel Wut!" Das Kichern steigert sich zu einem Lachen. Er lacht so heftig, dass ihm die Tränen in die Augen steigen. „Wundervoll. Lass es raus. Komm, lass es raus." Jokers Stimme senkt sich zu einem heiseren, geradezu verführerischen Raunen. „Du willst es doch auch, oder?"

Tatsächlich verspürt Bruce den Drang, ihm seine Faust ins Gesicht zu rammen, doch er hält sich zurück, über sich selbst zutiefst entsetzt. Ihm fallen all die anderen Situationen ein, in denen er sofort zuschlug - und war es nicht gerade dieses Benehmen, das zu dem glücklicherweise-doch-nicht-tödlichem Unfall des Jokers führte?

Was ist das nur, dass es ausschließlich dem Joker gelingt, immer derartig an seiner Selbstbeherrschung zu kratzen? „Nein", entgegnet er leise, nichtsdestotrotz aber entschlossen. Er öffnet seine bereits zur Faust geballte rechte Hand Wieder und lockert den Griff der anderen in Jokers Haaren. Er holt einmal tief Luft.

„Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun."

Joker starrt ihn sekundenlang nur aus seinen roten Augen an. Seine Heiterkeit ist regelrecht verpufft und macht etwas Platz, was Bruce bisher noch nie an ihm gesehen hat: Kummer.

„Was soll ich nur mit ihm machen?" Er klingt leise und verloren, als er seinen Blick wieder auf einen Punkt über Bruce' Schulter richtet. Nur mühsam unterdrückt Bruce den Impuls, sich umzudrehen. Er weiß, dass da niemand steht. Ob der Sturz auf den Kopf eben Joker das letzte bisschen Verstand gekostet hat? Denn nach allem, was er weiß, mag der Joker vielleicht Stimmen hören, aber bisher hatten sie sich doch noch nie in imaginären Personen manifestiert, oder? Vielleicht ist das aber auch „nur" eine Folge des Fiebers. Oder des Alkohols. Oder ein Symptom der bisher unbekannten Krankheit, an der er leidet?

Bruce weiß, dass man Verrückte nicht in ihren Wahnvorstellungen bestärken sollte, aber die Fragen schlüpfen ihm von den Lippen, bevor er sie zurückhalten kann.

„Mit wem redest du da? Wen siehst du dort?"

Verdammt! Ertappt zuckt der Joker zusammen und beißt sich auf die Unterlippe. Das hätte nicht passieren dürfen. Er kann die Schuld nur bei seiner derzeitigen körperlichen Verfassung suchen - Fieber und hämmernde Kopfschmerzen und eine leichte Alkoholisierung sind schlechte Voraussetzung dafür, ein lang gehütetes Geheimnis zu bewahren.

Er war bisher nur ein einziges Mal unvorsichtig, in Arkham, als sie ihn so mit Drogen vollgepumpt hatten, dass er sich kaum noch an seinen Namen erinnern konnte. Aber das war nicht wirklich schädlich, die Ärzte dort setzten einfach noch die Diagnose „Schizophrenie" zu den anderen in seiner Akte hinzu. Das hier würde nicht so leicht werden. Er versucht es dennoch.

„Iiiiiich?" erklärt er gedehnt und zaubert sein bestes Grinsen hervor. „Ich rede mit niemanden. Mit niemanden außer dir. Es ist doch niemand außer uns beiden hier. Andererseits ... vielleicht doch? Ich höre Stimmen. Ich bin verrückt. Frag die Ärzte in Arkham. Oder nein ... besser noch: dich selbst. Du warst doch in meinem Kopf, du weißt, wie es da zugeht."

Bruce runzelt die Stirn und wirft ihm einen skeptischen Blick zu. Hat der Joker etwa ihre Diskussion beim Dinner schon vergessen? Aber nein ... das wagt er zu bezweifeln, nicht, nachdem er sich so darüber aufgeregt hatte. Viel wahrscheinlicher ist - und bei diesem Gedanken vertiefen sich die Falten in seiner Stirn nur noch - dass der Joker darauf spekuliert, dass Bruce ihm vor ein paar Stunden nicht richtig zugehört hat. Und, wenn man bedenkt, welch gemeine Dinge er gesagt hat, wo doch eine Entschuldigung angebrachter gewesen wäre, kann er es ihm nicht einmal verübeln.

Doch Bruce ist müde und erschöpft und voller Sorgen - kurz: er ist diese Spielchen wirklich leid.

„Halt mich nicht für dumm. Du hast selbst gesagt, dass du mir nur gezeigt hast, was ich sehen sollte. Du hattest in einem Recht: ich weiß überhaupt nicht, was in deinem Kopf so vor sich geht. Ich will das aber ändern, Joker. Ich will wissen, was in dir vorgeht. Und nicht, weil es mir helfen würde, deine kriminellen Aktivitäten vorauszuahnen. Auch nicht, weil es mir vielleicht eine Hilfe wäre, herauszufinden, welche Krankheit du hast. Sondern, weil ich dich einfach nur verstehen will." Er holt einmal tief Luft und blinzelt erstaunt. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat er seine Hände um Jokers Gesicht gelegt und sich zu ihm hinuntergebeugt, so tief, dass sich ihre Nasenspitzen fast berühren. Er kann Jokers Atem auf seiner Haut spüren, er riecht süßlich - nach Alkohol und Beeren. Und er kann die Hitze fühlen, die er ausstrahlt.

„Ich will dich verstehen, Joker. Bitte, sag mir, wen oder was du siehst."

Joker starrt ihn für einen Moment nur an und schließt dann abweisend die Augen. „Nein."

Warum nicht? will Bruce schreien, doch er beißt sich noch rechtzeitig auf die Zunge. Die Antwort auf diese Frage ist schließlich offensichtlich: Joker traut ihm nicht. Aber Bruce hat schon so viele Vernehmungen von Superkriminellen durchgeführt, um genau zu wissen, dass man mit Fragen, die das Thema von einer anderen Seite beleuchten, oft sehr viel weiter kommt. Auch beim Joker hat das schon funktioniert.

„Aber du siehst etwas, nicht wahr? Etwas, das normale Menschen nicht sehen, weshalb es oft als Wahnvorstellung. abge-tan wird. Aber...” seine Stimme wird leiser, nachdenklicher, während er sanft mit den Daumen über Jokers Wangenkno-chen fährt - so heiß, so furchtbar heiß -‚ „...das ist doch auch nicht weiter verwunderlich. Deine Augen sind einzigartig. Wie können wir es wagen, deine Sehfähigkeit mit menschlichen Maßstäben zu messen?"

Bis eben hat er nie über solche Dinge nachgedacht, und jetzt, wo er sie ausgesprochen hat, erscheinen sie ihm so offen-sichtlich und absolut wie eine in Stein gemeißelte Wahrheit.

Joker schlägt seine so einzigartigen Augen auf. Augen, rubinrot und mit Pupillen so fremdartig als stamme er von einem fremden Planeten, Pupillen nicht schwarz, sondern gelblich leuchtend wie die einer Katze in der Nacht. Ob er genau wie Katzen über eine reflektierende Pigmentschicht im Auge, das Tapetum Lucidum verfügt?

Jokers Gelächter reißt ihn aus seinen Gedanken. „Wow, Bruce! Und dafür hast du nur tausendfünfhundertzweiundneunzig Tage gebraucht?"

„Du zählst die ... Tage??" Bruce blinzelt verblüfft, sich schlagartig bewusst werdend, wie nahe sie sich schon wieder sind. Er nimmt seine Hände von Jokers Gesicht und weicht gleichzeitig etwas zurück.

Kichernd rappelt sich Joker auf die Ellbogen hoch und wäre fast wieder zurückgefallen, doch da greift Bruce stützend ein.

„Ist gar nicht so einfach", gibt er zu, während ihm Bruce in eine sitzende Position hilft. „Ich verliere oft den Anschluss. Wenn du mich ausknockst oder wenn ich einen typischen Arkhamer Drogencocktail genießen darf. Dann muss ich erst auf das Datum der Tageszeitung sehen. Aber ja, im Grunde genommen zähle ich die Tage und nicht die Jahre."

„Du lenkst ab."

„Was?"

„Schon okay. Du traust mir nicht. Das ist okay." Bruce' Lächeln wirkt etwas verrutscht, aber durchaus ehrlich. „Wahr-scheinlich würde ich mir an deiner Stelle auch nicht trauen."

Er macht Anstalten sich zu erheben und streckt Joker auffordernd eine Hand entgegen. „Kannst du aufstehen?" Und als Joker zögernd seine Hand ergreift, um sich von ihm in die Höhe ziehen zu lassen und dabei schmerzhaft das Gesicht ver-zieht, setzt er ein mitfühlendes: „Geht's?" hinterher.

Es geht nicht, aber Joker gehört nicht zu jener Art von Männern, die so etwas zugeben würden. Und so beißt er nur die Zähne zusammen und zwingt seinen Körper dazu, den Befehlen, die sein Gehirn ihm gibt, zu gehorchen.

Wieder aufrecht, schwankt er bedrohlich, aber sofort ist Bruce da und legt ihm stützend einen Arm um die Taille. Für einen Moment gestattet es sich Joker sogar, diesen Körperkontakt zu genießen.

„Es ist nicht so, dass ich dir nicht traue", hört er sich selber zu seinem eigenen Entsetzen murmeln. „Es ist nur schwer zu erklären. Versuch du doch mal, einem gebürtigen Blinden das Prinzip von Farben verständlich zu machen."

Bruce nickt nur, leicht abwesend. Jokers T-Shirt ist ein paar Zentimeter nach oben gerutscht, so dass Bruce' Finger direkt auf seinem Hüftknochen zu liegen kommen. Wieder einmal bemerkt er, wie heiß sich der Körper des anderen doch anfühlt. Er gehört ganz zweifellos ins Bett. In ein richtiges Bett.

Und genau dorthin wird er ihn jetzt auch bringen.

Reden können sie später immer noch.
 

***

Kapitel 8 -9

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 10 - 12

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 12 -14

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 15 -18

15. Kapitel
 

Müde streicht sich Bruce Wayne erst übers Gesicht und dann durch die von der erst wenige Minuten zurückliegenden Dusche noch feuchten Haare. Er fühlt sich immer noch wie gerädert, trotz besagter Dusche. Er hat mies geschlafen, wurde immer wieder durch Alpträume aufgeschreckt, an die er sich jetzt gar nicht mehr erinnern kann.

Es ist kurz vor zwölf Uhr an einem Sonntag, und er hat gerade seine Verabredung mit Vicky Vale abgesagt. Er fühlt sich nicht halb so schlecht deswegen, wie er es eigentlich sollte - und das wiederum verbessert seine Stimmung nicht im Geringsten. Einerseits ärgert es ihn, dass er anscheinend kein Problem mehr damit hat, seine guten Manieren einfach so über Bord zu werfen und auf der anderen Seite bestätigt das wiederum nur Selina Kyles Worte.

Aber er will nicht, dass sie Recht behält. Denn das würde ja bedeuten, dass sie auch in dieser anderen Sache Recht hat, nicht wahr?

Aber nein, das kann ... das darf nicht sein!

Entschlossen schüttelt Bruce den Kopf und drängt diese Gedanken zurück in die dunkle Ecke seines Seins, aus der sie stammen. Es gibt Wichtigeres, um das er sich kümmern muss.

Und so schnappt er sich sein Tablet PC vom Nachttisch, setzt sich im Schneidersitz mitten auf sein Bett und wartet darauf, dass das kleine Gerät eine Verbindung zu seiner Computeranlage in der Bathöhle hergestellt hat. Das dauert einige Minuten - viel zu lange, denn sofort kreisen seine Gedanken wieder um jenen Mann, der für ihn wohl ein ewiges Rätsel bleiben wird.

Der Mensch, so ruft er sich ins Gedächtnis, besitzt 23.000 Gene, und davon sind ein Prozent generell mutiert. Manche dieser Mutationen haben schlimme Auswirkungen, fuhren zu Krankheiten und Behinderungen, andere sind eher ein Segen für die Betroffenen wie eine höhere Immunität gegen Krankheitserreger oder ein eidetisches Gedächtnis, aber die meisten bleiben völlig unbemerkt. Mutationen gehören zur Evolution dazu. Nicht nur die Menschen sind davon betroffen - alles, was lebt, entwickelt sich auf diese Art weiter.

Die Mutationsrate des Jokers ist allerdings erstaunlich hoch - schon vor diesem ganzen Desaster mit Dracula betrug sie das Doppelte und jetzt hat sie schon vier Prozent überschritten und wird laut Computersimulation irgendwo bei 4,8 Prozent aufhören. Das sind 1.104 mutierte Gene, von denen die Hälfte wahrscheinlich nur dazu dient, die Veränderungen derart in den lebendigen Organismus einzubetten, damit dessen weiteres Überleben gesichert ist.

Bruce hat inzwischen begriffen, dass das Serum, mit dem er ihn gegen Vampirismus impfte, auf den Körper des Jokers wie ein Katalysator wirkte. Damit setzte er eine Kettenreaktion wieder in Gang, die vor vier Jahren aus irgend einem Grunde stoppte, damals, als der Joker in den Chemietank fiel und zum ersten Mal mutierte.

Und vielleicht hätte er einfach nur abwarten müssen, vielleicht war er zu voreilig, vielleicht hätte Jokers Immunsystem Draculas Gift selbst irgendwann neutralisiert. Und wenn er damals Jokers Mutation in seine Berechnungen mit einbezogen hätte, wäre dies alles hier vielleicht nie passiert. Dann würde Joker nicht wieder mutieren und er würde nicht Sorgen wälzen, wie gefährlich dieser Irre für Gotham zukünftig noch werden kann.

Das leise Piepsen des Tablets, mit dem es ihm mitteilt, dass die Verbindung zum Hauptcomputer hergestellt wurde, reißt ihn schließlich aus seinen Gedanken.

Zwei neue Datenpakete blinken, um seine Aufmerksamkeit heischend. Eines davon trägt die Kennung seiner Firma. Da-rum wird er sich später kümmern. Zuerst interessiert er sich für die Neuigkeiten, die sein kleines Spionageprogramm ihm liefert. Natürlich ist es nicht sehr nett, sich in den Computer seiner Journalistenfreundin zu hacken, aber er war faul - wieso selbst Recherchen anstellen, wo sie und ihre Kollegin das schon längst für ihn erledigt haben?

Und sie wird es ja nie erfahren. Er schadet damit weder ihr noch ihrer Story.

Er stellt schnell fest dass die Recherchen der beiden Reporterinnen ausgesprochen umfangreich und sehr detailliert geworden sind. Er bräuchte mehrere Stunden, um sich das alles anzusehen, Stunden, die er nicht wirklich hat.

Glücklicherweise haben sie zusätzlich zu den ausführlichen Berichten noch eine kompakte Tabelle erstellt, geordnet nach den verschiedenen Gesetzesverstößen.

Allein die Auflistung der Verbrechen erschüttert ihn zutiefst. Leben wirklich so viele Menschen in dieser Stadt, die Kinder oder ihre Partner misshandeln und die deswegen noch niemals angezeigt wurden?

Entsetzlich. Unvorstellbar. Ekelhaft!

Wenn er so etwas liest, fällt es ihm wirklich schwer, diese Menschen weiterhin als Opfer des Jokers zu betrachten. Wenn er ehrlich sein soll, weiß er nicht, ob Batman, hätte er von diesen Missetaten gewusst, nicht ähnlich gehandelt hätte. Auch wenn er Selbstjustiz ablehnt, er könnte nicht garantieren, dass er diese ... Ungeheuer ohne gebrochene Knochen bei der Polizei abgeliefert hätte. Schnell wendet er sich den anderen aufgelisteten Verbrechen zu. Gegenüber dem, was er bisher gelesen hat, sind diese regelrecht harmlos: Immobilienbetrug, Korruption, Fahrerflucht, Körperverletzung, Tierquälerei, Mobbing. Darunter auch jene Fälle, von denen Vicky ihm schon erzählt hat.

Dann stößt er auf den Namen, vor dem er sich schon die ganze Zeit gefürchtet hat: Ethan Bennett.

Er muss sich geradezu dazu zwingen, die mit diesem Namen verlinkte Datei durchzulesen. Er wusste, dass gegen seinen alten Freund ein Disziplinarverfahren wegen Korruption im Gange war, aber Ethan hatte ihm gegenüber immer seine Un-schuld beteuert, und er hat ihm geglaubt. Ja, er hat ihm sogar einen Anwalt bezahlt.

Doch jetzt muss er lesen, dass Ethan tatsächlich systematisch Verdächtigen Beweise untergeschoben hatte. Die Aufnahme einer Überwachungskamera an einem Tatort beweist das zumindest in einem Fall unwiderruflich.

Sogar an diese Aufnahme sind Vicky und ihre Freundin gekommen, und als er sie sich jetzt ansieht, fühlt es sich an, als würde irgend etwas in ihm zerbrechen.

Bruce spürt, wie sich seine Wangen verspannen, und er ertappt sich dabei, wie er mit den Zähnen zu knirschen beginnt.

Scheiße, Ethan, ich habe dir VERTRAUT!

Es schmerzt. Aber noch viel schmerzt die Gewissheit, dass der Joker die Wahrheit gesagt und er ihm nicht geglaubt hatte.

Er hatte recht. Er hatte die ganze Zeit recht!

Bruce schüttelt den Kopf und drängt das Gefühl der Schuld rigoros beiseite. Entschlossen wendet er sich wieder seinem Tablet zu. Es gibt noch so viel, was die beiden Reporterinnen herausgefunden haben.

Sie haben sogar eine Spalte ganz besonders markiert und diese „seelische Verbrechen" genannt. Neben der Misshandlung Schwächerer (was ja auch den gesetzlichen Straftatbestand erfüllt), steht dort auch so etwas wie „Untreue", „gebrochene Liebesversprechen" oder „entzieht sich seiner Verantwortung als Elternteil".

Im ersten Moment ist er überrascht, dann unangenehm berührt und zum Schluß befürchtet er beinahe, seinen eigenen Namen auf dieser Liste zu lesen. Seinen Ruf als Playboy besitzt er schließlich nicht nur wegen seines guten Aussehens.

Aber sein Name steht natürlich nicht auf dieser Liste - er ist nun mal kein Smilex-Opfer. Aber wäre er nicht Batman, sähe das vielleicht anders aus.

Vielleicht, überlegt er, als er weiterliest, hat er auch nur Glück gehabt, dass seine bisherigen Eroberungen mindestens so leichtlebig waren wie er und ihre Herzen ziemlich bruchfest. Er hatte keiner von ihnen eine Hochzeit versprochen.

Daran gedacht? Sicher. Mehr als einmal.

Aber es laut ausgesprochen ehe er sich selbst da ganz sicher war? Nein, noch nie.

Er hatte auch noch nie eine der Ladies grob vor die Tür gesetzt, geschweige denn sie geschwängert und dann feige im Stich gelassen.

Er ist reich, verdammt nochmal! Sollte es da ein uneheliches Kind von ihm geben, gäbe es keine Mutter, die nicht wenigstens versuchen würde, an Alimente zu gelangen. Nicht in dieser Welt, nicht wenn sie ihr Kind liebt und ihm ein gutes Leben ermöglichen will.

Für einen Moment starrt Bruce nur ausdruckslos auf diese Liste. Mal abgesehen von diesen verstörenden Schicksalen, die sich dahinter verbergen, irritiert es ihn zunehmend, dass sich ausgerechnet jemand wie der Joker für all diese Leute als Racheengel aufspielt.

Wenn man bedenkt, wie er immer mit Harley umgesprungen ist, sollte er selbst auf dieser Liste stehen.

Der Gedanke amüsiert ihn. Er beschließt, genau das beim nächsten Mal, wenn sie sich sehen, anzusprechen.

Wenn sie sich sehen...

Das Grinsen, kaum auf seinem Gesicht erschienen, verschwindet sofort wieder.

Um sich abzulenken, klickt er sich noch einige Minuten durch die verschiedensten Namen, doch am Ende fühlt er sich nur noch elend und schließt die Datei wieder. Er weiß, was er wissen wollte und der Gedanke, dass der Joker all dieses Elend gefühlt hat - denn woher sonst sollte er davon wissen? dreht ihm schier den Magen um.

Er steht auf und geht hinüber zu dem Sekretär in der Ecke, in dem sich in Wirklichkeit eine gut sortierte Hausbar verbirgt. Beides, Hausbar und Sekretär, stand schon bei seinem Vater hier und er hat in all den Jahren nichts daran geändert, genauso wenig wie an diesem immer, das ursprünglich das Schlafzimmer seiner Eltern war. Ein paar der Möbel sind natürlich neu - zum Beispiel sein Bett und die LED-Leuchten - aber das meiste ist noch genauso wie vor zwanzig Jahren. Nach dem Tod seiner Eltern wollte er ihnen so nahe sein wie möglich. Damals hat er jede Nacht in deren großem Ehebett geschlafen, doch als er anfing, seine Freundinnen hierher mitzubringen, hat er sich ein neues Bett gekauft. Alles andere wäre einfach nur pietätlos gewesen.

Die Bar aber gehörte seinem Vater, genauso wie die meisten der Flaschen, die hier stehen. Anders als sein Dad ist Bruce kein großer Whiskeyliebhaber, er bevorzugt Wein. Heute aber, nach dieser Lektüre, braucht er etwas Stärkeres.

Das Glas in der Hand, geht er hinüber zum Fenster und starrt hinaus. Der Regen hat anscheinend eine Pause eingelegt, und durch die Wolkendecke bricht tatsächlich etwas Sonnenschein. Nicht viel, aber es genügt, um das prächtige Rot und Gelb der Bäume zum Leuchten zu bringen. Nachdenklich runzelt Bruce die Stirn. Er hat gar nicht bemerkt, wie sich das Laub verfärbt hat. Letzte Woche - war da nicht noch alles grün gewesen? Oder ist er schon so gestresst, dass er so etwas gar nicht mehr richtig wahrnimmt?

Das Jahr vergeht so schnell, fährt es ihm in einem Anflug von Melancholie durch den Kopf. Bald ist wieder Winter. Kälte. Schnee. Und der Joker läuft dann trotzdem wieder barfuß.

Unbemerkt von ihm selbst, zuckt ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel. Er erinnert sich daran, wie sich der Joker vor zwei Jahren in eine der berühmten Bruce-Wayne-Weihnachtsparties hineingeschlichen hat - in einem Weihnachtskostüm! Nachdem er Bruce' Gäste um ihre Wertsachen erleichtert hatte, war er doch tatsächlich auf einem Rentier davongaloppiert. Das Rentier, erfuhr Bruce später aus der Zeitung, hatte er aus dem Gothamer Zoo gestohlen und nach seinem kleinen „Auftritt" wieder im Park freigelassen, wo es später von der Polizei eingefangen wurde. Das Tier überstand das ganze unverletzt, wenn man von den Glöckchen in seinem Geweih mal absah.

Und Bruce hatte selten ein solch vergnügliches Fest.

Das letzte Weihnachten saß der Joker ja - leider? Oh ja, leider! - in Arkham.

Was wird er sich wohl für dieses Jahr einfallen lassen?

Doch dann fällt ihm ein, dass es für den Joker vielleicht gar kein Weihnachten geben wird und seine gute Laune löst sich auf wie Seife im Wasser. Nein, das darf nicht passieren. Er wird den Joker finden. Er wird ihn retten.

Das Piepen seines Tablet reißt ihn aus seinen Gedanken. Das Signal soll ihn daran erinnern, dass er noch ein ungeöffnetes Datenpaket hat. Noch während er zurück geht, erinnert er sich wieder an die Videodatei aus seiner Firma. Schnell legt er das kaum angerührte Whiskeyglas auf den Nachttisch und öffnet sein Programm.

Er erwartet nichts Weltbewegendes, das ganze ist eher ein Fall für seine Sicherheitsabteilung, aber es wird ihn von diesen Gedanken etwas ablenken.

Da sich die Einbrüche in seinen Tower im letzten halben Jahr gehäuft haben, hat er das Gebäude flächendeckend mit neueren, noch besseren und vor allem versteckten Überwachungskameras und Bewegungssensoren ausgestattet. Bei den meisten Missetätern hatte es sich bisher um Jugendliche gehandelt - Einbrüche dieserart gelten als beliebter Initiationsritus für Straßengangs der harmloseren Sorte. Einmal jedoch war es ihnen gelungen, auf diese Art einem Industriespion in Diensten der LexCorp auf die Schliche zu kommen, der jahrelang bei Wayne Enterprises verdeckt als Buchhalter gearbeitet hatte.

Die Erkenntnis, dass er seinen eigenen Mitarbeitern nicht trauen kann, hat Bruce damals ziemlich enttäuscht und einen erneuten Backgroundcheck aller Angestellten von Wayne Enterprises verlangt. Zum Glück spricht alles dafür, dass dieser Mann ein Einzelfall war.

Und so rechnet Bruce auch diesmal wieder mit nichts Besorgniserregendem, als er die Videodatei öffnet.

Zehn Sekunden später weiten sich seine Augen schockiert.

Während die Aufnahmen der Kamera von einem der Seiteneingänge und des dahinterliegenden Ganges eher undeutlich waren - ganz so, als wüssten die Eindringlinge, wo sich die Kameras befinden - sind die Aufnahmen vom Fahrstuhl Nummer Sechs glasklar. Und in Farbe.

Bruce spürt, wie seine Hände zu zittern beginnen und ballt sie hastig zu Fäusten.

Unglaublich! Diese Dreistigkeit!

Er hätte sich laut aufgelacht, wenn da nicht diese andere Sache wäre. Er spürt, wie sein Inneres zu Eis erstarrt, doch so sehr er es sich auch wünscht - er kann den Blick einfach nicht abwenden.

Hilflos muss er mit ansehen, wie der Joker seinen brünetten Begleiter, den Bruce sofort trotz der Vogelperspektive als Jonathan Crane identifiziert, mit ganzem Körpereinsatz gegen die Kabinenwand drängt und ihn so gierig küsst, als gäbe es kein Morgen mehr.

Schnell drückt Bruce auf „Pause". Zu seinem großen Leidwesen friert die Aufnahme genau in jenem Moment ein, wo Jokers rechte Hand unter Cranes Mantel rutscht. Er benötigt nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was diese Hand dort gerade treibt.

„Mistkerl." Bruce greift zu seinem Whiskey und leert das Glas in einem Zuge. Die brennende Flüssigkeit verursacht einen angenehmen Schwindel. Für die Dauer einer halben Minuten starrt er nur ausdruckslos auf den Bildschirm, dann hat er sich zu einer Entscheidung durchgerungen. Entschlossen betätigt er das „Wiedergabe"-Icon.

Der Fahrstuhl ist kein Expresslift, bis ganz nach oben benötigt er anderthalb Minuten. Das sind neunzig Sekunden hemmungsloser Knutscherei und noch viel hemmungsloserer Fummelei, die Bruce hier geboten wird. Er ist wirklich froh, dass die Kamera ihm keine Tonübertragung liefert, das sehen zu müssen, reicht ihm schon.

Er versucht, nichts bei diesem Anblick zu empfinden, doch sein Körper ist anderer Meinung. Am Ende dieser neunzig Sekunden fühlt er ein angenehmes Kribbeln in seinen Lenden und verspürt ein gewisses Bedauern. Auch wenn er nicht genau weiß, was er bedauern soll.

Die Aufnahme endet, als die beiden den Fahrstuhl verlassen und wechselt sofort zur Dachkamera, die den Hubschrauberlandeplatz überwacht. Trotz Nachtsichtfunktion ist es schwer, etwas auf den nächsten Bildern zu erkennen; es regnet zu stark, und er muss erst den richtigen Zoomfaktor einstellen. So nahe wie er es gerne hätte, geht es dann aber nun doch nicht, weil sonst das Bild verpixelt. Es ist nun einmal keine Liveübertragung.

Zu Anfang ist auch nicht viel zu sehen. Sie reden nur.

Jetzt bereut er es, keinen Ton zu haben.

Plötzlich sieht er, wie ein deutlicher Ruck durch Cranes schmalen Körper geht. Sein Gesichtsausdruck, ja, seine gesamte Haltung verändert sich. Und als er die Brille abnimmt, weiß Bruce, dass das dort jetzt Scarecrow ist. Als er sieht, wie dieser entschlossenen Schrittes von hinten an Joker herantritt, befürchtet er für einen kleinen Moment tatsächlich das Schlimmste, nämlich, dass Scarecrow den Joker vom Dach stoßen könnte. Es ist ein alberner Gedanke, vor allem nach allem, was er von den beiden weiß, nach allem, was er vor wenigen Sekunden im Fahrstuhl gesehen hat.

Aber für einen Herzschlag hat sie ihn wieder im Griff— diese Angst, etwas Kostbares zu verlieren.

Doch Scarecrows Intentionen gehen in eine völlig andere Richtung, wovon er sich sehr bald überzeugen kann. Die Sicht ist immer noch schlecht, aber gerade dadurch wird alles nur noch schlimmer für ihn. Seine Fantasie schlägt Purzelbäume. Sie ist schmutziger als jeder Hardcoreporno.

Nur ganz kurz flackert in seinem Bewusstsein die Frage auf, was die beiden dort oben eigentlich wollten, bevor sie von solchen Gedanken wie „ein aufregender Platz zum Rumvögeln, wieso ist mir das nie eingefallen?“ einfach davongespült wird.

Das wenige, was die Kamera eingefangen hat, ist unverkennbar für jeden, der so etwas schon einmal erlebt oder im Kino gesehen hat. Die Art und Weise, wie sich Scarecrow hinter dem Joker aufbaut, sogar die Art, wie er erst an seiner und dann an Jokers Kleidung herumfummelt und wie das ganze schließlich in stoßartigen Hüftbewegungen endet.

Abermals wird Bruce schwindelig. Und heiß.

Doch er beißt sich nur auf die Unterlippe und versucht, die sich langsam in ihm aufbauende Erregung zurück zu drängen. Es gelingt ihm tatsächlich, das alles aus einer völlig sachlichen Perspektive zu betrachten. Eine große Hilfe ist ihm dabei der Timecode, den er erst jetzt zum ersten Mal richtig beachtet. Er stellt fest, dass er sich zu dieser Zeit, als die beiden Ganoven sich auf dem Dach seines Towers vergnügten, gerade erst schlafen gelegt hatte. Wirklich ärgerlich.

Wäre er doch nur auf seinem Heimweg noch einmal am Tower vorbeigefahren. Dann hätte er die beiden in flagranti überraschen können…

Bruce unterbricht diesen Gedanken hastig, denn er führt eindeutig in eine Richtung, die ihm bei seinem wachsenden „Problem" nicht im Geringsten weiterhilft.

Das ganze lustvolle Theater dauert knappe sechs Minuten, verrät ihm der Timecode. Ein guter Durchschnitt, wie Bruce widerstrebend zugeben muss.

Allzu lange bleiben sie dann auch nicht mehr auf dem Dach, es regnet ihnen dann wohl doch zu stark, jetzt, wo sich ihre Hormone ausgetobt haben. Sie reden kurz, tauschen noch ein paar harmlose Zärtlichkeiten aus und schlendern dann zurück zum Lift.

Es folgt wieder ein Schnitt hinüber zum Inneren der Fahrstuhlkabine. Sie sind patschnass. Beide. Stehen da wie zwei begossene Pudel, doch sie wirken vollends zufrieden. Wie zwei Kater, die von der verbotenen Sahne genascht haben. Und dann folgt das, dessen Anblick Bruce' Selbstbeherrschung zum Einsturz bringt.

Er sieht, wie sich Scarecrow zum Joker hinüberbeugt und seine Nase in dessen Halsbeuge vergräbt. Er sieht, wie er ganz tief Luft holt, sieht Scarecrows grenzenlos verzückten Gesichtsausdruck und wie er abermals tief einatmet.

Da hat er sich so gut zusammengerissen und widerstanden, und dann ist es diese einfache, kleine Geste, die alle Dämme bricht.

Denn Bruce weiß, was der ehemalige Psychiater dort riecht. Für einen Moment ist er wieder schmerzhaft präsent - dieser Duft nach wilden Beeren.

Er beginnt am ganzen Körper zu zittern und wird so hart, dass es eine rechte Qual wird. Es hat sich schon viel zu viel Druck angestaut und so lässt er sich ergeben aufseufzend rückwärts auf sein Bett sinken.

Seine rechte Hand rutscht unter seine Hose und trifft dort auf seine heiße, pochende Männlichkeit. Stöhnend befriedigt er sich selbst, während hinter seinen geschlossenen Augenlidern sein ganz eigenes Kopfkino stattfindet, mit ihm und dem Joker in den Hauptrollen.

Später, ja später wird er sich dafür schämen.

Vielleicht.

Vielleicht aber auch nicht.

In diesen Minuten jedenfalls ist es ihm herzlich egal.
 

***
 

Es ist kurz vor zwei Uhr am Nachmittag, als sich Bruce Wayne endlich dem Diktat seines knurrenden Magens unterwirft. Mit ziemlich wackligen Knien und hoffend, dass man ihm seine Beschämung nicht ansieht, tapst er die Treppe hinunter in die Küche, aus der ihm der verlockende Duft von gebratenem Fleisch und Rotkohl entgegenweht.

Alfred putzt gerade das Küchenfenster, legt Schwamm und Eimer aber zur Seite, als der Millionär zur Tür hereinkommt.

„Guten Morgen, Sir. Oder soll ich lieber guten Nachmittag wünschen?"

Bruce macht ein zerknirschtes Gesicht. „Tut mir leid, Alfred. Ich habe wohl erst verschlafen und dann die Zeit vergessen."

Alfred nickt nur. Die Tradition sonntags zum Lunch zusammenzusitzen hat er eigentlich nur eingeführt, damit Bruce wenigstens einmal in der Woche regelmäßige Mahlzeiten zu sich nimmt. Da er in der letzten Woche aber häufig ordentlich diniert hat, lässt er ihm dieses Versäumnis diesmal ohne zu murren durchgehen. Außerdem ist Bruce nicht der Einzige, der sich Sorgen um den Joker macht, von daher kann Alfred Batmans obsessive Suchaktion in der letzten Nacht mehr als verstehen.

Gemeinsam tragen sie die Speisen hinüber ins Speisezimmer und dabei mustert Alfred seinen Freund mit dem einen und anderen heimlichen Seitenblick. Bruce sieht müde aus. Abgekämpft. Und es haben sich Sorgenfalten in seine Stirn gegra-ben, die Alfred überhaupt nicht gerne sieht.

Aber da ist noch etwas anderes. Er wirkt ungewohnt angespannt und übermäßig kontrolliert in jeder einzelnen Bewegung. Das letzte Mal hat ihn Alfred so erlebt, als er dachte, der Joker sei vor seinen Augen gestorben.

Nachdem sie sich gesetzt haben, rührt Bruce erst eine ganze Minute gedankenverloren in seiner Suppe herum, bevor es aus ihm herausplatzt:

„Alfred, hat der Computer inzwischen irgend eine Lösung ausgespuckt? Ein Gegenmittel? Eine Behandlungsmöglichkeit? Irgend etwas?"

Die letzten Worte klingen so verzweifelt, dass es Alfred einen regelrechten Stich versetzt - aber ihm bleibt nichts anderes übrig als den Kopf zu schütteln.

„Nein", erklärt er und fügt dann noch leise hinzu: „Es tut mir leid."

Bruce nickt nur. Er kannte die Antwort, er hat sie schließlich selbst gesehen, vor wenigen Minuten, oben auf seinem Tablet. Er weiß selbst nicht, wieso er diese überflüssige Frage gestellt hat, aber vielleicht wollte er es nur aus dem Mund desjenigen Menschen hören, der immer wie ein Vater zu ihm war.

Lustlos beginnt er seine Suppe zu essen. Aber schon nach dem ersten Löffeln kommt der Appetit und er kann sich schnell dem Hauptgang zu wenden - sehr zu Alfreds stiller Freude.

Und dann, zwischen Rollbraten und Kartoffeln und Rotkohl beginnt er zu erzählen, was Vicky Vale und ihre Freundin herausgefunden haben. Nicht einmal die Sache mit Ethan Bennett lässt er aus. Allerdings schleicht sich bei diesem Teil eine gewisse Verbitterung in seine Stimme, die Alfred stumm zur Kenntnis nimmt. Er hört ihm geduldig und aufmerksam zu und verbeißt sich sogar das „so etwas ähnliches habe ich mir gedacht", das ihm auf der Zunge liegt.

Alfred ist seinem Ziehsohn in Alter und Erfahrung weit voraus, er hat schon längst gelernt, dass sich die Welt nur in Grau-stufen aufteilt, während Bruce sich in solchen Dingen manchmal die Naivität eines Kindes bewahrt hat. Und deshalb ist er jetzt auch einfach nur froh darüber, dass Bruce letztendlich die Wahrheit anerkennt und sie nicht weiterhin stur verweigert.

Und vielleicht kann noch ein kleiner Stups in die richtige Richtung nicht schaden. Bruce scheint gerade dafür empfänglich zu sein.

„Weiß du, Bruce", beginnt Alfred daher betont nachdenklich, „es mag seltsam klingen, aber ich hatte mich an seine Gesell-schaft schon richtig gewöhnt. Ja, ich gehe sogar so weit, zu sagen, dass er mir unter gewissen Umständen tatsächlich fehlt."

Und dann wartet er gespannt auf eine Antwort. Er hält sogar den Atem an, während er das Gesicht seines Gegenübers nicht aus den Augen lässt.

Huscht da tatsächlich so etwas wie ein sehnsüchtiger Schatten über Bruce' Miene?

„Ja." Bruce' Stimme ist nur mehr ein Hauch. „Ich vermisse ihn auch. Und ich wünschte, ich wäre netter zu ihm gewesen."

Alfred wagt ein kleines Lächeln, und bei Bruce' nächsten Worten wäre daraus doch fast ein Grinsen geworden.

„Aber er ist jetzt mit Scarecrow zusammen und ich weiß nicht, wo sie sind! Ich kann sie einfach nicht finden!" Wütend schlägt der Millionär mit der flachen Hand auf den Tisch, doch dann wird ihm sein Temperamentsausbruch bewusst und er lächelt entschuldigend.

Alfred zuckt mit keiner Wimper.

„Nun, Bruce", erklärt er völlig ruhig, „dann ist er wenigstens in guten Händen, sobald sein Zustand kritisch werden sollte. Crane wird ihn dann in ein Krankenhaus bringen und wenn das geschieht, wird Batman davon erfahren." Er hält kurz inne und genießt Bruce' höchst eindrucksvolles, zorniges Schnauben, bevor er mit dem Offensichtlichen fortfährt und ihm sei-nen eigenen Geistesblitz erläutert, der ihm kurz nach dem Aufwachen kam:

„Außerdem - eine von Dr. Jonathan Cranes Bewährungsauflagen ist es doch, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Die Adresse seines Arbeitgebers herauszufinden sollte nicht schwer sein für jemanden, der den Server des Gerichts hacken kann. Und was hält dich dann davon ab, unserem lieben Doktor an seinem Arbeitsplatz einen Besuch abzustatten?"

Für einen Moment starrt der Millionär ihn nur aus großen blauen Augen an, dann schleicht sich ein Grinsen auf sein Ge-sicht.

„Alfred, du bist genial."

„Ich weiß", lächelt dieser geschmeichelt und absolut unbescheiden.
 

***
 

16. Kapitel
 

„Wow.” Das ist das erste, was Jonathan Crane einfällt, sobald sich seine Augen an das grelle Neonlicht im Lagerraum Nr. 616 gewöhnt haben. Er ist wirklich beeindruckt, um nicht zu sagen verblüfft. In einem dieser ganz normalen Gebäuden, wo die Menschen sonst ihr Hab und Gut, ihren Hausrat einlagern, weil sie ihre Wohnung aufgeben mussten oder jemand verstarb und ihnen ihren ganzen Kram hinterließ, hat sich der Joker tonnenweise Chemikalien aufbewahrt. Buchstäblich. Die Fässer sind sogar vorbildlich versiegelt.

Staunend schreitet er die Reihe säuberlich gestapelter Fässer ab und liest die Beschriftungen. In den meisten Fässern lagern die schon fertigen Produkte, es gibt aber auch welche mit den Rohmaterialien, und ganz hinten in der Ecke liegt alles, was man zur Herstellung von Bomben so benötigt.

„Wow", wiederholt Jonathan und dreht sich zu dem anderen um. „Wie lange sammelst du das alles schon?"

Joker lehnt mit dem Rücken am Türrahmen des mittelgroßen Rolltores und grinst sein übliches breites Grinsen. Jemanden, der ihn nicht kennt, wäre nichts aufgefallen und er würde diese Pose daher als Ausdruck selbstbewusster Lässigkeit und dieses Grinsen als fies halten. Jonathan aber sieht, wie falsch dieses Grinsen wirklich ist und dass sich Joker in Wirklichkeit an den Rahmen anlehnt. Jonathan kann seine schweren Atemzüge bis hierher hören.

„Tausendzweihundertelf Tage", erwidert Joker. „Immer mal hier ein bisschen und dort etwas, damit es nicht auffällt." Er zögert kurz und sein Blick richtet sich ins Leere, und Jonathan fragt sich, wen oder was er dort wohl sieht. „Es gibt noch zwei ähnliche Lagerstätten in dieser Stadt, aber das hier ist genau das, was wir brauchen."

Jonathan nickt nur. Er hat dem Joker niemals viele Fragen gestellt, nicht, seit er von dessen ungewöhnlichen Fähigkeiten weiß, und seit achtundvierzig Stunden stellt er überhaupt keine Fragen mehr, die mit „warum" oder „woher" beginnen.

Als er heute aufwachte und den schlafenden Joker neben sich sah, waren ihm zum ersten Mal seit seiner Teenagerzeit die Tränen in die Augen geschossen. Mit dem bedrückenden Gefühl, etwas Wertvolles zu verlieren, hatte er einfach nur dage-sessen und den anderen beobachtet.

Und dieses Gefühl hat ihn bis jetzt nicht losgelassen. Er fühlt, dass ihre Zeit begrenzt ist und er will sie nicht mit Fragen verschwenden, die den anderen nur weiter von ihm forttreiben könnten. Noch einmal lässt er seinen Blick über den Inhalt des Lagerraumes schweifen. Sie haben mehr als genug Smilex für ihren Plan und genau die richtige Menge an Chemikalien für sein Fear Gas. Aber er weiß immer noch nicht, wie genau das Mischungsverhältnis der beiden Gase sein soll, um den gewünschten Effekt zu erhalten und ob sie dafür nicht noch einen Katalysator benötigen. Und dann, ganz in Gedanken versunken, stellt er sie doch, eine „woher"-Frage.

„Ich würde wirklich gerne wissen, woher du deine Chemie-Kenntnisse hast. Dein Smilex ist einfach genial und auch die Art, wie du es immer abwandelst. Ich habe jahrelang an meinem Fear Gas gebastelt und bin immer noch dabei, es zu ver-feinern. Während meines Arkhamaufenthaltes bin ich mit meinen Experimenten furchtbar in Verzug geraten. Aber du tauchst nach Arkham immer mit einer neuen Variante von Smilex oder ganz neuen Toxinen auf. Und du hast immer ein Gegengift parat."

Die Antwort besteht aus Schweigen, und in diesem Moment wird er sich siedendheiß gewahr, dass er eine verbotene Frage gestellt hat. Verdammt. Er schließt die Augen und atmet einmal tief durch, wappnet sich fürs Unvermeidliche.

Als er sich umdreht und die Augen wieder aufschlägt, muss er sehen, dass der Joker - wie befürchtet - nicht mehr am Ein-gang steht. Allerdings ist er aber auch nicht verschwunden, wie angenommen. Stattdessen steht er dicht vor ihm, so dicht, dass Jonathan die Hitze spüren kann, die von diesem ausgeht. Der süße Duft von wilden Beeren steigt ihm in die Nase und lässt ihn innerlich mehr erzittern als Jokers ernster Blick. Oder seine Finger an seiner Wange.

„Ich kann dir keine Frage beantworten, deren Antwort ich selber nicht kenne, Johnny.” Diese Worte sind so ehrlich, dass es Jonathan kalt den Rücken hinunterrieselt.

Jokers Augen, so rot, so durchdringend, scheinen ihm plötzlich direkt bis in die Seele zu blicken. So unangenehm ihm das auch ist, so wünscht er sich doch, dass dieser Moment ewig dauern könnte.

Und auf einmal wird er sich bewusst, dass der Joker der einzige Mensch in seinem Leben ist, der ihn und Scarecrow als gleichberechtigt respektiert. Alle anderen bevorzugten immer den einen oder anderen. Für den einen Teil ist Jonathan Cra-ne die Hauptidentität und Scarecrow nur ein böses, nicht hinnehmbares Alter Ego, dem Einhalt geboten werden muss und die anderen empfinden Jonathan als Weichei, als Versager und respektieren Scarecrow.

Jeder von diesen Menschen glaubt, dass entweder der eine oder der andere irgendwann die Oberhand gewinnen wird. Nur der Joker sieht sie als das, was sie wirklich sind: eine Einheit, als zwei Wesen, die sich ergänzen.

Er war es, der den Psychiater Jonathan Crane damals ermunterte, Scarecrow eine Gestalt zu geben. Durch ihn sind sie erst perfekt geworden.

„Joker", beginnt er ohne jedoch wirklich zu wissen, was er ihm sagen will. Er kommt aber auch nicht weit, denn da hat dieser ihm schon den Zeigefinger an die Lippen gelegt.

„Pst. Sag nichts, Jonathan."

Er ist so heiß, dass Jonathan beinahe zusammenzuckt. Jetzt weiß er, was er sagen will, doch sein „du gehörst ins Bett" bleibt ungesagt, erstickt durch ein Paar nicht weniger heißer Lippen.

Es ist nur ein kurzer, oberflächlicher Kuss, nichts im Vergleich zu der Leidenschaft, die sonst zwischen ihnen auflodert, aber gerade deswegen ist er etwas besonderes. Jonathan fühlt sich davon merkwürdig geschwächt und gestärkt zugleich. Schwächer an körperlicher Kraft, aber dafür seelisch gefestigt.

Als habe so etwas wie ein Energieaustausch zwischen ihnen stattgefunden.

Aber anstatt ihn zu erschrecken, ruft dieser Gedanke nur so etwas wie stille Freude in Jonathan hervor. Denn es gibt keine vollkommenere Symbiose zwischen zwei Wesen als dieses gegenseitige Nehmen und Geben zu beiderseitigem Vorteil.

Doch dieser Moment der Einsicht verschwindet, sobald dieser Kuss endet.

Joker tritt einen Schritt zurück, mustert ihn kurz mit nachdenklicher Miene und lässt seinen Blick dann über die Fässer schweifen.

„Du solltest langsam gehen", meint er schließlich leise. „Sonst kommst du noch zu spät zur Arbeit."

„Ich finde immer noch, ich sollte mich krank melden. Du brauchst mich hier."

„Jonathan!" Joker wirft ihm einen strengen Blick zu. „Das hatten wir doch ausdiskutiert. Wir können es uns einfach nicht leisten, dass du Verdacht erregst. Nicht nur Batman sucht mich, sondern auch die Polizei. Sie dürfen gar nicht erst auf die Idee kommen, dass wir wieder zusammen arbeiten. Na gut, bei Batsy ist es dafür zu spät, aber der hat auch nur eine Ahnung und keine Beweise. Je weniger du also von deiner Tagesroutine abweichst, desto besser."

Nur widerwillig gibt ihm Jonathan Recht.

Alles in ihm sträubt sich dagegen, seinen Partner jetzt allein zu lassen, doch letztendlich beugt er sich dessen logischen Argumenten. Außerdem will er nicht riskieren aus der Operation „Big Bang" doch noch ausgeschlossen zu werden.
 

***
 

Es ist nicht schwer, einen Termin für eine Besichtigung des Gotham General Hospitals zu bekommen. Der Name Bruce Wayne öffnet dem Träger erschreckend viele Türen. Obwohl das sehr nützlich ist, hält sich der Millionär mit so etwas immer bewusst zurück. Er mag dieses unangenehme Gefühl der Bevorzugung nicht, das sich dabei bei ihm einstellt.

Noch weniger kann er die Speichellecker leiden, die ihn in solchen Situationen umschwirren und deren Diensteifrigkeit nur mit den Dollarzeichen in ihren Augen konkurriert. Deshalb hat er sich auch auf soziale Projekte spezialisiert - neben dem zufriedenstellenden Gefühl, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, kann er sich auch damit trösten, dass es letztendlich nur auf das Ergebnis ankommt.

Heute ist allerdings eine Premiere. Noch niemals zuvor hat er seinen Namen als Bruce Wayne benutzt, um jemanden aus-zuspionieren. Es ist unfair, dessen ist er sich nur zu gut bewusst.

In diesem Falle kann sein Name nämlich jemanden das bisschen, was er sich mühsam aufgebaut hat, wieder zerstören. Und trotz allem möchte Bruce genau das so gut wie nur irgend möglich vermeiden.

Demzufolge wird dieser Besuch im Gotham General Hospital doch schwer.

Er muss viel über sich ergehen lassen, bis er seinem Ziel - der Laborabteilung - auch nur einen Zentimeter nähergekommen ist. Da sind zum einen der nervende Vorstandsvorsitzende, der Verwaltungspräsident und dann noch diverse Chefärzte inklusive der krankenhauseigene Anwalt, die ihn umschwärmen und die letzten Quartalsergebnisse in höchsten Maßen loben - so sehr, dass ihm bald die Ohren klingeln. Natürlich leuchten auch bei ihnen allen wieder die altherkömmlichen Dollarzeichen in den Augen. Dabei war Bruce Waynes Aussage, er wolle sich hier umsehen, weil er eine Investition plane, völlig unverbindlich. Und wenn, das sollte man inzwischen eigentlich von ihm wissen, würde er das Geld sowieso nur zweckgebunden zur Verfügung stellen - und zwar für irgend etwas in der Kinderabteilung.

Höchstwahrscheinlich weiß seine Entourage das aber nicht - oder sie geben die Hoffnung nicht auf - denn seine Erklärung, er wolle alle Abteilungen des Krankenhauses sehen, überrascht sie nicht im Geringsten. Es verstärkt nur ihre gierigen Mie-nen.

Drei Stunden lang lässt er sich durch die verschiedenen Stationen fuhren, spricht hier und da mit einem Patienten, einer Krankenschwester oder einem Assistenten, begutachtet den neuen Computertomografen und die Physiotherapieräume und verbringt mehr Zeit als er eigentlich hat auf der Kinderkrebsstation, wo er den kleinen Patienten ein Kinderbuch vorliest (wobei ihm fast die Tränen kommen), bis er endlich die subterran gelegenen Laborabteilungen betreten kann. Als es schließlich so weit ist, hat er fast schon den Grund vergessen, wieso er eigentlich hier ist.

Als er den Laborbereich schließlich kurz vor Mittag betritt, flankiert von den üblichen Verdächtigen, stellt er schockiert fest, dass er sich überhaupt keine Strategie zurechtgelegt hat. Mit dem Abteilungsleiter im Rücken kann und will er sich Jonathan Crane nicht gezielt aus der Menge von Laboranten und Wissenschaftlern herauspicken. Er braucht einen ruhigen, einsamen Ort, wo er ihn problemlos in die Ecke drängen kann.

„..und in diesem Bereich werden die Ergebnisse unserer Medikamentenstudien ausgewertet..." Bruce hört nur mit halbem Ohr zu und nickt unverbindlich. Für diesen Job ist Crane eindeutig unterqualifiziert. Fast bekommt Bruce ein wenig Mitleid mit ihm.

Scheinbar nur höflich interessiert lässt er seinen Blick über das große Labor schweifen, dessen Arbeitsplätze nur bedingt voneinander abgetrennt sind. So etwas wie Privatsphäre bestimmt sich nur durch die Anordnung der Regalschränke und der statisch notwendigen Stützpfeiler.

Die Geräuschkulisse ist permanent und unangenehm. Für jemanden wie Crane mit eigenbrötlerischen Tendenzen und einer gewissen Lärmempfindlichkeit muss dieser Job der reinste Horror sein.

Das Labor ist nicht voll besetzt und das liegt an der Mittagszeit, wie ihm der Abteilungsleiter hastig versichert. Wieder nickt Bruce und interessiert sich doch nur für eines: ob er Jonathan Crane hier irgendwo entdeckt. Nicht, dass er jetzt auch schon in der Kantine beim Mittag sitzt.

Letzten Endes hat Bruce doch Glück - etwas weiter hinten über eines der Mikroskope gebeugt steht die ihm wohlbekannte, hochgewachsene Gestalt. Innerhalb einer einzigen Sekunde hat Bruce die Dinge auf seinem Arbeitstisch registriert: mehrere Schreibutensilien, ein angebissenes Sandwich und ein noch dampfender Kaffeebecher.

Auf dem Tisch hinter ihm - welch glücklicher Zufall - ragt eine niegelnagelneue Zentrifuge mit dem Aufdruck von Wayne Enterprises auf.

„Ah, ich sehe, Sie benutzen hier unsere Instrumente", unterbricht Bruce den Redeschwall des Abteilungsleiters übertrieben begeistert und stiefelt sofort in die entsprechende Richtung.

Die Krankenhausvertreter folgen ihm auf den Fersen wie eine Horde Groupies und überschlagen sich beinahe vor Aufregung. Doch er hört ihnen nicht zu, wie sie die Produkte seiner eigenen Firma mit Lob überschütten und konzentriert sich ganz darauf, Crane aus dem Augenwinkel zu beobachten. Dieser zuckt regelrecht zusammen, als diese kleine Horde plötz-lich heranstürmt, fast, als wäre er derart in seine Projektträger vertieft gewesen, dass er sie gar nicht bemerkt hätte. Was Bruce in Anbetracht der Minikopfhörer, die er jetzt verstohlen aus seinen Ohren zieht, durchaus für möglich hält.

Für einen kurzen Moment begegnen sich ihre Blicke, doch Bruce tut so, als würde er die aufkeimende Panik des anderen gar nicht bemerken. Zielstrebig geht er zur Zentrifuge, nur, um dann plötzlich stehenzubleiben, ganz so, als wäre ihm etwas eingefallen.

„Guten Tag", wendet er sich mit einem strahlenden Lächeln an einen merklich erblassenden Crane und reicht ihm die Hand, „ich bin Bruce Wayne. Es freut mich sehr, zu sehen, dass Sie hier mit Apparaten arbeiten, die meine Firma herstellt. Vielleicht können Sie mir ein kleines Feedback geben, ob Sie mit der Funktionsweise zufrieden sind? Mister.. . ?"

„Crane", antwortet dieser rein automatisch und entgegnet den Händedruck notgedrungen. Nach außen hin wirkt er wieder völlig gelassen, doch hinter seinen Pupillen leuchtet eindeutig Panik. Bruce weiß, er hat nicht viel Zeit, bis Scarecrow erwacht.

„Und, Mr. Crane? Woran arbeiten Sie hier?" Er gibt weiterhin den unbedarften Millionär und macht Anstalten einen neu-gierigen Blick ins Mikroskop zu werfen.

Crane steht unschlüssig daneben und sieht hilfesuchend zu seinem Abteilungsleiter hinüber. Dieser lächelt etwas gezwun-gen. Es ist ihm eindeutig nicht recht, dass Bruce das Wort an jemand so unbedeutenden wie einen Laborassistenten gerichtet hat, und so gibt auch er statt Crane eine Antwort.

„Mr. Crane analysiert die Blutproben unserer Probanden. Wir erforschen die Verträglichkeit eines neuen Rheumamittels."

Bruce nickt scheinbar interessiert, täuscht Ungeschicklichkeit vor und nötigt Crane, ihm bei dem Mikroskop zu helfen. Damit dirigiert er Crane unbemerkt in die gewünschte Position. Und als sich Bruce dann schwungvoll umdreht und dabei rein zufällig den Kaffeebecher vom Tisch fegt, wirkt es tollpatschig und nicht im Geringsten absichtlich.

Crane entweicht ein schmerzvolles Aufkeuchen. Der Großteil des heißen Kaffees ist zwar auf Kittel und T-Shirt gelandet, doch einiges auch auf seiner Hand, die sich binnen Sekunden deutlich rötet.

„Oh, Entschuldigung. Entschuldigung. Das tut mir entsetzlich leid." Bruce schnappt sich die verbrühte Hand und betrachtet sie kummervoll. Das war so wirklich nicht geplant. Der Kaffee sollte nur auf Cranes Kleidung landen.

„Kommen Sie, das muss sofort behandelt werden. Wo sind die Waschräume?"

„Ah, links, am Ende des Ganges", kann der überforderte Verwaltungschef gerade noch stammeln, da hat Bruce den verdatterten Crane auch schon am Handgelenk aus dem Labor gezogen.

***

Jonathan fühlt sich völlig überrumpelt, und das mag er überhaupt nicht. Er hört Scarecrow in seinem Hinterkopf knurren, doch sie sind beide klug genug, um sich zurück zu halten. Jonathans Bewährung steht auf dem Spiel. Er hat keine Lust, wegen einer unbedachten Handlung gegenüber dem reichsten Mann Gothams wieder hinter Gittern zu landen. Und jetzt schon mal gar nicht, nicht so kurz vor dem Ziel.

Also schluckt er seinen Ärger genauso herunter wie seine Überraschung und versucht weiterhin den arglosen Laborassistenten zu spielen.

Wahrscheinlich wäre er sowieso nicht zu Wort gekommen bei Bruce Waynes langatmigen und scheinbar niemals enden wollenden Entschuldigungen.

Aber dann ändert sich das Verhalten des Millionärs so abrupt, dass Jonathan beinahe doch noch die Fassung verliert. Vor einer Sekunde hat er noch mit ihm am Waschbecken gestanden und das kalte Wasser aufgedreht, damit er darunter seine verbrühte Hand kühlen kann und aus dem kleinen Medizinschränkchen eine Brandsalbe hervorgeholt, und in der nächsten riegelt er sowohl die Tür zu den Toilettenraum wie auch die Außentür ab.

Seine zuvor noch mitfühlende, zerknirschte Miene ist plötzlich so ernst und kalt, dass Jonathan den Schmerz in seiner Hand glatt vergisst.

Alarmiert drängt sich Scarecrow nach vorne. Noch wartet er ab, doch er macht sich bereit, den Platz zu wechseln, sollte es notwendig werden.

Bruce Wayne erkennt die kleinen Anzeichen sofort und zögert verunsichert. Plötzlich wird er sich bewusst, was er hier gerade zu tun bereit war.

Aber ... will er das?

Will er wirklich seine Geheimidentität preisgeben, nur, um von Crane zu erfahren, wo der Joker steckt?

Ist das so wichtig?

Alles in ihm schreit lautstark Ja, doch ein kleiner Rest von Vernunft ist noch vorhanden und lässt ihn noch etwas länger zögern.

Unendlich lange zehn Sekunden starren sie sich nur gegenseitig an, belauern sich wie zwei feindliche Raubvögel vor einem noch warmen Kadaver.

Und je länger es dauert, desto weiter entfernt sich Bruce Wayne von dem Zeitpunkt, wo er sich noch mit lauen Ausflüchten aus dieser Situation zurückziehen kann. Er spürt, wie ihm die Kontrolle entgleitet. Er spürt es in jenem Moment, wo er sieht, wie Cranes Blick zu seinem unteren Gesichtsdrittel hinuntergleitet und diese kalte Berechnung in seinen blaugrauen Augen aufglänzt.

Er kann förmlich zusehen, wie ihn der Mann vor ihm enttarnt.

Die Zeit des Schweigens zwischen ihnen dehnt sich aus, nimmt an Volumen zu wie eine sich auftürmende Gewitterwolke, und plötzlich hat Bruce das Gefühl, dass sie nicht mehr alleine sind. Als habe sich eine dritte, unsichtbare Präsenz zu ihnen gesellt. Etwas Dunkles, Gefährliches, das sie aus glühenden Augen beobachtet.

Er spürt, wie er eine Gänsehaut bekommt.

Die Erkennungsmelodie von „Kill Bill" reißt sie aus ihrer gegenseitigen Starre und löst den Bann.

Sie zucken beide zusammen.

Crane murmelt eine leise Entschuldigung und holt sein Handy hervor.

Die Spannung, die eben noch zwischen ihnen hing, ist so plötzlich verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Bruce hätte beinahe laut aufgelacht. Doch seine Erleichterung währt nicht lange.

„Für dich." Mit diesen Worten reicht ihm Crane das Handy.

„Für mich?" Das schlechte Gefühl ist wieder da und nagt an seinen Eingeweiden. Skeptisch betrachtet Bruce das kleine Gerät, doch er nimmt es entgegen.

„Ja?" meldet er sich gedehnt. Er ahnt, wer das am anderen Ende der Leitung ist - es kann nur einer sein! - aber er zweifelt noch, will nicht hoffen, denn alle Gesetze der Logik sprechen dagegen.

Aber die Welt wird weniger von der Logik als vom Chaos beherrscht, wie ihm schnell wieder bewusst wird, sobald ihm diese wohlbekannte, wenn auch ungewohnt heisere Stimme ans Ohr dringt.

„Hör auf damit, Bruce", sagt der Joker und Bruce kann ihn beinahe vor sich stehen sehen, mit erhobenen Zeigefinder und missmutig zusammengekniffenen Augen. „Lass ihn in Ruhe. Mach ihm seine Bewährung nicht kaputt. Wir wissen beide, dass er eine erneute Arkham-Behandlung nicht unbeschadet übersteht. Wenn du mich unbedingt sehen willst, sag deinem britischen Butler, er soll das Dinner diesmal wieder für drei kochen. Aber bilde dir nichts drauf ein, klar? Ich bleibe nicht lange."

Dann legt er einfach auf.

Bruce ist so verdutzt, dass er das Handy noch eine ganze Weile an sein Ohr drückt. Erst das Einsetzen des Freizeichens bringt ihn wieder zurück in die Gegenwart.

Wortlos reicht er Crane das Handy zurück, welcher es genauso wortlos wieder in seiner Hosentasche versenkt und sich dann wieder zum Waschbecken umdreht, wo er schließlich endlich seine Hand mit der Brandsalbe behandelt.

Bruce sieht ihm einen Moment lang schweigend dabei zu.

„Tut mir leid", murmelt er schließlich und es ist nicht klar, ob er damit den Unfall mit dem Kaffee oder etwas ganz anderes meint.

Crane zögert, doch dann nickt er nur. Er fragt nicht, auch wenn er vor Neugier beinahe platzt. Den leisen Stich der Eifer-sucht ignoriert er ebenfalls.

Wenn Batman beschlossen haben sollte, so zu tun als habe sich nichts verändert, wird er mitspielen. Es hat ihn nie interessiert, wer hinter der Fledermausmaske steckt und daran wird sich auch nie etwas ändern. Aber es ist nützlich, ein Druck-mittel in der Hinterhand zu haben.

Er hört, wie Wayne die beiden Türen wieder entriegelt und dann ohne ein weiteres Wort verschwindet. Kaum ist der Millionär weg, fällt alle Anspannung von Crane ab. Er seufzt einmal tief auf und seine Schultern sacken nach unten.

„Danke", murmelt er in den leeren Raum hinein.

Und für einen kurzen Moment fühlt er einen leichten Druck auf seiner rechten Schulter, als habe ihn dort jemand mit der Hand berührt.

***
 

17. Kapitel
 

Es ist zehn Minuten vor neunzehn Uhr, als der Joker am Wayne Manor klingelt. Schon längst hat die Nacht ihre gierigen Schatten nach Gotham ausgestreckt und dicker Nebel ist vom River herübergezogen. Wenigstens regnet es nicht. Aber die Luft ist kalt und klebrig.

Fröstelnd vergräbt er sich noch tiefer in seinem wärmenden Mantel. Doch in Wirklichkeit liegt es nicht am Wetter, wenn ihm kalt ist. Er hat Fieber, er spürt das Brennen seiner Haut und hat noch gut Jonathans besorgte Miene vor seinen Augen, als dieser ihm zum Abschied noch die Temperatur maß und irgend etwas von „zu hoch" murmelte. Aber diese Kälte jetzt hat nichts mit seinem körperlichen Befinden zu tun, diese Kälte entsteht in seinem Inneren.

Die Welt war für ihn schon immer größer als für alle anderen Menschen, aber jetzt ist sie geradezu riesig geworden. Er nimmt jetzt Ebenen wahr, die ihn in ihrer Intensität regelrecht erschrecken. Wenn er das hier überlebt, dann ist er endgültig zum Freak geworden, und in Gedanken daran, wie einsam es dann für ihn werden wird, ist ihm schon vor einer gefühlten Ewigkeit das Lachen vergangen.

Nur der Gedanke an sein Ziel hält ihn noch aufrecht. Und Jonathans Zuneigung, so temporär das zwischen ihnen auch sein mag.

Bruce Wayne dagegen steht auf einem völlig anderen Blatt. Er kann nichts sehen, was ihn betrifft, und das macht ihn einfach nur nervös. Jemand wie Bruce Wayne alias Batman sollte seinen Weg genau kennen und ihn mit der Unbeirrbarkeit eines Güterzuges verfolgen.

Verdammt nochmal, er steht für die Ordnung!

Joker weiß, es ist seine Schuld. Vor zwei Wochen hat Batman das Chaos in sein Haus gelassen und nun ist er davon infiziert.

Noch während Joker solch düsteren Gedanken nachhängend vor sich hinstarrt, streckt Alfred auf der anderen Seite der Tür die Hand nach dem Türgriff aus und öffnet ihm.

Sekundenlang stehen sie sich einfach nur gegenüber.

Prüfend lässt Alfred seinen Blick über die Gestalt vor sich wandern. Irgend etwas ist anders. Irgendwie hat er sich verändert. Es ist nichts äußerliches. Er trägt noch immer seinen lilafarbenen Mantel, der inzwischen zu seinem Markenzeichen geworden ist, noch mehr als der Schwalbenschwanz zuvor, schwarze Jeans und schwarze Armstulpen und geht noch im-mer barfuß. Seine Haut ist noch immer weiß wie Milch und seine Haare sind ein Wust dunkelgrüner Dreadlocks; und doch - Alfred wird das Gefühl nicht los, als stünde da jetzt etwas völlig anderes vor ihm. Als habe sich der Joker inzwischen nicht nur äußerlich von der Menschheit entfernt.

Alfred rieselt es eiskalt den Rücken hinunter, und das liegt diesmal nicht am feuchtkalten Wetter.

Doch der Moment vergeht und zurück bleibt nur die stille Freude, jemanden wiederzusehen, den er trotz allem was war in sein Herz geschlossen hat.

„Es ist mir eine Freude, Sie zu sehen, Master Joker.”

„Danke, Alfred." Der Joker entgegnet sein Lächeln, doch es wirkt etwas schief. Er holt eine Flasche unter seinem Mantel hervor und reicht sie ihm verlegen.

„Ich habe Wein mitgebracht. Ist kein Chardonnay, aber ich schätze, ein Burgunder tut es auch."

Alfred strahlt beinahe, als er den Wein entgegennimmt.

„Eine reizende Geste. Danke. Und eine vorzügliche Wahl", setzt er nach einem schnellen Blick auf das Etikett hinzu.

„Ein Burgunder passt hervorragend zu Rehbraten. Sie mögen doch Wildbret, oder?"

Der Joker nickt nur schweigend. Und bemüht sich, nicht allzu auffällig zu grinsen. Niemand ist so berechenbar wie der gute alte Alfred mit seinen tadellosen, britischen Manieren. Vom Gast mitgebrachte Getränke werden von ihm sofort kredenzt, genau wie es die Höflichkeit gebietet. Gut. Das ist sehr gut. Damit ist er seinem Ziel wieder einen Schritt näher.

Alfred tritt zur Seite und lässt ihn eintreten.

Jokers bloße Fußsohlen haben den glatten Marmor des Manors kaum berührt, da durchflutet ihn schon Wärme.

Das alte Gemäuer heißt ihn willkommen. Davon geradezu überwältigt, schließt Joker die Augen und atmet tief durch.

Als er sie wieder aufschlägt, steht Bruce vor ihm.

Joker kann nicht anders, er muss ihn anstarren. Die Anzahl der dünnen, spinnwebartigen Fäden, die ihn mit all den anderen Menschen verbinden, dessen Leben er auf die eine oder andere Art beeinflusst, ist geradezu schwindelerregend hoch. Und - unwillkürlich blickt Joker an sich hinunter - einer dieser Fäden führt zu ihm.

Aber er ist nur sehr schwach und dünn. Er sieht aus, als würde er sich jeden Moment auflösen. Joker registriert es ohne jegliches Gefühl. Das liegt nicht mehr in seiner Hand.

Ein Augenblinzeln später sind die Silberfäden verschwunden. Sein Gehirn lernt es immer schneller, zwischen den beiden Ebenen hin und her zu wechseln.

Es entspricht nicht den Regeln der High Society, dass der Herr des Hauses seinen Gast in der Eingangshalle erwartet. Er hat gefälligst im Salon zu warten und den Butler seine Arbeit machen zu lassen - die darin besteht, den Gast in Empfang zu nehmen und dann zu ihm zu führen.

Aber heute ist Bruce Wayne viel zu aufgeregt, um sich um so etwas Existenzielles wie Benimmregeln zu kümmern. Seit Mittag hat er diesem Augenblick entgegengefiebert, ihn sich ein Dutzend Mal ausgemalt und in Gedanken durchgespielt, was er sagen wollte.

Aber jetzt, wo es endlich soweit ist, hat er alles vergessen.

Wie angewurzelt steht er da und bringt kein Wort heraus. Für zwei Sekunden. Dann greift seine Konditionierung, die ihn zu einem begehrten Playboy, erfolgreichen Geschäftsmann und furchterregenden Batman macht - er weiß, wie er sich einer Situation entsprechend zu benehmen hat und setzt sich in Bewegung, schiebt seine Emotionen einfach beiseite.

Und er ist stolz auf sich, dass ihm das gelingt, denn der Joker ist der einzige, bei dem diese Konditionierung kläglich versagt.

Aber heute nicht.

„Hallo, Joker. Schön, dich zu sehen."

Er tritt näher und schüttelt Jokers Hand, als wäre dieser nichts weiter als ein Geschäftspartner. Und es hilft, den Bann zu brechen.

Anstatt ihn wieder freizugeben, hält Bruce seine Hand fest und mustert seine Finger eingehend. Jokers Hände sind heiß, er hat noch immer Fieber, aber seine Fingerkuppen und Nägel sind gut verheilt. Zu gut, wenn man bedenkt, dass das ganze erst wenige Tage her ist.

„Keine Angst", erklärt der Joker in spöttischen Tonfall, während er ihm seine Hand wieder entzieht, „ich verspüre nicht mehr das Verlangen, mein Blut oder das von anderen zu trinken. Ich bin ein braver Ex-Vampir und nehme artig meine Tabletten." Er greift in seine Manteltasche und holt eine Bruce wohlbekannte Pillendose hervor, schüttelt sie und hält sie dem Millionär lange genug vors Gesicht, dass dieser das Etikett lesen kann.

Bruce kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Gut zu wissen. Ich habe schon befürchtet, du verlässt dich allein auf Johannisbeeren."

Er rechnet damit, dass Joker versteht, was er damit impliziert, denn bestimmt hat ihm Jonathan Crane von ihrer kleinen Begegnung in der Tiefgarage erzählt, aber der zornige Blick, der ihm daraufhin aus roten Augen zugeworfen wird, überrascht ihn dann doch.

„Ich bin nur hier, damit du Jonathan endlich in Ruhe lässt", knurrt der Joker ihn an. „Was hast du dir eigentlich gedacht, ihn auf Arbeit aufzusuchen? Wieso provozierst du es, dass er dich als Batman erkennt? Wieso willst du ihn und dich nur unnötig in Schwierigkeiten bringen?"

Bruce lässt sich seine Betroffenheit nicht anmerken und reagiert beleidigt. „Entschuldige bitte, dass ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Ich mag dich eben."

Seinen Worten folgt Stille. Der Joker starrt ihn an, mit Augen so groß und rund, dass sich Bruce über seine vorschnelle Zunge nicht einmal schämen kann, weil dieser Anblick einfach so ... herrlich ist.

„Wenn die Herren mir bitte ins Esszimmer folgen würden?" zerstört Alfreds sonore Stimme diesen Moment, bevor er wirklich peinlich werden kann.

Der Joker ist der erste, der Alfreds Aufforderung Folge leistet. Im Vorbeigehen wirft er Bruce noch einen langen Seitenblick zu, sagt aber nichts.

Auch Bruce schweigt.

Und er schweigt immer noch, als er den beiden folgt; auch‚ als er das Esszimmer betritt und sehen muss, dass sich sein Gast seinen Mantel zwar ausgezogen, dafür aber über die Lehne seines Stuhls gehangen hat.

Immer in seiner Nähe... er erinnert sich daran, wie der Joker damals Alfred gebeten hatte, ihm seinen Mantel zurückzugeben. Wie sehr er doch an seinen persönlichen Habseligkeiten hängt...

Damals... liegt das nicht gerade mal eine Woche zurück?

Himmel, es kommt ihm sehr viel länger vor!

Als er sich an seinen Platz am Kopf der Tafel setzt, fängt er Alfreds Blick auf, kurz bevor dieser in der angrenzenden Küche verschwindet, um nur zehn Sekunden später mit der Suppenterrine zurückzukehren. Er versucht, Würde zu bewahren, doch für Bruce, der ihn schon sein ganzes Leben kennt, ist es offensichtlich: Alfred Pennyworth freut sich von ganzem Herzen. Etwas, was vor einer Woche so noch nicht möglich gewesen wäre.

Oh ja, es hat sich viel verändert in dieser einen Woche.

Sie beginnen zu essen, und der Joker murmelt ein Lob bezüglich Alfreds Kochkünste, etwas, was diesen zu einer bescheidenen Antwort veranlasst.

Von dem kindischen Wunsch erfüllt, dass der Joker ihm auch ein freundliches Wort schenkt, pfeift Bruce abermals auf die Etikette und übernimmt kurzerhand die Aufgabe, den Wein zu entkorken und reihum einzugießen.

Dafür erntet er von Alfred zwar eine missbilligend hochgezogene Augenbraue, doch das leise „Danke" des Jokers entschädigt ihn.

Es ist ein wirklich guter Wein - tiefrot, und er verströmt ein angenehm schweres Bouquet. Ein sehr teurer Wein - immer mal vorausgesetzt, der Joker hat ihn tatsächlich bezahlt.

Ausnahmsweise ist Bruce das aber mal egal.

Es fällt ihm schwer, sich auf das Essen zu konzentrieren, seine gesamte Aufmerksamkeit gilt dem Mann neben ihm. Er kann es nicht verhindern, dass er ihm immer wieder neugierige Blicke zuwirft, und irgendwann, als sie zum Hauptgang übergehen, gibt er es ganz auf, sich verstellen zu wollen und starrt um ganz offen an. Abermals ist der Joker von einem Duft nach Wildbeeren umgeben, und es scheint, als würde dieser Geruch mit jeder verstreichenden Minute intensiver.

Erinnerungen überwältigen den jungen Millionär. Ungebeten, aber nicht unwillkommen. Erinnerungen daran, wie es sich anfühlt, die Finger in diesen grünen Dreadlocks zu vergraben oder daran, diese bleiche Haut zu berühren.

Und noch mehr ... Erinnerungen an das, was im Gästezimmer zwischen ihnen vorgefallen ist. Damals, vor so vielen Tagen. Und doch ist diese Erinnerung so lebendig, als wäre es erst fünf Minuten her.

Und plötzlich verspürt Bruce den Wunsch, nein, das Verlangen, das alles zu wiederholen.

„Was?" zischt ihn das Objekt seiner Begierde plötzlich von der Seite her an.

Verdammt. Da hat er wohl zu aufdringlich gestarrt.

„Ich ... äh ... nun, es ist eine Freude, dich etwas essen zu sehen", stammelt er verlegen lächelnd.

Er greift nach dem Weinglas und nippt daran, um einerseits seine Harmlosigkeit zu unterstreichen und andererseits auch, um Zeit zu gewinnen. Aber als der Joker ihm nicht darauf antwortet und ihn nur weiterhin anstarrt, holt Bruce einmal tief Luft.

„Ich meine ... Appetit ist ja immer ein gutes Zeichen. Immerhin ... du hast viel durchgemacht und ... du weißt, dass deine Gene mutieren?" platzt es schließlich ziemlich hilflos aus ihm heraus.

Aber der Blick aus Jokers großen, roten Augen ist ihm plötzlich noch unangenehmer als sonst immer. Wenn er wenigstens wieder so irre grinsen würde ... aber wenn er so ernst ist, so ruhig, so normal, so anders als sonst ... das ist so verstörend.

„Der Computer hat errechnet, dass deine Überlebenschancen fifty-fifty stehen." Diese Wahrheit ist brutal, und genauso brutal knallt es ihm Bruce an den Kopf; doch Jokers Reaktion besteht nur aus einem Schulterzucken.

„Immerhin..." murmelt er und wendet sich wieder seinem Rehrücken zu.

Sein Gesicht ist eine Maske der Gleichgültigkeit.

Tatsächlich aber findet er Bruce' Besorgnis amüsant. Sie kommt spät, vielleicht sogar zu spät, aber sie trägt nichtsdestrotz zu seiner Erheiterung bei. Der Joker wusste einen guten, Witz schon immer zu schätzen - erst recht einen, der vor Ironie nur so trieft. Er kann die Betroffenheit des Mannes neben sich ganz genau spüren, dazu muss er nicht den Kopf von seinem Teller heben - wozu ihm sowieso nicht der Sinn steht, denn das Fleisch schmeichelt seinem Gaumen genauso wie seiner Nase und seinen Augen. Es enthält viele Proteine und unterstützt die Eisenbildung im Blut. Selbst jetzt versucht Alfred noch, ihn aufzupäppeln. Dieser alte Fuchs ist wirklich eine gute Seele. Nicht zum ersten Mal in der letzten Woche ist Joker erleichtert, diesem Mann noch niemals ein irgendwie geartetes Leid angetan zu haben.

„Ich habe euch gesehen." Bruce Waynes Betroffenheit hat sich allmählich in Wut verwandelt. Und das ist in Zusammenhang mit dem Joker ein so vertrautes Gefühl, dass Bruce regelrecht darin badet. Auf seine Worte achtet er dabei schon lange nicht mehr.

„Dich und Crane. In meinem Tower. Im Fahrstuhl. Und auf dem Dach."

Jokers Herz scheint eine Schrecksekunde lang auszusetzen, doch er verbirgt seine Überraschung gekonnt und rettet sich in ein lässiges Schulterzucken. Das wiederum ärgert Bruce nur noch mehr.

„Ach komm, jede Wette, du hast genau gewusst, dass da Kameras sind. Du hast ja auch gewusst, wie du mein Sicherheitssystem überlisten kannst!"

In der Tat, das weiß er. Und er kennt sich auch bestens im Wayne Tower aus, und er weiß, dass das inzwischen auch Bruce klargeworden sein muss, auch wenn dieser es nicht ausspricht.

Bruce beobachtet ihn eine Weile und fragt dann leise:

„Was ist das, zwischen dir und Crane?"

Joker schweigt verbissen und schaufelt weiterhin das Essen in sich hinein, auch, wenn es ihm schon längst aufgehört hat, zu schmecken. Aber so muss er wenigstens nicht antworten. Die Richtung, in die dieses Gespräch abgleitet, gefällt ihm nicht.

Ihm sind diese verdammten Kameras schlichtweg entfallen! Das Letzte, was er je wollte, war, Batmans Aufmerksamkeit auf seine kleine Krähe zu lenken. Doch genau das scheint jetzt passiert zu sein, und inzwischen geht es um viel mehr als die bloße Tatsache, dass er bei Crane untergeschlüpft ist.

„Ist das deine Rache wegen der Sache mit Vicky?"

Unter Jokers linkem Auge zuckt kurz ein Nerv, doch er sagt weiterhin nichts. Es gäbe zwar viel zu sagen, doch er will Bruce' Eifersucht nicht unnötig schüren. Für einen richtigen Streit fehlt ihm schlicht und einfach die Kraft. Er ist nur aus zwei Gründen hier, und der eine - dass Bruce ihm sagen kann, was er zu sagen hat - ist bald abgehakt. Und dasselbe gilt für den zweiten. Jokers Blick huscht unbemerkt zu dem Weinglas neben Bruce' Teller hinüber.

„Recherchen haben übrigens ergeben, dass du Recht hattest." Der allmählich immer frustrierter werdende Millionär hat beschlossen, ihn mit etwas anderem aus der Reserve zu locken. „Alle deine Opfer hatten es irgendwie verdient. Wenn man deinen Maßstab von Gerechtigkeit als Grundlage nimmt. Was ich übrigens nicht tue."

Joker ignoriert ihn geflissentlich. Er ergreift sein Glas und prostet damit Alfred zu, der ihm gegenüber sitzt.

„Das Essen ist wie immer hervorragend, Alfred."

„Danke, Master Joker", erwidert dieser geschmeichelt und prostet höflich zurück. „Und erlauben Sie mir die Bemerkung, dass Ihr Wein vorzüglich dazu passt."

Joker sieht zu, wie der Ältere an seinem Glas nippt und kann sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Die Erleichterung, die ihn durchströmt, ist beinahe noch kräftezehrender als das Fieber.

Natürlich ist sein Plan wasserdicht. Wenn in diesem Manor auf eines Verlass ist, dann auf die strikte Einhaltung der Etikette. Es ist das Gerüst, das Sicherheit bedeutet, vor allem, wenn der Feind mit ihnen am Tisch sitzt.

Helden benehmen sich nicht wie Monster, auch, wenn sie gegen eines kämpfen.

Aber er war sich nicht sicher.

Jetzt ist er es. Aber die Erkenntnis, dass diese beiden ihm wirklich und wahrhaftig vertrauen, schmeckt bitter. Es ist der Geschmack der Niederlage, so endgültig und unumkehrbar wie der Tod.

Ihn fröstelt. Als er den Kopf hebt und zu Bruce hinüber sieht, stehen dort wieder die Geister dessen Eltern. Doch diesmal ist etwas anders. Sie scheinen mehr zu sein als gestaltgewordene Erinnerungen, denn diesmal sehen sie ihn direkt an. Ihre Blicke scheinen sich direkt bis in seine Seele hineinzubohren. Und ... sie lächeln ihm zu.

Und dann blinzelt er und sie sind wieder verschwunden. Sie hinterlassen einen Knoten im Magen und beginnende Kopfschmerzen.

„Hast du ihre Untaten wirklich alle gefühlt?" holt ihn Bruce' Stimme in die Wirklichkeit zurück.

Joker zögert und versucht sich zu erinnern, wie es war, damals, kurz nach dem er zu dem geworden war, was er ist und das alles noch nicht richtig unter Kontrolle hatte. Damals, als er noch planlos - aber immer zielgerichtet - wütete und tötete, einfach nur getrieben von all diesen Emotionen, die ihn erfüllten. Diese Zeit, die nur aus Abscheu, Rachelust und rasender Wut und Trauer bestand. Die Zeit, der er seinen Ruf als gnadenloser, irrer Killer verdankt. Bis er Batman erneut begegnete und dessen Schmerz erkannte. Sah, dass sie zwei Seiten einer Medaille sind.

„Ja", erwidert er schließlich schlicht. „Es war zu viel", gibt er dann zu. Er will immer noch, dass sein Batman ihn versteht, auch, wenn er dafür einen Teil seines Stolzes aufgeben muss. Und vielleicht liegt es am Fieber, aber es erscheint ihm plötzlich so sinnlos, es nicht zuzugeben.

„Es tut mir nicht leid, sie hatten es verdient. Durch ihre Taten haben sie auch mein Leben ruiniert. Ich habe sie bestraft und mich dadurch besser gefühlt."

Seine Worte bringen diesmal Bruce zum Schweigen.

Nachdenklich starrt der junge Millionär auf seinen Teller ohne ihn jedoch wirklich zu sehen. Die Worte des Jokers hallen in seiner Seele nach wie ein Bergecho. Rache ... er kennt dieses Gefühl, er kennt es nur viel zu gut. Es gab auch bei ihm schon einmal Situationen, da war er ebenfalls schon mal nahe daran, härter zuzuschlagen als nötig (vor allem beim Joker).

Auch wenn er das alles nicht gutheißen kann - so kann er es jedoch sehr gut nachvollziehen.

Zum ersten Mal, begreift er plötzlich, und dieser Gedanke verschlägt ihm glatt den Atem, kann ich den Joker verstehen.

Das Verlangen, ihn einfach in die Arme zu schließen, ist wieder da, größer noch als je zuvor, doch stattdessen festigt er nur seinen Griff um Messer und Gabel.

„Das tut mir leid", murmelt er, und noch während er spricht, stürzt diese Mauer aus Schuldgefühlen wieder über ihm ein und begräbt ihn unter sich. „All das, was passiert ist ... ich bin schuld, dass du zu dem geworden bist, was du jetzt bist. Der Chemietank, unsere Kämpfe, deine Aufenthalte in Arkham ... Batmans Kritiker meinen immer, es sei alles meine Schuld. Gäbe es keinen Batman, gäbe es auch keine Superkriminellen. Es ist wie im Kalten Krieg, wo sich beide Seiten ständig neu aufrüsten, um einander zu übertrumpfen. Und wenn ich an dir das Serum gegen Draculas Gift nicht ausprobiert hätte, würdest du jetzt nicht mutieren. Vielleicht bin ich doch nur selbstgerecht und überheblich, wie der Polizeipräsident immer behauptet. Vielleicht ist das wirklich alles meine Schuld-"

„Hör auf!" unterbricht ihn der Joker, und sein Tonfall, so müde, so gequält, ist schlimmer als es jeder Wutanfall je hätte sein können. „Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass du aufhören musst, dich für alles verantwortlich zu fühlen? Du bist immer deiner Moral gefolgt, das ist nichts, wofür du dich schämen musst."

„Ich habe Fehler gemacht."

„Na und? Du bist nicht unfehlbar. Du bist auch nur ein Mensch." Nun doch plötzlich verärgert, dreht er sich zu Bruce her-um und piekst ihm mit seinem rechten Zeigefinger vor die Brust. „Gotham braucht dich. Du bist ein Vorbild und an denen mangelt es hier. Du bringst Ordnung in das Chaos. Das ist wichtig. Das schafft die notwendige Balance. Spaß ist toll. Chaos ist toll. Aber ohne Ernst und Ordnung würden wir sie gar nicht als solche erkennen. Schatten kann nicht ohne Licht existieren. So funktioniert nun mal die Welt. Aber man darf weder das eine noch das andere zu wichtig nehmen, denn am Ende sterben wir alle so oder so. Es kommt nur darauf an, was man bis dahin daraus macht. Ob man seinem eigenen Weg folgt oder dem, den andere einem vorgeben."

Bruce zögert kurz und lässt die Worte auf sich wirken. Die Stelle an seiner Brust, dort, wo ihn der Finger des Jokers traf, kribbelt wie nach einem leichten Stromstoß. Gedankenverloren streicht er sich darüber.

„Aber du entführst Leute“, wendet er schließlich ein, „legst Bomben, raubst alles, was dir von Wert erscheint, tötest ohne mit der Wimper zu zucken und wirfst mit deinem Smilex um dich wie andere mit Sahnebonbons. Ich weiß jetzt, dass deine Opfer nicht willkürlich gewählt sind. Trotzdem - tust du das alles wirklich nur, weil du dich an den Menschen rächen willst?"

„Was meine Opfer betrifft: ja."

„Und was ist mit den anderen? Den Zeugen, den Unbeteiligten, den Angehörigen?"

„Erlösung."

„Erlösung?"

„Und ein Weckruf. Je größer, desto besser. Vor allem diese sogenannte High Society müsste mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden."

Sein bitterer, wild entschlossener Tonfall lässt Bruce aufhorchen. Aus misstrauisch verengten Augen mustert er den Mann neben sich, mit dem er sich bisher doch überraschend zivilisiert hat unterhalten können. Aber jetzt, jetzt blitzt er wieder durch, der selbsternannte Harlequin of Hate.

„Was hast du vor?" Bruce versucht, seinen eigenen Ton so ruhig und gelassen wie möglich klingen zu lassen. Er weiß, mit seinem grollenden Batman-Bass erreicht er jetzt wohl nur das Gegenteil.

Doch auch so gerät der Joker kurz ins Stocken, und für eine unendlich lange Sekunde scheint alles auf der Kippe zu stehen. Sein Blick huscht kurz zu den großen Balkonfenstern hinüber, als plane er seine Flucht, doch der gehetzte Ausdruck in seiner Miene verschwindet rasch und weicht Resignation und Erschöpfung.

„Für uns alle kommt die Zeit", erklärt er müde, „wo wir uns unserem Schicksal stellen müssen. Die Party ist vorbei."

Verwirrt, fassungslos und zunehmend alarmiert starrt Bruce ihn an. Dann wechselt er einen schnellen Blick mit Alfred, doch dieser wirkt genauso erschrocken und ratlos wie er.

Joker sieht diese Gesichter und spürt dieses altbekannte Kichern seine Kehle hinaufsteigen. Er kämpft nicht dagegen an, und schon eine Sekunde später wirft er den Kopf in den Nacken und bricht in schallendes Gelächter aus. Es schmerzt, als würde eine Tonnenlast auf seinem Brustkorb liegen, aber er kann nicht aufhören.

Es klingt selbst in seinen Ohren unheimlich - zu schrill, zu laut und viel zu sehr wie das Heulen eines waidwunden Tieres. Seit er sich erinnern kann, hat er nicht ein einziges Mal in seinem Leben an sich selbst gezweifelt, ganz egal, wie viele hochdekorierte Spezialisten ihn als verrückt diagnostizierten, aber in diesem Moment, wo er sich so hört, könnte er fast doch daran glauben. Vielleicht ist er doch irre.

Vielleicht ist das alles sinnlos.

Vielleicht gibt es gar keinen Weg, den er beschreiten muss.

Oh, welch Ironie! Gerade jetzt, wo sein Batman endlich bereit ist, ihm zuzuhören und ihm zu glauben - da beginnt er an sich selbst zu zweifeln.

Dieser Gedanke bringt ihn nur noch mehr zum Lachen.

Aber das ist keine gute Idee. Das erkennt er, sobald die ersten schwarzen Flecken vor seinen Augen tanzen. Er versucht noch, sich an der Tischkante fest zu halten, doch es ist schon zu spät. Seine Welt kippt und reißt ihn mit in den Abgrund.
 

***
 

Warme, weiche Lippen an seinen eigenen.

Der Geschmack von Rotwein und Rehrücken auf seiner Zunge.

Wärme. Nähe.

Und das elektrisierende Gefühl von einer ihm plötzlich durchströmenden Kraft... jeglicher Schmerz, jegliche Müdigkeit und auch diese elendige Erschöpfung, die sein gesamtes Wesen in ihren schwarzen, tintigen Fängen umschlungen hielt, sind wie fortgeweht … verwirrt und erschrocken zugleich schlägt er die Augen auf.

Wann ... entsetzt zieht er seine Hand von Bruce' Nacken zurück ... und wie ist das alles passiert? Wann hat er sich halb über den Tisch gebeugt und dem Millionär diesen Kuss aufgezwungen?

Wieviel Zeit hat er verloren?

Nicht viel, wie ihm nach einem schnellen Rundblick klar wird. Der Braten liegt noch immer vor ihnen auf dem Tisch, auf dieser wertvollen Silberplatte, garniert mit Kräutern und Beeren, noch immer warm und verbreitet seinen köstlichen Duft, und dann sind da noch die Weingläser, von denen zumindest zwei beinahe leer sind - all das entspricht noch dem letzten Bild, an das er sich vor seinem ... Anfall erinnert.

Ganz kurz begegnet er Alfreds stets so aufmerksamen Blick und registriert das leichte Lächeln, das an dessen Mundwinkeln zupft.

Da liegt kein Vorwurf in diesen dunklen Augen, höchstens so etwas wie milde Belustigung.

Aber dennoch verspürt Joker den Drang, aufzuspringen und davonzulaufen.

Und nach einem unsicheren Blick in Bruce' verwirrtes und zunehmend enttäuschtes Gesicht macht er genau das auch.

Er bringt gerade noch eine gestammelte Entschuldigung heraus, bevor er sich seinen Mantel schnappt und wie ein gehetztes Tier erst aus dem Raum, dann durch die Empfangshalle und schließlich durch das große Portal hinaus in die Nacht rennt.

So agil und schnell wie zu seinen besten Zeiten.

Mit einem lauten Geräusch fällt die Eingangstür wieder ins Schloss. Bruce zuckt regelrecht zusammen. Er blinzelt einmal, als hätte man ihn aus einem schönen Traum gerissen und berührt mit zitternden Fingern seine Lippen.

„Was...", beginnt er, hält dann jedoch inne und wirft Alfred einen hilflosen Blick zu. Er scheint sich erst jetzt bewusst zu werden, was eigentlich passiert ist.

„Nun", meint dieser, während er zu seinem Weinglas greift und zusieht, wie sich eine aparte Röte auf die Wangen seines Ziehsohnes schleicht, „so merkwürdig das auch erscheinen mag, aber es sieht so aus, als würdest nicht nur du vor deinen Gefühlen davonlaufen. Buchstäblich diesmal."

***
 

18. Kapitel
 

Er hätte es einfacher haben können. Er hätte den breiten Kiesweg hinunter zum gusseisernen Tor nehmen und von dort aus auf die Hauptstraße abbiegen können. Doch so funktioniert das nicht. So hat es noch nie funktioniert. Er war immer schon dem direkten Weg gefolgt, frei nach der Devise, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten immer noch eine Gerade ist. Und sein Zielpunkt liegt irgendwo im Süden von Gotham City.

Daher schlägt er sich durch den Park des Wayne Anwesens, über die Mauer und setzt seinen Weg dann durch die angrenzenden Grundstücke fort, klettert über Bäume genauso wie über Dachfirste - leichtfüßig und trittsicher wie eh und je.

Er denkt nicht darüber nach, würde er das tun, wäre ein Fehltritt sicher vorprogrammiert. Er rennt, genießt das Gefühl der Stärke und Freiheit, die sich hinter jeder einzelnen Bewegung, jedem Zusammenziehen der Muskeln, versteckt und folgt ganz einfach dem Drang, sich schnell zu bewegen.

Er fühlt sich großartig. Lebendig.

Doch dann, ganz plötzlich, verliert der Energieschub seine Kraft und die Schwäche schlägt wieder über ihm zusammen.

Er stolpert und fällt, kann sich gerade noch im letzten Moment mit den Händen auffangen, sonst wäre er mit dem Gesicht voran auf rauhem Stein gelandet.

Sekundenlang hockt er so da, auf Händen und Knien, mit heftig hämmernden Herzen und nach Luft schnappend. In ein paar Minuten, so hofft er, wird es ihm besser gehen. Er muss nur etwas verschnaufen, das ist alles.

Doch es geht ihm nicht besser.

Sicher, das Atmen fällt ihm irgendwann wieder leichter und sein Herzschlag dröhnt auch nicht mehr so laut in seinen Ohren, doch die Schwäche bleibt. Sie wird sogar noch schlimmer. Als würde ihm irgendetwas das Mark aus den Knochen saugen, bis er sich so hohl fühlt wie eine Kürbislaterne zu Halloween.

Schon alleine das Heben des Kopfes bedeutet eine ungeheure Kraftanstrengung. Als würde ein Zentnergewicht Haupt und Nacken zu Boden drücken. Doch sein Überlebensinstinkt ist ungebrochen - schließlich kann er nicht einfach hier sitzen bleiben ohne zu wissen, ob er in Sicherheit ist. Vielleicht hockt er ja mitten auf einer Straße, und wer will schon von einem Truck überrollt werden?

Und so sieht er sich zum ersten Mal seit langem um und nimmt seine Umgebung dabei auch bewusst wahr. Keine Straße, aber zwei Meter vor ihm schwappt die Brühe eines Flusses träge an die steinige Uferböschung. Nebel steigt von diesem dunklen Wasser auf, weißen Fingern gleich, die den Gestank von Brackwasser, Seetang und Chemie mit sich tragen. Der typische Geruch des Gotham Rivers.

Beinahe sofort weiß er auch genau, wo er sich befindet. Er hebt den Kopf etwas höher - ein weiterer Kraftakt - doch die Robert Kane Memorial Bridge, die dort irgendwo schräg über ihm aufragt, wird vom Nebel vollständig verdeckt. Aber sie ist dort oben, er kann sie fühlen.

Eine stachelartige, stählerne Präsenz, ein hartes, bitteres Konstrukt aus Blut, Tränen und Schweiß, über das sich jeden Tag ohne Unterlass Millionen von Autos und Lastwagen hinwegwälzen, eine der pulsierenden Hauptverkehrsadern Gothams und eine der wenigen Verbindungen dieses Molochs zum Festland.

Ein geschichtsträchtiges Bauwerk, das jeden Tag aufs Neue Schlagzeilen schreibt, weil Verkehrsunfälle hier nun einmal zur Tagesordnung gehören.

Daher vermeidet er es, diese Brücke zu Fuß zu überqueren, obwohl der Übergang am Rand relativ sicher für Fußgänger ist - er will diese Echos der Ereignisse, all diese Schmerzen, die Trauer und den Zorn nicht an sich heranlassen.

Leider hat er seinen gestohlenen Wagen irgendwo in der Nähe des Wayne Manors zurückgelassen.

Egal, im Moment muss er sowieso erst einmal wieder zu Kräften kommen, dann kann er sich Gedanken über den Rückweg machen.

Müde lässt er den Kopf wieder sinken.

Der Nebel, der vom Wasser her aufsteigt, ist dichter geworden. Er scheint jedes Geräusch zu verschlucken. Es fühlt sich an, als wäre er ganz allein auf der Welt, verloren in einer weißgrau wabernden, kalt-nassen Masse. Schaudernd vergräbt er sich tiefer in seinem Mantel.

Und dann noch tiefer. Doch diesmal liegt es nicht nur an der Kälte, seiner Erschöpfung oder der unheimlichen Atmosphäre, sondern schlicht und einfach an seinen eigenen Gedanken.

Während er rannte, hat er definitiv nicht gedacht, doch jetzt kommt alles wieder hoch. Die Angst, dieses plötzliche Entsetzen, denn da war sie wieder – diese animalische Gier. Als er Bruce küsste …ihn einfach küsste ohne sich daran erinnern zu können, wie er sich über den Tisch lehnte … oh, wie schwer fiel es ihm, damit wieder aufzuhören. Und das lag nicht daran, dass ihm dieser Kuss so gefallen hätte – obwohl er das hatte, zweifellos. Aber nein, diesmal …

Da war irgendetwas … eine Art Energie, die er in sich hineinsog. Irgendetwas aus Bruce, von Bruce, das saugte er in sich hinein. Und dieses Gefühl, das erinnert ihn auf schreckliche Weise an seinen Hunger als Vampir.

Nicht, dass er sich inzwischen an diese Zeit klar erinnern könnte, aber daran … daran schon.

Oh mein Gott. Soll das … soll das bedeuten … bedeutet das, ich bin immer noch … oder schon wieder … so ein gottverdammter Vampir?

Aber nein, beruhigt er sich schnell, es ist nicht das Blut, wonach es ihn dürstet. Sondern … etwas wesentliches Essentielleres.

Oh Gott. Jetzt ist es passiert. Jetzt bin ich wirklich das, wofür mich alle schon längst halten: ich bin ein Monster.

Gequält aufstöhnend schlägt er die Hände vors Gesicht.

Trotz allem, was er getan hatte, trotz all des Blutes an seinen Händen, trotz seiner sadistischen Ader, hat er sich selbst doch nie als Monster gesehen. Was er tat, tat er doch nur, weil es jemand tun musste. Weil er der einzige war, der es konnte. Es war nun einmal der Pfad, den er gehen musste. Den er immer noch gehen muss.

Doch jetzt … jetzt mutiert er zu einem Ungeheuer. Diese Erkenntnis schmeckt bitter und wie Asche zugleich. Und sie tut weh.

Oh, kein Wunder, wenn das Band zwischen ihm und Batsy nun aussieht, als würde es sich auflösen. Weil genau das geschieht.

Plötzlich noch müder als je zuvor, lässt er die Hände wieder sinken, nur, um sie fest in den Untergrund neben sich zu krallen. Er spürt nasses Gras, schwere Erde und Steine und plötzlich - fühlt er sich durchpulst von neuer Energie. Ein zaghafte, beinahe sanfte Flut aus purer Energie, gespeist aus einer urtümlichen, ruhigen Quelle. Er fühlt sich immer noch müde, erschöpft, aber diese Leere, dieses Loch in seinem Inneren wird langsam gefüllt.

Und als das Hintergrundrauschen in seinem Kopf parallel dazu wieder lauter wird, begreift er es: diese Quelle, das ist die Natur um ihn herum, das Leben, Mutter Erde höchstpersönlich, wenn man es so nennen will.

Das Rauschen hinter seiner Stirn schwillt weiter an, Töne kristallisieren sich heraus und ergeben eine Melodie – die Melodie – glockenhell und wunderschön wie immer. Er hat sie selten bewusst gehört in den letzten paar Tagen und schmerzlich vermisst, wie es ihm jetzt erst gewahr wird.

Diese Melodie füllt ihn aus, vibriert in jeder noch so kleinen Zelle, bis sogar sein Herz in diesem Rhythmus schlägt. Sein Atem verlangsamt sich und tiefe Ruhe erfüllt ihn.

Sein Blick richtet sich aufs Wasser. Die dunklen Fluten unter dem milchigweißem Nebel scheinen immer schwärzer zu werden. Tintiges Wasser, das ungewöhnlich still und unbewegt vor ihm liegt. Spiegelglatt. Unwirklich.

Und dann, ein Augenblinzeln später, hat sich der Nebel vollständig wie eine weiße Decke darüber gelegt. Und auch um ihn. Und diesmal … diesmal riecht er noch etwas anderes unter dem üblichen fauligen Gestank – er riecht und schmeckt Salz und Wasser. So muss der Fluss gewesen sein, bevor er von den Menschen hier so verseucht wurde. Und vielleicht wird er irgendwann wieder genau so riechen und schmecken.

Der Gedanke gefällt ihm.

Doch es ist nur ein flüchtiger Gedanke, ein flüchtiges Wohlbefinden, bevor er sich wieder dieser anderen Tatsache bewusst wird:

Wieder hört und sieht er nichts, wieder wird alles von diesem Nebel verschluckt. Als wäre da rein gar nichts außer ihm. Als wäre er ganz allein auf dieser Welt.

Als gäbe es nur ihn.

Diese Welt, dieses Leben, ist vielleicht nichts anderes als ein Traum. Sein Traum. Oder der von jemand anderem.

Er weiß nicht, wie lange er da schon sitzt, es mögen Minuten sein oder Stunden, als sich plötzlich eine schwere Hand auf seine rechte Schulter legt und ihn aus seinem tranceartigen Zustand schreckt.

„Was machst du hier? Es ist kalt und nass.“

Joker dreht den Kopf, sieht in Batmans besorgtes Gesicht und kann sich nicht einmal dazu aufraffen, so zu tun, als wäre er überrascht.

„Wie hast du mich gefunden?“ fragt er dennoch, fast aus Gewohnheit, obwohl er die Antwort doch schon längst ahnt.

Batmans behandschuhte Finger verschwinden kurz unter seinem Kragen, Joker spürt ein kurzes Zupfen und als Batmans Finger kurz seinen Nacken berühren, wird ihm fast übel, so viel Besorgnis spürt er.

Schweigend zeigt Batman ihm die kleine Wanze, bevor er sie wieder in seinem Gürtel verstaut.

„Wann-“, beginnt Joker, findet dann aber nicht die Kraft, den Satz zu beenden. Es ist eine überflüssige Frage. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, wann Bruce ihm diese Wanze unter den Kragen seines Shirts geschmuggelt haben kann – während ihres Kusses.

Oh, wie raffiniert und hinterhältig von dem dunklen Ritter. Joker ist beeindruckt.

„Schäm dich, Honeycake.“

Dessen Blick wird nur noch besorgter. Aber Joker ahnt ja auch nicht, wie monoton und dumpf er klingt. Wie leblos.

„Komm.“ Mit diesen Worten packt er Joker am rechten Arm und zieht ihn daran in die Höhe. Widerstandslos lässt dieser sich das gefallen.

Jetzt wirklich beunruhigt, hält Batman ihn weiterhin fest.

Der Fluss keine zwei Meter hinter ihnen weckt schlimme Erinnerungen. Ohne groß darüber nachzudenken, zieht er ihn einfach an sich und schließt beschützend seine Arme um ihn.

„Warum bist du davongelaufen?“

Aber Joker schüttelt nur abwehrend den Kopf und lässt sich noch schwerer gegen ihn sinken.

Batman ist erstaunt darüber, wie kalt sich der Joker anfühlt – vom Fieber keine Spur mehr. Aber er glaubt nicht, dass das ein gutes Zeichen ist.

Joker zu umarmen fühlt sich jetzt ganz anders an als noch vor einer Stunde, er scheint zerbrechlicher geworden zu sein, krank und schlichtweg am Ende seiner Kräfte. So kennt Batman ihn gar nicht und ehrlich gesagt, möchte er ihn so auch nie wieder sehen.

Gerne würde er ihn weiter so halten, am liebsten die ganze Nacht, aber nicht hier draußen, nicht bei diesem Wetter.

„Komm.“ Vorsichtig dirigiert er ihn hinüber zur Straße, wo das Batmobil auf sie wartet. Jokers atypisches Benehmen beunruhigt ihn mehr denn je.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, geleitet er seine Nemesis so fürsorglich auf den Beifahrersitz seines gepanzerten Batmobils wie sonst nur die schönen Frauen in seinen Porsche. Der Joker bemerkt das sehr wohl, doch alles, wozu er sich aufraffen kann, ist ein mattes Zucken um die Mundwinkel herum.

Wenige Sekunden später wirft sich Batman schwungvoll auf den Fahrersitz neben ihn.

„Wohin?“ er fragt gar nicht erst, ob er ihn zurück ins Manor bringen soll, schließlich ist er ja gerade erst von diesem An-wesen – und von ihm! – weggerannt.

„Ich will nur nach Hause“, murmelt der Joker geistesabwesend. Im bläulichen Licht der Armaturen sieht er noch bleicher aus als sonst.

Nach Hause… sobald er es ausgesprochen hat, stolpert er selbst über diese Worte. Nach Hause beinhaltet, dass jemand so etwas hat – ein Zuhause. Eine Wohnung, ein Haus, einen Ort, an dem man sich länger aufhält als ein paar Tage, ein Ort, der mehr ist als nur ein Dach über dem Kopf, ein Ort, den man sich nach seinen Vorstellungen einrichtet, ein Ort, an dem man einen Teil von sich selbst zurücklässt, wenn man geht.

Ein Zuhause können aber auch einfach nur jene Menschen sein, die man liebt. Freunde. Die Familie.

Aber … er hat dabei doch nicht an Scarecrow gedacht, oder? Nein, das ist unmöglich.

Manchmal, in den seltenen glücklichen Momenten mit Harley hat er auch im Zusammenhang mit ihr so gedacht, so ge-fühlt, aber das ist schon so lange her, dass er sich kaum noch daran erinnern kann…

„Gerne.“ Batmans dunkle Stimme reißt ihn aus seinen grüblerisch-melancholischen Gedanken. „Und wo ist das?“

Gute Frage, hätte Joker beinahe entgegnet. Und tatsächlich hätte er ihm auch fast die Adresse genannt, wenn er sich nicht im letzten Moment daran erinnert hätte, wer da neben ihm sitzt.

„Netter Versuch, Batman“, er versucht, eine besonders scharfe Betonung auf das „Batman“ zu legen, doch alles, was herauskommt, ist ein kläglicher Seufzer. „Ich sage dir nicht, wo scarecrow wohnt. Setz mich einfach irgendwo jenseits dieser Brücke ab.“

„Nein.“

Jokers Blick verfinstert sich, aber noch bevor er protestieren kann, redet Batman schon weiter.

„Nein“, wiederholt er betont sanft. „In diesem Zustand lasse ich dich bestimmt nicht da draußen herumlaufen. Was ist, wenn du zusammenbrichst? Wer kümmert sich dann um dich? Ich könnte dich natürlich auch wieder in der Bathöhle einsperren, wäre dir das lieber?“

„Nein, aber-“

„Hör zu.“ Vorsichtig dreht er sich zu ihm, ergreift Jokers Hände und drückt sie aufmunternd. In Erinnerung an Jokers Fähigkeiten gibt er sich Mühe, diesen nicht an der bloßen Haut zu berühren – schlechte Schwingungen sind das Letzte, was der andere jetzt gebrauchen kann. Daher fasst er ihn nur um die Handgelenke, an seinen Armstulpen. Zum ersten Mal fällt ihm auf, wie dünn und fragil diese doch sind.

„Ich verspreche dir hoch und heilig, mein Wissen darüber, wo Crane wohnt, nicht auszunutzen.“

„Das kannst du mir nicht versprechen, und das weißt du auch.“ Kopfschüttelnd entzieht sich ihm der Joker und rückt zusätzlich noch etwas weiter von ihm ab.

„Setz mich einfach an der Mall ab, wo du Johnny getroffen hast. Es gibt dort ein öffentliches Telefon, von dort rufe ich ihn an und er holt mich dann ab.“

Batman ist davon alles andere als begeistert, doch er akzeptiert Jokers Entscheidung. Auch wenn ihn dessen Misstrauen schmerzt – verübeln kann er es ihm nicht. Aber er wundert sich doch über Jokers beschützende Art gegenüber Jonathan Crane.

Und alles Verständnis der Welt hilft nicht gegen den Stich der Eifersucht in seinem Herzen.

***

Es gibt Fragen, die stellt sich Jonathan Crane gar nicht erst, weil er nicht weiß, ob er die Antwort wirklich wissen will.

Und deshalb besteht sein einziger Ausdruck der Verblüffung in hochgezogenen Augenbrauen und einem leichten Räuspern, als er die sechs Granatwerfer mit Fernauslösung in seinem Keller entdeckt.

Er muss wirklich nicht wissen, wie der Joker immer an solche Waffen kommt. Sie in seinem Haus zu wissen bereitet ihm schon genug Magenschmerzen. Aber er muss zugeben, Jokers Plan, ihre neue Feargas/Smilex-Mischung auf diesem Wege über dem Soccer-Stadion abzuwerfen, ist zugleich schlicht wie genial. Die einzige - eher körperliche denn logistische - Schwierigkeit wird darin bestehen, diese sechs Teile auf den Dächern der umliegenden Hochhäuser zu deponieren. Diese Abschussanlagen sind verdammt sperrig, die passen nicht in jeden x-beliebigen Rucksack.

Aber andererseits ... hm, wenn Scarecrow so darüber nachdenkt ... haben diese kleinen, nächtlichen Ausflüge mit dem Joker auch so ihre Vorteile. Wenn er so an den letzter Nacht auf den Wayne Tower zurückdenkt...

Halt! Stop! Entschieden ruft er sich zur Ordnung.

Er sollte sich jetzt nicht von solchen Gedanken ablenken lassen.

Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen, geht er an den Granatwerfern vorbei zum Regal, in dem die Getränke lagern und holt sich einen Sechserpack Bier. Für einen kurzen Augenblick denkt er darüber nach, ob er etwas weiter hinein in den kleinen Keller zu seinem Labor gehen sollte, doch dann verwirft er diesen Gedanken wieder. Irgendwie ist ihm die Lust daran vergangen, an einer neuen Rezeptur für sein Feargas zu tüfteln. Nicht, wenn fünfzehn Meilen entfernt in einem angemieteten Lagerraum eine andere Apparatur steht, in der eine Feargas-Smilex-Mischung entsteht, die alles bisher da-gewesene in den Schatten stellt.

Morgen früh, wenn der von einem Computer überwachte Prozess abgeschlossen ist, können sie damit beginnen, das Gas in die Granaten abzufüllen. Niemals hätte Jonathan damit gerechnet, dass sie noch vor Donnerstag damit fertig werden, aber wieder einmal hat er das Organisationstalent des Clowns gewaltig unterschätzt. Oder dessen Besessenheit - immerhin plant er diesen ... Anschlag schon seit Jahren.

Der Junge muss Gothams High Society ja wirklich hassen. Und wo hat man sie besser alle auf einem Haufen als zur Hundertjahresfeier mit exklusiven Staraufgebot?

Und all diese jahrelange, penible Vorbereitung und Geduld von einem Geist, dem die Ärzte in Arkham die Aufmerksamkeitsspanne eines Dreijährigen zugestehen wollten.

Aber ich wusste ja schon immer, dass sie sich alle in ihm täuschen.

Still vor sich hingrinsend, lümmelt sich Jonathan Crane auf sein Sofa, nimmt die Fernbedienung zur Hand und schaltet den Fernseher ein. Ah, das ist jetzt genau das Richtige nach einem ermüdenden Tag im Labor und all der Arbeit, die noch vor ihm liegt. Absichtlich blendet er dabei das kurze Zusammentreffen mit Bruce Wayne am Mittag aus, denn sonst würde sich ihm nur der Magen umdrehen. Das Wissen, dass sich der Joker just in diesem Moment in der Höhle des Löwen (der Fledermaus, berichtigt Scarecrow kichernd) aufhält, ist schon schlimm genug.

Eifersüchtig? Nein, er ist nicht eifersüchtig. Wie schon einmal erwähnt - man kann ein wildes Geschöpf wie den Joker nicht besitzen. Niemals.

Es wird so wieso nicht lange gut gehen. Die Fledermaus mit ihren hohen moralischen Ansprüchen wird den Clown niemals so hinnehmen wie er ist, wird versuchen, ihn zu ändern, und das wird niemals funktionieren, weil ein wildes Tier sich einfach nicht zähmen lässt. Punkt.

Das musste Harley auch schon einsehen. Auch wenn sie das natürlich niemals so ausdrücken würde.

Ein Geräusch schreckt ihn aus seinen Gedanken. Es dauert eine Weile, bis er es als das Klingeln seines Telefons identifi-ziert.

Zuerst will er nicht hingehen, schließlich hat er es sich gerade erst gemütlich gemacht, aber der Anrufer erweist sich als sehr hartnäckig.

Unbewusst zählt er mit. Beim fünfzehnten Klingeln schließlich springt er auf und hechtet zum Apparat. Es gibt nur einen, der es so lange klingeln lässt.
 

***

Kapitel 19 - 21

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Kapitel 25-27

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Kommentare zu dieser Fanfic (11)
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Von:  Ayno-uzumaki
2016-04-22T07:48:14+00:00 22.04.2016 09:48
Spannennd :) frage mich was nu passiert *.* sofort weiter lesen
Antwort von:  MariLuna
21.05.2016 01:20
wow. danke! ^^ freu mich tierisch, dass es dir gefällt. Bin leider nicht mehr so oft hier, daher die später Antwort.
LG ML
Von:  Ayno-uzumaki
2016-04-19T13:43:05+00:00 19.04.2016 15:43
Ich liebe deinen schreibstil *.* ich liebe diese ff und dich auch :D
Antwort von:  MariLuna
21.05.2016 01:20
zu viel der Ehre *erröt* Dankeschön :)
LG ML
Von:  Ayno-uzumaki
2016-04-19T08:06:52+00:00 19.04.2016 10:06
MEGA LOB AN DICH echt *.* mir fehlen die worte kp was ich noch schreiben soll außer klasseee!! :D
Von:  Ayno-uzumaki
2016-04-19T07:03:00+00:00 19.04.2016 09:03
Ohh meim goooott <333333
Von:  Ayno-uzumaki
2016-04-19T07:02:02+00:00 19.04.2016 09:02
Ich bin überwältigt echhht *^* <3
Von:  Ayno-uzumaki
2016-04-19T06:53:53+00:00 19.04.2016 08:53
Geeeiil geill geill <3 habe mich verliebt *.*
Von:  Dollface-Quinn
2015-12-15T21:20:07+00:00 15.12.2015 22:20
Hi MariLuna, ich hab deine Story innerhalb einer Nacht und eines ganzen Tages verschlungen, obwohl ich mich gerade auf den Magister vorbereite. Du hast mir also das Lernen versüßt. Schließlich habe ich mich nur, um weiterlesen zu können, auf Animexx angemeldet. Die Story ist köstlich, klug zusammengefügt, mal lustig, mal hochspannend, oder dramatisch. Die Charaktere sind wunderbar ausgemalt, sodass man sich in jeden hineinversetzen kann. Die Idee mit Jokers übersinnlichen Kräften passt hervorragend. Ich hatte wirklich eine sehr vergnügliche Zeit beim Lesen, danke dafür. Du hast Talent. Vielleicht gehst du nur irgendwann nochmal wegen der Grammatik und einiger fehlender Worte drüber, aber der kleine Makel tut dem Wert der Geschichte keinen Abbruch.
Antwort von:  MariLuna
27.01.2016 22:15
Danke fürs lesen und das Review, freut mich, wenn's dir gefallen hat. Gebe zu, Grammatik oder ein paar Tippfehler passieren mir schon mal, bin immer froh, wenn man mir das sagt :-) zum Korrigieren bin ich derzeit aber zu faul^^
bye, ML

Von:  Squish
2015-01-28T21:31:52+00:00 28.01.2015 22:31
Hallo MariLuna,

ich habe deine Geschichte an zwei Tagen gelesen, als ich krank im Bett lag, so sehr hat sie mich gefesselt! Das Ende hätte ich mir anders gewünscht, weil ich nicht so auf diese Dreiecks-Beziehungs-Kiste stehe und Batman einfach mein Favourit ist - ABER das ist ja Geschmackssache und wahllos kam dieses Ende jetzt auch nicht daher. Von daher ist es für mich ok und so wie du alles beschrieben hast, macht das durchaus Sinn.

Ich muss gestehen, ich kenne nur die Batman-Filme und diese lustige Serie, obwohl ich Batman sehr mag. Sollte ich mal ändern. Jedenfalls dachte ich mir erst: Öhm ja... Batman und Vampirismus... wtf. Hielt ich erst für an den Haaren herbei gezogen, aber das hast du dir wie ich recherchiert habe nicht ausgedacht. Ich war mir erst nicht sicher, ob ich diese Kombination lesen möchte. Vampire: ja, Batman: ja. Ich bin allerdings nicht so der Fan von Crossovergeschichten - naja, Ausnahmen bestätigen die Regel. ;o)
Mann, was bin ich froh, das ich weitergelesen habe!!! Du schreibst wirklich super und ich konnte mir alles vorstellen und verstehen, da du vieles nochmal erklärt hast, auch für diejenigen die sich nicht so sehr mit dem Batman-Universum auskennen. Deine Beschreibungen wurden auch nie langweilig. Mir hat auch sehr gut gefallen, das man sich in die Charaktere hineinversetzen und ihre Handlungen somit nachvollziehen kann. Joker habe ich in einem völlig neuen Licht gesehen, das war mein persönliches Aha-Erlebnis. Aus einem für mich einfach nur "durchgeknallten Irren" wurde ein sehr komplexes, interessantes und magisches Wesen. Wow! Das hat mich ehrlich gepackt und fasziniert!!!!

Ich hoffe sehr bald mehr von dir lesen zu können!!!! Vielen Dank für diese geniale Geschichte!!!! :o)

Antwort von:  MariLuna
30.03.2015 20:26
Hallo Squish,
erstmal Danke für dein langes Review :-) und da ich mir das mit Dracula nicht ausgedacht habe, bin ich also wirklich unschuldig. Aber die DVD kann ich nur jedem empfehlen. *g*
Vielleicht tröstet es dich etwas: zuerst war es ja auch gar nicht als Treesome gedacht*g* ... aber dann hab ich dummerweise eine englische FF mit Scarecrow gelesen und schwupps - das Plotbunny wollte nicht mehr weichen. Ich freue mich aber, daß du es trotzdem zu Ende gelesen hast :-)
bye-bye ^^
Von:  Serafin
2015-01-26T22:51:43+00:00 26.01.2015 23:51
Halo, Danke dass du die Geschichte fertig geschrieben hast. Ich finde sie super. Vor allem das Ende hat mich überrascht, Bruce Wayne kann teilen? Bin sicher das gibt noch viele witzige Komplikationen. Fakt ist, ich liebe diese Geschichte, würde mich freuen wenn du irgendwann mal wieder etwas zu Batman schreibst.
Antwort von:  MariLuna
30.03.2015 20:22
Hallo Serafin,
Danke für dein Review und vor allem natürlich fürs Lesen :-) Ich hab noch einige Batman/Joker-Storys, aber nicht hier, sondern auf FF.de
Nochmals Danke und liebe Grüße!
Von:  Black_Polaris
2014-03-15T22:57:02+00:00 15.03.2014 23:57
Heilige Peperoni, ich habe erst gestern deine ff gefunden und muss sagen, sie ist genial, ein meisterwerk die seines sucht, eine wahre lesedroge,
und so überraschend erfrischend vom stil, so treu an den charas und doch voller überraschungen und wendungen, die beste war für mich mit alfred und selina, wow,
ich währe fast vom stuhl gefallen
ich bitte dich, dieses meisterwerk weiter zu schreiben, solche geschichten müssen mit einen würdigen epilog beendet werden und ich finde das du die besten ideen noch geheim behälst, ich bitte schrieb schreib schnell weiter, ich liebe diese story und bin schon ein großer fan von dir
Antwort von:  MariLuna
26.03.2014 18:16
Ich freue mich sehr über dein Review. Danke. Ich werde versuchen, die nächsten Kapitel hier bald hochzuladen. Ich gebe mir Mühe, das ganze nicht allzu sehr OOC werden zu lassen. Wenn dir was auffällt - Kritik ist mir genauso willkommen wie Lob :-) ML


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