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Blutgift

von

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Kapitel 15 -18

15. Kapitel
 

Müde streicht sich Bruce Wayne erst übers Gesicht und dann durch die von der erst wenige Minuten zurückliegenden Dusche noch feuchten Haare. Er fühlt sich immer noch wie gerädert, trotz besagter Dusche. Er hat mies geschlafen, wurde immer wieder durch Alpträume aufgeschreckt, an die er sich jetzt gar nicht mehr erinnern kann.

Es ist kurz vor zwölf Uhr an einem Sonntag, und er hat gerade seine Verabredung mit Vicky Vale abgesagt. Er fühlt sich nicht halb so schlecht deswegen, wie er es eigentlich sollte - und das wiederum verbessert seine Stimmung nicht im Geringsten. Einerseits ärgert es ihn, dass er anscheinend kein Problem mehr damit hat, seine guten Manieren einfach so über Bord zu werfen und auf der anderen Seite bestätigt das wiederum nur Selina Kyles Worte.

Aber er will nicht, dass sie Recht behält. Denn das würde ja bedeuten, dass sie auch in dieser anderen Sache Recht hat, nicht wahr?

Aber nein, das kann ... das darf nicht sein!

Entschlossen schüttelt Bruce den Kopf und drängt diese Gedanken zurück in die dunkle Ecke seines Seins, aus der sie stammen. Es gibt Wichtigeres, um das er sich kümmern muss.

Und so schnappt er sich sein Tablet PC vom Nachttisch, setzt sich im Schneidersitz mitten auf sein Bett und wartet darauf, dass das kleine Gerät eine Verbindung zu seiner Computeranlage in der Bathöhle hergestellt hat. Das dauert einige Minuten - viel zu lange, denn sofort kreisen seine Gedanken wieder um jenen Mann, der für ihn wohl ein ewiges Rätsel bleiben wird.

Der Mensch, so ruft er sich ins Gedächtnis, besitzt 23.000 Gene, und davon sind ein Prozent generell mutiert. Manche dieser Mutationen haben schlimme Auswirkungen, fuhren zu Krankheiten und Behinderungen, andere sind eher ein Segen für die Betroffenen wie eine höhere Immunität gegen Krankheitserreger oder ein eidetisches Gedächtnis, aber die meisten bleiben völlig unbemerkt. Mutationen gehören zur Evolution dazu. Nicht nur die Menschen sind davon betroffen - alles, was lebt, entwickelt sich auf diese Art weiter.

Die Mutationsrate des Jokers ist allerdings erstaunlich hoch - schon vor diesem ganzen Desaster mit Dracula betrug sie das Doppelte und jetzt hat sie schon vier Prozent überschritten und wird laut Computersimulation irgendwo bei 4,8 Prozent aufhören. Das sind 1.104 mutierte Gene, von denen die Hälfte wahrscheinlich nur dazu dient, die Veränderungen derart in den lebendigen Organismus einzubetten, damit dessen weiteres Überleben gesichert ist.

Bruce hat inzwischen begriffen, dass das Serum, mit dem er ihn gegen Vampirismus impfte, auf den Körper des Jokers wie ein Katalysator wirkte. Damit setzte er eine Kettenreaktion wieder in Gang, die vor vier Jahren aus irgend einem Grunde stoppte, damals, als der Joker in den Chemietank fiel und zum ersten Mal mutierte.

Und vielleicht hätte er einfach nur abwarten müssen, vielleicht war er zu voreilig, vielleicht hätte Jokers Immunsystem Draculas Gift selbst irgendwann neutralisiert. Und wenn er damals Jokers Mutation in seine Berechnungen mit einbezogen hätte, wäre dies alles hier vielleicht nie passiert. Dann würde Joker nicht wieder mutieren und er würde nicht Sorgen wälzen, wie gefährlich dieser Irre für Gotham zukünftig noch werden kann.

Das leise Piepsen des Tablets, mit dem es ihm mitteilt, dass die Verbindung zum Hauptcomputer hergestellt wurde, reißt ihn schließlich aus seinen Gedanken.

Zwei neue Datenpakete blinken, um seine Aufmerksamkeit heischend. Eines davon trägt die Kennung seiner Firma. Da-rum wird er sich später kümmern. Zuerst interessiert er sich für die Neuigkeiten, die sein kleines Spionageprogramm ihm liefert. Natürlich ist es nicht sehr nett, sich in den Computer seiner Journalistenfreundin zu hacken, aber er war faul - wieso selbst Recherchen anstellen, wo sie und ihre Kollegin das schon längst für ihn erledigt haben?

Und sie wird es ja nie erfahren. Er schadet damit weder ihr noch ihrer Story.

Er stellt schnell fest dass die Recherchen der beiden Reporterinnen ausgesprochen umfangreich und sehr detailliert geworden sind. Er bräuchte mehrere Stunden, um sich das alles anzusehen, Stunden, die er nicht wirklich hat.

Glücklicherweise haben sie zusätzlich zu den ausführlichen Berichten noch eine kompakte Tabelle erstellt, geordnet nach den verschiedenen Gesetzesverstößen.

Allein die Auflistung der Verbrechen erschüttert ihn zutiefst. Leben wirklich so viele Menschen in dieser Stadt, die Kinder oder ihre Partner misshandeln und die deswegen noch niemals angezeigt wurden?

Entsetzlich. Unvorstellbar. Ekelhaft!

Wenn er so etwas liest, fällt es ihm wirklich schwer, diese Menschen weiterhin als Opfer des Jokers zu betrachten. Wenn er ehrlich sein soll, weiß er nicht, ob Batman, hätte er von diesen Missetaten gewusst, nicht ähnlich gehandelt hätte. Auch wenn er Selbstjustiz ablehnt, er könnte nicht garantieren, dass er diese ... Ungeheuer ohne gebrochene Knochen bei der Polizei abgeliefert hätte. Schnell wendet er sich den anderen aufgelisteten Verbrechen zu. Gegenüber dem, was er bisher gelesen hat, sind diese regelrecht harmlos: Immobilienbetrug, Korruption, Fahrerflucht, Körperverletzung, Tierquälerei, Mobbing. Darunter auch jene Fälle, von denen Vicky ihm schon erzählt hat.

Dann stößt er auf den Namen, vor dem er sich schon die ganze Zeit gefürchtet hat: Ethan Bennett.

Er muss sich geradezu dazu zwingen, die mit diesem Namen verlinkte Datei durchzulesen. Er wusste, dass gegen seinen alten Freund ein Disziplinarverfahren wegen Korruption im Gange war, aber Ethan hatte ihm gegenüber immer seine Un-schuld beteuert, und er hat ihm geglaubt. Ja, er hat ihm sogar einen Anwalt bezahlt.

Doch jetzt muss er lesen, dass Ethan tatsächlich systematisch Verdächtigen Beweise untergeschoben hatte. Die Aufnahme einer Überwachungskamera an einem Tatort beweist das zumindest in einem Fall unwiderruflich.

Sogar an diese Aufnahme sind Vicky und ihre Freundin gekommen, und als er sie sich jetzt ansieht, fühlt es sich an, als würde irgend etwas in ihm zerbrechen.

Bruce spürt, wie sich seine Wangen verspannen, und er ertappt sich dabei, wie er mit den Zähnen zu knirschen beginnt.

Scheiße, Ethan, ich habe dir VERTRAUT!

Es schmerzt. Aber noch viel schmerzt die Gewissheit, dass der Joker die Wahrheit gesagt und er ihm nicht geglaubt hatte.

Er hatte recht. Er hatte die ganze Zeit recht!

Bruce schüttelt den Kopf und drängt das Gefühl der Schuld rigoros beiseite. Entschlossen wendet er sich wieder seinem Tablet zu. Es gibt noch so viel, was die beiden Reporterinnen herausgefunden haben.

Sie haben sogar eine Spalte ganz besonders markiert und diese „seelische Verbrechen" genannt. Neben der Misshandlung Schwächerer (was ja auch den gesetzlichen Straftatbestand erfüllt), steht dort auch so etwas wie „Untreue", „gebrochene Liebesversprechen" oder „entzieht sich seiner Verantwortung als Elternteil".

Im ersten Moment ist er überrascht, dann unangenehm berührt und zum Schluß befürchtet er beinahe, seinen eigenen Namen auf dieser Liste zu lesen. Seinen Ruf als Playboy besitzt er schließlich nicht nur wegen seines guten Aussehens.

Aber sein Name steht natürlich nicht auf dieser Liste - er ist nun mal kein Smilex-Opfer. Aber wäre er nicht Batman, sähe das vielleicht anders aus.

Vielleicht, überlegt er, als er weiterliest, hat er auch nur Glück gehabt, dass seine bisherigen Eroberungen mindestens so leichtlebig waren wie er und ihre Herzen ziemlich bruchfest. Er hatte keiner von ihnen eine Hochzeit versprochen.

Daran gedacht? Sicher. Mehr als einmal.

Aber es laut ausgesprochen ehe er sich selbst da ganz sicher war? Nein, noch nie.

Er hatte auch noch nie eine der Ladies grob vor die Tür gesetzt, geschweige denn sie geschwängert und dann feige im Stich gelassen.

Er ist reich, verdammt nochmal! Sollte es da ein uneheliches Kind von ihm geben, gäbe es keine Mutter, die nicht wenigstens versuchen würde, an Alimente zu gelangen. Nicht in dieser Welt, nicht wenn sie ihr Kind liebt und ihm ein gutes Leben ermöglichen will.

Für einen Moment starrt Bruce nur ausdruckslos auf diese Liste. Mal abgesehen von diesen verstörenden Schicksalen, die sich dahinter verbergen, irritiert es ihn zunehmend, dass sich ausgerechnet jemand wie der Joker für all diese Leute als Racheengel aufspielt.

Wenn man bedenkt, wie er immer mit Harley umgesprungen ist, sollte er selbst auf dieser Liste stehen.

Der Gedanke amüsiert ihn. Er beschließt, genau das beim nächsten Mal, wenn sie sich sehen, anzusprechen.

Wenn sie sich sehen...

Das Grinsen, kaum auf seinem Gesicht erschienen, verschwindet sofort wieder.

Um sich abzulenken, klickt er sich noch einige Minuten durch die verschiedensten Namen, doch am Ende fühlt er sich nur noch elend und schließt die Datei wieder. Er weiß, was er wissen wollte und der Gedanke, dass der Joker all dieses Elend gefühlt hat - denn woher sonst sollte er davon wissen? dreht ihm schier den Magen um.

Er steht auf und geht hinüber zu dem Sekretär in der Ecke, in dem sich in Wirklichkeit eine gut sortierte Hausbar verbirgt. Beides, Hausbar und Sekretär, stand schon bei seinem Vater hier und er hat in all den Jahren nichts daran geändert, genauso wenig wie an diesem immer, das ursprünglich das Schlafzimmer seiner Eltern war. Ein paar der Möbel sind natürlich neu - zum Beispiel sein Bett und die LED-Leuchten - aber das meiste ist noch genauso wie vor zwanzig Jahren. Nach dem Tod seiner Eltern wollte er ihnen so nahe sein wie möglich. Damals hat er jede Nacht in deren großem Ehebett geschlafen, doch als er anfing, seine Freundinnen hierher mitzubringen, hat er sich ein neues Bett gekauft. Alles andere wäre einfach nur pietätlos gewesen.

Die Bar aber gehörte seinem Vater, genauso wie die meisten der Flaschen, die hier stehen. Anders als sein Dad ist Bruce kein großer Whiskeyliebhaber, er bevorzugt Wein. Heute aber, nach dieser Lektüre, braucht er etwas Stärkeres.

Das Glas in der Hand, geht er hinüber zum Fenster und starrt hinaus. Der Regen hat anscheinend eine Pause eingelegt, und durch die Wolkendecke bricht tatsächlich etwas Sonnenschein. Nicht viel, aber es genügt, um das prächtige Rot und Gelb der Bäume zum Leuchten zu bringen. Nachdenklich runzelt Bruce die Stirn. Er hat gar nicht bemerkt, wie sich das Laub verfärbt hat. Letzte Woche - war da nicht noch alles grün gewesen? Oder ist er schon so gestresst, dass er so etwas gar nicht mehr richtig wahrnimmt?

Das Jahr vergeht so schnell, fährt es ihm in einem Anflug von Melancholie durch den Kopf. Bald ist wieder Winter. Kälte. Schnee. Und der Joker läuft dann trotzdem wieder barfuß.

Unbemerkt von ihm selbst, zuckt ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel. Er erinnert sich daran, wie sich der Joker vor zwei Jahren in eine der berühmten Bruce-Wayne-Weihnachtsparties hineingeschlichen hat - in einem Weihnachtskostüm! Nachdem er Bruce' Gäste um ihre Wertsachen erleichtert hatte, war er doch tatsächlich auf einem Rentier davongaloppiert. Das Rentier, erfuhr Bruce später aus der Zeitung, hatte er aus dem Gothamer Zoo gestohlen und nach seinem kleinen „Auftritt" wieder im Park freigelassen, wo es später von der Polizei eingefangen wurde. Das Tier überstand das ganze unverletzt, wenn man von den Glöckchen in seinem Geweih mal absah.

Und Bruce hatte selten ein solch vergnügliches Fest.

Das letzte Weihnachten saß der Joker ja - leider? Oh ja, leider! - in Arkham.

Was wird er sich wohl für dieses Jahr einfallen lassen?

Doch dann fällt ihm ein, dass es für den Joker vielleicht gar kein Weihnachten geben wird und seine gute Laune löst sich auf wie Seife im Wasser. Nein, das darf nicht passieren. Er wird den Joker finden. Er wird ihn retten.

Das Piepen seines Tablet reißt ihn aus seinen Gedanken. Das Signal soll ihn daran erinnern, dass er noch ein ungeöffnetes Datenpaket hat. Noch während er zurück geht, erinnert er sich wieder an die Videodatei aus seiner Firma. Schnell legt er das kaum angerührte Whiskeyglas auf den Nachttisch und öffnet sein Programm.

Er erwartet nichts Weltbewegendes, das ganze ist eher ein Fall für seine Sicherheitsabteilung, aber es wird ihn von diesen Gedanken etwas ablenken.

Da sich die Einbrüche in seinen Tower im letzten halben Jahr gehäuft haben, hat er das Gebäude flächendeckend mit neueren, noch besseren und vor allem versteckten Überwachungskameras und Bewegungssensoren ausgestattet. Bei den meisten Missetätern hatte es sich bisher um Jugendliche gehandelt - Einbrüche dieserart gelten als beliebter Initiationsritus für Straßengangs der harmloseren Sorte. Einmal jedoch war es ihnen gelungen, auf diese Art einem Industriespion in Diensten der LexCorp auf die Schliche zu kommen, der jahrelang bei Wayne Enterprises verdeckt als Buchhalter gearbeitet hatte.

Die Erkenntnis, dass er seinen eigenen Mitarbeitern nicht trauen kann, hat Bruce damals ziemlich enttäuscht und einen erneuten Backgroundcheck aller Angestellten von Wayne Enterprises verlangt. Zum Glück spricht alles dafür, dass dieser Mann ein Einzelfall war.

Und so rechnet Bruce auch diesmal wieder mit nichts Besorgniserregendem, als er die Videodatei öffnet.

Zehn Sekunden später weiten sich seine Augen schockiert.

Während die Aufnahmen der Kamera von einem der Seiteneingänge und des dahinterliegenden Ganges eher undeutlich waren - ganz so, als wüssten die Eindringlinge, wo sich die Kameras befinden - sind die Aufnahmen vom Fahrstuhl Nummer Sechs glasklar. Und in Farbe.

Bruce spürt, wie seine Hände zu zittern beginnen und ballt sie hastig zu Fäusten.

Unglaublich! Diese Dreistigkeit!

Er hätte sich laut aufgelacht, wenn da nicht diese andere Sache wäre. Er spürt, wie sein Inneres zu Eis erstarrt, doch so sehr er es sich auch wünscht - er kann den Blick einfach nicht abwenden.

Hilflos muss er mit ansehen, wie der Joker seinen brünetten Begleiter, den Bruce sofort trotz der Vogelperspektive als Jonathan Crane identifiziert, mit ganzem Körpereinsatz gegen die Kabinenwand drängt und ihn so gierig küsst, als gäbe es kein Morgen mehr.

Schnell drückt Bruce auf „Pause". Zu seinem großen Leidwesen friert die Aufnahme genau in jenem Moment ein, wo Jokers rechte Hand unter Cranes Mantel rutscht. Er benötigt nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was diese Hand dort gerade treibt.

„Mistkerl." Bruce greift zu seinem Whiskey und leert das Glas in einem Zuge. Die brennende Flüssigkeit verursacht einen angenehmen Schwindel. Für die Dauer einer halben Minuten starrt er nur ausdruckslos auf den Bildschirm, dann hat er sich zu einer Entscheidung durchgerungen. Entschlossen betätigt er das „Wiedergabe"-Icon.

Der Fahrstuhl ist kein Expresslift, bis ganz nach oben benötigt er anderthalb Minuten. Das sind neunzig Sekunden hemmungsloser Knutscherei und noch viel hemmungsloserer Fummelei, die Bruce hier geboten wird. Er ist wirklich froh, dass die Kamera ihm keine Tonübertragung liefert, das sehen zu müssen, reicht ihm schon.

Er versucht, nichts bei diesem Anblick zu empfinden, doch sein Körper ist anderer Meinung. Am Ende dieser neunzig Sekunden fühlt er ein angenehmes Kribbeln in seinen Lenden und verspürt ein gewisses Bedauern. Auch wenn er nicht genau weiß, was er bedauern soll.

Die Aufnahme endet, als die beiden den Fahrstuhl verlassen und wechselt sofort zur Dachkamera, die den Hubschrauberlandeplatz überwacht. Trotz Nachtsichtfunktion ist es schwer, etwas auf den nächsten Bildern zu erkennen; es regnet zu stark, und er muss erst den richtigen Zoomfaktor einstellen. So nahe wie er es gerne hätte, geht es dann aber nun doch nicht, weil sonst das Bild verpixelt. Es ist nun einmal keine Liveübertragung.

Zu Anfang ist auch nicht viel zu sehen. Sie reden nur.

Jetzt bereut er es, keinen Ton zu haben.

Plötzlich sieht er, wie ein deutlicher Ruck durch Cranes schmalen Körper geht. Sein Gesichtsausdruck, ja, seine gesamte Haltung verändert sich. Und als er die Brille abnimmt, weiß Bruce, dass das dort jetzt Scarecrow ist. Als er sieht, wie dieser entschlossenen Schrittes von hinten an Joker herantritt, befürchtet er für einen kleinen Moment tatsächlich das Schlimmste, nämlich, dass Scarecrow den Joker vom Dach stoßen könnte. Es ist ein alberner Gedanke, vor allem nach allem, was er von den beiden weiß, nach allem, was er vor wenigen Sekunden im Fahrstuhl gesehen hat.

Aber für einen Herzschlag hat sie ihn wieder im Griff— diese Angst, etwas Kostbares zu verlieren.

Doch Scarecrows Intentionen gehen in eine völlig andere Richtung, wovon er sich sehr bald überzeugen kann. Die Sicht ist immer noch schlecht, aber gerade dadurch wird alles nur noch schlimmer für ihn. Seine Fantasie schlägt Purzelbäume. Sie ist schmutziger als jeder Hardcoreporno.

Nur ganz kurz flackert in seinem Bewusstsein die Frage auf, was die beiden dort oben eigentlich wollten, bevor sie von solchen Gedanken wie „ein aufregender Platz zum Rumvögeln, wieso ist mir das nie eingefallen?“ einfach davongespült wird.

Das wenige, was die Kamera eingefangen hat, ist unverkennbar für jeden, der so etwas schon einmal erlebt oder im Kino gesehen hat. Die Art und Weise, wie sich Scarecrow hinter dem Joker aufbaut, sogar die Art, wie er erst an seiner und dann an Jokers Kleidung herumfummelt und wie das ganze schließlich in stoßartigen Hüftbewegungen endet.

Abermals wird Bruce schwindelig. Und heiß.

Doch er beißt sich nur auf die Unterlippe und versucht, die sich langsam in ihm aufbauende Erregung zurück zu drängen. Es gelingt ihm tatsächlich, das alles aus einer völlig sachlichen Perspektive zu betrachten. Eine große Hilfe ist ihm dabei der Timecode, den er erst jetzt zum ersten Mal richtig beachtet. Er stellt fest, dass er sich zu dieser Zeit, als die beiden Ganoven sich auf dem Dach seines Towers vergnügten, gerade erst schlafen gelegt hatte. Wirklich ärgerlich.

Wäre er doch nur auf seinem Heimweg noch einmal am Tower vorbeigefahren. Dann hätte er die beiden in flagranti überraschen können…

Bruce unterbricht diesen Gedanken hastig, denn er führt eindeutig in eine Richtung, die ihm bei seinem wachsenden „Problem" nicht im Geringsten weiterhilft.

Das ganze lustvolle Theater dauert knappe sechs Minuten, verrät ihm der Timecode. Ein guter Durchschnitt, wie Bruce widerstrebend zugeben muss.

Allzu lange bleiben sie dann auch nicht mehr auf dem Dach, es regnet ihnen dann wohl doch zu stark, jetzt, wo sich ihre Hormone ausgetobt haben. Sie reden kurz, tauschen noch ein paar harmlose Zärtlichkeiten aus und schlendern dann zurück zum Lift.

Es folgt wieder ein Schnitt hinüber zum Inneren der Fahrstuhlkabine. Sie sind patschnass. Beide. Stehen da wie zwei begossene Pudel, doch sie wirken vollends zufrieden. Wie zwei Kater, die von der verbotenen Sahne genascht haben. Und dann folgt das, dessen Anblick Bruce' Selbstbeherrschung zum Einsturz bringt.

Er sieht, wie sich Scarecrow zum Joker hinüberbeugt und seine Nase in dessen Halsbeuge vergräbt. Er sieht, wie er ganz tief Luft holt, sieht Scarecrows grenzenlos verzückten Gesichtsausdruck und wie er abermals tief einatmet.

Da hat er sich so gut zusammengerissen und widerstanden, und dann ist es diese einfache, kleine Geste, die alle Dämme bricht.

Denn Bruce weiß, was der ehemalige Psychiater dort riecht. Für einen Moment ist er wieder schmerzhaft präsent - dieser Duft nach wilden Beeren.

Er beginnt am ganzen Körper zu zittern und wird so hart, dass es eine rechte Qual wird. Es hat sich schon viel zu viel Druck angestaut und so lässt er sich ergeben aufseufzend rückwärts auf sein Bett sinken.

Seine rechte Hand rutscht unter seine Hose und trifft dort auf seine heiße, pochende Männlichkeit. Stöhnend befriedigt er sich selbst, während hinter seinen geschlossenen Augenlidern sein ganz eigenes Kopfkino stattfindet, mit ihm und dem Joker in den Hauptrollen.

Später, ja später wird er sich dafür schämen.

Vielleicht.

Vielleicht aber auch nicht.

In diesen Minuten jedenfalls ist es ihm herzlich egal.
 

***
 

Es ist kurz vor zwei Uhr am Nachmittag, als sich Bruce Wayne endlich dem Diktat seines knurrenden Magens unterwirft. Mit ziemlich wackligen Knien und hoffend, dass man ihm seine Beschämung nicht ansieht, tapst er die Treppe hinunter in die Küche, aus der ihm der verlockende Duft von gebratenem Fleisch und Rotkohl entgegenweht.

Alfred putzt gerade das Küchenfenster, legt Schwamm und Eimer aber zur Seite, als der Millionär zur Tür hereinkommt.

„Guten Morgen, Sir. Oder soll ich lieber guten Nachmittag wünschen?"

Bruce macht ein zerknirschtes Gesicht. „Tut mir leid, Alfred. Ich habe wohl erst verschlafen und dann die Zeit vergessen."

Alfred nickt nur. Die Tradition sonntags zum Lunch zusammenzusitzen hat er eigentlich nur eingeführt, damit Bruce wenigstens einmal in der Woche regelmäßige Mahlzeiten zu sich nimmt. Da er in der letzten Woche aber häufig ordentlich diniert hat, lässt er ihm dieses Versäumnis diesmal ohne zu murren durchgehen. Außerdem ist Bruce nicht der Einzige, der sich Sorgen um den Joker macht, von daher kann Alfred Batmans obsessive Suchaktion in der letzten Nacht mehr als verstehen.

Gemeinsam tragen sie die Speisen hinüber ins Speisezimmer und dabei mustert Alfred seinen Freund mit dem einen und anderen heimlichen Seitenblick. Bruce sieht müde aus. Abgekämpft. Und es haben sich Sorgenfalten in seine Stirn gegra-ben, die Alfred überhaupt nicht gerne sieht.

Aber da ist noch etwas anderes. Er wirkt ungewohnt angespannt und übermäßig kontrolliert in jeder einzelnen Bewegung. Das letzte Mal hat ihn Alfred so erlebt, als er dachte, der Joker sei vor seinen Augen gestorben.

Nachdem sie sich gesetzt haben, rührt Bruce erst eine ganze Minute gedankenverloren in seiner Suppe herum, bevor es aus ihm herausplatzt:

„Alfred, hat der Computer inzwischen irgend eine Lösung ausgespuckt? Ein Gegenmittel? Eine Behandlungsmöglichkeit? Irgend etwas?"

Die letzten Worte klingen so verzweifelt, dass es Alfred einen regelrechten Stich versetzt - aber ihm bleibt nichts anderes übrig als den Kopf zu schütteln.

„Nein", erklärt er und fügt dann noch leise hinzu: „Es tut mir leid."

Bruce nickt nur. Er kannte die Antwort, er hat sie schließlich selbst gesehen, vor wenigen Minuten, oben auf seinem Tablet. Er weiß selbst nicht, wieso er diese überflüssige Frage gestellt hat, aber vielleicht wollte er es nur aus dem Mund desjenigen Menschen hören, der immer wie ein Vater zu ihm war.

Lustlos beginnt er seine Suppe zu essen. Aber schon nach dem ersten Löffeln kommt der Appetit und er kann sich schnell dem Hauptgang zu wenden - sehr zu Alfreds stiller Freude.

Und dann, zwischen Rollbraten und Kartoffeln und Rotkohl beginnt er zu erzählen, was Vicky Vale und ihre Freundin herausgefunden haben. Nicht einmal die Sache mit Ethan Bennett lässt er aus. Allerdings schleicht sich bei diesem Teil eine gewisse Verbitterung in seine Stimme, die Alfred stumm zur Kenntnis nimmt. Er hört ihm geduldig und aufmerksam zu und verbeißt sich sogar das „so etwas ähnliches habe ich mir gedacht", das ihm auf der Zunge liegt.

Alfred ist seinem Ziehsohn in Alter und Erfahrung weit voraus, er hat schon längst gelernt, dass sich die Welt nur in Grau-stufen aufteilt, während Bruce sich in solchen Dingen manchmal die Naivität eines Kindes bewahrt hat. Und deshalb ist er jetzt auch einfach nur froh darüber, dass Bruce letztendlich die Wahrheit anerkennt und sie nicht weiterhin stur verweigert.

Und vielleicht kann noch ein kleiner Stups in die richtige Richtung nicht schaden. Bruce scheint gerade dafür empfänglich zu sein.

„Weiß du, Bruce", beginnt Alfred daher betont nachdenklich, „es mag seltsam klingen, aber ich hatte mich an seine Gesell-schaft schon richtig gewöhnt. Ja, ich gehe sogar so weit, zu sagen, dass er mir unter gewissen Umständen tatsächlich fehlt."

Und dann wartet er gespannt auf eine Antwort. Er hält sogar den Atem an, während er das Gesicht seines Gegenübers nicht aus den Augen lässt.

Huscht da tatsächlich so etwas wie ein sehnsüchtiger Schatten über Bruce' Miene?

„Ja." Bruce' Stimme ist nur mehr ein Hauch. „Ich vermisse ihn auch. Und ich wünschte, ich wäre netter zu ihm gewesen."

Alfred wagt ein kleines Lächeln, und bei Bruce' nächsten Worten wäre daraus doch fast ein Grinsen geworden.

„Aber er ist jetzt mit Scarecrow zusammen und ich weiß nicht, wo sie sind! Ich kann sie einfach nicht finden!" Wütend schlägt der Millionär mit der flachen Hand auf den Tisch, doch dann wird ihm sein Temperamentsausbruch bewusst und er lächelt entschuldigend.

Alfred zuckt mit keiner Wimper.

„Nun, Bruce", erklärt er völlig ruhig, „dann ist er wenigstens in guten Händen, sobald sein Zustand kritisch werden sollte. Crane wird ihn dann in ein Krankenhaus bringen und wenn das geschieht, wird Batman davon erfahren." Er hält kurz inne und genießt Bruce' höchst eindrucksvolles, zorniges Schnauben, bevor er mit dem Offensichtlichen fortfährt und ihm sei-nen eigenen Geistesblitz erläutert, der ihm kurz nach dem Aufwachen kam:

„Außerdem - eine von Dr. Jonathan Cranes Bewährungsauflagen ist es doch, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Die Adresse seines Arbeitgebers herauszufinden sollte nicht schwer sein für jemanden, der den Server des Gerichts hacken kann. Und was hält dich dann davon ab, unserem lieben Doktor an seinem Arbeitsplatz einen Besuch abzustatten?"

Für einen Moment starrt der Millionär ihn nur aus großen blauen Augen an, dann schleicht sich ein Grinsen auf sein Ge-sicht.

„Alfred, du bist genial."

„Ich weiß", lächelt dieser geschmeichelt und absolut unbescheiden.
 

***
 

16. Kapitel
 

„Wow.” Das ist das erste, was Jonathan Crane einfällt, sobald sich seine Augen an das grelle Neonlicht im Lagerraum Nr. 616 gewöhnt haben. Er ist wirklich beeindruckt, um nicht zu sagen verblüfft. In einem dieser ganz normalen Gebäuden, wo die Menschen sonst ihr Hab und Gut, ihren Hausrat einlagern, weil sie ihre Wohnung aufgeben mussten oder jemand verstarb und ihnen ihren ganzen Kram hinterließ, hat sich der Joker tonnenweise Chemikalien aufbewahrt. Buchstäblich. Die Fässer sind sogar vorbildlich versiegelt.

Staunend schreitet er die Reihe säuberlich gestapelter Fässer ab und liest die Beschriftungen. In den meisten Fässern lagern die schon fertigen Produkte, es gibt aber auch welche mit den Rohmaterialien, und ganz hinten in der Ecke liegt alles, was man zur Herstellung von Bomben so benötigt.

„Wow", wiederholt Jonathan und dreht sich zu dem anderen um. „Wie lange sammelst du das alles schon?"

Joker lehnt mit dem Rücken am Türrahmen des mittelgroßen Rolltores und grinst sein übliches breites Grinsen. Jemanden, der ihn nicht kennt, wäre nichts aufgefallen und er würde diese Pose daher als Ausdruck selbstbewusster Lässigkeit und dieses Grinsen als fies halten. Jonathan aber sieht, wie falsch dieses Grinsen wirklich ist und dass sich Joker in Wirklichkeit an den Rahmen anlehnt. Jonathan kann seine schweren Atemzüge bis hierher hören.

„Tausendzweihundertelf Tage", erwidert Joker. „Immer mal hier ein bisschen und dort etwas, damit es nicht auffällt." Er zögert kurz und sein Blick richtet sich ins Leere, und Jonathan fragt sich, wen oder was er dort wohl sieht. „Es gibt noch zwei ähnliche Lagerstätten in dieser Stadt, aber das hier ist genau das, was wir brauchen."

Jonathan nickt nur. Er hat dem Joker niemals viele Fragen gestellt, nicht, seit er von dessen ungewöhnlichen Fähigkeiten weiß, und seit achtundvierzig Stunden stellt er überhaupt keine Fragen mehr, die mit „warum" oder „woher" beginnen.

Als er heute aufwachte und den schlafenden Joker neben sich sah, waren ihm zum ersten Mal seit seiner Teenagerzeit die Tränen in die Augen geschossen. Mit dem bedrückenden Gefühl, etwas Wertvolles zu verlieren, hatte er einfach nur dage-sessen und den anderen beobachtet.

Und dieses Gefühl hat ihn bis jetzt nicht losgelassen. Er fühlt, dass ihre Zeit begrenzt ist und er will sie nicht mit Fragen verschwenden, die den anderen nur weiter von ihm forttreiben könnten. Noch einmal lässt er seinen Blick über den Inhalt des Lagerraumes schweifen. Sie haben mehr als genug Smilex für ihren Plan und genau die richtige Menge an Chemikalien für sein Fear Gas. Aber er weiß immer noch nicht, wie genau das Mischungsverhältnis der beiden Gase sein soll, um den gewünschten Effekt zu erhalten und ob sie dafür nicht noch einen Katalysator benötigen. Und dann, ganz in Gedanken versunken, stellt er sie doch, eine „woher"-Frage.

„Ich würde wirklich gerne wissen, woher du deine Chemie-Kenntnisse hast. Dein Smilex ist einfach genial und auch die Art, wie du es immer abwandelst. Ich habe jahrelang an meinem Fear Gas gebastelt und bin immer noch dabei, es zu ver-feinern. Während meines Arkhamaufenthaltes bin ich mit meinen Experimenten furchtbar in Verzug geraten. Aber du tauchst nach Arkham immer mit einer neuen Variante von Smilex oder ganz neuen Toxinen auf. Und du hast immer ein Gegengift parat."

Die Antwort besteht aus Schweigen, und in diesem Moment wird er sich siedendheiß gewahr, dass er eine verbotene Frage gestellt hat. Verdammt. Er schließt die Augen und atmet einmal tief durch, wappnet sich fürs Unvermeidliche.

Als er sich umdreht und die Augen wieder aufschlägt, muss er sehen, dass der Joker - wie befürchtet - nicht mehr am Ein-gang steht. Allerdings ist er aber auch nicht verschwunden, wie angenommen. Stattdessen steht er dicht vor ihm, so dicht, dass Jonathan die Hitze spüren kann, die von diesem ausgeht. Der süße Duft von wilden Beeren steigt ihm in die Nase und lässt ihn innerlich mehr erzittern als Jokers ernster Blick. Oder seine Finger an seiner Wange.

„Ich kann dir keine Frage beantworten, deren Antwort ich selber nicht kenne, Johnny.” Diese Worte sind so ehrlich, dass es Jonathan kalt den Rücken hinunterrieselt.

Jokers Augen, so rot, so durchdringend, scheinen ihm plötzlich direkt bis in die Seele zu blicken. So unangenehm ihm das auch ist, so wünscht er sich doch, dass dieser Moment ewig dauern könnte.

Und auf einmal wird er sich bewusst, dass der Joker der einzige Mensch in seinem Leben ist, der ihn und Scarecrow als gleichberechtigt respektiert. Alle anderen bevorzugten immer den einen oder anderen. Für den einen Teil ist Jonathan Cra-ne die Hauptidentität und Scarecrow nur ein böses, nicht hinnehmbares Alter Ego, dem Einhalt geboten werden muss und die anderen empfinden Jonathan als Weichei, als Versager und respektieren Scarecrow.

Jeder von diesen Menschen glaubt, dass entweder der eine oder der andere irgendwann die Oberhand gewinnen wird. Nur der Joker sieht sie als das, was sie wirklich sind: eine Einheit, als zwei Wesen, die sich ergänzen.

Er war es, der den Psychiater Jonathan Crane damals ermunterte, Scarecrow eine Gestalt zu geben. Durch ihn sind sie erst perfekt geworden.

„Joker", beginnt er ohne jedoch wirklich zu wissen, was er ihm sagen will. Er kommt aber auch nicht weit, denn da hat dieser ihm schon den Zeigefinger an die Lippen gelegt.

„Pst. Sag nichts, Jonathan."

Er ist so heiß, dass Jonathan beinahe zusammenzuckt. Jetzt weiß er, was er sagen will, doch sein „du gehörst ins Bett" bleibt ungesagt, erstickt durch ein Paar nicht weniger heißer Lippen.

Es ist nur ein kurzer, oberflächlicher Kuss, nichts im Vergleich zu der Leidenschaft, die sonst zwischen ihnen auflodert, aber gerade deswegen ist er etwas besonderes. Jonathan fühlt sich davon merkwürdig geschwächt und gestärkt zugleich. Schwächer an körperlicher Kraft, aber dafür seelisch gefestigt.

Als habe so etwas wie ein Energieaustausch zwischen ihnen stattgefunden.

Aber anstatt ihn zu erschrecken, ruft dieser Gedanke nur so etwas wie stille Freude in Jonathan hervor. Denn es gibt keine vollkommenere Symbiose zwischen zwei Wesen als dieses gegenseitige Nehmen und Geben zu beiderseitigem Vorteil.

Doch dieser Moment der Einsicht verschwindet, sobald dieser Kuss endet.

Joker tritt einen Schritt zurück, mustert ihn kurz mit nachdenklicher Miene und lässt seinen Blick dann über die Fässer schweifen.

„Du solltest langsam gehen", meint er schließlich leise. „Sonst kommst du noch zu spät zur Arbeit."

„Ich finde immer noch, ich sollte mich krank melden. Du brauchst mich hier."

„Jonathan!" Joker wirft ihm einen strengen Blick zu. „Das hatten wir doch ausdiskutiert. Wir können es uns einfach nicht leisten, dass du Verdacht erregst. Nicht nur Batman sucht mich, sondern auch die Polizei. Sie dürfen gar nicht erst auf die Idee kommen, dass wir wieder zusammen arbeiten. Na gut, bei Batsy ist es dafür zu spät, aber der hat auch nur eine Ahnung und keine Beweise. Je weniger du also von deiner Tagesroutine abweichst, desto besser."

Nur widerwillig gibt ihm Jonathan Recht.

Alles in ihm sträubt sich dagegen, seinen Partner jetzt allein zu lassen, doch letztendlich beugt er sich dessen logischen Argumenten. Außerdem will er nicht riskieren aus der Operation „Big Bang" doch noch ausgeschlossen zu werden.
 

***
 

Es ist nicht schwer, einen Termin für eine Besichtigung des Gotham General Hospitals zu bekommen. Der Name Bruce Wayne öffnet dem Träger erschreckend viele Türen. Obwohl das sehr nützlich ist, hält sich der Millionär mit so etwas immer bewusst zurück. Er mag dieses unangenehme Gefühl der Bevorzugung nicht, das sich dabei bei ihm einstellt.

Noch weniger kann er die Speichellecker leiden, die ihn in solchen Situationen umschwirren und deren Diensteifrigkeit nur mit den Dollarzeichen in ihren Augen konkurriert. Deshalb hat er sich auch auf soziale Projekte spezialisiert - neben dem zufriedenstellenden Gefühl, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, kann er sich auch damit trösten, dass es letztendlich nur auf das Ergebnis ankommt.

Heute ist allerdings eine Premiere. Noch niemals zuvor hat er seinen Namen als Bruce Wayne benutzt, um jemanden aus-zuspionieren. Es ist unfair, dessen ist er sich nur zu gut bewusst.

In diesem Falle kann sein Name nämlich jemanden das bisschen, was er sich mühsam aufgebaut hat, wieder zerstören. Und trotz allem möchte Bruce genau das so gut wie nur irgend möglich vermeiden.

Demzufolge wird dieser Besuch im Gotham General Hospital doch schwer.

Er muss viel über sich ergehen lassen, bis er seinem Ziel - der Laborabteilung - auch nur einen Zentimeter nähergekommen ist. Da sind zum einen der nervende Vorstandsvorsitzende, der Verwaltungspräsident und dann noch diverse Chefärzte inklusive der krankenhauseigene Anwalt, die ihn umschwärmen und die letzten Quartalsergebnisse in höchsten Maßen loben - so sehr, dass ihm bald die Ohren klingeln. Natürlich leuchten auch bei ihnen allen wieder die altherkömmlichen Dollarzeichen in den Augen. Dabei war Bruce Waynes Aussage, er wolle sich hier umsehen, weil er eine Investition plane, völlig unverbindlich. Und wenn, das sollte man inzwischen eigentlich von ihm wissen, würde er das Geld sowieso nur zweckgebunden zur Verfügung stellen - und zwar für irgend etwas in der Kinderabteilung.

Höchstwahrscheinlich weiß seine Entourage das aber nicht - oder sie geben die Hoffnung nicht auf - denn seine Erklärung, er wolle alle Abteilungen des Krankenhauses sehen, überrascht sie nicht im Geringsten. Es verstärkt nur ihre gierigen Mie-nen.

Drei Stunden lang lässt er sich durch die verschiedenen Stationen fuhren, spricht hier und da mit einem Patienten, einer Krankenschwester oder einem Assistenten, begutachtet den neuen Computertomografen und die Physiotherapieräume und verbringt mehr Zeit als er eigentlich hat auf der Kinderkrebsstation, wo er den kleinen Patienten ein Kinderbuch vorliest (wobei ihm fast die Tränen kommen), bis er endlich die subterran gelegenen Laborabteilungen betreten kann. Als es schließlich so weit ist, hat er fast schon den Grund vergessen, wieso er eigentlich hier ist.

Als er den Laborbereich schließlich kurz vor Mittag betritt, flankiert von den üblichen Verdächtigen, stellt er schockiert fest, dass er sich überhaupt keine Strategie zurechtgelegt hat. Mit dem Abteilungsleiter im Rücken kann und will er sich Jonathan Crane nicht gezielt aus der Menge von Laboranten und Wissenschaftlern herauspicken. Er braucht einen ruhigen, einsamen Ort, wo er ihn problemlos in die Ecke drängen kann.

„..und in diesem Bereich werden die Ergebnisse unserer Medikamentenstudien ausgewertet..." Bruce hört nur mit halbem Ohr zu und nickt unverbindlich. Für diesen Job ist Crane eindeutig unterqualifiziert. Fast bekommt Bruce ein wenig Mitleid mit ihm.

Scheinbar nur höflich interessiert lässt er seinen Blick über das große Labor schweifen, dessen Arbeitsplätze nur bedingt voneinander abgetrennt sind. So etwas wie Privatsphäre bestimmt sich nur durch die Anordnung der Regalschränke und der statisch notwendigen Stützpfeiler.

Die Geräuschkulisse ist permanent und unangenehm. Für jemanden wie Crane mit eigenbrötlerischen Tendenzen und einer gewissen Lärmempfindlichkeit muss dieser Job der reinste Horror sein.

Das Labor ist nicht voll besetzt und das liegt an der Mittagszeit, wie ihm der Abteilungsleiter hastig versichert. Wieder nickt Bruce und interessiert sich doch nur für eines: ob er Jonathan Crane hier irgendwo entdeckt. Nicht, dass er jetzt auch schon in der Kantine beim Mittag sitzt.

Letzten Endes hat Bruce doch Glück - etwas weiter hinten über eines der Mikroskope gebeugt steht die ihm wohlbekannte, hochgewachsene Gestalt. Innerhalb einer einzigen Sekunde hat Bruce die Dinge auf seinem Arbeitstisch registriert: mehrere Schreibutensilien, ein angebissenes Sandwich und ein noch dampfender Kaffeebecher.

Auf dem Tisch hinter ihm - welch glücklicher Zufall - ragt eine niegelnagelneue Zentrifuge mit dem Aufdruck von Wayne Enterprises auf.

„Ah, ich sehe, Sie benutzen hier unsere Instrumente", unterbricht Bruce den Redeschwall des Abteilungsleiters übertrieben begeistert und stiefelt sofort in die entsprechende Richtung.

Die Krankenhausvertreter folgen ihm auf den Fersen wie eine Horde Groupies und überschlagen sich beinahe vor Aufregung. Doch er hört ihnen nicht zu, wie sie die Produkte seiner eigenen Firma mit Lob überschütten und konzentriert sich ganz darauf, Crane aus dem Augenwinkel zu beobachten. Dieser zuckt regelrecht zusammen, als diese kleine Horde plötz-lich heranstürmt, fast, als wäre er derart in seine Projektträger vertieft gewesen, dass er sie gar nicht bemerkt hätte. Was Bruce in Anbetracht der Minikopfhörer, die er jetzt verstohlen aus seinen Ohren zieht, durchaus für möglich hält.

Für einen kurzen Moment begegnen sich ihre Blicke, doch Bruce tut so, als würde er die aufkeimende Panik des anderen gar nicht bemerken. Zielstrebig geht er zur Zentrifuge, nur, um dann plötzlich stehenzubleiben, ganz so, als wäre ihm etwas eingefallen.

„Guten Tag", wendet er sich mit einem strahlenden Lächeln an einen merklich erblassenden Crane und reicht ihm die Hand, „ich bin Bruce Wayne. Es freut mich sehr, zu sehen, dass Sie hier mit Apparaten arbeiten, die meine Firma herstellt. Vielleicht können Sie mir ein kleines Feedback geben, ob Sie mit der Funktionsweise zufrieden sind? Mister.. . ?"

„Crane", antwortet dieser rein automatisch und entgegnet den Händedruck notgedrungen. Nach außen hin wirkt er wieder völlig gelassen, doch hinter seinen Pupillen leuchtet eindeutig Panik. Bruce weiß, er hat nicht viel Zeit, bis Scarecrow erwacht.

„Und, Mr. Crane? Woran arbeiten Sie hier?" Er gibt weiterhin den unbedarften Millionär und macht Anstalten einen neu-gierigen Blick ins Mikroskop zu werfen.

Crane steht unschlüssig daneben und sieht hilfesuchend zu seinem Abteilungsleiter hinüber. Dieser lächelt etwas gezwun-gen. Es ist ihm eindeutig nicht recht, dass Bruce das Wort an jemand so unbedeutenden wie einen Laborassistenten gerichtet hat, und so gibt auch er statt Crane eine Antwort.

„Mr. Crane analysiert die Blutproben unserer Probanden. Wir erforschen die Verträglichkeit eines neuen Rheumamittels."

Bruce nickt scheinbar interessiert, täuscht Ungeschicklichkeit vor und nötigt Crane, ihm bei dem Mikroskop zu helfen. Damit dirigiert er Crane unbemerkt in die gewünschte Position. Und als sich Bruce dann schwungvoll umdreht und dabei rein zufällig den Kaffeebecher vom Tisch fegt, wirkt es tollpatschig und nicht im Geringsten absichtlich.

Crane entweicht ein schmerzvolles Aufkeuchen. Der Großteil des heißen Kaffees ist zwar auf Kittel und T-Shirt gelandet, doch einiges auch auf seiner Hand, die sich binnen Sekunden deutlich rötet.

„Oh, Entschuldigung. Entschuldigung. Das tut mir entsetzlich leid." Bruce schnappt sich die verbrühte Hand und betrachtet sie kummervoll. Das war so wirklich nicht geplant. Der Kaffee sollte nur auf Cranes Kleidung landen.

„Kommen Sie, das muss sofort behandelt werden. Wo sind die Waschräume?"

„Ah, links, am Ende des Ganges", kann der überforderte Verwaltungschef gerade noch stammeln, da hat Bruce den verdatterten Crane auch schon am Handgelenk aus dem Labor gezogen.

***

Jonathan fühlt sich völlig überrumpelt, und das mag er überhaupt nicht. Er hört Scarecrow in seinem Hinterkopf knurren, doch sie sind beide klug genug, um sich zurück zu halten. Jonathans Bewährung steht auf dem Spiel. Er hat keine Lust, wegen einer unbedachten Handlung gegenüber dem reichsten Mann Gothams wieder hinter Gittern zu landen. Und jetzt schon mal gar nicht, nicht so kurz vor dem Ziel.

Also schluckt er seinen Ärger genauso herunter wie seine Überraschung und versucht weiterhin den arglosen Laborassistenten zu spielen.

Wahrscheinlich wäre er sowieso nicht zu Wort gekommen bei Bruce Waynes langatmigen und scheinbar niemals enden wollenden Entschuldigungen.

Aber dann ändert sich das Verhalten des Millionärs so abrupt, dass Jonathan beinahe doch noch die Fassung verliert. Vor einer Sekunde hat er noch mit ihm am Waschbecken gestanden und das kalte Wasser aufgedreht, damit er darunter seine verbrühte Hand kühlen kann und aus dem kleinen Medizinschränkchen eine Brandsalbe hervorgeholt, und in der nächsten riegelt er sowohl die Tür zu den Toilettenraum wie auch die Außentür ab.

Seine zuvor noch mitfühlende, zerknirschte Miene ist plötzlich so ernst und kalt, dass Jonathan den Schmerz in seiner Hand glatt vergisst.

Alarmiert drängt sich Scarecrow nach vorne. Noch wartet er ab, doch er macht sich bereit, den Platz zu wechseln, sollte es notwendig werden.

Bruce Wayne erkennt die kleinen Anzeichen sofort und zögert verunsichert. Plötzlich wird er sich bewusst, was er hier gerade zu tun bereit war.

Aber ... will er das?

Will er wirklich seine Geheimidentität preisgeben, nur, um von Crane zu erfahren, wo der Joker steckt?

Ist das so wichtig?

Alles in ihm schreit lautstark Ja, doch ein kleiner Rest von Vernunft ist noch vorhanden und lässt ihn noch etwas länger zögern.

Unendlich lange zehn Sekunden starren sie sich nur gegenseitig an, belauern sich wie zwei feindliche Raubvögel vor einem noch warmen Kadaver.

Und je länger es dauert, desto weiter entfernt sich Bruce Wayne von dem Zeitpunkt, wo er sich noch mit lauen Ausflüchten aus dieser Situation zurückziehen kann. Er spürt, wie ihm die Kontrolle entgleitet. Er spürt es in jenem Moment, wo er sieht, wie Cranes Blick zu seinem unteren Gesichtsdrittel hinuntergleitet und diese kalte Berechnung in seinen blaugrauen Augen aufglänzt.

Er kann förmlich zusehen, wie ihn der Mann vor ihm enttarnt.

Die Zeit des Schweigens zwischen ihnen dehnt sich aus, nimmt an Volumen zu wie eine sich auftürmende Gewitterwolke, und plötzlich hat Bruce das Gefühl, dass sie nicht mehr alleine sind. Als habe sich eine dritte, unsichtbare Präsenz zu ihnen gesellt. Etwas Dunkles, Gefährliches, das sie aus glühenden Augen beobachtet.

Er spürt, wie er eine Gänsehaut bekommt.

Die Erkennungsmelodie von „Kill Bill" reißt sie aus ihrer gegenseitigen Starre und löst den Bann.

Sie zucken beide zusammen.

Crane murmelt eine leise Entschuldigung und holt sein Handy hervor.

Die Spannung, die eben noch zwischen ihnen hing, ist so plötzlich verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Bruce hätte beinahe laut aufgelacht. Doch seine Erleichterung währt nicht lange.

„Für dich." Mit diesen Worten reicht ihm Crane das Handy.

„Für mich?" Das schlechte Gefühl ist wieder da und nagt an seinen Eingeweiden. Skeptisch betrachtet Bruce das kleine Gerät, doch er nimmt es entgegen.

„Ja?" meldet er sich gedehnt. Er ahnt, wer das am anderen Ende der Leitung ist - es kann nur einer sein! - aber er zweifelt noch, will nicht hoffen, denn alle Gesetze der Logik sprechen dagegen.

Aber die Welt wird weniger von der Logik als vom Chaos beherrscht, wie ihm schnell wieder bewusst wird, sobald ihm diese wohlbekannte, wenn auch ungewohnt heisere Stimme ans Ohr dringt.

„Hör auf damit, Bruce", sagt der Joker und Bruce kann ihn beinahe vor sich stehen sehen, mit erhobenen Zeigefinder und missmutig zusammengekniffenen Augen. „Lass ihn in Ruhe. Mach ihm seine Bewährung nicht kaputt. Wir wissen beide, dass er eine erneute Arkham-Behandlung nicht unbeschadet übersteht. Wenn du mich unbedingt sehen willst, sag deinem britischen Butler, er soll das Dinner diesmal wieder für drei kochen. Aber bilde dir nichts drauf ein, klar? Ich bleibe nicht lange."

Dann legt er einfach auf.

Bruce ist so verdutzt, dass er das Handy noch eine ganze Weile an sein Ohr drückt. Erst das Einsetzen des Freizeichens bringt ihn wieder zurück in die Gegenwart.

Wortlos reicht er Crane das Handy zurück, welcher es genauso wortlos wieder in seiner Hosentasche versenkt und sich dann wieder zum Waschbecken umdreht, wo er schließlich endlich seine Hand mit der Brandsalbe behandelt.

Bruce sieht ihm einen Moment lang schweigend dabei zu.

„Tut mir leid", murmelt er schließlich und es ist nicht klar, ob er damit den Unfall mit dem Kaffee oder etwas ganz anderes meint.

Crane zögert, doch dann nickt er nur. Er fragt nicht, auch wenn er vor Neugier beinahe platzt. Den leisen Stich der Eifer-sucht ignoriert er ebenfalls.

Wenn Batman beschlossen haben sollte, so zu tun als habe sich nichts verändert, wird er mitspielen. Es hat ihn nie interessiert, wer hinter der Fledermausmaske steckt und daran wird sich auch nie etwas ändern. Aber es ist nützlich, ein Druck-mittel in der Hinterhand zu haben.

Er hört, wie Wayne die beiden Türen wieder entriegelt und dann ohne ein weiteres Wort verschwindet. Kaum ist der Millionär weg, fällt alle Anspannung von Crane ab. Er seufzt einmal tief auf und seine Schultern sacken nach unten.

„Danke", murmelt er in den leeren Raum hinein.

Und für einen kurzen Moment fühlt er einen leichten Druck auf seiner rechten Schulter, als habe ihn dort jemand mit der Hand berührt.

***
 

17. Kapitel
 

Es ist zehn Minuten vor neunzehn Uhr, als der Joker am Wayne Manor klingelt. Schon längst hat die Nacht ihre gierigen Schatten nach Gotham ausgestreckt und dicker Nebel ist vom River herübergezogen. Wenigstens regnet es nicht. Aber die Luft ist kalt und klebrig.

Fröstelnd vergräbt er sich noch tiefer in seinem wärmenden Mantel. Doch in Wirklichkeit liegt es nicht am Wetter, wenn ihm kalt ist. Er hat Fieber, er spürt das Brennen seiner Haut und hat noch gut Jonathans besorgte Miene vor seinen Augen, als dieser ihm zum Abschied noch die Temperatur maß und irgend etwas von „zu hoch" murmelte. Aber diese Kälte jetzt hat nichts mit seinem körperlichen Befinden zu tun, diese Kälte entsteht in seinem Inneren.

Die Welt war für ihn schon immer größer als für alle anderen Menschen, aber jetzt ist sie geradezu riesig geworden. Er nimmt jetzt Ebenen wahr, die ihn in ihrer Intensität regelrecht erschrecken. Wenn er das hier überlebt, dann ist er endgültig zum Freak geworden, und in Gedanken daran, wie einsam es dann für ihn werden wird, ist ihm schon vor einer gefühlten Ewigkeit das Lachen vergangen.

Nur der Gedanke an sein Ziel hält ihn noch aufrecht. Und Jonathans Zuneigung, so temporär das zwischen ihnen auch sein mag.

Bruce Wayne dagegen steht auf einem völlig anderen Blatt. Er kann nichts sehen, was ihn betrifft, und das macht ihn einfach nur nervös. Jemand wie Bruce Wayne alias Batman sollte seinen Weg genau kennen und ihn mit der Unbeirrbarkeit eines Güterzuges verfolgen.

Verdammt nochmal, er steht für die Ordnung!

Joker weiß, es ist seine Schuld. Vor zwei Wochen hat Batman das Chaos in sein Haus gelassen und nun ist er davon infiziert.

Noch während Joker solch düsteren Gedanken nachhängend vor sich hinstarrt, streckt Alfred auf der anderen Seite der Tür die Hand nach dem Türgriff aus und öffnet ihm.

Sekundenlang stehen sie sich einfach nur gegenüber.

Prüfend lässt Alfred seinen Blick über die Gestalt vor sich wandern. Irgend etwas ist anders. Irgendwie hat er sich verändert. Es ist nichts äußerliches. Er trägt noch immer seinen lilafarbenen Mantel, der inzwischen zu seinem Markenzeichen geworden ist, noch mehr als der Schwalbenschwanz zuvor, schwarze Jeans und schwarze Armstulpen und geht noch im-mer barfuß. Seine Haut ist noch immer weiß wie Milch und seine Haare sind ein Wust dunkelgrüner Dreadlocks; und doch - Alfred wird das Gefühl nicht los, als stünde da jetzt etwas völlig anderes vor ihm. Als habe sich der Joker inzwischen nicht nur äußerlich von der Menschheit entfernt.

Alfred rieselt es eiskalt den Rücken hinunter, und das liegt diesmal nicht am feuchtkalten Wetter.

Doch der Moment vergeht und zurück bleibt nur die stille Freude, jemanden wiederzusehen, den er trotz allem was war in sein Herz geschlossen hat.

„Es ist mir eine Freude, Sie zu sehen, Master Joker.”

„Danke, Alfred." Der Joker entgegnet sein Lächeln, doch es wirkt etwas schief. Er holt eine Flasche unter seinem Mantel hervor und reicht sie ihm verlegen.

„Ich habe Wein mitgebracht. Ist kein Chardonnay, aber ich schätze, ein Burgunder tut es auch."

Alfred strahlt beinahe, als er den Wein entgegennimmt.

„Eine reizende Geste. Danke. Und eine vorzügliche Wahl", setzt er nach einem schnellen Blick auf das Etikett hinzu.

„Ein Burgunder passt hervorragend zu Rehbraten. Sie mögen doch Wildbret, oder?"

Der Joker nickt nur schweigend. Und bemüht sich, nicht allzu auffällig zu grinsen. Niemand ist so berechenbar wie der gute alte Alfred mit seinen tadellosen, britischen Manieren. Vom Gast mitgebrachte Getränke werden von ihm sofort kredenzt, genau wie es die Höflichkeit gebietet. Gut. Das ist sehr gut. Damit ist er seinem Ziel wieder einen Schritt näher.

Alfred tritt zur Seite und lässt ihn eintreten.

Jokers bloße Fußsohlen haben den glatten Marmor des Manors kaum berührt, da durchflutet ihn schon Wärme.

Das alte Gemäuer heißt ihn willkommen. Davon geradezu überwältigt, schließt Joker die Augen und atmet tief durch.

Als er sie wieder aufschlägt, steht Bruce vor ihm.

Joker kann nicht anders, er muss ihn anstarren. Die Anzahl der dünnen, spinnwebartigen Fäden, die ihn mit all den anderen Menschen verbinden, dessen Leben er auf die eine oder andere Art beeinflusst, ist geradezu schwindelerregend hoch. Und - unwillkürlich blickt Joker an sich hinunter - einer dieser Fäden führt zu ihm.

Aber er ist nur sehr schwach und dünn. Er sieht aus, als würde er sich jeden Moment auflösen. Joker registriert es ohne jegliches Gefühl. Das liegt nicht mehr in seiner Hand.

Ein Augenblinzeln später sind die Silberfäden verschwunden. Sein Gehirn lernt es immer schneller, zwischen den beiden Ebenen hin und her zu wechseln.

Es entspricht nicht den Regeln der High Society, dass der Herr des Hauses seinen Gast in der Eingangshalle erwartet. Er hat gefälligst im Salon zu warten und den Butler seine Arbeit machen zu lassen - die darin besteht, den Gast in Empfang zu nehmen und dann zu ihm zu führen.

Aber heute ist Bruce Wayne viel zu aufgeregt, um sich um so etwas Existenzielles wie Benimmregeln zu kümmern. Seit Mittag hat er diesem Augenblick entgegengefiebert, ihn sich ein Dutzend Mal ausgemalt und in Gedanken durchgespielt, was er sagen wollte.

Aber jetzt, wo es endlich soweit ist, hat er alles vergessen.

Wie angewurzelt steht er da und bringt kein Wort heraus. Für zwei Sekunden. Dann greift seine Konditionierung, die ihn zu einem begehrten Playboy, erfolgreichen Geschäftsmann und furchterregenden Batman macht - er weiß, wie er sich einer Situation entsprechend zu benehmen hat und setzt sich in Bewegung, schiebt seine Emotionen einfach beiseite.

Und er ist stolz auf sich, dass ihm das gelingt, denn der Joker ist der einzige, bei dem diese Konditionierung kläglich versagt.

Aber heute nicht.

„Hallo, Joker. Schön, dich zu sehen."

Er tritt näher und schüttelt Jokers Hand, als wäre dieser nichts weiter als ein Geschäftspartner. Und es hilft, den Bann zu brechen.

Anstatt ihn wieder freizugeben, hält Bruce seine Hand fest und mustert seine Finger eingehend. Jokers Hände sind heiß, er hat noch immer Fieber, aber seine Fingerkuppen und Nägel sind gut verheilt. Zu gut, wenn man bedenkt, dass das ganze erst wenige Tage her ist.

„Keine Angst", erklärt der Joker in spöttischen Tonfall, während er ihm seine Hand wieder entzieht, „ich verspüre nicht mehr das Verlangen, mein Blut oder das von anderen zu trinken. Ich bin ein braver Ex-Vampir und nehme artig meine Tabletten." Er greift in seine Manteltasche und holt eine Bruce wohlbekannte Pillendose hervor, schüttelt sie und hält sie dem Millionär lange genug vors Gesicht, dass dieser das Etikett lesen kann.

Bruce kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Gut zu wissen. Ich habe schon befürchtet, du verlässt dich allein auf Johannisbeeren."

Er rechnet damit, dass Joker versteht, was er damit impliziert, denn bestimmt hat ihm Jonathan Crane von ihrer kleinen Begegnung in der Tiefgarage erzählt, aber der zornige Blick, der ihm daraufhin aus roten Augen zugeworfen wird, überrascht ihn dann doch.

„Ich bin nur hier, damit du Jonathan endlich in Ruhe lässt", knurrt der Joker ihn an. „Was hast du dir eigentlich gedacht, ihn auf Arbeit aufzusuchen? Wieso provozierst du es, dass er dich als Batman erkennt? Wieso willst du ihn und dich nur unnötig in Schwierigkeiten bringen?"

Bruce lässt sich seine Betroffenheit nicht anmerken und reagiert beleidigt. „Entschuldige bitte, dass ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Ich mag dich eben."

Seinen Worten folgt Stille. Der Joker starrt ihn an, mit Augen so groß und rund, dass sich Bruce über seine vorschnelle Zunge nicht einmal schämen kann, weil dieser Anblick einfach so ... herrlich ist.

„Wenn die Herren mir bitte ins Esszimmer folgen würden?" zerstört Alfreds sonore Stimme diesen Moment, bevor er wirklich peinlich werden kann.

Der Joker ist der erste, der Alfreds Aufforderung Folge leistet. Im Vorbeigehen wirft er Bruce noch einen langen Seitenblick zu, sagt aber nichts.

Auch Bruce schweigt.

Und er schweigt immer noch, als er den beiden folgt; auch‚ als er das Esszimmer betritt und sehen muss, dass sich sein Gast seinen Mantel zwar ausgezogen, dafür aber über die Lehne seines Stuhls gehangen hat.

Immer in seiner Nähe... er erinnert sich daran, wie der Joker damals Alfred gebeten hatte, ihm seinen Mantel zurückzugeben. Wie sehr er doch an seinen persönlichen Habseligkeiten hängt...

Damals... liegt das nicht gerade mal eine Woche zurück?

Himmel, es kommt ihm sehr viel länger vor!

Als er sich an seinen Platz am Kopf der Tafel setzt, fängt er Alfreds Blick auf, kurz bevor dieser in der angrenzenden Küche verschwindet, um nur zehn Sekunden später mit der Suppenterrine zurückzukehren. Er versucht, Würde zu bewahren, doch für Bruce, der ihn schon sein ganzes Leben kennt, ist es offensichtlich: Alfred Pennyworth freut sich von ganzem Herzen. Etwas, was vor einer Woche so noch nicht möglich gewesen wäre.

Oh ja, es hat sich viel verändert in dieser einen Woche.

Sie beginnen zu essen, und der Joker murmelt ein Lob bezüglich Alfreds Kochkünste, etwas, was diesen zu einer bescheidenen Antwort veranlasst.

Von dem kindischen Wunsch erfüllt, dass der Joker ihm auch ein freundliches Wort schenkt, pfeift Bruce abermals auf die Etikette und übernimmt kurzerhand die Aufgabe, den Wein zu entkorken und reihum einzugießen.

Dafür erntet er von Alfred zwar eine missbilligend hochgezogene Augenbraue, doch das leise „Danke" des Jokers entschädigt ihn.

Es ist ein wirklich guter Wein - tiefrot, und er verströmt ein angenehm schweres Bouquet. Ein sehr teurer Wein - immer mal vorausgesetzt, der Joker hat ihn tatsächlich bezahlt.

Ausnahmsweise ist Bruce das aber mal egal.

Es fällt ihm schwer, sich auf das Essen zu konzentrieren, seine gesamte Aufmerksamkeit gilt dem Mann neben ihm. Er kann es nicht verhindern, dass er ihm immer wieder neugierige Blicke zuwirft, und irgendwann, als sie zum Hauptgang übergehen, gibt er es ganz auf, sich verstellen zu wollen und starrt um ganz offen an. Abermals ist der Joker von einem Duft nach Wildbeeren umgeben, und es scheint, als würde dieser Geruch mit jeder verstreichenden Minute intensiver.

Erinnerungen überwältigen den jungen Millionär. Ungebeten, aber nicht unwillkommen. Erinnerungen daran, wie es sich anfühlt, die Finger in diesen grünen Dreadlocks zu vergraben oder daran, diese bleiche Haut zu berühren.

Und noch mehr ... Erinnerungen an das, was im Gästezimmer zwischen ihnen vorgefallen ist. Damals, vor so vielen Tagen. Und doch ist diese Erinnerung so lebendig, als wäre es erst fünf Minuten her.

Und plötzlich verspürt Bruce den Wunsch, nein, das Verlangen, das alles zu wiederholen.

„Was?" zischt ihn das Objekt seiner Begierde plötzlich von der Seite her an.

Verdammt. Da hat er wohl zu aufdringlich gestarrt.

„Ich ... äh ... nun, es ist eine Freude, dich etwas essen zu sehen", stammelt er verlegen lächelnd.

Er greift nach dem Weinglas und nippt daran, um einerseits seine Harmlosigkeit zu unterstreichen und andererseits auch, um Zeit zu gewinnen. Aber als der Joker ihm nicht darauf antwortet und ihn nur weiterhin anstarrt, holt Bruce einmal tief Luft.

„Ich meine ... Appetit ist ja immer ein gutes Zeichen. Immerhin ... du hast viel durchgemacht und ... du weißt, dass deine Gene mutieren?" platzt es schließlich ziemlich hilflos aus ihm heraus.

Aber der Blick aus Jokers großen, roten Augen ist ihm plötzlich noch unangenehmer als sonst immer. Wenn er wenigstens wieder so irre grinsen würde ... aber wenn er so ernst ist, so ruhig, so normal, so anders als sonst ... das ist so verstörend.

„Der Computer hat errechnet, dass deine Überlebenschancen fifty-fifty stehen." Diese Wahrheit ist brutal, und genauso brutal knallt es ihm Bruce an den Kopf; doch Jokers Reaktion besteht nur aus einem Schulterzucken.

„Immerhin..." murmelt er und wendet sich wieder seinem Rehrücken zu.

Sein Gesicht ist eine Maske der Gleichgültigkeit.

Tatsächlich aber findet er Bruce' Besorgnis amüsant. Sie kommt spät, vielleicht sogar zu spät, aber sie trägt nichtsdestrotz zu seiner Erheiterung bei. Der Joker wusste einen guten, Witz schon immer zu schätzen - erst recht einen, der vor Ironie nur so trieft. Er kann die Betroffenheit des Mannes neben sich ganz genau spüren, dazu muss er nicht den Kopf von seinem Teller heben - wozu ihm sowieso nicht der Sinn steht, denn das Fleisch schmeichelt seinem Gaumen genauso wie seiner Nase und seinen Augen. Es enthält viele Proteine und unterstützt die Eisenbildung im Blut. Selbst jetzt versucht Alfred noch, ihn aufzupäppeln. Dieser alte Fuchs ist wirklich eine gute Seele. Nicht zum ersten Mal in der letzten Woche ist Joker erleichtert, diesem Mann noch niemals ein irgendwie geartetes Leid angetan zu haben.

„Ich habe euch gesehen." Bruce Waynes Betroffenheit hat sich allmählich in Wut verwandelt. Und das ist in Zusammenhang mit dem Joker ein so vertrautes Gefühl, dass Bruce regelrecht darin badet. Auf seine Worte achtet er dabei schon lange nicht mehr.

„Dich und Crane. In meinem Tower. Im Fahrstuhl. Und auf dem Dach."

Jokers Herz scheint eine Schrecksekunde lang auszusetzen, doch er verbirgt seine Überraschung gekonnt und rettet sich in ein lässiges Schulterzucken. Das wiederum ärgert Bruce nur noch mehr.

„Ach komm, jede Wette, du hast genau gewusst, dass da Kameras sind. Du hast ja auch gewusst, wie du mein Sicherheitssystem überlisten kannst!"

In der Tat, das weiß er. Und er kennt sich auch bestens im Wayne Tower aus, und er weiß, dass das inzwischen auch Bruce klargeworden sein muss, auch wenn dieser es nicht ausspricht.

Bruce beobachtet ihn eine Weile und fragt dann leise:

„Was ist das, zwischen dir und Crane?"

Joker schweigt verbissen und schaufelt weiterhin das Essen in sich hinein, auch, wenn es ihm schon längst aufgehört hat, zu schmecken. Aber so muss er wenigstens nicht antworten. Die Richtung, in die dieses Gespräch abgleitet, gefällt ihm nicht.

Ihm sind diese verdammten Kameras schlichtweg entfallen! Das Letzte, was er je wollte, war, Batmans Aufmerksamkeit auf seine kleine Krähe zu lenken. Doch genau das scheint jetzt passiert zu sein, und inzwischen geht es um viel mehr als die bloße Tatsache, dass er bei Crane untergeschlüpft ist.

„Ist das deine Rache wegen der Sache mit Vicky?"

Unter Jokers linkem Auge zuckt kurz ein Nerv, doch er sagt weiterhin nichts. Es gäbe zwar viel zu sagen, doch er will Bruce' Eifersucht nicht unnötig schüren. Für einen richtigen Streit fehlt ihm schlicht und einfach die Kraft. Er ist nur aus zwei Gründen hier, und der eine - dass Bruce ihm sagen kann, was er zu sagen hat - ist bald abgehakt. Und dasselbe gilt für den zweiten. Jokers Blick huscht unbemerkt zu dem Weinglas neben Bruce' Teller hinüber.

„Recherchen haben übrigens ergeben, dass du Recht hattest." Der allmählich immer frustrierter werdende Millionär hat beschlossen, ihn mit etwas anderem aus der Reserve zu locken. „Alle deine Opfer hatten es irgendwie verdient. Wenn man deinen Maßstab von Gerechtigkeit als Grundlage nimmt. Was ich übrigens nicht tue."

Joker ignoriert ihn geflissentlich. Er ergreift sein Glas und prostet damit Alfred zu, der ihm gegenüber sitzt.

„Das Essen ist wie immer hervorragend, Alfred."

„Danke, Master Joker", erwidert dieser geschmeichelt und prostet höflich zurück. „Und erlauben Sie mir die Bemerkung, dass Ihr Wein vorzüglich dazu passt."

Joker sieht zu, wie der Ältere an seinem Glas nippt und kann sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Die Erleichterung, die ihn durchströmt, ist beinahe noch kräftezehrender als das Fieber.

Natürlich ist sein Plan wasserdicht. Wenn in diesem Manor auf eines Verlass ist, dann auf die strikte Einhaltung der Etikette. Es ist das Gerüst, das Sicherheit bedeutet, vor allem, wenn der Feind mit ihnen am Tisch sitzt.

Helden benehmen sich nicht wie Monster, auch, wenn sie gegen eines kämpfen.

Aber er war sich nicht sicher.

Jetzt ist er es. Aber die Erkenntnis, dass diese beiden ihm wirklich und wahrhaftig vertrauen, schmeckt bitter. Es ist der Geschmack der Niederlage, so endgültig und unumkehrbar wie der Tod.

Ihn fröstelt. Als er den Kopf hebt und zu Bruce hinüber sieht, stehen dort wieder die Geister dessen Eltern. Doch diesmal ist etwas anders. Sie scheinen mehr zu sein als gestaltgewordene Erinnerungen, denn diesmal sehen sie ihn direkt an. Ihre Blicke scheinen sich direkt bis in seine Seele hineinzubohren. Und ... sie lächeln ihm zu.

Und dann blinzelt er und sie sind wieder verschwunden. Sie hinterlassen einen Knoten im Magen und beginnende Kopfschmerzen.

„Hast du ihre Untaten wirklich alle gefühlt?" holt ihn Bruce' Stimme in die Wirklichkeit zurück.

Joker zögert und versucht sich zu erinnern, wie es war, damals, kurz nach dem er zu dem geworden war, was er ist und das alles noch nicht richtig unter Kontrolle hatte. Damals, als er noch planlos - aber immer zielgerichtet - wütete und tötete, einfach nur getrieben von all diesen Emotionen, die ihn erfüllten. Diese Zeit, die nur aus Abscheu, Rachelust und rasender Wut und Trauer bestand. Die Zeit, der er seinen Ruf als gnadenloser, irrer Killer verdankt. Bis er Batman erneut begegnete und dessen Schmerz erkannte. Sah, dass sie zwei Seiten einer Medaille sind.

„Ja", erwidert er schließlich schlicht. „Es war zu viel", gibt er dann zu. Er will immer noch, dass sein Batman ihn versteht, auch, wenn er dafür einen Teil seines Stolzes aufgeben muss. Und vielleicht liegt es am Fieber, aber es erscheint ihm plötzlich so sinnlos, es nicht zuzugeben.

„Es tut mir nicht leid, sie hatten es verdient. Durch ihre Taten haben sie auch mein Leben ruiniert. Ich habe sie bestraft und mich dadurch besser gefühlt."

Seine Worte bringen diesmal Bruce zum Schweigen.

Nachdenklich starrt der junge Millionär auf seinen Teller ohne ihn jedoch wirklich zu sehen. Die Worte des Jokers hallen in seiner Seele nach wie ein Bergecho. Rache ... er kennt dieses Gefühl, er kennt es nur viel zu gut. Es gab auch bei ihm schon einmal Situationen, da war er ebenfalls schon mal nahe daran, härter zuzuschlagen als nötig (vor allem beim Joker).

Auch wenn er das alles nicht gutheißen kann - so kann er es jedoch sehr gut nachvollziehen.

Zum ersten Mal, begreift er plötzlich, und dieser Gedanke verschlägt ihm glatt den Atem, kann ich den Joker verstehen.

Das Verlangen, ihn einfach in die Arme zu schließen, ist wieder da, größer noch als je zuvor, doch stattdessen festigt er nur seinen Griff um Messer und Gabel.

„Das tut mir leid", murmelt er, und noch während er spricht, stürzt diese Mauer aus Schuldgefühlen wieder über ihm ein und begräbt ihn unter sich. „All das, was passiert ist ... ich bin schuld, dass du zu dem geworden bist, was du jetzt bist. Der Chemietank, unsere Kämpfe, deine Aufenthalte in Arkham ... Batmans Kritiker meinen immer, es sei alles meine Schuld. Gäbe es keinen Batman, gäbe es auch keine Superkriminellen. Es ist wie im Kalten Krieg, wo sich beide Seiten ständig neu aufrüsten, um einander zu übertrumpfen. Und wenn ich an dir das Serum gegen Draculas Gift nicht ausprobiert hätte, würdest du jetzt nicht mutieren. Vielleicht bin ich doch nur selbstgerecht und überheblich, wie der Polizeipräsident immer behauptet. Vielleicht ist das wirklich alles meine Schuld-"

„Hör auf!" unterbricht ihn der Joker, und sein Tonfall, so müde, so gequält, ist schlimmer als es jeder Wutanfall je hätte sein können. „Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass du aufhören musst, dich für alles verantwortlich zu fühlen? Du bist immer deiner Moral gefolgt, das ist nichts, wofür du dich schämen musst."

„Ich habe Fehler gemacht."

„Na und? Du bist nicht unfehlbar. Du bist auch nur ein Mensch." Nun doch plötzlich verärgert, dreht er sich zu Bruce her-um und piekst ihm mit seinem rechten Zeigefinger vor die Brust. „Gotham braucht dich. Du bist ein Vorbild und an denen mangelt es hier. Du bringst Ordnung in das Chaos. Das ist wichtig. Das schafft die notwendige Balance. Spaß ist toll. Chaos ist toll. Aber ohne Ernst und Ordnung würden wir sie gar nicht als solche erkennen. Schatten kann nicht ohne Licht existieren. So funktioniert nun mal die Welt. Aber man darf weder das eine noch das andere zu wichtig nehmen, denn am Ende sterben wir alle so oder so. Es kommt nur darauf an, was man bis dahin daraus macht. Ob man seinem eigenen Weg folgt oder dem, den andere einem vorgeben."

Bruce zögert kurz und lässt die Worte auf sich wirken. Die Stelle an seiner Brust, dort, wo ihn der Finger des Jokers traf, kribbelt wie nach einem leichten Stromstoß. Gedankenverloren streicht er sich darüber.

„Aber du entführst Leute“, wendet er schließlich ein, „legst Bomben, raubst alles, was dir von Wert erscheint, tötest ohne mit der Wimper zu zucken und wirfst mit deinem Smilex um dich wie andere mit Sahnebonbons. Ich weiß jetzt, dass deine Opfer nicht willkürlich gewählt sind. Trotzdem - tust du das alles wirklich nur, weil du dich an den Menschen rächen willst?"

„Was meine Opfer betrifft: ja."

„Und was ist mit den anderen? Den Zeugen, den Unbeteiligten, den Angehörigen?"

„Erlösung."

„Erlösung?"

„Und ein Weckruf. Je größer, desto besser. Vor allem diese sogenannte High Society müsste mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden."

Sein bitterer, wild entschlossener Tonfall lässt Bruce aufhorchen. Aus misstrauisch verengten Augen mustert er den Mann neben sich, mit dem er sich bisher doch überraschend zivilisiert hat unterhalten können. Aber jetzt, jetzt blitzt er wieder durch, der selbsternannte Harlequin of Hate.

„Was hast du vor?" Bruce versucht, seinen eigenen Ton so ruhig und gelassen wie möglich klingen zu lassen. Er weiß, mit seinem grollenden Batman-Bass erreicht er jetzt wohl nur das Gegenteil.

Doch auch so gerät der Joker kurz ins Stocken, und für eine unendlich lange Sekunde scheint alles auf der Kippe zu stehen. Sein Blick huscht kurz zu den großen Balkonfenstern hinüber, als plane er seine Flucht, doch der gehetzte Ausdruck in seiner Miene verschwindet rasch und weicht Resignation und Erschöpfung.

„Für uns alle kommt die Zeit", erklärt er müde, „wo wir uns unserem Schicksal stellen müssen. Die Party ist vorbei."

Verwirrt, fassungslos und zunehmend alarmiert starrt Bruce ihn an. Dann wechselt er einen schnellen Blick mit Alfred, doch dieser wirkt genauso erschrocken und ratlos wie er.

Joker sieht diese Gesichter und spürt dieses altbekannte Kichern seine Kehle hinaufsteigen. Er kämpft nicht dagegen an, und schon eine Sekunde später wirft er den Kopf in den Nacken und bricht in schallendes Gelächter aus. Es schmerzt, als würde eine Tonnenlast auf seinem Brustkorb liegen, aber er kann nicht aufhören.

Es klingt selbst in seinen Ohren unheimlich - zu schrill, zu laut und viel zu sehr wie das Heulen eines waidwunden Tieres. Seit er sich erinnern kann, hat er nicht ein einziges Mal in seinem Leben an sich selbst gezweifelt, ganz egal, wie viele hochdekorierte Spezialisten ihn als verrückt diagnostizierten, aber in diesem Moment, wo er sich so hört, könnte er fast doch daran glauben. Vielleicht ist er doch irre.

Vielleicht ist das alles sinnlos.

Vielleicht gibt es gar keinen Weg, den er beschreiten muss.

Oh, welch Ironie! Gerade jetzt, wo sein Batman endlich bereit ist, ihm zuzuhören und ihm zu glauben - da beginnt er an sich selbst zu zweifeln.

Dieser Gedanke bringt ihn nur noch mehr zum Lachen.

Aber das ist keine gute Idee. Das erkennt er, sobald die ersten schwarzen Flecken vor seinen Augen tanzen. Er versucht noch, sich an der Tischkante fest zu halten, doch es ist schon zu spät. Seine Welt kippt und reißt ihn mit in den Abgrund.
 

***
 

Warme, weiche Lippen an seinen eigenen.

Der Geschmack von Rotwein und Rehrücken auf seiner Zunge.

Wärme. Nähe.

Und das elektrisierende Gefühl von einer ihm plötzlich durchströmenden Kraft... jeglicher Schmerz, jegliche Müdigkeit und auch diese elendige Erschöpfung, die sein gesamtes Wesen in ihren schwarzen, tintigen Fängen umschlungen hielt, sind wie fortgeweht … verwirrt und erschrocken zugleich schlägt er die Augen auf.

Wann ... entsetzt zieht er seine Hand von Bruce' Nacken zurück ... und wie ist das alles passiert? Wann hat er sich halb über den Tisch gebeugt und dem Millionär diesen Kuss aufgezwungen?

Wieviel Zeit hat er verloren?

Nicht viel, wie ihm nach einem schnellen Rundblick klar wird. Der Braten liegt noch immer vor ihnen auf dem Tisch, auf dieser wertvollen Silberplatte, garniert mit Kräutern und Beeren, noch immer warm und verbreitet seinen köstlichen Duft, und dann sind da noch die Weingläser, von denen zumindest zwei beinahe leer sind - all das entspricht noch dem letzten Bild, an das er sich vor seinem ... Anfall erinnert.

Ganz kurz begegnet er Alfreds stets so aufmerksamen Blick und registriert das leichte Lächeln, das an dessen Mundwinkeln zupft.

Da liegt kein Vorwurf in diesen dunklen Augen, höchstens so etwas wie milde Belustigung.

Aber dennoch verspürt Joker den Drang, aufzuspringen und davonzulaufen.

Und nach einem unsicheren Blick in Bruce' verwirrtes und zunehmend enttäuschtes Gesicht macht er genau das auch.

Er bringt gerade noch eine gestammelte Entschuldigung heraus, bevor er sich seinen Mantel schnappt und wie ein gehetztes Tier erst aus dem Raum, dann durch die Empfangshalle und schließlich durch das große Portal hinaus in die Nacht rennt.

So agil und schnell wie zu seinen besten Zeiten.

Mit einem lauten Geräusch fällt die Eingangstür wieder ins Schloss. Bruce zuckt regelrecht zusammen. Er blinzelt einmal, als hätte man ihn aus einem schönen Traum gerissen und berührt mit zitternden Fingern seine Lippen.

„Was...", beginnt er, hält dann jedoch inne und wirft Alfred einen hilflosen Blick zu. Er scheint sich erst jetzt bewusst zu werden, was eigentlich passiert ist.

„Nun", meint dieser, während er zu seinem Weinglas greift und zusieht, wie sich eine aparte Röte auf die Wangen seines Ziehsohnes schleicht, „so merkwürdig das auch erscheinen mag, aber es sieht so aus, als würdest nicht nur du vor deinen Gefühlen davonlaufen. Buchstäblich diesmal."

***
 

18. Kapitel
 

Er hätte es einfacher haben können. Er hätte den breiten Kiesweg hinunter zum gusseisernen Tor nehmen und von dort aus auf die Hauptstraße abbiegen können. Doch so funktioniert das nicht. So hat es noch nie funktioniert. Er war immer schon dem direkten Weg gefolgt, frei nach der Devise, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten immer noch eine Gerade ist. Und sein Zielpunkt liegt irgendwo im Süden von Gotham City.

Daher schlägt er sich durch den Park des Wayne Anwesens, über die Mauer und setzt seinen Weg dann durch die angrenzenden Grundstücke fort, klettert über Bäume genauso wie über Dachfirste - leichtfüßig und trittsicher wie eh und je.

Er denkt nicht darüber nach, würde er das tun, wäre ein Fehltritt sicher vorprogrammiert. Er rennt, genießt das Gefühl der Stärke und Freiheit, die sich hinter jeder einzelnen Bewegung, jedem Zusammenziehen der Muskeln, versteckt und folgt ganz einfach dem Drang, sich schnell zu bewegen.

Er fühlt sich großartig. Lebendig.

Doch dann, ganz plötzlich, verliert der Energieschub seine Kraft und die Schwäche schlägt wieder über ihm zusammen.

Er stolpert und fällt, kann sich gerade noch im letzten Moment mit den Händen auffangen, sonst wäre er mit dem Gesicht voran auf rauhem Stein gelandet.

Sekundenlang hockt er so da, auf Händen und Knien, mit heftig hämmernden Herzen und nach Luft schnappend. In ein paar Minuten, so hofft er, wird es ihm besser gehen. Er muss nur etwas verschnaufen, das ist alles.

Doch es geht ihm nicht besser.

Sicher, das Atmen fällt ihm irgendwann wieder leichter und sein Herzschlag dröhnt auch nicht mehr so laut in seinen Ohren, doch die Schwäche bleibt. Sie wird sogar noch schlimmer. Als würde ihm irgendetwas das Mark aus den Knochen saugen, bis er sich so hohl fühlt wie eine Kürbislaterne zu Halloween.

Schon alleine das Heben des Kopfes bedeutet eine ungeheure Kraftanstrengung. Als würde ein Zentnergewicht Haupt und Nacken zu Boden drücken. Doch sein Überlebensinstinkt ist ungebrochen - schließlich kann er nicht einfach hier sitzen bleiben ohne zu wissen, ob er in Sicherheit ist. Vielleicht hockt er ja mitten auf einer Straße, und wer will schon von einem Truck überrollt werden?

Und so sieht er sich zum ersten Mal seit langem um und nimmt seine Umgebung dabei auch bewusst wahr. Keine Straße, aber zwei Meter vor ihm schwappt die Brühe eines Flusses träge an die steinige Uferböschung. Nebel steigt von diesem dunklen Wasser auf, weißen Fingern gleich, die den Gestank von Brackwasser, Seetang und Chemie mit sich tragen. Der typische Geruch des Gotham Rivers.

Beinahe sofort weiß er auch genau, wo er sich befindet. Er hebt den Kopf etwas höher - ein weiterer Kraftakt - doch die Robert Kane Memorial Bridge, die dort irgendwo schräg über ihm aufragt, wird vom Nebel vollständig verdeckt. Aber sie ist dort oben, er kann sie fühlen.

Eine stachelartige, stählerne Präsenz, ein hartes, bitteres Konstrukt aus Blut, Tränen und Schweiß, über das sich jeden Tag ohne Unterlass Millionen von Autos und Lastwagen hinwegwälzen, eine der pulsierenden Hauptverkehrsadern Gothams und eine der wenigen Verbindungen dieses Molochs zum Festland.

Ein geschichtsträchtiges Bauwerk, das jeden Tag aufs Neue Schlagzeilen schreibt, weil Verkehrsunfälle hier nun einmal zur Tagesordnung gehören.

Daher vermeidet er es, diese Brücke zu Fuß zu überqueren, obwohl der Übergang am Rand relativ sicher für Fußgänger ist - er will diese Echos der Ereignisse, all diese Schmerzen, die Trauer und den Zorn nicht an sich heranlassen.

Leider hat er seinen gestohlenen Wagen irgendwo in der Nähe des Wayne Manors zurückgelassen.

Egal, im Moment muss er sowieso erst einmal wieder zu Kräften kommen, dann kann er sich Gedanken über den Rückweg machen.

Müde lässt er den Kopf wieder sinken.

Der Nebel, der vom Wasser her aufsteigt, ist dichter geworden. Er scheint jedes Geräusch zu verschlucken. Es fühlt sich an, als wäre er ganz allein auf der Welt, verloren in einer weißgrau wabernden, kalt-nassen Masse. Schaudernd vergräbt er sich tiefer in seinem Mantel.

Und dann noch tiefer. Doch diesmal liegt es nicht nur an der Kälte, seiner Erschöpfung oder der unheimlichen Atmosphäre, sondern schlicht und einfach an seinen eigenen Gedanken.

Während er rannte, hat er definitiv nicht gedacht, doch jetzt kommt alles wieder hoch. Die Angst, dieses plötzliche Entsetzen, denn da war sie wieder – diese animalische Gier. Als er Bruce küsste …ihn einfach küsste ohne sich daran erinnern zu können, wie er sich über den Tisch lehnte … oh, wie schwer fiel es ihm, damit wieder aufzuhören. Und das lag nicht daran, dass ihm dieser Kuss so gefallen hätte – obwohl er das hatte, zweifellos. Aber nein, diesmal …

Da war irgendetwas … eine Art Energie, die er in sich hineinsog. Irgendetwas aus Bruce, von Bruce, das saugte er in sich hinein. Und dieses Gefühl, das erinnert ihn auf schreckliche Weise an seinen Hunger als Vampir.

Nicht, dass er sich inzwischen an diese Zeit klar erinnern könnte, aber daran … daran schon.

Oh mein Gott. Soll das … soll das bedeuten … bedeutet das, ich bin immer noch … oder schon wieder … so ein gottverdammter Vampir?

Aber nein, beruhigt er sich schnell, es ist nicht das Blut, wonach es ihn dürstet. Sondern … etwas wesentliches Essentielleres.

Oh Gott. Jetzt ist es passiert. Jetzt bin ich wirklich das, wofür mich alle schon längst halten: ich bin ein Monster.

Gequält aufstöhnend schlägt er die Hände vors Gesicht.

Trotz allem, was er getan hatte, trotz all des Blutes an seinen Händen, trotz seiner sadistischen Ader, hat er sich selbst doch nie als Monster gesehen. Was er tat, tat er doch nur, weil es jemand tun musste. Weil er der einzige war, der es konnte. Es war nun einmal der Pfad, den er gehen musste. Den er immer noch gehen muss.

Doch jetzt … jetzt mutiert er zu einem Ungeheuer. Diese Erkenntnis schmeckt bitter und wie Asche zugleich. Und sie tut weh.

Oh, kein Wunder, wenn das Band zwischen ihm und Batsy nun aussieht, als würde es sich auflösen. Weil genau das geschieht.

Plötzlich noch müder als je zuvor, lässt er die Hände wieder sinken, nur, um sie fest in den Untergrund neben sich zu krallen. Er spürt nasses Gras, schwere Erde und Steine und plötzlich - fühlt er sich durchpulst von neuer Energie. Ein zaghafte, beinahe sanfte Flut aus purer Energie, gespeist aus einer urtümlichen, ruhigen Quelle. Er fühlt sich immer noch müde, erschöpft, aber diese Leere, dieses Loch in seinem Inneren wird langsam gefüllt.

Und als das Hintergrundrauschen in seinem Kopf parallel dazu wieder lauter wird, begreift er es: diese Quelle, das ist die Natur um ihn herum, das Leben, Mutter Erde höchstpersönlich, wenn man es so nennen will.

Das Rauschen hinter seiner Stirn schwillt weiter an, Töne kristallisieren sich heraus und ergeben eine Melodie – die Melodie – glockenhell und wunderschön wie immer. Er hat sie selten bewusst gehört in den letzten paar Tagen und schmerzlich vermisst, wie es ihm jetzt erst gewahr wird.

Diese Melodie füllt ihn aus, vibriert in jeder noch so kleinen Zelle, bis sogar sein Herz in diesem Rhythmus schlägt. Sein Atem verlangsamt sich und tiefe Ruhe erfüllt ihn.

Sein Blick richtet sich aufs Wasser. Die dunklen Fluten unter dem milchigweißem Nebel scheinen immer schwärzer zu werden. Tintiges Wasser, das ungewöhnlich still und unbewegt vor ihm liegt. Spiegelglatt. Unwirklich.

Und dann, ein Augenblinzeln später, hat sich der Nebel vollständig wie eine weiße Decke darüber gelegt. Und auch um ihn. Und diesmal … diesmal riecht er noch etwas anderes unter dem üblichen fauligen Gestank – er riecht und schmeckt Salz und Wasser. So muss der Fluss gewesen sein, bevor er von den Menschen hier so verseucht wurde. Und vielleicht wird er irgendwann wieder genau so riechen und schmecken.

Der Gedanke gefällt ihm.

Doch es ist nur ein flüchtiger Gedanke, ein flüchtiges Wohlbefinden, bevor er sich wieder dieser anderen Tatsache bewusst wird:

Wieder hört und sieht er nichts, wieder wird alles von diesem Nebel verschluckt. Als wäre da rein gar nichts außer ihm. Als wäre er ganz allein auf dieser Welt.

Als gäbe es nur ihn.

Diese Welt, dieses Leben, ist vielleicht nichts anderes als ein Traum. Sein Traum. Oder der von jemand anderem.

Er weiß nicht, wie lange er da schon sitzt, es mögen Minuten sein oder Stunden, als sich plötzlich eine schwere Hand auf seine rechte Schulter legt und ihn aus seinem tranceartigen Zustand schreckt.

„Was machst du hier? Es ist kalt und nass.“

Joker dreht den Kopf, sieht in Batmans besorgtes Gesicht und kann sich nicht einmal dazu aufraffen, so zu tun, als wäre er überrascht.

„Wie hast du mich gefunden?“ fragt er dennoch, fast aus Gewohnheit, obwohl er die Antwort doch schon längst ahnt.

Batmans behandschuhte Finger verschwinden kurz unter seinem Kragen, Joker spürt ein kurzes Zupfen und als Batmans Finger kurz seinen Nacken berühren, wird ihm fast übel, so viel Besorgnis spürt er.

Schweigend zeigt Batman ihm die kleine Wanze, bevor er sie wieder in seinem Gürtel verstaut.

„Wann-“, beginnt Joker, findet dann aber nicht die Kraft, den Satz zu beenden. Es ist eine überflüssige Frage. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, wann Bruce ihm diese Wanze unter den Kragen seines Shirts geschmuggelt haben kann – während ihres Kusses.

Oh, wie raffiniert und hinterhältig von dem dunklen Ritter. Joker ist beeindruckt.

„Schäm dich, Honeycake.“

Dessen Blick wird nur noch besorgter. Aber Joker ahnt ja auch nicht, wie monoton und dumpf er klingt. Wie leblos.

„Komm.“ Mit diesen Worten packt er Joker am rechten Arm und zieht ihn daran in die Höhe. Widerstandslos lässt dieser sich das gefallen.

Jetzt wirklich beunruhigt, hält Batman ihn weiterhin fest.

Der Fluss keine zwei Meter hinter ihnen weckt schlimme Erinnerungen. Ohne groß darüber nachzudenken, zieht er ihn einfach an sich und schließt beschützend seine Arme um ihn.

„Warum bist du davongelaufen?“

Aber Joker schüttelt nur abwehrend den Kopf und lässt sich noch schwerer gegen ihn sinken.

Batman ist erstaunt darüber, wie kalt sich der Joker anfühlt – vom Fieber keine Spur mehr. Aber er glaubt nicht, dass das ein gutes Zeichen ist.

Joker zu umarmen fühlt sich jetzt ganz anders an als noch vor einer Stunde, er scheint zerbrechlicher geworden zu sein, krank und schlichtweg am Ende seiner Kräfte. So kennt Batman ihn gar nicht und ehrlich gesagt, möchte er ihn so auch nie wieder sehen.

Gerne würde er ihn weiter so halten, am liebsten die ganze Nacht, aber nicht hier draußen, nicht bei diesem Wetter.

„Komm.“ Vorsichtig dirigiert er ihn hinüber zur Straße, wo das Batmobil auf sie wartet. Jokers atypisches Benehmen beunruhigt ihn mehr denn je.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, geleitet er seine Nemesis so fürsorglich auf den Beifahrersitz seines gepanzerten Batmobils wie sonst nur die schönen Frauen in seinen Porsche. Der Joker bemerkt das sehr wohl, doch alles, wozu er sich aufraffen kann, ist ein mattes Zucken um die Mundwinkel herum.

Wenige Sekunden später wirft sich Batman schwungvoll auf den Fahrersitz neben ihn.

„Wohin?“ er fragt gar nicht erst, ob er ihn zurück ins Manor bringen soll, schließlich ist er ja gerade erst von diesem An-wesen – und von ihm! – weggerannt.

„Ich will nur nach Hause“, murmelt der Joker geistesabwesend. Im bläulichen Licht der Armaturen sieht er noch bleicher aus als sonst.

Nach Hause… sobald er es ausgesprochen hat, stolpert er selbst über diese Worte. Nach Hause beinhaltet, dass jemand so etwas hat – ein Zuhause. Eine Wohnung, ein Haus, einen Ort, an dem man sich länger aufhält als ein paar Tage, ein Ort, der mehr ist als nur ein Dach über dem Kopf, ein Ort, den man sich nach seinen Vorstellungen einrichtet, ein Ort, an dem man einen Teil von sich selbst zurücklässt, wenn man geht.

Ein Zuhause können aber auch einfach nur jene Menschen sein, die man liebt. Freunde. Die Familie.

Aber … er hat dabei doch nicht an Scarecrow gedacht, oder? Nein, das ist unmöglich.

Manchmal, in den seltenen glücklichen Momenten mit Harley hat er auch im Zusammenhang mit ihr so gedacht, so ge-fühlt, aber das ist schon so lange her, dass er sich kaum noch daran erinnern kann…

„Gerne.“ Batmans dunkle Stimme reißt ihn aus seinen grüblerisch-melancholischen Gedanken. „Und wo ist das?“

Gute Frage, hätte Joker beinahe entgegnet. Und tatsächlich hätte er ihm auch fast die Adresse genannt, wenn er sich nicht im letzten Moment daran erinnert hätte, wer da neben ihm sitzt.

„Netter Versuch, Batman“, er versucht, eine besonders scharfe Betonung auf das „Batman“ zu legen, doch alles, was herauskommt, ist ein kläglicher Seufzer. „Ich sage dir nicht, wo scarecrow wohnt. Setz mich einfach irgendwo jenseits dieser Brücke ab.“

„Nein.“

Jokers Blick verfinstert sich, aber noch bevor er protestieren kann, redet Batman schon weiter.

„Nein“, wiederholt er betont sanft. „In diesem Zustand lasse ich dich bestimmt nicht da draußen herumlaufen. Was ist, wenn du zusammenbrichst? Wer kümmert sich dann um dich? Ich könnte dich natürlich auch wieder in der Bathöhle einsperren, wäre dir das lieber?“

„Nein, aber-“

„Hör zu.“ Vorsichtig dreht er sich zu ihm, ergreift Jokers Hände und drückt sie aufmunternd. In Erinnerung an Jokers Fähigkeiten gibt er sich Mühe, diesen nicht an der bloßen Haut zu berühren – schlechte Schwingungen sind das Letzte, was der andere jetzt gebrauchen kann. Daher fasst er ihn nur um die Handgelenke, an seinen Armstulpen. Zum ersten Mal fällt ihm auf, wie dünn und fragil diese doch sind.

„Ich verspreche dir hoch und heilig, mein Wissen darüber, wo Crane wohnt, nicht auszunutzen.“

„Das kannst du mir nicht versprechen, und das weißt du auch.“ Kopfschüttelnd entzieht sich ihm der Joker und rückt zusätzlich noch etwas weiter von ihm ab.

„Setz mich einfach an der Mall ab, wo du Johnny getroffen hast. Es gibt dort ein öffentliches Telefon, von dort rufe ich ihn an und er holt mich dann ab.“

Batman ist davon alles andere als begeistert, doch er akzeptiert Jokers Entscheidung. Auch wenn ihn dessen Misstrauen schmerzt – verübeln kann er es ihm nicht. Aber er wundert sich doch über Jokers beschützende Art gegenüber Jonathan Crane.

Und alles Verständnis der Welt hilft nicht gegen den Stich der Eifersucht in seinem Herzen.

***

Es gibt Fragen, die stellt sich Jonathan Crane gar nicht erst, weil er nicht weiß, ob er die Antwort wirklich wissen will.

Und deshalb besteht sein einziger Ausdruck der Verblüffung in hochgezogenen Augenbrauen und einem leichten Räuspern, als er die sechs Granatwerfer mit Fernauslösung in seinem Keller entdeckt.

Er muss wirklich nicht wissen, wie der Joker immer an solche Waffen kommt. Sie in seinem Haus zu wissen bereitet ihm schon genug Magenschmerzen. Aber er muss zugeben, Jokers Plan, ihre neue Feargas/Smilex-Mischung auf diesem Wege über dem Soccer-Stadion abzuwerfen, ist zugleich schlicht wie genial. Die einzige - eher körperliche denn logistische - Schwierigkeit wird darin bestehen, diese sechs Teile auf den Dächern der umliegenden Hochhäuser zu deponieren. Diese Abschussanlagen sind verdammt sperrig, die passen nicht in jeden x-beliebigen Rucksack.

Aber andererseits ... hm, wenn Scarecrow so darüber nachdenkt ... haben diese kleinen, nächtlichen Ausflüge mit dem Joker auch so ihre Vorteile. Wenn er so an den letzter Nacht auf den Wayne Tower zurückdenkt...

Halt! Stop! Entschieden ruft er sich zur Ordnung.

Er sollte sich jetzt nicht von solchen Gedanken ablenken lassen.

Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen, geht er an den Granatwerfern vorbei zum Regal, in dem die Getränke lagern und holt sich einen Sechserpack Bier. Für einen kurzen Augenblick denkt er darüber nach, ob er etwas weiter hinein in den kleinen Keller zu seinem Labor gehen sollte, doch dann verwirft er diesen Gedanken wieder. Irgendwie ist ihm die Lust daran vergangen, an einer neuen Rezeptur für sein Feargas zu tüfteln. Nicht, wenn fünfzehn Meilen entfernt in einem angemieteten Lagerraum eine andere Apparatur steht, in der eine Feargas-Smilex-Mischung entsteht, die alles bisher da-gewesene in den Schatten stellt.

Morgen früh, wenn der von einem Computer überwachte Prozess abgeschlossen ist, können sie damit beginnen, das Gas in die Granaten abzufüllen. Niemals hätte Jonathan damit gerechnet, dass sie noch vor Donnerstag damit fertig werden, aber wieder einmal hat er das Organisationstalent des Clowns gewaltig unterschätzt. Oder dessen Besessenheit - immerhin plant er diesen ... Anschlag schon seit Jahren.

Der Junge muss Gothams High Society ja wirklich hassen. Und wo hat man sie besser alle auf einem Haufen als zur Hundertjahresfeier mit exklusiven Staraufgebot?

Und all diese jahrelange, penible Vorbereitung und Geduld von einem Geist, dem die Ärzte in Arkham die Aufmerksamkeitsspanne eines Dreijährigen zugestehen wollten.

Aber ich wusste ja schon immer, dass sie sich alle in ihm täuschen.

Still vor sich hingrinsend, lümmelt sich Jonathan Crane auf sein Sofa, nimmt die Fernbedienung zur Hand und schaltet den Fernseher ein. Ah, das ist jetzt genau das Richtige nach einem ermüdenden Tag im Labor und all der Arbeit, die noch vor ihm liegt. Absichtlich blendet er dabei das kurze Zusammentreffen mit Bruce Wayne am Mittag aus, denn sonst würde sich ihm nur der Magen umdrehen. Das Wissen, dass sich der Joker just in diesem Moment in der Höhle des Löwen (der Fledermaus, berichtigt Scarecrow kichernd) aufhält, ist schon schlimm genug.

Eifersüchtig? Nein, er ist nicht eifersüchtig. Wie schon einmal erwähnt - man kann ein wildes Geschöpf wie den Joker nicht besitzen. Niemals.

Es wird so wieso nicht lange gut gehen. Die Fledermaus mit ihren hohen moralischen Ansprüchen wird den Clown niemals so hinnehmen wie er ist, wird versuchen, ihn zu ändern, und das wird niemals funktionieren, weil ein wildes Tier sich einfach nicht zähmen lässt. Punkt.

Das musste Harley auch schon einsehen. Auch wenn sie das natürlich niemals so ausdrücken würde.

Ein Geräusch schreckt ihn aus seinen Gedanken. Es dauert eine Weile, bis er es als das Klingeln seines Telefons identifi-ziert.

Zuerst will er nicht hingehen, schließlich hat er es sich gerade erst gemütlich gemacht, aber der Anrufer erweist sich als sehr hartnäckig.

Unbewusst zählt er mit. Beim fünfzehnten Klingeln schließlich springt er auf und hechtet zum Apparat. Es gibt nur einen, der es so lange klingeln lässt.
 

***



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