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Film Noir

Don't fear the reaper... (Bakura x Ryou)
von

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Vogel im Käfig

Unruhig trat Marik von einem Fuß auf den anderen, die schlanken Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick ruhte auf der Tür, die zu Mariks Büro führte, doch noch wagte er es nicht, den Griff zu umfassen und sie aufzustoßen. Seit dem Zwischenfall mit Yuugi war eine Woche vergangen und noch immer hatte sich nicht alles wieder normalisiert. Die Szenen jenes Abends hatten sich in den Köpfen aller festgesetzt und verfolgten sie, bei allem, was sie taten. Tag um Tag. Stunde um Stunde. Seither hatte niemand von ihnen gewagt, auch nur im Geringsten aus der Reihe zu tanzen.

Jonouchi, der dafür bekannt war, den Kunden mit seiner extrovertierten Art den letzten Yen aus der Tasche zu ziehen, öffnete den Mund nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Er war derjenige, dem der Schock am Tiefsten in den Knochen steckte. Allabendlich stand er mit ernstem Blick an der Theke, füllte Glas um Glas, doch war er gedanklich nie bei ihnen. Nicht einmal Marik schaffte es, seine alte Geschwätzigkeit zum Vorschein zu bringen. Sie alle sorgten sich um ihn, wissend, dass Malik nicht zulassen würde, dass Jonouchi in seiner Leistung zurück fiel.

Yuugi hingegen verbrachte die meiste Zeit auf seinem Zimmer. Noch immer war er nicht in der Lage, zu arbeiten – niemand wusste recht einzuschätzen, wie lange dies noch so bleiben würde. Seine Haut war geschwollen. Die geröteten Stellen hatten sich derweil bläulich verfärbt. Und auch, wenn Marik sein bestes getan hatte – die zierliche Stubsnase war dahin. Die Stammkunden hingegen hörten nicht auf, nach ihm zu fragen. Manche schickten Blumen und Schokolade, etwas, das Ryou mit überraschter Miene zur Kenntnis genommen hatte.

Auch, wenn sie alle seit jenem Abend neben sich standen, war Marik fest davon überzeugt, dass sich mit der Zeit alles zum Guten wenden würde. Nur eine Sache gab es, über die er sich ernstlich den Kopf zerbrach. Niemandem im Film Noir war entgangen, dass die Stimmung zwischen Ryou und Bakura ins Negative umgeschlagen war. Hatte sich zuvor ein zartes Band stiller Verbundenheit zwischen ihnen gesponnen, schien es nun, als habe man es unvermittelt gekappt. Bakura schnitt den jüngeren. Sie sprachen nicht miteinander. Nicht einmal mehr das Essen brachte er ihm aufs Zimmer – stattdessen schickte er Marik, der zwischen den Stühlen stand und sich nicht zu helfen wusste. Dieser nahm war, dass Ryou versuchte, die Fassung zu bewahren – und es doch nicht schaffte, wann immer er und Bakura in einem Raum waren. Er aß schlecht. Die zartblauen Schatten unter seinen Augen wurden zusehends dunkler und auch die Arbeit selbst schien ihm immer größere Probleme zu bereiten. Jedes Mal, wenn Marik den Schlüssel im Schloss drehte und Ryous Zimmer betrat, sah er die Enttäuschung in den Augen des Jüngeren. Enttäuschung darüber, dass Bakura es wieder nicht geschafft hatte. Marik kannte den Grund für diese jähe Veränderung nicht, hatte jedoch bisher kaum einen Gedanken daran verschwendet. Zu sehr war er mit sich selbst beschäftigt gewesen. Während alle mit sich selbst gekämpft hatten, hatte er nachgedacht – und eine Entscheidung getroffen.

Der Ägypter nahm einen tiefen Atemzug und straffte die Schultern. Äußerlich ruhig, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Das Blut rauschte in seinen Ohren, sein Mund war staubtrocken. Es war mehr als schlichte Aufregung, die ihn heimsuchte. Es war die feine, unterschwellige Angst, die ihn seit fünf Jahren begleitete und nie wirklich zur Ruhe kommen ließ. Jetzt, wo er hier stand, an der Schwelle des Abgrundes, der sein ganzes Leben einrahmte, loderte sie auf, wie ein Feuer, dass man mit Benzin fütterte. Wenn er jetzt nicht ging, war ein Tag mehr dahin. Die Uhr tickte. Es war früher Nachmittag, die Vorbereitungen für den Abend liefen bereits. Die Zimmer wurden auf Vordermann gebracht, die Getränke aufgefüllt, Besorgungen getätigt. Es war die Zeit des Tages, zu der alle abrufbar und doch beschäftigt waren. Es war normaler Alltag jenseits der abendlichen Tätigkeiten. Selbst Marik wirkte ungewöhnlich unauffällig. Er hatte den üblichen Fummel abgelegt, trug eine schlichte Jeans, ein T-Shirt mit Aufdruck und eine Jacke aus dunkelblauem Jersey. Ungeschminkt wirkte sein Gesicht kantiger. Die feminine Schönheit, die ihm innewohnte, wenn er arbeitete, man fand sie kaum noch. Die Schminke, die er allabendlich trug, fehlte vollständig.

Marik hob die Hand und klopfte drei Mal. Niemand antwortete. Er zögerte einen Moment, dann griff er nach der Türklinke. Kaum, dass seine Finger diese berührt hatten, hielt er inne. Ein Zittern hatte von all seinen Gliedern Besitz ergriffen. Halte durch, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Halte durch. Seit fünf Jahren lebte er von Tag zu Tag. Seit fünf Jahren waren diese Worte alles, was er hatte. Noch einmal füllte er seine Lungen mit Luft, dann trat er ein.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schien sie lauter zu scheppern als sonst. Zögernd machte der Stricher einige Schritte in die Mitte des Raumes. Dabei schlug sein Herz kontinuierlich schneller. Für eine Sekunde schloss er die Augen. Er musste sich beruhigen. Er musste klar denken können, sonst würde das folgende Gespräch zu nichts führen. Als er nach einigen Sekunden angespannter Stille blinzelte, fand er Malik zu seiner Überraschung alleine vor. Dieser saß am Schreibtisch und hob den Blick, als er bemerkte, dass jemand den Raum betreten hatte. Er trug eine schwere, dunkelbraune Hornbrille, die er absetzte und wortlos vor sich auf den Tisch legte. Normalerweise war Bakura zu dieser Zeit bei ihm, erledigten sie zu dieser Stunde den Papierkram, für den sie abends keine Zeit fanden. Marik hinterfragte selten, was die beiden hier besprachen. Er ahnte, dass es besser war, es nicht zu wissen. Und doch – Bakuras Abwesenheit versetzte ihn in Sorge. Er hatte fest mit ihm gerechnet.

Malik lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ein dünnes Schmunzeln erschien auf seinen Lippen, als er Marik erblickte, hinter dem die Tür soeben mit einem leisen Klicken ins Schloss gefallen war. Die kalten Pupillen glitten demaskierend über den jugendlichen Stricherkörper. Er wusste um Mariks Wert für dieses Haus und auch sonst gab es nichts, was Marik vor ihm verbergen konnte. Malik kannte in besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Nicht einmal Bakura konnte ihm das Wasser reichen.

Vor Nervosität wurden seine Hände feucht. Ohne etwas zu sagen, schob er sie in die Hosentaschen und trat näher an den Älteren heran. Dabei war das Gesicht des Strichers ungewöhnlich ernst. Kein Zucken, keine Regung verriet, was in ihm vorging. Und auch jene legere Leichtigkeit, die er sonst stets ausstrahlte, war verschwunden. Selten war er seinem wahren Selbst ähnlicher gewesen als in diesem Moment.

„Was willst du hier?“

Marik, der vor dem schweren Schreibtisch zum Stehen kam, streckte die Hand aus und ließ die Fingerspitzen gedankenverloren über das glänzende Holz gleiten. Stumm blickte er hinüber zu der dunkelroten Couch, auf der Bakura normalerweise saß.

„Ist er nicht da?“

Marik nickte mit dem Kinn in Richtung des Sofas.

„Er hat eine Besprechung mit einem Syndikat aus Nakagawa.“

Besprechung. Das Wort fühlte sich sperrig an. Es klang offizieller und legaler als diese Art von Treffen zu sein pflegten. Ferner war Nakagawa kein Stadtteil, den man mal eben  aufsuchte. Mit Bus und Bahn war man eine knappe Stunde unterwegs. Bakura war aus dem Rennen, die Chance, dass er binnen der nächsten Minuten das Büro betreten würde, dahin. Hiermit war Marik auf sich allein gestellt.

Sie hielten einen Moment inne, betrachteten einander, ohne etwas zu sagen. Sie sahen sich ähnlich, doch Malik hatte eine Härte, die Marik niemals besitzen würde. War sie heute maßgeblicher Bestandteil seiner Persönlichkeit, so hatte es Zeiten gegeben, in denen dies anders gewesen war. Marik konnte nicht sagen, wann dieser Wechsel stattgefunden hatte. Und obschon er wusste, dass Malik nicht immer so gewesen war, so konnte er sich an die besseren Zeiten nicht mehr daran erinnern.

„Was machst du?“

„Ich korrigiere die Abrechnungen des Wochenendes.“

Ein müdes Lächeln umspielte Mariks Mundwinkel. Malik entging das nicht. Seine Augenbrauen zuckten gereizt.

„Was ist?“, murrte er schlecht gelaunt.

„Nichts. Ich kann nur immer noch nicht glauben, dass ihr Gangster Bücher führt.“

Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Die Luft zwischen ihnen schien in Flammen zu stehen.

„Schreibst du Bakuras Aufträge auch da hin? Laufen sie unter Einnahmen oder sind das schon Ausgaben? Solche Grenzen verschwimmen leicht, was?“

„Pass auf, was du sagst.“

Malik verzog das Gesicht zu einer Fratze. Es stand außer Frage, dass ihm der passivaggressive Umgangston, den Marik an den Tag gelegt hatte, nicht entgangen war. Innerlich zuckte der Stricher und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Gegenüber beugte sich über den Tisch. Dabei stützte er sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ab und musterte den Jüngeren unnachgiebig.

„Mal abgesehen davon – merkst du nicht, dass deine Anwesenheit hier unerwünscht ist?“

„Hat mich das jemals interessiert, Malik?“

Marik versuchte, desinteressiert zu klingen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Schweigend nahm er eines der Papiere vom Tisch, die Malik zuvor verstreut haben musste und ließ den Blick langsam darüber gleiten. Es handelte sich um den Steckbrief eines Jungen, samt Foto, der knapp fünf Jahre jünger war als er. Er trug nicht mehr als einen schwarzen Slip. Sein Körper war unverbraucht, schön, exotisch, in der Blüte der Jugend. Ängstlich blickten ein Paar dunkler Augen in die Kamera. Importware zum Verkauf. So wie er selbst.

„Frischfleisch?“

„Ja.“

Malik zog ihm mit einem geschickten Griff das Blatt aus den Fingern und legte es zurück auf den Tisch.

„Ich suche einen Nachfolger für Yuugi.“

Ein Stechen durchzuckte Mariks Brust, doch er ließ sich nichts anmerken. Das Yuugi Malik ein Dorn im Auge war, war schon lange kein Geheimnis mehr. Das Malik bereits nach einem Ersatz suchte, bestätigte Marik nur in der Annahme, dass sein Gegenüber plante, den Stricher loszuwerden. Beherrscht leckte sich Marik über die Lippen und sammelte sich kurz, ehe er weiter sprach.

„Die Schleuserjungs taugen nichts“, murmelte er knapp. Maliks Blick verdüsterte sich.

„Was geht’s dich an?“

Ein Lächeln, das keinen Hehl daraus machte, dass es durch und durch falsch war, huschte über Mariks Gesicht. Seine Finger, die über das Holz gestrichen hatten, hielten inne.

„Ich muss die Herzchen einarbeiten, das weißt du. Du kannst dir vorstellen, dass das schlecht geht, wenn sie kein Wort von dem verstehen, was ich sage.“

„Du wärest nicht der erste, der das hinbekommt. Vergiss nicht, dass es bei dir auch so war. Und jetzt geh mir nicht weiter auf den Keks.“

Damit beachtete Malik Marik, der die Lippen still zusammen presste, nicht weiter. Er zog das Notizbuch, über dem er zuvor gesessen hatte, zu sich heran und nahm einen Stift in die Hand. Marik betrachtete ihn schweigend. Allein bei dem Gedanken an Schleuserbanden und Menschenhandel legte sich eine Schraubzwinge um sein Herz, so fest, dass es ihm die Luft zum Atmen nahm. Seine Finger krallten sich in die Tischkante, doch er nahm es nicht wahr. Schon immer reagierten Bakura und Malik gereizt auf seine Anwesenheit. Wie viele Jahre hatten sie ihn herum geschubst, über seine Einwände gelacht und ihre schlechte Laune an ihm ausgelassen? Vor allem Bakura…

Marik seufzte innerlich. Bakura war nicht immer so gewesen. Irgendwann hatte er resigniert und sich dem Milieu, in dem er groß geworden war, angepasst.

Lange Zeit sagte niemand etwas. Unschlüssig, wie er sich verhalten sollte, blieb Marik an Ort und Stelle stehen, während sein Gegenüber versuchte, seiner Arbeit nachzugehen. Die Stille zwischen ihnen wurde zunehmend unerträglich, doch niemand wollte der erste sein, der unter der stillen Feindseligkeit, die zwischen ihnen herrschte, einknickte. Es war Marik, der zuerst den Mund öffnete.

„Ich muss mit dir über etwas sprechen.“

Adrenalin schoss in seine Adern und ließ seinen Atem kürzer und unregelmäßiger werden. Seine Stimme hatte sich verändert. Tief und ernst, ließ sie keinen Widerspruch zu. Unnachgiebig fixierten seine Augen den Mann, der seit Jahren über sein Leben bestimmte. Keine Spur mehr von der fröhlichen Heiterkeit, die er abends zur Schau stellte. Sie war eine Maske, hinter die er nur wenige blicken ließ. Nichts von all dem war echt.

Mit schlanken Fingern strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Es brauchte ihm jede Selbstbeherrschung, den Blick nicht wegbrechen zu lassen. Der Andere legte den Stift zur Seite und hob den Kopf. Sie betrachteten einander. Es war, als suchte Malik nach den richtigen Worten. Hinter all den Spannungen ruhte eine Vertrautheit, über die sich gegenseitige Abscheu legte. Langsam reifte in seinem Gesicht die Erkenntnis, dass es sich nicht um den üblichen Smalltalk handelte, der Marik sonst in sein Büro spülte. Nachdenklich hob er die Augenbrauen.

„Worüber?“

Marik schluckte. Die Hände ballten sich zu Fäusten. Wenn er den Mund jetzt öffnete, dann gab es kein Zurück mehr. Wenn er jetzt sprach, löste er einen Sturm aus, der ohne Gnade über ihm zusammen brechen würde. Er holte tief Luft.

„Ich werde nicht länger für dich arbeiten.“

Er hatte lange genug darüber nachgedacht. Es lag viele Jahre zurück, dass er sich mit seiner Tätigkeit hier arrangiert hatte. Irgendwann hatte er nicht länger hinterfragt, was er hier zu suchen hatte. Er hatte sich durchgeschlagen, irgendwie, von Tag zu Tag. Jahrelang hatte er keine Planungen angestellt, die über das Ende der Woche hinaus gereicht hatten. Wie auch Ryou, so hatte er seine Träume irgendwann aus den Augen verloren. Er war zu einem Rädchen im System geworden, das funktioniert hatte, weil das System funktionierte. Dann hatten sich erste Veränderungen eingeschlichen. Wann immer er konnte, hatte er Yuugi ein Extra an Drogen zugesteckt – bis dieser irgendwann mit dem Schlüssel in der Hand entdeckt worden war. Kurze Zeit später hatte Bakura Ryou angeschleppt und Marik, ohne es zu merken, ersetzt. Marik hatte seine Endstation im Film Noir erreicht. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Von einer auf die andere Sekunde hatte er begriffen, dass er vor die Hunde ging, wenn er nicht die Reißleine zog. Marik wollte nicht so werden, wie der Mann, der vor ihm saß.

Dieser begann zu feixen.

„Was gibt dir den Gedanken, dass das möglich ist?“

Der Blick des Jüngeren verdüsterte sich. Mit zusammengekniffenen Augen schoss er nach vorn und beugte sich über den Tisch. Die Angst, die ihn her getrieben hatte, verwandelte sich zusehends in kalte Wut.

„Ich bin nicht her gekommen, um meinen Arsch für dich her zu halten, Malik. Du hast mir den Himmel versprochen und mir die Hölle gegeben. Ich wollte hier studieren, verdammt! Stattdessen spiele ich Krankenschwester für deine Junkies hier.“

„Mein Gott.“

Malik rollte mit den Augen. Mit einer heftigen Handbewegung klappte er das Notizbuch zu und lehnte sich mit verschränkten Armen im Stuhl zurück.

„Wie oft muss ich mir das anhören, bis du endlich verstehst, dass das hier niemanden interessiert?“

Er hatte nur so oft damit anfangen müssen, weil ihm niemand zuhören wollte. Es war, als schrie er nach Leibeskräften um Hilfe, doch niemand blickte zu ihm auf. Langsam schüttelte Marik den Kopf.

„Was ist nur aus dir geworden, Malik?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein resigniertes Flüstern.

„Halt deinen Mund.“

„Gib mir meinen Pass.“

Der Stricher streckte die Hand aus. Es war ihm ernst. Bevor er seinen Pass nicht in den Händen hielt, würde er diesen Raum nicht verlassen. Zu lange hatte er über dieser Entscheidung gebrütet, als dass er sich einfach abweisen lies.

Malik ließ den Blick über die Szene gleiten, die sich ihm bot. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Dabei ergriff er Mariks Hand und schüttelte sie hämisch. Es war eine groteske Situation. Aus seinen Augen sprach der blanke Hohn.

„Lass das.“

Er versuchte, seine Hand zu entreißen, doch mit jedem Ruck verfestigte sich Maliks Griff. Einem Schraubstock gleich schlossen sich die fremden Finger um sein Handgelenk und hinderten ihn daran, sich frei bewegen zu können. Es war der Moment, in dem die Selbstbeherrschung bröckelte und die Angst über ihn triumphierte.

„Es reicht“, zischte er verzweifelt. „Lass mich endlich gehen. Ich war lange genug hier. LASS MICH LOS!“

Von diesem Punkt an geschah alles so schnell, dass Marik sich im Anschluss kaum mehr an den genauen Hergang erinnern konnte. Malik stand auf und zog Marik mit einer heftigen Handbewegung über den Tisch. Fremde Finger krallten sich in den Kragen des Strichers und hielten ihn fest. Malik war ein gutes Stück größer als er. Unter dem purpurnen Hemd, welches er trug, lugten ein Feinrippunterhemd und eine fein gearbeitete, goldene Kette hervor. Sie waren einander so nah, dass Marik die Zigaretten riechen konnte, die sein Gegenüber zuvor geraucht haben musste.

„Du undankbares Gör!“, fauchte der ältere so hasserfüllt, dass Marik vor Schreck erstarrte. Das letzte Selbstbewusstsein wich aus den violetten Augen, die weit aufgerissen immer größer wurden. Aus einem Reflex heraus griff er nach Maliks Händen. Eine Sekunde später fand er sich auf dem Boden wieder. Er hatte die Grenze überschritten. Es gab kein Zurück mehr.

„Denkst du, ich hab‘ mir aus Spaß die ganze Mühe mit dir gemacht?! Du bleibst hier, und wenn du darüber krepierst, Marik!“

Ehe Marik aufstehen konnte, war er um den Tisch herum geeilt. Er sank vor ihm auf die Knie, griff ihm ins Gesicht und zwang ihn, den Blick zu erwidern. Bei jedem Versuch, sich zu befreien, bohrten sich die Finger tiefer in Mariks Fleisch.

„Marik… Du weißt, dass ich dich hier nicht einfach gehen lassen kann.“

Überheblich grinsend senkte Malik die Stimme, bis sie beinahe etwas Zärtliches an sich hatte. Alles, was er tat zeugte von der unverhohlenen Verachtung, mit der er dem Stricher begegnete.

„Du bist mein bestes Pferd im Stall. Ohne dich wäre Yuugi zu nichts mehr zu gebrauchen. Er zieht die Kunden. Du hältst sie. Was soll aus ihm werden, wenn du nicht mehr hier bist?“

Das Grinsen wurde breiter.

„Wenn er vor die Hunde geht, ist es deine Schuld.“

„Wenn hier einer Schuld ist, dann bist du das.“

Marik drehte den Kopf zur Seite, doch es gab kein Entkommen. Es gab keine Worte dafür, wie sehr er sein Gegenüber in diesem Moment hasste. Dieser näherte sich ihm, bis ihre Gesichter auf einer Höhe waren. Noch immer umspielte ein kaltes Lächeln seine Mundwinkel.

„Na, na, na. Es kann so viel passieren, wenn du nicht mehr da bist. Yuugi, Ryou… sie sind so grün hinter den Ohren, nicht? Glaub mir, Bakura wird nicht immer hier sein. Und Unfälle passieren eben.“

Drohungen. Malik neigte dazu, Menschen unter Druck zu setzen, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten, doch so deutlich war er Marik gegenüber bisher noch nie gewesen. Es war der Moment, in dem sein Widerstand erstarb. Langsam reifte in ihm die Erkenntnis, dass er mit seinem Vorhaben scheitern würde. Es gab keinen Ausweg. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

Er tastete nach Maliks Hand, die sein Gesicht immer noch fest umschlossen hielt, vorsichtig, beinahe zärtlich und suchte nach den Augen des Anderen. Ihre Blicke trafen sich. Hinter all der Kälte, das wusste Marik, war da immer noch der Junge, mit dem er sich einst blind verstanden hatte. Es hatte Zeiten gegeben, da waren sie eine Seele in zwei Körpern gewesen. Und nun stand er hier und brach Mariks Herz. Marik wollte ihn umarmen und ohrfeigen zugleich.

„Bitte…“

Seine Stimme klang weinerlich und erstickt. Immer wieder kam das Wort über seine Lippen, doch der Gesichtsausdruck des Älteren veränderte sich nicht. Es war, als hörte dieser ihm nicht zu. Alles, was er sagte, war vergebens. Malik würde ihn nicht gehen lassen. Seine Papiere würde er ebenso wenig heraus geben. Stattdessen verstärkte sich der Griff erneut und wieder kämpfte Marik dagegen an. In den Augen seines Gegenübers flackerte etwas, was Marik einen Schauer über den Rücken jagte. Es war eine Boshaftigkeit, die Marik erst von ihm kannte, seit sie in Japan waren. Einmal mehr führte sie ihm vor Augen, zu was der Andere fähig war. Sie jagte ihm Angst ein.

„Mal ganz abgesehen davon…“

Maliks Gesicht näherte sich dem seinen an, bis sie nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt waren.

„Was denkst du, werden Mutter und Vater sagen, wenn ich ihnen erzähle, dass du dich hier im großen Stil an dahergelaufene Geschäftsmänner verkaufst?“

Für eine Sekunde hörte Mariks Herz auf zu schlagen. Mit großen Augen starrte er den Anderen an, ehe sich sein Gesichtsausdruck vor aufschäumender Wut verzerrte. Hasserfüllt funkelte er Malik an, der feixend vor ihm stand.

„Das würdest du nicht tun“, zischte er. Ein kaltes Lachen war alles, was er als Antwort erhielt. Es dröhnte in seinen Ohren, schrillte in seinem Kopf, bis er es nicht länger ertrug. Schließlich, ehe er realisiert hatte, was er tat, spuckte er dem Anderen ins Gesicht. Das Lachen erstarb sofort und hinterließ nichts als wohltuende Stille.

Einen Moment später hallte ein Klatschen von den gekachelten Wänden wieder. Mariks Kopf flog nach links, dann tanzten Sterne vor seinen Augen. Die rechte Wange verfärbte sich dunkelrot. Endlich frei, rutschte er auf dem kalten Boden einen halben Meter zurück. Die Wut jedoch blieb.

„Du blödes Arschloch!“

Er hob die Hand und strich sich über die Wange, die heiß glühend zu pulsieren begann.

„Denkst du, du kannst mit mir umspringen, wie mit Yuugi und den anderen?!“

„Glaub mir, das kann ich.“

Mit einer gezielten Bewegung vergrub Marlik die Finger in Mariks Haaren und zerrte diesen unter schmerzerfülltem Winseln zurück auf die Beine.

„Denkst du, jemanden in diesem Land würde es interessieren, was mit einem dahergelaufenen, ausländischen Stricher passiert? Glaubst du, jemand würde auch nur bemerken, wenn dir irgendetwas zustößt? Die sind alle damit beschäftigt, sich selbst zu retten.“

Das hellblonde Haar fest umklammert, strich Malik ihm mit der freien Hand über die Wange, die feucht glänzte vor Tränen, die sich ihren Weg über die dunkle Haut bahnten.

„Also tu dir selbst einen Gefallen und mach deinen Job anständig, damit ich Verwendung für dich habe, ja?“

„Könnt ihr mir mal verraten, was der Lärm hier soll? Euer arabisches Gekeife hört man bis raus in den Hof.“

Marik erkannte die Stimme sofort. Erleichtert schloss er die Augen. Letzte Tränen rannen über seine Wangen und tropften zu Boden. Mit letzter Kraft wandte er seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Mit düsterem Gesicht stand Bakura in der Tür. Die dunkle Weste, die er über seinem weißen Hemd trug, ließ ihn zugleich schlank und gut gebaut wirken. Darüber trug er einen schwarzen Wollmantel, der zum Teil durch einen dunkelroten Schal verdeckt wurde. In der freien Hand hielt er eine weiße Plastiktüte. Vermutlich hatte er auf dem Rückweg einen kurzen Stopp beim nächstgelegenen Kombini gemacht, um die üblichen Dinge für Ryou einzukaufen.

Bakuras unvermitteltes Auftreten hatte die Situation ins Stocken geraten lassen. Mit einem letzten, heftigen Ruck riss sich Marik endgültig von Malik los und kämpfte sich schwankend zurück auf die Beine. Er war sich nicht sicher, ob er vor Trauer oder Wut heulte, doch kaum, dass er stand, schossen ihm erneut die Tränen in die Augen. Am liebsten wäre er auf Malik losgegangen, doch er wusste, dass dies vermutlich das letzte war, was er tun würde. Stattdessen kam Bakura mit raschen Schritten auf ihn zu, die Stirn in Falten, offensichtlich verwirrt und überfordert zugleich, hatte er kein Wort von dem, was zuvor gesprochen wurde, verstehen können. Marik hatte genug. Er wollte nur noch fort von hier.

„Lass mich durch.“

Aus den Augenwinkeln warf er Malik einen letzten, verschreckten Blick zu. Dann schob er sich an Bakura vorbei in Richtung der Tür, die zum Schankraum hin aus diesem Vorhof zur Hölle hinaus führte. Er fühlte sich schäbig und unendlich gedemütigt. Wie hatte er nur auf den Gedanken kommen können, dass sein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein würde?

„Marik…!“

Plötzlich brachte ihn etwas zum Stehen. Verwirrt wandte er sich um. Einmal mehr hatte sich eine Hand um seinen Unterarm geschlossen, doch dieses Mal waren die Finger so weiß wie Schnee. Dieses Mal wollte ihm niemand weh tun.

Unschlüssig, was er tun sollte, hielt er inne und erwiderte den Blick des Anderen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war die Kälte in Bakuras Augen verschwunden und gab eine subtile Sorge preis, die Marik nur ein einziges Mal gesehen hatte. Fünf Jahre zuvor…

Es war, als zog ihm jemand den Boden unter den Füßen weg. Aufgeschreckt schnappte er nach Luft, die Augen weit aufgerissen. Er konnte Bakura vor sich stehen sehen und gleichzeitig nahm er ihn nicht mehr wahr. Erneut ergriff ein Zittern seinen Körper, dessen er nicht Herr wurde.

„Nein…!“

Der Andere packte ihn an den Schultern, bestimmt, aber doch sanft. Immer wieder öffnete Bakura den Mund, doch was er sagte, drang nur wie aus weiter Ferne zu ihm hindurch. Seine eigene Panik war allgegenwärtig, überdeckte alles und dominierte seine Gedanken. Ihm war kalt. Ihm war heiß. Sein Herz schlug so schnell, dass es gleich stehen bleiben musste.

„Marik.“

„Nein!“

Er konnte kaum atmen. Lang vergessene Bilder flackerten vor seinem inneren Auge auf. Der Andere schüttelte den Kopf, ließ ihn nicht los, obschon Marik begann, wild um sich zu schlagen.

„Sag ihnen, sie sollen aufhören… Sag ihnen, sie sollen aufhören!“

„Marik, verdammt, beruhige dich.“

„SAG ES!“

 

 

1989. Acht Jahre war es her, dass sein Bruder über Nacht seine Sachen zusammen gepackt und das elterliche Haus in Kairo verlassen hatte. Sechs Jahre sollte es dauern, bis Marik den ersten Brief von ihm in den Händen halten würde. Zwei weitere, bis er das Flugzeug bestieg, das ihn zu seinem Bruder nach Japan bringen sollte. Kaum achtzehn Jahre war er alt, hatte den Abschluss erst seit wenigen Wochen in der Tasche. Noch jung an Jahren, glich der Lebenshunger aus, was ihm an Erfahrung fehlte. Das Leben war ein einziges Abenteuer, die Welt eine Herausforderung, die es zu bewältigen galt. Marik war stolz darauf, einen Bruder zu haben, der es in einem reichen Industrieland wie Japan zu etwas gebracht hatte. Der in einer namhaften Firma arbeitete. Der jeden Morgen mit Anzug und Krawatte ins Büro ging.

An dem Abend, an dem er seinem Bruder das erste Mal in die Augen gesehen hatte, hatte er gewusst, dass er es nicht mehr mit dem gleichen Menschen zu tun hatte, mit dem er aufgewachsen war. Einige Tage später war in Marik die Erkenntnis gereift, dass sein Leben sich in eine andere Richtung entwickeln würde, als er es zu Beginn seiner Reise erwartet hatte. Drei Tage später hatte er seine Sachen gepackt, das Geld für den Rückflug in einem Umschlag aus Papier im Rucksack. Er wollte zurück nach Hause. An der Türschwelle hatten sie ihn abgefangen. Seither hatte sein Leben mit jeder Minute, die ins Land gegangen war, zusehends einer einzigen Katastrophe geglichen.

Er konnte nicht sehen. Auch mit geöffneten Augen blieb die Dunkelheit, die ihn verschlungen hatte, erhalten. Sein Körper lag auf einem Bett. Er war nackt. Seine Kleidung hatte man ihm genommen. Wohin man sie gebracht hatte, das wusste er nicht. Niemand hatte mit ihm gesprochen, niemand hatte ihm erklärt, was geschehen würde. Verstanden hätte er sie ohnehin nicht. Sein Japanisch war rudimentär vorhanden, doch für Konversation noch nicht zu gebrauchen. Er wusste weder, wo er sich befand, noch, wie spät es war. Lediglich das Surren der Klimaanlage, die noch immer gegen die drückende Hitze des tropischen Sommers kämpfte, zeugte davon, dass er sich immer noch in Japan befand. Wann immer der Windhauch seinen ungeschützten Körper berührte, lief ein Schauer über die nackte Haut, die nur an manchen Stellen von einem dünnen Laken verdeckt wurde. Seine Hände hatte man mit Handschellen am Kopfgitter des Bettes befestigt. Selbst, wenn er sich nicht bewegte, schnitt das nackte Metall in seine Haut. Ein heftiges Zittern hatte von ihm Besitz ergriffen, doch stammte es nicht von der Kälte. Hin und wieder verließ ein klägliches Wimmern seine Lippen.

Unter Geschrei und Gezeter hatte man ihn her gebracht. Es konnte nicht lange zurück liegen, doch fühlte er sich, als seien seither Wochen ins Land gegangen. Unter Tränen hatten sie ihn ausgezogen und ihn diese Position gezwungen.

Danach waren sie gekommen.

„Wenn wir mit dir fertig sind, bist du ein neuer Mensch.“

Er erinnerte sich gut an Maliks Worte, die er bereits am ersten Tag an Marik gerichtet hatte. Damals hatte Marik sie nicht verstanden. Erst, als er das erste Mal den Klang der sich öffnenden Tür vernommen hatte, war ihm langsam gedämmert, was nun auf ihn zukommen würde. Alles, was danach geschehen war, war ein Albtraum, zusammen gesetzt aus immer gleichen, sich stets wiederholenden Bausteinen, die sich aneinander reihten, bis Marik vollends die Orientierung verloren hatte. Schwere, glatte Männerkörper. Selten hatte man ihn so grob angefasst wie an diesem Tag. Wie ein Stück Fleisch hatte man ihn in immer neue Positionen gedreht. Die fremden Gerüche und Stimmen hatten sich in sein Gehirn gebrannt und würden nie wieder verblassen. Immer wieder war es über ihn herein gebrochen. Sie kamen und gingen. Niemand blieb. Sie drangen in ihn ein, ohne Notiz von seinem Widerstand zu nehmen. Es war ihr Ziel, ihn Untertan zu machen und es war ihnen gelungen. Als er das erste Mal den Mund öffnete, um zu protestieren, hatte man ihm eine Hand auf die Lippen gedrückt. Irgendwann waren seine Schreie im fremden Fleisch verstummt, jede Spannung aus seinem Körper gewichen. Äußerlich und innerlich war er in sich zusammen gesackt. Er hatte aufgehört, zu zählen, wie oft sie gekommen waren. Es war ein einziges Kommen und Gehen. Ein immerwährendes Rein und Raus. Rein. Raus.

Nach einer Ewigkeit hatte endlich niemand mehr den Raum betreten. Schwer atmend war er allein zurück geblieben. Er zitterte wie Espenlaub, fest davon überzeugt, dass dies der Ort war, an dem er sein Leben aushauchen würde. Sein Körper schien aus nichts anderem zu bestehen als Schmerzen. Zwischen seinen Beinen brannte es hinauf bis in den Bauchnabel hinein. Augen und Wangen glänzten feucht im verbliebenen Licht billiger Plastiklampen. Er verstand nicht, was hier mit ihm geschah. Sein eigener Bruder hatte ihn getäuscht und verkauft. Es war der einzige Gedanke, den er klar denken konnte. Man hatte ihn verraten. Sein Bruder hatte ihn verraten.

Die Tür wurde geöffnet. Sofort nahm das Zittern an Stärke zu. Da waren sie wieder. Alles würde sich wiederholen. Allein der Gedanke daran versetzte ihn in Todesangst.

„Mein Gott. Ist das dein Ernst?“

Eine Stimme durchschnitt die Stille. Marik horchte auf. Er erkannte sie sofort. Sie verhieß nichts Böses. Im Hintergrund vernahm er den Atem seines Bruders. Maliks Atem. In Marik zog sich alles zusammen. Hier zu liegen, in dieser herabwürdigenden Position und von jedem angestarrt werden zu können, gab ihm den Rest.

„Halt den Mund. Er muss wissen, wo er steht, sonst wird er in Zukunft nur Probleme machen.“

Im Hintergrund erklang das Rascheln einer Plastiktüte.

„Sieh nach ihm und sorg dafür, dass er nicht schlapp macht. Verstanden?“

„Ja.“

„Was machst du?“

„Ich sorge dafür, dass er nicht schlapp macht.“

Die Stimme klang genervt.

„Guter Junge.“

Marik entging der Sarkasmus nicht, mit dem Malik antwortete. Er vernahm das klopfende Geräusch, welches ertönte, wenn jemand einer Person lobend einen Klaps auf die Schulter gab, dann entfernten sich Schritte. Das charakteristische Klackern, welches von Maliks ledernen Anzugschuhen bei jedem Schritt von den Wänden widerhallte, verhallte im gefliesten Flur. Dann herrschte Stille, nur das Klopfen seines eigenen Herzens dröhnte in Mariks Ohren. Angespannt lauschte er, konnte den anderen noch Atmen hören. Er war noch im Raum.

„Bakura?“

In dem Moment, als er den anderen beim Namen rief, erstarb die heisere Stimme. Ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, füllten sich seine Augen erneut mit Tränen.

„Ja.“

Die Stimme des Anderen klang ernst und doch schwang etwas Beruhigendes in ihr mit. Sie kündete davon, dass der Horror ein vorläufiges Ende gefunden hatte. Es war der Moment, in dem sich Mariks Kehle zuschnürte. Sekundenbruchteile später brach er in hemmungsloses Schluchzen aus. Er fühlte sich benutzt und verletzt. Seine Nacktheit war ihm unangenehm. Die Aromen, die sich über die vergangenen Stunden in seine Haut gebrannt hatten, würde keine Seife der Welt je wieder wegwaschen können.

„Sag ihnen, sie sollen aufhören“, presste er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor, immer unterbrochen von erneuten Schluchzern, die seinen Körper durchschüttelten.

„Sag es ihnen.“ Immer wieder wiederholte er die Worte, ehe ihn die Kraft verließ und er erneut in sich zusammen sackte. Schritte klangen durch den Raum, begleitet vom Rascheln dünner Plastikfolie. Anschließend wurde das Laken, welches nur Teile seines Körpers bedeckte, über ihm ausgebreitet. Ein dünner Vorhang, der vorübergehend die Illusion von Sicherheit suggerieren würde. Schließlich setzte sich jemand zu ihm aufs Bett und nahm ihm die Maske ab, welche ihn die Stunden zuvor in Dunkelheit gefangen gehalten hatte. Blinzelnd sah er sich um und erblickte Bakura, der sich direkt neben ihm niedergelassen hatte. Er war blutjung, kaum zwanzig Jahre alt. Das schlanke Gesicht war makellos und straff. Die zarten Fältchen der späteren Jahre fehlten, das farblose Haar reichte ihm kaum bis zu den Schultern. Dünn, beinahe dürr – die Muskeln die ihn eines Tages zeichnen würden, fehlten noch – trug er die legere Kleidung eines durchschnittlichen Teenagers. Jeans, T-Shirt, Sweater. Laut eigener Aussage arbeitete er zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren hier.

Er hatte eine ernsthafte, ruhige Art, die Marik unter all den Verbrechern und Schlägern sofort angenehm aufgefallen war. Noch jung an Jahren, sorgten diese Charakterzüge dafür, dass auch die dienstälteren Bandenmitglieder auf ihn hörten. Er sprach kaum, doch wenn er es tat, brachte er die Dinge rasch auf den Punkt. Sein Humor war bissig, nahezu zynisch. Es stand außer Frage, dass er mehr gesehen hatte, als ein junger Mann seines Alters gesehen haben sollte. Dabei stand er als Assistent Maliks stets zwischen den Stühlen, war weder Fisch, noch Fleisch. Es hatte nicht lange gedauert, und sie hatten zunehmend mehr Zeit miteinander verbracht. Einen Monat war es nun her, seit Marik das Flugzeug bestiegen hatte.

Mit einer beiläufigen Handbewegung ließ Bakura die Maske auf das Laken fallen und betrachtete ihn schweigend. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, nur seine Augen hatten die sie sonst dominierende Kälte abgelegt und musterten ihn mit wissendem Bedauern. Bakura war ihm einige Schritte voraus. Er wusste, was Marik noch blühte.

„Ich konnte diesen Teil der Arbeit noch nie leiden“, murmelte er schließlich, nachdem sie lange geschwiegen hatten. Es fiel Marik immer noch schwer, die Worte zu verstehen, die Bakura an ihn richtete. Er sprach unkonventionelles, grobes Japanisch, das man in keinem Lehrbuch fand. Zusammen harrten sie aus, bis Mariks Tränen endlich versiegt waren.

„Was ist das hier?“, brachte Marik schließlich mit letzter Kraft über die Lippen. Er schämte sich, Bakura in einer derartigen Pose ausgeliefert zu sein. Dieser zog ein Taschentuch hervor und nahm Mariks Gesicht in seine Hände. Er verhielt sich dabei sanfter, als man es von einem Mann seiner Statur erwartet hätte. Vorsichtig wischte er dem Ägypter das Gesicht ab. Anschließend glitten seine Fingerspitzen behutsam über die Wangen und strichen dem jüngeren einige Haarsträhnen aus der Stirn.

„Malik versucht, dich zu brechen. Das macht er mit allen, die hier neu ankommen.“

Sein Fluchtversuch. Malik wollte sichergehen, dass er es nicht noch einmal darauf anlegte, das Weite zu suchen. Welch bittere Ironie. Hätte er sich ruhig verhalten, vielleicht wäre ihm all das erspart geblieben.

„Dir auch?“

„Nein.“

Marik verzichtete darauf, nach dem Warum zu fragen. Zu erschöpft war er, zu sehr dominierte der allgegenwärtige Schmerz seine Gedanken. Für eine Sekunde schloss er die Augen und atmete tief ein. Die Berührungen des anderen waren Balsam auf seiner geschundenen Haut. Müde lehnte er den Kopf gegen die Finger, die seine Wangen liebkosten und bemerkte schließlich ein Paar weicher Lippen, die sich gegen seine Stirn drückten. Blinzelnd öffnete er die Augen. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke, dann beugte sich Bakura vor und küsste ihn vorsichtig. Anstatt sich zu wehren, schloss Marik die Augen und ließ es geschehen. Es war das erste Mal, dass ihn jemand auf diese Art berührte und Marik wusste, dass Bakura sein Fels in der Brandung sein würde, wenn er es zuließ.

Wenig später löste sich Bakura von ihm und nahm eine weiße Plastiktüte, die er zuvor auf dem Beistelltisch abgestellt haben musste, an sich. Dabei rutschte der Saum seines Pullovers nach oben und entblößte einen sehnigen, blassen Unterarm, über den eine etwa zwanzig Zentimeter lange Narbe verlief. Sie glänzte blassrosa. Mit gerunzelter Stirn ließ Marik den Blick auf ihr ruhen.

„Diese Narbe…“

„Was ist mit ihr?“

Marik zögerte einen Moment.

„Tat es sehr weh?“

Ein dünnes Lächeln umspielte Bakuras Mundwinkel. Schweigend griff er in die Tüte und nahm heraus, was er zuvor eingekauft haben musste. Zwei Onigiri und eine Flasche grünen Tee.

„Ich erinnere mich nicht an solche Dinge.“

Mit routinierten Bewegungen begann er, die Plastikverpackung vom Onigiri zu entfernen. Allein bei dem Gedanken daran, nun etwas zu essen, drehte sich Marik der Magen um – doch wusste er, dass Bakura nicht gehen würde, ehe er aufgegessen hatte, was man ihm vorsetzte. Stoisch starrte dieser auf den Reisball in seinen Händen. Es dauerte eine Weile, bis er seine Stimme wieder fand.

„Warum bist du her gekommen?“

Marik entging der stille Vorwurf, der in seiner Stimme anklang, nicht.

„Er hat gesagt, dass ich hier studieren kann.“

Seine Stimme war kaum mehr als ein Wispern, als er diese Worte Aussprach. Rückblickend konnte er nicht verstehen, wie leichtsinnig er sich darauf eingelassen hatte. Andererseits – wenn er seinem eigenen Bruder nicht trauen konnte, wem auf der Welt konnte er dann noch trauen? Er war in eine verhängnisvolle Situation geschlittert, doch traf ihn keine Schuld. Im Hintergrund schnaubte Bakura verächtlich, das Gesicht voll stiller Resignation. Marik musterte ihn aus den Augenwinkeln.

„Da wärst du der erste.“

Es war alles, was Bakura dazu sagte. Eine halbe Stunde später begann alles von vorn.  

 

1994. Gegenwart. Bakuras Zimmer war etwas größer als das der anderen Mitarbeiter. Es hatte sechs Matten und schmucklose, beige verputzte Wände, die hier und da von zarten Rissen vergangener Erdbeben durchzogen wurden. Die meisten seiner Habseligkeiten befanden sich in einem schmucklosen Wandschrank mit traditionellen Schiebetüren. Auch sonst dominierte alles ein nüchterner, sachlicher Stil, der Raum gab für eigene Gedanken, der Luft ließ und nicht erdrückte. Die wenigen Möbel waren aus dunklem, aber hochwertigem Holz gearbeitet. Das einzige, hüfthohe Regal war vollgestopft mit Büchern jeder Art. Manga fehlten. Verkopftes, intellektuelles Zeug, mit dem Marik nichts anfangen konnte. Es herrschte penible Ordnung. Alles hier hatte seinen Platz.

Marik saß auf dem gemachten Bett. Er hatte sich nach vorn gebeugt, die Ellenbogen auf den Knien abgestützt und den Kopf gesenkt. Kinnlanges, hellblondes Haar war ihm ins Gesicht gerutscht. Ein Paar geröteter Augen starrte ausdruckslos gegen die Wand. In ihm herrschte eine Leere, die er kaum aushielt. Sein Kopf dröhnte. Die Stellen seines Körpers, an denen Malik ihn gepackt hatte, schimmerten rot und würden sich binnen der nächsten Stunden in blassblaue Hämatome verwandeln. An seinem rechten Unterarm fanden sich Schrammen von seinem Sturz zu Boden. Wenigstens das Zittern seiner Hände hatte endlich aufgehört.

Unzählige Gedanken rasten durch seinen Kopf. Was hatte er sich nur dabei gedacht? War er wirklich davon ausgegangen, dass Malik ihn einfach gehen lassen würde, nach all den Jahren? Das hier war kein Ort, an dem man für sich selbst entschied. Marik musste das, über all die Privilegien, die er sich über die letzten Jahre erarbeitet hatte, vergessen haben. Wie jeder hier, war auch er eine Ware von Wert, die eingesetzt und wie eine Ressource verwaltet wurde, bis sie sich zu sehr abgenutzt hatte, um länger Profit abzuwerfen.

Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, als er aus den Augenwinkeln vernahm, wie die Tür sich öffnete und Bakura eintrat. Marik beachtete ihn kaum.

„Was machst du hier?“

Einem Rasiermesser gleich zerschnitt Bakuras Stimme die Stille. Erneut kochte Wut in Marik hoch, der nach dem, was eben geschehen war, nichts mehr zu verlieren hatte. Was für eine beschissene, dumme Frage das doch war. Hatte Bakura nicht eben erst mit eigenen Augen gesehen, wie er unter dessen Händen zusammen gebrochen war? Diese Panikattacken… sie kamen und gingen, wie es ihnen beliebte. Noch immer schmerzte seine Brust, so schnell hatte sein Herz geschlagen. Für einen Moment hatte er geglaubt, er würde an Ort und Stelle sterben. Hyperventilierend war er irgendwann in sich zusammen gesackt. Und selbst jetzt hatte er nichts Besseres zu tun, als ihm einmal mehr vor Augen zu halten, dass seine Anwesenheit hier unerwünscht war?

„Warum fragt mich das heute jeder?!“

Er wandte sich um und sah Bakura wutentbrannt an, hielt jedoch schlagartig inne, als er erkannte, dass ihm der Andere ein Glas Wasser und eine Tablette hin hielt. Eine Entschuldigung murmelnd, nahm er beides an sich. Beruhigungsmittel. Er nahm sie, seit er denken konnte. Mal mehr, mal weniger. Ohne, das wusste er, war er nicht mehr dazu in der Lage, gute Arbeit zu leisten. Nur, wenn er mit den anderen zusammen war, verschwand die latente Angst, die all seine Handlungen begleitete, seit er in Japan gelandet war. Er ertrug es nicht, alleine zu sein. Deswegen teilte er sich ein Zimmer mit Yuugi.

„Danke…“

Er schob die Pille zwischen die Lippen und trank das Glas leer. Dann gab er es Bakura zurück, der dieses schweigend aufs Bücherregal stellte. Er trug noch immer den schwarzen Mantel und den roten Schal. Erst jetzt realisierte Marik, wie müde er wirkte. Seine Unterlippe zuckte gelegentlich, wie sie es immer tat, wenn er sich eine Auseinandersetzung mit Malik geliefert hatte. Ob sie sich wegen ihm gestritten hatten? Marik wagte es nicht, zu fragen. Sein Herz wurde schwer.

„Soll ich Ryou heute das Essen bringen? Oder gehst du?“

Mit einem Kopfnicken deutete er auf die Tüte, die Bakura noch immer in den Händen hielt. Dieser stellte sie auf einen kleinen Schreibtisch, der gerade genug Platz für einige Bücher bot und zog die Jacke aus. Nach einem flüchtigen Blick auf die Einkäufe schüttelte er den Kopf.

„Du gehst.“

Er nahm den Schal ab und hing diesen zusammen mit seinem Mantel an einen Kleiderhaken direkt neben der Tür. Schließlich hob er den Kopf und sah hinüber zu Marik, der ihn all die Zeit über beobachtet hatte. Zaghaft klopfte dieser mit der flachen Hand auf die Matratze, rutschte ein Stück zur Seite, um dem größeren Platz zu machen. Dieser zögerte einen Moment, setzte sich schließlich jedoch hin. Mit einer geschickten Handbewegung öffnete Marik die Schublade des kleinen Beistelltisches und nahm einen kleinen, silbernen Flachmann hervor.

„Tut mir Leid wegen eben.“

Marik versuchte sich an einem Lächeln, doch er versagte auf ganzer Linie. Stumm öffnete er den Drehverschluss des Flachmanns, doch Bakura nahm ihm diesen aus den Händen, ehe er einen ersten Schluck nehmen konnte.

„In Ordnung.“

Er führte den Flachmann an die Lippen und trank.

„Worüber habt ihr euch gestritten?“

Der groß gewachsene Mann beugte sich vornüber, bis er sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln abstützen konnte. Gedankenverloren drehte er den Flachmann zwischen den Fingern hin und her. Marik zögerte. Er wollte sich nicht lächerlich machen mit einer Geschichte über den gescheiterten Versuch, sein eigenes Leben zu leben. Unschlüssig, was er antworten sollte, starrte er zu Boden, bis Bakura schließlich den Kopf hob und ihm einen erwartungsvollen Blick zuwarf. Seine Antwort hatte zu lange gebraucht.

„Er denkt, er kann mit mir umspringen wie mit den anderen“, sagte Marik schließlich und hoffte, das Thema damit zum Abschluss zu bringen. Bakura schnaubte nur verächtlich.

„Was erwartest du? Du kennst ihn doch.“

Er nahm einen weiteren Schluck und schwieg lange. Marik kannte ihn am längsten und doch hatte er das Gefühl, seinen Bruder erst hier wirklich kennen gelernt zu haben. Was das anging, war Bakura im Vorteil.

Der Ägypter streckte die Hand nach dem Flachmann aus, doch Bakura reagierte schneller und wich aus. Mit einem langen Zug schließlich trank er ihn leer und drehte den Verschluss zu.

„Ich verstehe bis heute nicht, warum du ihm nach Japan gefolgt bist.“

„Aus den gleichen Gründen, warum du dich von ihm hast anheuern lassen.“

„Ich weiß.“

Sie beide waren auf der Flucht gewesen, vor einem Leben, das ihnen zuwider war. Sie beide hatten auf ein besseres Leben gehofft. Und beide waren sie enttäuscht worden.

Erneut verfielen sie in Schweigen. Marik betrachtete Bakura lange, musterte das schmale Gesicht. Die glatte, weiße Haut. Seine Augen glitten über die Schultern, die Arme und die langen, fast feminin wirkenden Finger. Er hatte wache, intelligente Augen, die davon zeugten, dass er ein erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft hätte werden können, wenn man ihn gelassen hätte. Seit ihrem ersten Aufeinandertreffen waren einige zarte Fältchen an Augen und Mundwinkeln hinzu gekommen und auch das einst schulterlange Haar hatte seither deutlich an Länge gewonnen. Für Marik war Bakura so schön, dass es ihm fast körperliche Schmerzen zufügte. Sein Blick blieb an der Narbe am Unterarm hängen. Ohne nachzudenken streckte er die Hand aus und ließ die Fingerspitzen vorsichtig über die wulstige Haut gleiten.

„Hat es sehr weh getan?“, flüsterte er. Bakura folgte seiner Geste mit den Augen und runzelte die Stirn. Sein Gesicht verdüsterte sich.

„Ich erinnere mich nicht.“

Es war die immer gleiche Frage mit der immer gleichen Antwort.

„Nicht?“

„Nein.“

Bakura hasste dieses Thema, Marik wusste das. Dennoch konnte er nicht anders, als immer wieder nachzufragen. Wie gerne hätte er gewusst, was Bakura einst zugestoßen war. Was ihm diese Narben verpasst und ihn in Maliks Arme gespült hatte. Doch er sprach nicht darüber. Nie. Es war ein Geheimnis, dass er womöglich mit ins Grab nehmen würde.

Ein Lächeln trat auf Mariks Lippen.

„Ich weiß noch, wie ich dich das erste Mal gesehen habe.“

Bakura warf ihm einen nichtssagenden Blick zu und schwieg.

„Es war an meinem ersten Abend hier. Ich habe in Mariks Büro gewartet. Niemand hat sich um mich gekümmert. Ich war müde und nervös… und als er endlich kam, hatte er dich im Schlepptau.“

Mariks Lächeln wurde breiter. Eine bestimmte Melancholie, hervor gerufen durch die Erinnerung an alte Tage, trat in sein Gesicht.

„Es gab Ärger mit einem der Stricher. Er hatte sich an den Einnahmen vergriffen. Malik war stinksauer.“

Lächelnd schüttelte er den Kopf, als könne er bis heute nicht glauben, was damals vorgefallen war. Ein knappes Nicken bildete Bakuras Antwort.

„Das war dein erster Abend?“

„Ja.“

Bakura schwieg für einen Moment, ehe seine Miene sich sichtlich erhellte.

„Ich hätte ihm sagen sollen, dass du das Geld geklaut hast. Hätte mir über die Jahre einiges an Mühe gespart.“

„Arsch.“

Es war der Satz, der die Stimmung nach allem, was in den letzten Stunden passiert war, endlich auflockerte. Die düsteren Gedanken, denen sie nachgehangen hatten, schienen sich allmählich zu verflüchtigen. Marik verpasste dem Anderen einen Knuff mit seinem Ellenbogen und begann zu lachen. Es war ein wohltuendes, befreiendes Lachen. Als er sich letztlich beruhigte, fühlte er sich, als habe man Blei von seinen Schultern genommen.

„Blut ist dicker als Wasser, vergiss das nicht!“

„Glaubst du das wirklich?“

Bakura gab den Flachmann an Marik zurück, der diesen in der Nachttischschublade verstaute, aus dem er ihn nur Minuten zuvor heraus genommen hatte. Er schloss die Schublade fester als notwendig.

„Nein. Aber du solltest lieber aufpassen, dass du nicht der erste bist, der ersetzt wird. Er scheint nicht nur von Yuugi die Schnauze voll zu haben, Bakura.“

Tatsächlich schienen die Spannungen zwischen den beiden über die vergangenen Monate gewachsen zu sein. War die Stimmung zwischen ihnen, seit Bakura sich im Untergrund zusehends einen Namen gemacht hatte, ohnehin gereizt gewesen, hatte sich seit Ryous Ankunft alles zusehends verschärft. Inzwischen waren sie kaum noch dazu imstande, eine normale Unterhaltung zu führen, ohne, dass die Situation ins gewaltbereite eskalierte. Für Mariks Warnung jedoch hatte Bakura nur ein müdes Lächeln übrig.

„Da sollte er sich nicht zu sicher fühlen.“

Verwundert runzelte Marik die Stirn. Da schimmerte ein Tonfall durch, der darauf schließen ließ, dass Bakura genau wusste, wovon er da sprach. Sein Selbstbewusstsein war über die Jahre hinweg auf eine Größe angewachsen, die einen an Größenwahn erinnern konnte. Marik fragte nicht nach. Wenn Bakura es nicht von sich aus ausplauderte, war es hoffnungslos, weiter nachzubohren. Marik hob den Kopf und blickte hinüber zur Tür.

„Was soll ich Ryou sagen, wenn er nach dir fragt? Und das wird er.“

„Sag ihm, ich habe zu tun.“

Ein genervtes Seufzen verließ Mariks Kehle. Wie lange sollte das zwischen den beiden noch so weitergehen? Die Stimmung war ohnehin am Boden. Die beiden machten es durch ihr ewiges Hin und Her nicht besser. Das auf der Stelle treten, das peinliche Schweigen – er hatte es satt.

„Schon wieder?“

„Oder denk dir was anderes aus. Ist mir gleich.“

Sie blickten einander an, bis Bakura, dem die Sache allmählich unangenehm zu werden schien, schließlich aufstand, und hinüber zum Fenster ging. Er zog den Vorhang zurück, öffnete es und zündete sich eine Zigarette an.

„Du müsstest sein Gesicht sehen, wenn ich ins Zimmer komme und er realisiert, dass du es schon wieder nicht bist. Er sieht nicht gut aus, Bakura. Wirklich.“

Bakura ließ den Blick zum Fenster hinaus schweifen und sagte lange nichts. Seine Augen blickten in die Ferne, ausdruckslos und müde. Die Zigarette brannte zwischen seinen Fingern ab. Er rauchte schon länger, als Marik hier arbeitete, doch über die Jahre hinweg war es zunehmend mehr geworden. Hatte er früher hin und wieder eine angesteckt, war er inzwischen bei knapp einem Päckchen pro Tag. Marik hatte aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Der Zigarettengeruch gehörte zu Bakura wie der Duft seines Aftershaves.

„Da ist nichts zu machen“, sagte dieser schließlich. Marik rollte mit den Augen und stand auf.

„Du bist ein sturer Bock, weißt du das?“

Marik durchquerte den Raum und nahm die Plastiktüte an sich. Wortlos warf er einen Blick hinein und hielt inne. Sein Magen zog sich zusammen. Sein Herz schien für einen Schlag auszusetzen. In der Tüte befanden sich zwei Onigiri und eine Flasche mit grünem Tee. Ein Kloß bildete sich in seiner Brust, doch Marik sagte nichts. Still betrachtete er die Utensilien. Es war sogar die gleiche Marke.

„Was ist los?“

Verschreckt hob Marik den Kopf und betrachtete den Anderen, der am Fenster stand und mit einer knappen Handbewegung Asche von seiner Zigarette schnippte. Der Ägypter versuchte ein Lächeln.

„An diesem einen Abend… hattest du mir genau das gleiche mitgebracht.“

Bakura runzelte die Stirn und schob die Zigarette zwischen seine Lippen. Während Marik um Fassung rang, schienen seine Worte nicht recht zu Bakura durchzudringen.

„Ach wirklich?“

„Ja.“

Er ließ die Tüte sinken und seufzte leise. Bakuras Reaktion versetzte seinem Herzen einen Stich. Er wusste es nicht mehr, musste es vergessen haben, womöglich schon vor Jahren. Waren sie sich nicht einst unendlich nah gewesen? Wann war der Punkt gekommen, an dem Bakura sich von ihm abgewandt hatte? Der Platz, den Marik einst bei ihm eingenommen hatte, gab es nicht mehr.

„Zwing mich nicht dazu, euch zusammen in einen Raum zu sperren, bis ihr euch endlich ausgesprochen habt“, sagte er schließlich schnippisch.

Bakuras Blick verdüsterte sich. Langsam machte Marik einige Schritte auf ihn zu, bis er direkt vor ihm zum Stehen kam. Das weiße Plastik der Tüte raschelte leise. Ungefragt nahm er Bakura die Zigarette aus den Fingern und nahm einen tiefen Zug. Mit dem Brennen, dass sich in seiner Lunge ausbreitete, verschwand auch die Anspannung. Jeder im Film Noir konnte sich denken, was zwischen den beiden vor sich ging. Es war so offensichtlich, dass sie die einzigen waren, die es nicht zu bemerken schienen. In Marik breitete sich ein Gefühl tiefer Traurigkeit aus. Es war der Moment, in dem er realisierte, dass er verloren hatte. Einmal mehr. Selbst, wenn er mit Bakura hier stand und sie sprachen, war alles anders. Gedanklich war Bakura weit weg. Marik presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Lange blickten sie einander an, bis Marik es irgendwann nicht mehr ertrug. Er beugte sich vor und hauchte Bakura einen letzten, langen Kuss auf den Mundwinkel.

„Ich liebe dich.“

Er hatte es nie ausgesprochen.

„Ich weiß.“

Beide lächelten vorsichtig. Diese stille Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschte, würde nichts zerstören können. Der Griff Mariks‘ Finger um die Henkel der Tüte verfestigte sich. Schließlich zuckte er gespielt locker mit den Schultern.

„Schon gut. Ich gebe dich frei, weißt du?“

Er schenkte dem Anderen ein Zwinkern. Die Zeit verstrich zwischen ihnen. Mit jeder Stunde, mit jeder Minute, mit der die allabendliche Eröffnung des Film Noir näher rückte, rutschte er einmal mehr in die Rolle des aufmüpfigen Jungen, die er sich über die Jahre hinweg erarbeitet hatte. Nichts von all dem war wahr. Und niemand bemerkte den Unterschied. Wortlos gab er Bakura die Zigarette zurück und wandte sich zum Gehen.

Das amüsierte Schnauben Bakuras ließ ihn innehalten. Mit verschränkten Armen lehnte er am Fensterrahmen und blickte dem jungen Stricher nach.

„Du hattest mich nie, Marik.“

Bakura log. Beiden war das bewusst, doch spielten sie beide mit. Er hatte damals den ersten Schritt auf Marik zugemacht, damals, als Malik ihm die schlimmsten Stunden seines Lebens beschert hatte. Nun tat er, als sei all das nie geschehen. Marik wusste nicht, was ihn mehr schmerzte. War es die Erkenntnis, dass er ihn verloren hatte? Oder der endgültige Wunsch Bakuras, das alles sei niemals geschehen?

Ein letztes Mal drehte Marik sich um. Ein breites, warmes Lächeln lag auf seinen Lippen, während sich seine Augen gegen seinen Willen mit Tränen füllten. Er nickte schwach, und das blonde Haar glitt in seine Stirn.

„Ich weiß“, flüsterte er mit erstickter Stimme.

„Ich weiß.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2015-04-16T21:28:59+00:00 16.04.2015 23:28
Das war ein schönes Kapitel.
Ich freue mich auf das nächste.
Von:  Arya-Gendry
2015-03-25T18:58:30+00:00 25.03.2015 19:58
Hi^^
Wow ein echt gutes Kapitel. Marik tut mir echt leid. Das sein eigner Bruder ihn sowas an tut kann. Ich hoffe nur für ihn das auch er mal glücklich werden kann. Wer weiß ob Marik nicht doch noch mal versuchen wird abzuhauen. Oder versucht mit seinen Bruder zu reden wäre schon cool. ;)

Bin auch gespannt wie es mit Bakura und Ryou weiter gehen wird. ;)
Lg.


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