Schneeflöckchen
Schnee fiel vom Himmel, tauchte den Boden in ein unwirkliches Weiß und verfing sich in dem dunklen Haar des Mädchens neben ihm. Er hätte den Kontrast gerne hübsch genannt, aber Clove war ein Mädchen und Mädchen hatten nicht hübsch zu sein, selbst wenn ihnen weiße Flocken in den Haaren hingen und sie sich auf die Zehenspitzen stellen mussten, um vielleicht doch einen Blick auf die Bühne werfen zu können, die viel zu weit in der Ferne zu liegen schien.
Das grelle Flutlicht ließ ihre blasse Haut kränklich wirken aber ihre dunklen Augen auf eine Art und Weise leuchten, die ihn dazu brachten, sie laufend anstarren zu wollen.
Für den großen Tag hatte sie sich ziemlich zurecht gemacht. Ihr königsblauer Rock war frisch gebügelt und unter dem dicken, warmen, braunen Mantel trug sie sicher die weiße Rüschenbluse, die sie auch getragen hatte, als sie in der Schule dieses Gedicht hatte vortragen müssen.
„Er hält das Eisen in die Glut
Wie eine arme Seele,
Er knackt und spritzet Funkenblut
Und dunster blaue Schwele.“ ¹
Seine Mundwinkel formten ein schwaches Lächeln. Ihre Mitschüler waren schockiert über die Art gewesen, wie die Worte über ihre Lippen gekommen waren, aber er hätte nichts lieber getan als sie um eine Kostprobe zu bitten als er die Anderen darüber hatte tuscheln hören. Natürlich hatte er das letztlich nicht getan. Immerhin war sie ein Mädchen und Mädchen fragte man nicht nach so etwas. - Das war ekelig. Nicht so eklig wie Küssen oder Händchen halten, aber immer noch eklig genug damit die Anderen nicht mehr mit einem sprachen weil man das unausgesprochene Verbot missachtet hatte.
Und so hatte er dieses Gedicht in seinem Kopf wieder und wieder aufgesagt. Zwei quälende Wochen lang. Jedes Mal mit einer anderen Betonung und kurz - Ganz kurz nur - hatte er sogar überlegt ob es wohl spannend wäre Schmied werden zu wollen und nicht Friedenswächter wie die anderen Jungen in seiner Klasse.
Applaus erklang in den vorderen Reihen und riss ihn von dem Profil des Mädchens los. Hoffentlich hatte niemand bemerkt, dass er sie beobachtet hatte und nicht die leere Bühne vor ihnen.
Cato stellte sich auf die Zehenspitzen, versuchte über seinen Vordermann hinwegzusehen, aber keine Chance. Er war nicht groß genug, obwohl er fast einen Kopf größer war als Clove und so musste er wohl oder übel mit dem kleinen Zwischenraum zwischen seinen Vordermännern vorlieb nehmen, durch den er von der Bühne kaum mehr als einen kleinen Ausschnitt sehen konnte.
Er erhaschte einen Blick auf eine Frau mit eisblauen Haaren und einem Mantel, der ganz aus Federn zu bestehen schien, blieb mit den Augen an ihren königsblauen Lippen kleben, schaffte es aber nicht sich auf die Worte zu konzentrieren, die der Bürgermeister zeitgleich an die Menge zu richten begann. Vielleicht war es das blaue Kostüm der Frau, das den unscheinbaren Mann trotz seiner Größe untergehen ließ, vielleicht war es aber auch er.
Der Sieger der letzten Hungerspiele.
Finnick Odair.
Egal wie sehr er sich auch reckte und streckte, er konnte nur einen gebräunten Arm erkennen, aber er wusste ohnehin wie der andere Junge aussah. Wie alle in seiner Klasse hatte er versucht möglichst viel von den Übertragungen der Spiele zu sehen, hatte beobachtet wie der Junge mit den bronzefarbenen Haaren und den meergrünen Augen einen Tributen nach dem Anderen ausgeschaltet hatte und hatte sogar für ihn gejubelt als sein Dreizack schließlich ihre Tributin – ein großes, starkes Mädchen mit schiefer Nase und Talent im Umgang mit dem Speer - durchbohrt hatte.
Er hatte sich dabei ein klein wenig wie ein Verräter gefühlt, aber er war bei weitem nicht der Einzige gewesen, der das Vorgehen des Tributs aus Distrikt 4 bewundert hatte.
Die Jungen mochten ihn für seinen Umgang mit dem Dreizack, für sein charmantes Wesen und die Entschlossenheit mit der er einen Gegner nach dem Anderen ausgeschaltet hatte, selbst wenn sie mehr als zwei Jahre älter waren als er! Also fast erwachsen.
Die Mädchen in seiner Klasse hatten dagegen geseufzt wann immer eine Großaufnahme von ihm übertragen worden war und in den Pausen hatte er sie erzählen hören wie schrecklich gut Finnick ihnen doch gefiel und das obwohl er ein Junge war und sie Jungs genauso eklig fanden, wie er und seine Freunde Mädchen!
Dennoch, irgendwie hatte es Finnick mit seinen Muskeln, seinem Lächeln und seiner Art, geschafft ihre Herzen zu erobern. Sie fanden sogar seine Haut irgendwie makellos.
Cato wünschte seine Haut wäre makellos. Was auch immer das eigentlich hieß.
Aber die Mädchen mochten es offensichtlich und wenn die Mädchen es mochten, dann mochte Clove es sicher auch. Nicht das das nicht ganz egal gewesen wäre. - Alles was Mädchen betraf war egal, denn Mädchen waren doof.
Richtig doof sogar. Besonders Clove. Immerhin, deren Name reimte sich sogar auf doof. Das sagte doch wohl alles.
Erneut glitt sein Blick zu seiner Nachbarin, deren Augen starr auf etwas gerichtet zu sein schienen, was entweder Finnick Odair war, oder aber das linke Bein von Enobaria, einer jungen Frau, die vor einigen Jahren die Spiele gewonnen hatte.
Cato versuchte sich ihre spitzen, goldenen Haifischzähne vorzustellen, aber er scheiterte obwohl er eigentlich genau wusste, wie sie aussahen. Alle Kinder wussten es. Sie hatten es zu ihrer ganz eigenen, kleinen Mutprobe gemacht, der Frau überallhin nachzulaufen nur um sie irgendwie zum Lächeln zu bringen und so einen Blick auf die tödlichen Zähne werfen zu können.
Es machte Spaß Enobaria zum Lächeln zu bringen. Manchmal wenn sie Zeit und Lust hatte, zeigte sie ihnen Griffe, die sie auf der Akademie gelernt hatte und die eigentlich nur den künftigen Tributen vorbehalten waren und Cato und seine Freunde waren begeistert darüber und verbrachten viel Zeit damit die kleinen Tricks und Kniffe zu verinnerlichen.
„Cato?“
Es war kaum mehr als ein leises Flüstern, aber die feinen Haare in seinem Nacken begann sich fast wie von selbst aufzustellen, als er seinen Namen hörte.
„Ja?“, flüsterte er obwohl seine Eltern ihm streng verboten hatten, während der Ansprache zu sprechen.
Cloves Mundwinkel zuckten verräterisch doch gerade als sie weiter sprechen wollte, landete eine gut sichtbare Schneeflocke mitten auf ihrer Nasenspitze. Das Mädchen rümpfte sein Näschen und schaffte es für den Bruchteil einer Sekunde wirklich süß dabei auszusehen, doch dann war das weiße Stück Schnee auch schon im Scheinwerferlicht geschmolzen und ihr Fuß fand zielstrebig den Weg gegen sein Schienbein.
„Gaff mich nicht an!“