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Zweite Chance

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So endlich das erste Kapitel. So lang hab ich wohl noch nie für ein Kapitel gebraucht, wie hier für. Es ist mir etwas schwer gefallen Arisas Charakter auszudrücken und so ganz ist sie immer noch nicht so, wie ich sie haben will, vorallem weil ich die Entwicklung eigentlich etwas ausführlicher schreiben wollte. Naja, irgendwo entwickeln sich Charaktere und Geschichten auch selbst und solang der Charakter passt, damit ich meine Ideen ausführen kann, bin ich zufrieden.
Ich hoffe, es ist als erstes Kapitel nicht ganz zu langweilig, aber für mein Vorhaben müssen sich gewisse Dinge eben erst aufbauen.

Viel Spaß beim Lesen!

Grüße
Reeney Komplett anzeigen

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Trauma

„Wir sehen uns morgen.“

„Ja, bis dann“, verabschiedete sich das brünette Mädchen, Tsubaki Arisa, von ihrer besten Freundin, Tachibana Keiko, bei der sie den Abend verbracht hatte.

Es war ein schöner Abend gewesen. Sie hatten zusammen gekocht, ein paar Filme gesehen und über die Jungs aus ihrer Schule getratscht, auch wenn das bei ihnen etwas anders ausfiel als es das Klischee besagte. Die Filme handelten von Krieg und die Jungs, über die sie redeten, waren keine hübschen Prinzen, die man für sich gewinnen wollte. Nein, Arisa und Keiko hatten ihren Spaß daran, sich ein paar Idioten rauszusuchen, diese gegeneinander aufzubringen und zu wetten, wer von ihnen wohl den Kürzeren ziehen und die Schule verlassen müssen würde. Besonders nett waren sie wohl nicht, aber irgendwie musste eben jeder sein langweiliges Leben etwas attraktiver gestalten.

Während Arisa den Wohnkomplex, in dem ihre Beste lebte, verließ, um selbst nach Hause zu gehen, setzte sie ihre Kopfhörer auf.

Sofort wurden ihre Ohren mit lauter Musik erfüllt, die sie alles um sie herum vergessen ließ. Es war schön, auch wenn sie besser auf ihre Mutter gehört hätte, die sie schon des Öfteren dazu ermahnt hatte, nicht ganz so laut Musik zu hören. Immerhin sollte sie ihre Umgebung noch wahrnehmen können, aber das war der Siebzehnjährigen egal. Sie hatte doch noch ihre Augen, um zu sehen, was um sie herum geschah.

Ein paar Minuten später erreichte sie das Bahngleis. Mit der Straßenbahn brauchte sie nur zehn Minuten nach Hause und sie war eh zu faul, sich durch die vollen Straßen Tokyos zu kämpfen. Bei Nacht war es in der Hauptstadt Japans eben immer noch sehr voll, insbesondere war es ein so schöner, warmer Sommerabend wie der Heutige. Dabei war es an der Station nicht viel besser. Einige Menschen schienen es ziemlich eilig zu haben, so wie diese zu den Ausgängen rannten.

Arisa sah ihnen einen Moment lang verwundert hinterher. Fast könnte man meinen, eine Panik wäre ausgebrochen. Neugierig, ob da nicht doch mehr dahinter steckte, wandte sie ihren Kopf in die andere Richtung, aus der die Menschen gestürmt kamen.

Nicht viel später spürte sie ein Stechen in Hüfte. Schmerz durchfuhr ihren ganzen Körper, ließ sie merklich zusammenzucken, während sich die Überraschung langsam in Schock wandelte.

Ihre Augen hatten unterdessen die Ursache für ihre Pein herausgefunden. Gebannt hing ihr Blick auf dem kleinen Stück Eisen, auf dem Mann, der das Zentrum der Panik bildete. Wild fuchtelte er mit der kleinen Pistole herum, verschoss wahllos seine Kugeln. Eine Frau, nur wenige Meter vor Arisa, fiel eben zu Boden. Eine Lache als Blut bildete sich um den Kopf der Frau.

Es war ein grausames Bild, das das Herz der Brünetten immer schneller schlagen ließ. Von der Frau am Boden kam keine Regung und in Arisa bildete sich Angst. Die blutende Wunde an ihrer Hüfte hatte sie schon wieder ganz vergessen. Sie wollte nur noch rennen, wie alle anderen hin zum Ausgang. Sie wollte weg von diesem Irren, doch ihre Beine hörten nicht auf ihre Befehle.

Unfähig zu einer Reaktion stand sie da. Die Musik in ihren Ohren ließ das, was ihre Augen sahen, wie eine Illusion erscheinen. Es konnte nicht passieren, das bildete sie sich bloß ein. Es war alles friedlich, so wie immer. Das war nur Einbildung, basierend auf ihren Wunsch, es würde mal mehr Action in ihr Leben kommen. Es war nicht real. Es konnte nicht real sein.

Ein weiteres Mal durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Diesmal im linken Bein.

Fast zeitgleich rammte sie ein weiterer Passant, der das Weite suchte, brachte zusammen mit dem Schmerz das Mädchen zu Fall.

Sie sackte in sich zusammen, sah nur noch, wie die Masse an ihr vorbei strömte, wie der Täter dieser nachjagte, als sei er ein Raubtier auf Beutezug, dann legte sich langsam ein schwarzer Schleier vor ihre Augen.

Nur noch die Musik drang in ihre Ohren. Das war alles, was sie noch wahrnahm. Nicht die Schmerzen, nicht den kalten Untergrund, nicht die panische Umgebung, sondern nur die laute Musik. Die Musik, die immer mehr in ein monotones Piepen überging.
 

Schweißgebadet erwachte die Brünette aus ihrem Traum. Ihr Herz schlug schnell und auch wenn es nicht das erste Mal war, dass sie von diesen Bildern heimgesucht wurde, so wurde sie von diesen doch jedes Mal mitgerissen. Sie kannte das Ende und dennoch reagierte sie in ihrem Traum genauso wie sie es am Abend des Geschehens getan hatte. Diesen Vorfall würde sie wohl nie vergessen.

Drei Menschen waren bei der Schießerei ums Leben gekommen und beinahe wäre sie die vierte Tote geworden. Arisa hatte eine Menge Blut verloren, war für ein paar Tage in der Bewusstlosigkeit gefangen, doch letztendlich hatte sie überlebt. Insgesamt hatte es achtzehn Verletzte oder Tote gegeben. Den Attentäter hatte man schnell gefasst. Er sollte sich nun für lange Zeit hinter Gittern befinden.

Kerzengerade saß die Siebzehnjährige im Bett, versuchte durch das Auflegen einer Hand auf ihren Brustkorb, ihrem schnellen Atmen Einhalt zu gebieten. Es gelang ihr nicht wirklich. Noch immer saß der Schock tief in ihrer Seele, sie fühlte den Schmerz, den sie vor gut einem halben Jahr durchlebt hatte so real als würde es ihr erneut widerfahren.

Mit einer Hand, kalt von der lebendigen Erinnerung, fuhr sie unter das Oberteil ihres Schlafanzuges, über die unebene Narbe an ihrer Hüfte. Die Haut fühlte sich noch immer so kaputt an. Es kam ihr so vor, als würde die Kugel noch immer in ihrem Fleisch stecken, als würde das Blut in Unmengen aus der Verletzung strömen. Und wenn sie ihren Blick auf die inzwischen relativ gut verheilte Haut warf, so zeigten ihre Augen ihr doch das Bild einer offenen Wunde.

Gänsehaut überkam Arisa bei dieser Vorstellung. Es lag nicht nur am Anblick selbst, sondern auch am Wissen, dass das alles nur Einbildung war. Sie wollte ihren Augen trauen können, doch letztendlich war das nicht mehr möglich. Ihre Sinne gaukelten ihr vor, verletzt zu sein, dabei war sie gesund. Noch war es ihr Verstand, der sie nicht vergessen ließ, was die Wirklichkeit war, doch was, wenn auch dieser ihr irgendwann eine falsche Wahrheit zeigen würde?

Die Brünette ließ von ihrer Narbe wieder ab, schloss die Augen, während sie versuchte, ihre Gedanken loszuwerden.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie sich halbwegs wieder gefangen hatte. Danach deaktivierte sie nun endlich den Wecker, der ansonsten keine Ruhe geben wollte, und erhob sich aus dem weichen Bett.

Es fühlte sich nicht so an, als würden ihre Beine sie tragen können, dabei gelang es ihr inzwischen eigentlich ohne Probleme, wieder zu laufen. Die ersten Monate nach dem Attentat war das noch eine Qual gewesen. Nur im Rollstuhl, danach auf Krücken hatte sie sich fortbewegen dürfen. Es war mühsam gewesen, sie war sich wie ein Krüppel vorgekommen, wie einer der Leute, die sie sonst doch immer mied.

Dieser Zustand hatte sie Respekt den Menschen gegenüber gelehrt, die eine längere Zeit ihres Lebens auf diese Hilfsmittel angewiesen waren. Ob das allerdings etwas Positives war, vermochte das Mädchen nicht zu sagen.

Sie war nur froh gewesen, als sie vor einem Monat die Krücken nicht mehr gebrauchen musste, auch wenn sie nach dem Rat der Ärzte diese noch bis zum Ende des Schuljahres hätte benutzen sollen. Das Mädchen hatte das für etwas übertrieben gehalten und dieser Meinung war sie auch jetzt noch. Mit Sport hielt sie sich immer noch zurück, doch ansonsten hatte sie das Gefühl, ihren Körper wieder ohne Probleme belasten zu können.

An der Zimmertüre angekommen hielt die Brünette inne, atmete einmal tief durch, wobei sich ihr Puls weiter stabilisierte. So tragisch dieser Vorfall auch gewesen sein mochte, das gehörte der Vergangenheit an. Sie hatte ein Leben zu leben und sie wollte ihren Alltag nicht durch ein Trauma einschränken. Zugegeben, der Gedanke war einfacher als die Umsetzung, viele Dinge hatten sich daraufhin geändert. Inzwischen hörte sie weder Musik durch Kopfhörer, noch fuhr sie nachts mit der Straßenbahn. Generell mied sie Bahnhöfe, auch wenn das vielleicht übertrieben war. An diesen Orten fühlte sie sich einfach nicht mehr sicher.

Bis auf diese Dinge, die sie als Kleinigkeiten abtat, versuchte sie allerdings, alle Erinnerungen so gut es ging zu verdrängen, und würde sie nicht von diesen Albträumen heimgesucht werden, ihr Alltag hätte schon lange wieder in die Normalität zurück gefunden.

Durch ihr tägliches Ritual, das aus einer genauen Abfolge von Handlungen wie Waschen, Anziehen, die Sachen für die Schule packen und Frühstücken bestand, fand sie immer wieder zurück in den Alltag. Zumindest sorgte dieser Ablauf dafür, dass nach außen niemand merkte, wie orientierungslos sie noch in ihrem Innersten war. Das Verbergen ihrer Gefühle war eines der Dinge, die sie im vergangenen Halbjahr erfolgreich gelernt hatte.

So ließ, als sie in der Küche am Esstisch saß, nichts in ihren Zügen das noch immer mulmige Gefühl in ihrer Brust erkennen. Es hatte Vorteile, wenn nicht jeder einem ansehen konnte, wie man sich fühlte. Dann standen keine besorgten Familienmitglieder vor einem, die man eh nicht belasten wollte, niemand schenkte einem dieses Mitleid, das einen nur noch mehr belastete als die Schmerzen, niemand stellte neugierige Fragen oder kümmerte sich mit dieser gezwungenen Art um einen.

Mit einer sichtbaren Gleichgültigkeit aß sie ihr Müsli, als ihre Mutter in Hektik verfallen in den Raum stürmte.

„Dein Vater und ich werden heute schon wieder erst spät kommen“, gab die Frau mittleren Alters seufzend von sich. „Tut mir leid, aber momentan wird jede helfende Hand gebraucht.“

Es war nicht nötig, dass ihre Mutter sich erklärte. Arisa wusste, dass zurzeit eine Grippewelle umging, auch wenn dies sie nicht wirklich interessierte. Ihr Immunsystem war relativ gut, lediglich vor brutalerem Einwirken konnte es sie nicht schützen. Andere Menschen zogen sich da schneller eine Krankheit zu, in diesem Fall handelte es sich um eine neuartige Plage, mit der die Betroffenen sowie die Ärzte – darunter beide Eltern Arisas – zu kämpfen hatten. Der Erfolg hielt sich in Grenzen, was nur noch mehr Fachkräfte beanspruchte. Dementsprechend nahm es die junge Frau ihrer Mutter auch gar nicht übel, dass sie nicht ständig für sie da war. Zudem war sie kein kleines Kind mehr und die Einschränkungen durch ihren Unfall waren auch schon nicht mehr nennenswert.

Sie nickte knapp, worauf ihre Mutter sie noch einmal musternd beäugte. Dass ihre einst so freche, widerspenstige Tochter nun so ruhig und rücksichtsvoll war, bereitete ihr sichtlich Sorgen. Viel gelassener sah die Sache ihr Vater, welcher der Ansicht war, Arisa wäre durch ihre schmerzhafte Erfahrung endlich erwachsen geworden. Vielleicht hatte er damit gar nicht so unrecht. Das diese Nahtoderfahrung mehr an ihrem Wesen geändert hatte als sie wahrhaben wollte, konnte sie nur schwer bestreiten.

„Mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut. Kümmer dich lieber um deine Patienten, die brauchen deine Hilfe dringender als ich“, fügte Arisa hinzu, womit sie ihre Mutter beruhigen wollte.

Mit einem Lächeln untermalte sie ihre Worte, auch wenn die Bilder ihres Traumes noch immer unangenehm in ihrem Bewusstsein präsent waren. Wenn sie ehrlich war, dann fühlte sie sich nicht wirklich gut, doch niemals wollte sie ihre Eltern oder sonst wen damit belasten.

Zumindest schien ihr Gegenüber langsam erleichtert, denn dieser erwiderte zögernd das Lächeln.

„Gut. Kannst du Ikaros dann abholen? Er kommt heute doch von seinem Schulausflug zurück.“

Erneut quittierte Arisa die Bitte mit einem Nicken.

Ikaros war ihr jüngerer Bruder und wenn sie ehrlich war, sie wäre lieber mit Keiko und ein paar weiteren Freunden zum Karaoke gegangen als ihn abholen zu müssen. Nur ließen ihre Eltern einen fast dreizehn Jahre alten Jungen, der lieber träumte als auf sein Umfeld zu achten, ungern am dunklen Abend alleine nach Hause gehen. Arisa hatte Verständnis dafür und einmal konnte sie schon ihrer Familie entgegenkommen. Die Drei hatten sich sowieso in der Zeit, wo sie vollständig auf die Hilfe anderer angewiesen war, so gut um sie gekümmert, dass sie nicht mal wusste, wie sie ihren Dank zeigen sollte.

„Schön. Bis heute Abend“, trällerte ihre Mutter mit einem Funken von Freude, bevor sie aus der Küche und schließlich aus dem Haus verschwand.

Nun widmete sich die Brünette wieder ihrem Frühstück, das innerhalb weniger Minuten gänzlich seinen Platz in ihrem Magen fand. Ein Blick zur Wanduhr verriet ihr, dass es ebenso an der Zeit war, ihren Schulweg anzutreten.

Mit geschulterter Tasche verließ sie schließlich das Haus, ging entlang der Straße zu der Oberschule, die sie besuchte. Das schlechte Gefühl in ihr, das durch den Traum wachgerufen worden war, verabschiedete sich gänzlich, als sie im warmen Schein der Morgensonne einen Schritt nach den anderen setzte. Die frische Luft – jedenfalls frischer als die, die man im Zentrum der Hauptstadt einatmen durfte - zusammen mit dem hellen Licht gaben ihr eine gewisse Geborgenheit, ließen sie alles vergessen, woran sie nicht denken wollte. Dadurch verabschiedete sich schlussendlich das unsichere Gefühl in ihren Beinen, ihre Gangart zeugte keineswegs von einer psychischen oder physischen Belastung durch Verletzungen jener Nacht.

Sie näherte sich der Lehranstalt, erspähte schon von Weitem ihre beste Freundin, die am Schultor auf sie wartete. Kaum hatte sie diese Stelle erreicht, hakte sich die etwas jüngere Schülerin bei ihr ein, zog sie mit einem strahlenden Grinsen über das Geländer.

„Gibt’s irgendeinen speziellen Grund für deine außergewöhnlich gute Stimmung?“, erkundigte sich Arisa schlussendlich bei ihrer Begleitung, die daraufhin nur noch mehr aus ihren schokobraunen Iriden strahlte.

„Ja. Segawa hat angebissen. Ich hab die ganze Nacht mit ihm gechattet, von Kannos Stärke geschwärmt, bis er meinte, er würde Kanno herausfordern und mir beweisen, dass er stärker ist“, erklärte Keiko mit einer Begeisterung, die Arisa nicht mehr teilen konnte.

Vor ihrem Unfall gehörte das noch zu den Spielchen, die sie selbst gerne inszeniert hatte, doch erschien es ihr mittlerweile einfach nur noch kindisch und falsch. Es war nie etwas Gutes dabei herausgekommen, wenn sie zwei Jungs gegeneinander aufbrachten und irgendwann würde es vielleicht auch für sie Folgen haben. Mal ganz abgesehen davon, dass Arisa sich nicht mehr daran erfreuen konnte, wenn sie die Gefühle eines Jungen für die persönliche Genugtuung so ausnutzte, wie es Keiko mit ihrem Mitschüler Segawa Hiro tat. Er stand schon seit ein paar Monaten auf die Tachibana, ging ihr mit seinen Anmachen auf die Nerven, doch ihn dann einfach auf einen skrupellosen Schläger wie Kanno Wataru loszulassen ging in Arisas Augen zu weit.

Seufzend musterte die Brünette ihre Freundin.

„Meinst du nicht, dass das zu weit geht? Er wird im Krankenhaus landen… wenn er Glück hat. Kanno ist unberechenbar. Du weißt, dass er nur noch auf unserer Schule ist, weil seine Eltern verdammt reich sind.“

Keiko zuckte mit den Schultern. „Sowas hat dich früher auch nie gestört.“

„Keiko, ich weiß, wie es ist, am Rande seines Verstandes zu stehen. Das will ich niemanden antun. Vor allem war ich dem Tod so nahe, dass ich schon nicht mehr geglaubt habe, ich würde lebend wieder aufwachen. In diesem Moment habe ich es bereut, dass ich in meinem Leben nichts Besseres getan habe, als solch kindische Spielchen zu spielen“, entgegnete Arisa mit ernstem Ton.

Mit Spaß hatten solche Aktionen bei ihr schon lange nichts mehr zu tun, sehr zum Leidwesen ihrer Besten. Seufzend ließ diese den Arm ihrer Mitschülerin los, sowie auch das Lächeln aus ihren Zügen verschwand.

„Ja, ja, ich weiß. Ganz ehrlich, seit deinem Unfall bist du total die Spaßbremse.“

„Tut mir ja leid, aber der Tod…“

„…der Tod verändert einen nun mal. Das hast du mir schon oft gesagt, Arisa, aber manchmal erkenn ich dich gar nicht wieder.“

Inzwischen hatte sich eine angespannte Atmosphäre zwischen den beiden gebildet. Keiner von ihnen empfand diese noch als angenehm. Es war ein Zustand, der sich in den letzten Wochen gehäuft hatte und wenn Arisa ehrlich war, dann fragte sie sich ab und zu, wie lange diese Freundschaft noch anhalten würde.

Seufzend meldete sich Keiko noch einmal zu Wort. „Naja. Jedenfalls will Segawa Kanno in der Mittagspause hinter der Sporthalle herausfordern. Vielleicht willst du es dir ja doch ansehen.“

Noch einmal lächelte die Schülerin, doch eine fröhliche Geste wie vor wenigen Minuten war es nicht mehr, danach verschwand sie ohne ein weiteres Wort zügig in das große Schulgebäude, während Arisa zurückblieb.

Einen kurzen Augenblick stand sie einfach mitten auf dem Hof, sah ihrer Freundin hinterher, wobei sie sich fragte, ob sie nicht doch mal mit Keiko darüber reden sollte. Letztendlich ließ sie es aber bleiben, war sie doch viel mehr mit dem Nachdenken über das eben Gesagte beschäftigt. Keiko hatte schon Recht, manchmal wirkte Arisa wirklich wie ein anderer Mensch. Wenn sie ehrlich war, dann kam sie sich sogar in ihren Erinnerungen teilweise fremd vor. Sie bereute es nicht, dass sie sich so verändert hatte, sondern nur, dass sie nicht früher schon so war. Dann wäre es vielleicht nie zu diesem Unfall gekommen, der ihr immer noch keine Ruhe ließ.

Das Mädchen fuhr sich eine ihrer kurzen Haarsträhnen aus dem Gesicht, ehe auch sie das Gebäude betrat.
 

Der Unterricht am Vormittag zog sich nur schleppend hin. Mit den Gedanken war Arisa immer noch mehr bei Keiko als bei dem Lehrstoff, aber das war nichts Neues. Schon vor dem Attentat hatte sie nicht besonders viel aufgepasst, wenn auch aus anderen Gründen. Damals hatte es sie schlichtweg nicht interessiert, lieber hatte sie mit ihren Mitschülern geplaudert. Inzwischen waren viele alte Freundschaften zerbrochen, aus den gleichen Gründen, die ihre Freundschaft zu Keiko nun plagten. Arisa hatte sich einfach zu sehr verändert, sie wollte ihr Leben nicht mehr nur für den Moment leben, sie wollte sich etwas aufbauen, Sicherheit im Jetzt und in der Zukunft haben. Sie wollte kein Leben führen, das am Ende nichts erreicht hatte.

Erstaunlicher Weise war es ihr sehr leicht gefallen, die Wochen, die sie wegen dem Unfall in der Schule gefehlt hatte, schnell nachzuholen. Seitdem sie täglich ihre Hausaufgaben machte und im Unterricht aufpasste, hatte sie auch kaum noch Verständnisschwierigkeiten. Für sie war das alles ein Fortschritt, auch wenn es schade war, dass sie mit einigen ihrer Mitschülern kaum noch etwas machte. Doch noch kam sie mit diesen eigentlich ganz gut klar, vielleicht hatten sie weniger mit einander zu tun, waren nicht wirklich mehr gute Freunde, doch kam sie mit den meisten immer noch ganz gut zurecht.

Das mit Keiko war allerdings etwas anderes. Die Tachibana war ihre beste Freundin und das schon seit langem, Arisa wollte nicht, dass die Wege der beiden auch auseinander gehen würden. So entschloss sie sich dazu, in der Pause hinter die Sporthalle zu gehen, als ihr Lehrer ein paar zusammengeheftete Blätter auf ihren Tisch fallen ließ.

„Eine wirklich gute Arbeit. Ich wünschte, ein paar andere von euch würden auch langsam begreifen, wie wichtig Schule für euch ist, und ebenso etwas mehr dafür tun. Tsubaki-sans Arbeit werde ich später noch als Musterlösung für die Hausaufgabe austeilen lassen“, verkündete der ältere Mann, ihr Englischlehrer.

Bei der Hausaufgabe handelte es sich um einen Essay, den sie zum Thema Globalisierung in Bezug darauf, dass in vielen Ländern der Welt Englisch an Schulen unterrichtet wurde, schreiben sollten. Zugegeben, Arisa hatte ihre Arbeit alles andere als gut gefunden. Ihr Englisch war vor einem halben Jahr noch so schlecht gewesen, dass sie selbst nicht verstehen konnte, wie sie so schnell ein passables Gefühl für die Sprache entwickeln konnte, und wahrscheinlich war es nur vom Inhalt her besser argumentiert als bei der Mehrheit ihrer Mitschüler.

Sie überflog die Korrektur des Lehrers. So viele Fehler hatte sie selbst in der Sprache nicht gemacht. Es überraschte sie, wie sie sich doch immer noch weiter und weiter verbesserte. Gleichzeitig war das aber auch eine sehr schöne Beobachtung. Es beherrschte einem ein gewisses Gefühl von Stolz, wenn man sah, dass sich die Mühen lohnten, und Englisch war etwas, was sie in ihrer Zukunft gewiss gebrauchen würde.

Sie steckte ihre Arbeit weg, während die anderen Schüler Kopien davon bekamen. Viel mehr passierte in dieser Schulstunde auch nicht mehr. Sie bekamen eine Hausaufgabe auf, dann ertönte schon der Gong, der das Ende der Stunde und den Beginn der Mittagspause ansagte.

Die Tsubaki packte ihr Zeug in ihre Tasche, verließ den Raum und begab sich auf den Weg zur Sporthalle. Sie überlegte, ob sie Keiko nicht doch noch davon abbringen sollte, dass sich die Jungs ihretwegen prügeln würden, aber wahrscheinlich würde sie damit nichts erreichen. Wie hatte sie sich nur früher an so etwas erfreuen können? Weil ihr Leben ansonsten ziemlich langweilig war? Weil nie etwas Aufregendes passiert war? Wie hatte sie sich an dem Leid anderer erfreuen können? Arisa hatte keine Antwort auf diese Fragen, sie wusste nur durch ihre Erinnerungen, dass es ihr tatsächlich gegen Langeweile geholfen und ihr gefallen hat.

Sie erreichte die hintere Seite der Sporthalle, Keiko stand an die Wand des Gebäudes gelehnt, während Kanno, ein großer, breitschultriger Schüler, dem man wirklich nicht gerne begegnen wollte, mit einem amüsierten Grinsen zu dem dagegen sehr schmächtigen Segawa sah. Letzterer schien in keinster Weise verunsichert zu sein, er schenkte Keiko ein zuversichtliches Lächeln, bevor er sich dem Größeren zuwandte.

Unterdessen ging Arisa auf ihre Beste zu, lehnte sich neben diese an die Betonwand.

„Ich wusste, dass du kommen würdest“, gab diese triumphierend von sich, was Arisa mit einem Nicken abtat.

„Übrigens, ich hab Segawa vorhin noch gesagt, dass er das wegen mir nicht tun muss. Er will trotzdem gegen Kanno antreten.“

Als ob Keiko damit sagen wollen würde, ihr Mitschüler wäre für den Schaden selbst verantwortlich, den er abbekommen würde.

Arisa schüttelte nur seufzend den Kopf. „Du solltest ihm Glück wünschen, dass er das Ganze überlebt.“

Keiko grinste. „Wie du meinst.“

Während die beiden jungen Männer sich kampfbereit machten, atmete Keiko einmal stark ein, um dann dem Jungen, der wegen seiner Schwärmereien für sie einen großen Fehler zu begehen schien, ein paar Worte zuzurufen. „Hiro-kun, ich glaub an dich! Viel Glück!“

Der Angesprochene schien sich dazu wirklich noch etwas sicherer zu fühlen. Arisa wusste nicht, ob das nur Blindheit durch Liebe oder schon schlichte Dummheit war.

Als wären Keikos Worte das Startsignal gewesen, begann Segawa nach Kanno zu schlagen. Der Größere hatte keinerlei Schwierigkeiten, den Schlag abzuwehren und Kontra zu geben. Arisa war sich sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis Keikos Verehrer auf dem Boden liegen würde.

Beide Mädchen sahen sich den Kampf – oder eher die Prügelei, so unkoordiniert, wie die Schläge fielen – an. Zu jedem Zeitpunkt sah es so aus, als würde Kanno die Führung behalten. Er schien keine Rücksicht auf den anderen zu nehmen. Seine Faust donnerte in das Gesicht des Gegenübers, sein Bein beförderte diesen mehrmals auf den Boden, doch Segawa ließ sich davon kaum beeindrucken. Er stand immer wieder auf, schien seinem Vornamen irgendwo doch tatsächlich gerecht zu werden.

„Willst du nicht eingreifen?“, versuchte Arisa noch einmal ihre Freundin davon zu überzeugen, dass es genug war. Blut rann bereits über Segawas Lippen und der Ausdruck in dem Gesicht seines Gegners sagte aus, dass dieser sein Handeln genoss. Es war ein ähnlicher Gesichtsausdruck, wie Arisa ihn bei dem Verrückten am Bahnsteig vor gut einem halben Jahr gesehen hatte. Diese Skrupellosigkeit.

Erneut spürte sie ein Stechen an ihren beiden Schusswunden, Übelkeit kam mit der Erinnerung in ihr auf. Sie musste sich von den Prügelnden abwenden.

„Ich kann das nicht länger mit ansehen, bis dann“, sprach sie schnell noch zu ihrer Freundin, bevor sie mit schnellen Schritten von der Sporthalle verschwand. Sie spürte noch ein paar besorgte Blicke auf sich, mit denen Keiko ihr nach sah.

Arisa ging über den Hof der Schule, suchte sich einen sonnigen Platz auf einem Fleck Gras, auf dem sie sich niederließ. Eine Hand legte sich auf ihren Brustkorb. Ihr Herz schlug schnell dagegen.

Vielleicht gab es gar keine wirkliche Antwort auf die Frage, wie sie einst solche Szenen genossen haben konnte. Im Moment kam ihr zumindest nur eine Antwort, warum sie es nicht mehr genießen konnte. Nicht, weil es kindisch oder einfach nur unnütz war, sie konnte den Anblick solcher Taten nicht ertragen, weil es in ihr Erinnerungen an den wohl schlimmsten und gleichzeitig bedeutungsvollsten Abend in ihrem bisherigen Leben wachrief.

Arisa atmete einige Male erneut tief durch, schloss dabei die Augen.

Wenn sie den Stoff in der Schule doch so schnell lernen konnte, warum dann nicht auch, über den Schock dieser einen Nacht hinwegzukommen?



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  mukuchi
2013-09-30T20:38:03+00:00 30.09.2013 22:38
Nochmal Hey =)
Also ich finds wahnsinns toll, wie gut man sich in Arisas Lage versetzen kann. Ich verstehe ihre Gefühle vollkommen und ich habe auch ein richtig gutes Bild von ihrer Situation und ihren Gedanken bekommen. Auch hire war dein Schreibstil sehr von Vorteil (wäre auch komisch wenn der sich so schnell verändert hätte ;) )
Trotzdem muss ich n bissl Kritik bzw. Vorschläge ausüben und zwar werd ich das in 2 Teile aufteilen:
1. betrifft Seite 1-5 zirka: Da hast du ja immer wieder, um Wortwiederholungen zu vermeiden nehme ich an, von "die brünette" gesprochen. Das ist meiner Meinung nach etwas, das man im Deutschunterricht vorgesetzt bekommt. Ich schreibe selbst auch (zwar keine FFs mehr, aber eben so zum Spaß) und habe mich daher viel bei Autoren eingelesen und so. Solange es den Lesefluss nicht behinder, kann man ruhig öfter hintereinander Namen oder so verwenden, das ist kein Problem ^^ Also mein Tipp, lieber zwei mal "Arisa" als einmal "Brünette".
2. Irgendwann hast du dann eh auch die Nachnamen verwendet, das fand ich gut! Jedoch schreibst du ab und zu "die Tachibana" und so, da gehört das "die" weg. Du schreibst ja auch nicht "die Arisa" :) Ich hoffe du weißt was ich meine.
und mein 3. Punkt: Wie ich schon angemerkt habe finde ich deinen Schreibstil und auch gewisse Sprachliche Mittel sehr gut von dir, deshalb find ichs schade wenn man ab und zu über Wörter wie "eh" stolpert. Du hast so einen tollen Stil und die Kapitel lesen sich so flüssig, da kannst du dieses füllwort weglassen ^^
Außerdem sind mir ein paar kleinere Fehler (grammatikalisch 3./4. Fall) aufgefallen.

Aber das ganze wirkt jetzt wie viel Kritik, ist es aber eigentlich gar nicht.
Das wichtigste am Schreiben ist, dass man die Geschichte, die Gefühle und die Charaktere gut rüberbringt und das passiert bei dir!
Halt dich ran und schreib das nächste Kapitel ;)

LG mukuchi!
Antwort von:  Reeney
01.10.2013 06:53
Hallo,
freut mich sehr, dass dir die FF und auch mein Stil soweit gefällt!
Dass man auch ab und an Kritik bekommt gehört dazu und ich finde es auch gut - nur so kann man sich schließlich verbessern (:
Werde meine Kapitel auf deine Anmerkungen auch mal noch überarbeiten.
Was das mit "die Tachibana" angeht: ich schreibe da nur ungern nur den Nachnamen. Für mich ist das auch mehr eine Art Gruppe, zu der man gehört, als ein Name. Aber irgendwo hast du wohl Recht^^

Das nächste Kapitel liegt bereits seit ein paar Wochen bei meiner Betaleserin. Sollte also nicht mehr zu lange dauern, bis ich es uploaden kann (:

Grüße Reeney
Von:  Pummelfeechen
2013-06-07T14:23:55+00:00 07.06.2013 16:23
Hallöchen,
alsoooo..., dieses Kapitel ist schon ein Gegensatz zu dem Prolog, aber dennoch finde ich ist dieses Kapitel gut geschrieben :)
Freue mich schon auf das Nächste.
LG Pummelfeechen
:)
Antwort von:  Reeney
07.06.2013 16:32
Ja^^ Mit Itachi wirst du eben noch etwas warten müssen...leider wohl auch etwas länger als geplant, hab einen Monatlang nun jede Woche Prüfungen...glaub nicht, dass ich da zum Schreiben komme....leider. Aber dann kommt ganz viel Itachi :D


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