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Brother Mine.

von

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Kapitel 3
 

Viele Winter später saß Cain auf einer Bank im Stadtpark. Es wurde allmählich ruhiger. Die Tage waren kurz und die Sonnenuntergänge kamen früh. Wie jedes Jahr im Winter. Bevor es dunkel wurde, sammelten die Eltern ihre Kinder ein, die im Park Schneemänner bauten und sich Schneeballschlachten lieferten. Und mit dem letzten Kinderlachen, dass den Park verließ, las Cain den letzten Satz in seinem Buch. Geräuschvoll ließ er es zuklappen. Wie jedes Buch war dieses eins über Helden. Der Böse wird am Ende besiegt oder kommt auf die gute Seite. Letzteres gefiel ihm besser und machten den Großteil seiner Sammlung an Büchern aus. Und manchmal bildete Cain sich ein, es würde wirklich so enden können.

Die letzten beinahe zwanzig Jahre hatte er mit Warten verbracht. Und wenn man wartete, hatte man viel Zeit zum nachdenken. Zu viel. Und an den besonders fantasievollen Tagen stellte Cain sich vor, er würde seinen Bruder finden, den guten Bruder, der es schaffte, das böse Blut in ihm auszulöschen und ihn auf die gute Seite zu holen. In dieser Vorstellung war Abel soetwas wie sein Engel. Sein Retter.

Doch diese Fantasien endeten immer gleich. Selbst wenn Abel nicht böse war, hatte er doch das Blut ihres Vaters in sich. Wenn es bei ihm selbst nicht ausbrach, dann vielleicht bei seinen Kindern. Cain musste auf Nummer Sicher gehen. Das hatte er damals gewusst und auch jetzt, als erwachsener Mann, wusste er es.

Cain senkte den Blick auf das Buch und seine Hände, die es hielten. Sie waren rot von der Kälte und schmerzten. Der Gedanke an seinen liebsten Weg, seine Hände zu wärmen, drängte sich mal wieder in seinen Kopf: Blut. Und zwar nicht sein eigenes. Zu töten war soetwas wie ein natürliches Bedürfnis für ihn, fast noch wichtiger als Essen und Schlafen. Meist schaffte er es, sich auf Menschen zu beschränken, die niemand vermissen würde. Penner, Junkies, Huren. Manchmal waren sie so voller Drogen, dass sie gar nicht richtig mitbekamen, wie sie langsam von ihm zugrunde gerichtet wurden. Was Cain ganz gelegen kam. Schreie erregten immer so viel Aufsehen.

Er ließ das Buch in seine Tasche gleiten, als eine alte Frau mit ihrem Rollator und einer vollen Einkaufstasche an ihm vorbeiging. Ungläubig starrte sie ihn an und konnte sich vermutlich wie die Meisten nicht entscheiden, ob sie ihn gut aussehend oder unheimlich fand. Beides wahrscheinlich. Sein schwarzes Haar reichte ihm etwas strubbelig bis zum Kinn, das rau von dunklen Bartstoppeln war. Sein schlanker, trainierter Körper steckte wie immer in einem schwarzen, dünnen Langarm-Shirt, einer einfachen Jeans und Turnschuhen. Dazu kamen natürlich noch seine Augen, mit denen er den Blick der alten Frau starr erwiderte. Schnell wandte sie sich ab und beschleunigte ihr Tempo so gut es ihr veraltetes Gestell zuließ.

Cain beugte sich nach vorn und versenkte seine Hände im Schnee. Sofort protestierten seine Nerven mit überdeutlichem Schmerz. Er brauchte dieses Gefühl. Irgendwie musste er die Leere in seiner Brust bekämpfen. Der Wunsch, jemandem nah zu sein, unterlag mal wieder seinem Verstand, den er durch den Schmerz klärte. Er war ein Monster. Die einzigen gefallen, die er jemandem tun konnte, waren, sich von ihnen fern zu halten und das andere potenzielle Monster, seinen Bruder, auszulöschen.

Ein bitterer Geschmack legte sich in Cains Mund. Die Kälte reichte heute nicht. Er zog die Hände aus dem Schnee und spürte seinen Herzschlag hämmernd in den Fingerspitzen.

Es wurde Zeit für ihn, seine Aufgabe zu erledigen.
 

Er hätte sich nicht ablenken lassen sollen. Aber zu seiner Rechtfertigung,der Kerl hatte ihn einfach provoziert. Hatte ihn angepöbelt und ihm seine stinkende Alkoholfahne ins Gesicht gehaucht.

Cain wusch sein Messer im Schnee und steckte es wieder ein, ehe er den Blick durch die dunkle Gasse schweifen ließ. So eine Sauerei. Bis auf die gigantische Blutlache unter dem Penner waren noch zahlreiche große und kleine Blutspritzer überall im Schnee und auf den Wänden verteilt. Wer auch immer diesen Kerl bei Tagesanbruch fand würde vermutlich einen Schock fürs Leben bekommen.

Und Cain hatte die Spur verloren. Bis hierher hatte er seinen Bruder verfolgen können. Eigentlich hatte er ihn konfrontieren wollen, hier in dieser Gasse. Jetzt war die Gasse leider... belegt. So eine Scheiße. Etwas mehr hatte sein Bruder schon verdient, als neben einem ausgebluteten Penner zu sterben.

Als Cain sich zum Gehen wandte, erblickte er am offenen Ende der Gasse eine Person. Die Straßenlaternen brannten nicht mehr zu dieser späten Stunde, aber das Mondlicht wurde vom dem Schnee reflektiert, dass man mit guter Nachtsicht alles sehen konnte. Und diese Nachtsicht hatte Cain schon immer.

Die Person kam langsam auf Cain zu, der vollkommen entspannt den jungen Mann beobachtete und sich nicht vom Fleck rührte, bis der Kerl neben ihm zum Stehen kam, den Blick auf die zerfetzte Leiche gerichtet. Sie schwiegen sich eine Weile an, keiner von ihnen bewegte sich, bis der junge Mann den Kopf zu Cain drehte und ihm direkt in die Augen blickte.

„Abel.“

„Cain“, antwortete der junge Mann. Es war das erste Mal, seit er ihn als Baby besucht hatte, dass Cain seinem kleinen Bruder so nah war.

Abel war fast einen Kopf kleiner als Cain, hatte blondes, kurzes Haar und klare, blaue Augen. Der Ausdruck in seinem Gesicht war sanft und seine Haltung entspannt. Er war das komplette Gegenteil von Cain. Und damit erfüllte er sämtliche Klischees, die Cain aus all seinen Büchern kannte. Der gute Bruder, der sein böses Gegenstück bekehrte. Und sie lebten glücklich und zufrieden...

„Du hast vor, mich zu töten.“ Das war keine Frage. Cain war etwas überrascht, wie nüchtern Abel diesen Satz über die Lippen brachte. Keinerlei Angst war in seiner Stimme zu hören. Ihre Mutter hatte ihn wohl gut auf sein Schicksal vorbereitet.

„Ja“, gab Cain trocken zurück. Nun wandte Abel sich ihm vollkommen zu und Cain tat es ihm gleich.

Im Kopf hatte Cain in den letzten Jahren sämtliche möglichen Szenarien durchgespielt. Das hier war eines davon. Es fiel ihm leicht, alles in seinem Kopf zu ordnen und ruhig an das Bevorstehende heranzugehen. Sein Bruder war der Engel, der, wenn man ihn nicht aufhielt, gegen seinen Willen das Böse verbreiten konnte. So nett und gutherzig er auch war, Cain konnte ihn stoppen. Und nur, weil er vorbereitet war. Hätte er überraschend in ein nettes statt in ein böses Gesicht geblickt, wäre es wohl nicht so einfach.

„Erkläre es mir, Cain.“

„Was?“

„Wieso du mich töten willst.“ Als Abel Cains Hände in seine nahm und sich die Wärme auf Cains Fingern ausbreitete, spürte er innerlich nichts. Es war so leicht, sich abzuschirmen, wenn man wusste, was bevorstand.

„Hat sie das noch nicht zur Genüge?“

„Nein. Nicht aus deiner Sicht.“

Heilige Scheiße. Er zog diesen Engels-Mist wirklich durch.

„Fein, wie du willst. Unser Vater war ein Dämon. Und das meine ich wörtlich. Er war nicht menschlich. Er hatte die gleichen, unnatürlichen Augen wie ich. Und den gleichen Drang zu töten. Er hat es nie bereut, war ein gewissenloser Sadist. Um zu verhindern, dass auch nur ein Tropfen seines dreckigen Blutes weitergegeben wird, habe ich ihn umgebracht. Und dann kamst du.“

Ein sanftes Lächeln legte sich auf Abels Lippen. „Aber wenn du ihn ausgelöscht hast, um zu verhindern dass sich seine Bosheit verbreitet, hast du doch etwas Gutes getan.“

Cain lachte bitter. „Hör mal, Kleiner. Du hast keine Ahnung, wie viele Leute ich seitdem umgebracht habe. So wie den da“, sagte er und deutete über die Schulter. „Sein Blut ist in mir. Und auch, wenn man es dir nicht ansieht, ist es auch in dir. Ich muss sicher gehen, dass es keinerlei Nachkommen von ihm gibt. Das ist das Einzige, was ich für diese Welt tun kann.“

Cain hatte mit allem gerechnet, alles eingeplant. Nur nicht, dass Abel in lautes, herzhaftes Gelächter ausbrach. Überfordert beobachtete Cain seinen Bruder, wie ihm vor Lachen Tränen in die Augenwinkel traten und er eine Hand von Cains lösen musste, um sich den Bauch zu halten. Und mit jeder Sekunde wuchs die Wut in Cain. Eine Wut, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er riss auch die andere Hand von Abel los, der noch immer nicht aufhören konnte, zu lachen.

„Was ist daran bitte lustig?“

Japsend versuchte Abel, zu Atem zu kommen. „Es ist unglaublich... Haha... wie blind du bist, Bruder.“

Cain ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Was bildete dieser kleine Bengel sich eigentlich ein? „Jetzt hör mir mal zu. Deine gutherzige, glückliche Art wird dich jetzt auch nicht mehr retten. Ich habe die letzten Jahre vollkommen allein verbracht. Ich habe nur auf dich gewartet, damit du dich mir stellen kannst. Ich habe -“

Der Schlag ins Gesicht traf Cain vollkommen unerwartet. Und es steckte so viel Kraft dahinter, dass Cain kurzerhand zu Boden ging. Mit vor Überraschung geweiteten Augen schaute er zu seinem kleinen Bruder, der sich nun über ihm aufbaute und mit verächtlichem Blick auf ihn herab blickte. In seinem Gesicht zeigte sich keine Spur mehr von dem Lachen.

„Und jetzt hörst du mir mal zu, großer Bruder. Du liegst in allem, aber auch wirklich verdammt nochmal allem, absolut falsch. Fangen wir bei deinem Warten und deiner Suche nach mir an.“ Abel ging über den Knien seines Bruders in die Hocke. „Du denkst, du hast mich gefunden. Dabei habe ich mich von dir finden lassen. Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, Cain. Und gewartet, wann du es endlich schaffst, zu mir zu kommen.“ Langsam schüttelte Abel den Kopf. „Deine selbst auferlegte Einsamkeit war Mist, das sage ich dir. Und irgendwie sinnlos. Wolltest du dich damit selbst bestrafen? Wie mit dem dauernden Frieren? Schmerz durch Kälte, hm? Na immerhin kreativer als diese Rasierklingen-Nummer.“

Cain konnte seinen Bruder nur anstarren. Was zur Hölle ging hier vor?

„Und jetzt zu deinem super Plan, mich umzubringen. Und dich vermutlich gleich hinterher, weil ja nichts Böses auf der Welt zurück bleiben soll, hm? ...Wie naiv bist du eigentlich?“ Abel setzte sich neben Cain, einfach so in den Schnee. „Zunächst mal war unser alter Herr wohl kaum der einzige Dämon auf diesem Planeten, hm?“ Cain wurde eiskalt. „Und noch dazu kannst du nicht davon ausgehen, dass die Menschen nicht auch böse sein können. Ja, unsere Mutter ist eine Ausnahme. Sie ist wirklich ein wahrer Engel. Aber der Rest? Komm schon, Cain. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass unsere Tode dieser Welt weiter helfen?“

Cain konnte nicht antworten. Er konnte seinen Bruder nur anstarren. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und in seinem sonst so klarem Kopf herrschte ein heilloses Chaos. Und seine Wange schmerzte.

Abel lächelte und schüttelte den Kopf, wie über ein Kleinkind, dass bei seinen ersten versuchen zu laufen immer wieder über die eigenen Füße stolperte. Dann erhob er sich und klopfte sich den Schmutz und den Schnee von der Kleidung.

„Also, Cain, was hältst du davon. Du tötest weder mich noch dich. Stattdessen fängst du endlich mehr mit deinem Leben an und machst dich nützlich. Du kannst natürlich weiter allein vor dich hin vegetieren und arme Nichtsnutze umlegen...“ Er stellte sich über Cain und hielt ihm die Hand hin. „Oder du kommst mit mir und wir kümmern uns ein Bisschen um die bösen Jungs auf dieser Welt.“

Cains Herz setzte für einen Moment aus, ehe es einen Hüpfer machte. Dieses Gefühl, dass sich in ihm ausbreitete... das war unglaublich. Warm... so warm. Und es verbreitete sich schneller, als er es erfassen konnte. Was zur Hölle war das? Cain schluckte trocken und spürte eine merkwürdige Wärme auf seiner Wange. Abel stutzte und hob überrascht die Brauen.

„Ach du meine Güte, ich hab dich echt durcheinander gebracht, hm?“

Abel strich Cain über die Wange, der erst dadurch merkte, dass sie feucht war. Verdammte Scheiße, weinte er gerade? Ruckartig packte er nach Abels Arm und schaute ihn fest an. Er brachte nicht ein Wort über die Lippen. Abel lächelte. Dann zog er Cain auf die Beine, mit einer Kraft, die man seinem schmalen Körper nicht zugetraut hätte.

„Also dann, Großer. Machen wir uns auf den Weg. Und was das da betrifft...“ Abel deutete mit dem Daumen auf den blutigen Haufen Mensch am Boden. „Ich zeig dir, wie man das richtig macht. Kaum zu glauben, dass du all die Jahre so stümperhaft gearbeitet hast...“

Das Lächeln auf Cains Lippen fühlte sich eigenartig und fremd an. Und trotzdem war es ein gutes Gefühl. Als er erneut nach Abels Arm griff, wandte dieser sich mit fragendem Blick zu seinem großen Bruder um, nur um eine Sekunde Später in dessen starke Arme gezogen zu werden.

Offenbar war das doch nicht das Ende.



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