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Brother Mine.

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Brother Mine
 

Kapitel 1
 

Die wichtigsten Dinge passierten immer im Winter.

Langsam, ganz langsam, ließ Cain den Kopf in den Nacken sinken. Eine Schneeflocke landete auf seiner Wange, dann noch eine. Seine Wärme brachte die zarten Eisgebilde zum schmelzen. Obwohl er sich zum wiederholten Male fragte, wie das sein konnte. Denn von Wärme spürte er absolut nichts. Weder außen, noch innen. Seine Haut war bloße Biologie, erhitzt von der Energie, die nun mal entstand, wenn man lebte. Und was sein Inneres betraf... Das einzige, was er gerade fühlte, war eine kühle, träge Ruhe.

Er öffnete die Augen und schaute nach oben in einen schwarzen Himmel. Absolute Dunkelheit in dieser Nacht. Kein riss in den dichten Wolken, kein Schein, der sie erhellte. Nur Dunkelheit. Und Stille.

Es war Zeit.

Cain wandte sich um und betrat das Krankenhaus durch den Haupteingang. Im Eingangsbereich kam ihm eine Schwester entgegen, ein paar Patientenakten in der Hand. Ihr Blick blieb ungläubig an ihm hängen. Was ihn nicht wunderte. Man traf nicht oft einen Jungen an, der nur in einem dünnen, schwarzen Rollkragenpullover durch diese Kälte spazierte. Und auf dem dunklen Stoff und seinem schwarzen Haar stach der ganze Schnee, der auf ihn gefallen war, natürlich noch hervor.

Gerade als die Schwester ihn ansprechen wollte, erhielt er auch wie gewohnt die nächste Reaktion. Ein Blick in seine Augen ließ sie stutzen. Aber hey, sie machte keinen Schritt von ihm weg, wie die Meisten. Ein unnatürliches, warmes Orange ließ jeden stutzen. Cain ignorierte ihren Blick und schritt an ihr vorbei an den Informationsschalter.

„Alice Grey“, sagte er schlicht und wartete, bis die Nachtschwester den Namen in den PC getippt hatte. Die dunklen Schatten unter ihren Augen sprachen dafür, dass die Nachtschicht nicht ihr Ding war. Sie wandte den Blick nicht ein Mal vom Monitor ab.

„Entbindungsstation, dritter Stock, rechter Gang, zweite Tür.“

Cain sparte sich ein Danke und ging direkt in Richtung Fahrstuhl. Allerdings ging er direkt an ihm vorbei ins Treppenhaus. Das zarte Mintgrün der Wände ließ ihn die Nase rümpfen. Eine weitere Schwester kam ihm entgegen, diese blieb bei seinem Anblick allerdings nicht so cool. Er konnte in ihrem Ausdruck und ihrer Körperhaltung sehen, wie unangenehm sein Blick ihr war. Sie brachte kein Wort heraus und als sie an ihm vorbei ging klebten ihre Augen an ihm, also folgte er ihr auch mit starrem Blick. Als sie auf dem Treppenabsatz Kehrt machte, musste sie kurz wegsehen, kehrte dann jedoch schnell wieder zu ihm zurück und beschleunigte ihre Schritte, um möglichst schnell von ihm weg zu kommen. Er war stehen geblieben, um sie zu beobachten, was ihr noch zusätzlich angst zu machen schien. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, schüttelte er den Kopf.

Ein ihm nur zu bekanntes Flüstern drang ihm ans Ohr. Und mit dem Flüstern kam die Kälte zurück. Nicht etwa durch seine nasse, kalte Kleidung. Nein, die Art von Kälte, die sich auf die Brust legte, das Herz umschloss und den Kopf klar machte. Als wolle sein Herz dagegen ankämpfen schlug es schneller.

Das letzte Stück nahm Cain immer zwei Stufen auf einmal, bis er die Tür zum dritten Stock auf schob. Wände in babyblau und rosa. Na wunderbar. Bis zur beschriebenen Tür war es nicht weit und er öffnete sie leise.

Zum Glück hatte er die Show verpasst. In dem Bett saß seine Mutter, verschwitzt und müde, aber ganz offensichtlich glücklich. In ihren Armen hielt sie ein Bündel, in eine weiße Decke gewickelt, das sie sanft in ihrem Arm wiegte. Eine Schwester und die Hebamme sprachen mit ihr und räumten geschäftig schmutzige Tücher weg und schüttelten Kissen auf.

Als Cain sich in den Türrahmen lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte, verstummte die Schwester und schaute ihn überrascht an. Offenbar hatte sie keinen Gast erwartet. Als seine Mutter von dem Neugeborenen aufschaute und ihn erblickte wurde sie binnen Sekunden kreidebleich. Trotzdem, oder gerade wegen diesem Ausdruck in ihrem wunderschönen Gesicht, wirkte sie wie ein Engel. Oder eine Heilige. Das blonde Haar fiel ihr in üppigen Locken über die Schultern, die blauen Augen, plötzlich hellwach, starrten ihn an.

Andere Mütter freuten sich, wenn ihr Sohn sich nach so vielen Monaten wieder blicken ließ.

„Er hat es gerade erst in die Welt geschafft, Cain. Bitte...“, brach seine Mutter das Schweigen mit brüchiger Stimme.

„Wie heißt er?“

Seine Mutter hielt die Luft an. Gerade wollte die Hebamme einschreiten, doch Cain brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Dann wandte er sich wieder seiner Mutter zu.

„Sein Name.“

Sie schluckte. „Er hat noch keinen -“

„Du weißt es, oder?“ Cain stieß sich vom Türrahmen ab und ging zum Bett herüber. In Gedanken lobte er den Instinkt der Krankenschwester, die sich etwas vom Nachttisch griff, was sie im Notfall als Waffe benutzen könnte. Cain lächelte kurz und trocken. Was denn, hier hatte man Angst vor einem Teenager, der zu seiner Mutter wollte? ...Gut so. „Du kennst seinen Namen schon. Du hast dich nur nicht getraut, ihn ihm zu geben.“

Als Cain seine Hand nach dem Baby ausstreckte, wollte seine Mutter sich abwenden, doch im Bett kam sie nicht weit damit. Und sobald Cains Hand die Stirn des Jungen berührte, erstarrte sie und blickte ihn flehend an.

Das Baby schmiegte sein Gesicht kurz an Cains Hand. Als würde er ihn kennen. Vielleicht tat er das auch. Vielleicht erkannte es instinktiv schon so früh, wer sein Blut in sich trug.

Das Flüstern in Cains Ohr wurde lauter und für einen Moment war er verführt, ihm Gehör zu schenken. Einen Moment schloss er die Augen. Dann entschied er sich dagegen. Er zog die Hand zurück und blickte in das friedliche Gesicht des Babys.

„Er soll die Chance haben, sich gegen sei Schicksal zu wehren. Erzähl ihm davon. Von seinem Vater. Von mir. Er soll vorbereitet sein, wenn ich zu ihm komme.“ Das Flüstern verstummte und Cain konnte die Entrüstung über seine Entscheidung fast körperlich spüren. Wieso machte er es sich unnötig schwer? Ein Baby zu töten war weit einfacher. Entwickelte er jetzt auch noch eine masochistische Ader? Merkwürdig. Sonst war das Gegenteil eher sein Gebiet.

An der Tür wandte Cain sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf seinen kleinen Bruder, der fest und schützend in den Armen seiner Mutter gehalten wurde.

„Wir sehen uns wieder, Abel.“

Cain zog die Tür hinter sich zu und ging den selben weg hinaus, den er rein gekommen war. Auf dem Weg wurde sein Herzschlag immer schneller, wobei seine Bewegungen und seine Atmung ruhig blieben. Unsichtbare Hände wollten ihn wieder in das Gebäude drücken, das Flüstern war wieder da, nur viel lauter. Es redete auf ihn ein, wollte ihn zurück zwingen, nach oben in dieses Zimmer. Wollte, dass er die Hände an den kleinen, schmalen Hals seines Bruders legte und ein Mal fest zudrückte.

Eiskalte Luft drang in Cains Lungen, als er einatmete. Die Stille vor dem Krankenhaus erschien ihm unerträglich laut. Langsam tat er den ersten Schritt. Dann den zweiten, den dritten. Es war unheimlich schwer, sich von diesem Gebäude zu entfernen. Von seinem Bruder.

Doch er wollte Gegenwehr. Er wollte, dass sein Bruder wusste, was mit ihm passierte, wenn es soweit war.

Wenn es zum unvermeidlichen kam sollte Abel ihm in die Augen blicken können.



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