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Das wahre Spiel

Die Tribute von Panem
von

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Das Marionettenspiel

Ich habe ganz vergessen, meiner Mutter Bescheid zu sagen, aber ich denke, sie hat mein Verschwinden ohnehin nicht bemerkt, sie ist ganz in ihrem Element. Luca und ich setzen uns außerhalb des Messegeländes direkt an den breiten, von zahlreichen Brücken überspannten Fluss, auf dem große, stählerne Dampfer fahren und allerlei Container transportieren – Waren für das Kapitol. Er lächelt entschuldigend, als er zwei Plastikbecher rausholt und mir einen von ihnen reicht.

„Tut mir leid, da ich nicht erwartet habe, Gesellschaft zu bekommen, habe ich leider keine Tassen bei mir.“ Ich lächle ihn an und nehme den Plastikbecher entgegen.

„Schon okay, warum sollte der Kaffee aus einem Becher anders schmecken als aus einer Tasse?“ Wir lachen. Ich genieße das warme Gefühl des Kaffees, der in den dünnen Becher fließt. Er ist schon ein wenig abgekühlt, sodass ich mich nicht verbrenne und die Wärme tut an diesem relativ frischen Herbsttag gut. Als er merkt, dass ich ein wenig friere, legt er mir seine Jacke um. Ich erröte leicht.

„Ist es im Kapitol so viel wärmer als hier? Oder warum bist du so luftig angezogen?“ Er grinst. „Wolltest du dir etwa nen Typen angeln?“ Ich boxe ihn in die Seite.

„Blödsinn!“ Auf einmal stocke ich.

„Woher wusstest du eigentlich, dass ich aus dem Kapitol komme? Ich sehe doch gar nicht so aus.“

„Ach weißt du, alle Leute dort sind aus dem Kapitol. Die Menschen aus unserem Distrikt können es sich nicht leisten die Waren zu besichtigen oder sich einfach einen Tag freizunehmen. Sie präsentieren sie höchstens. Jeder, der also nicht hinter einem Stand sitzt und versucht Leute zu sich zu holen, die seine Produkte kaufen oder bewundern, ist wohl oder übel aus dem Kapitol.“ Ich trinke einen Schluck Kaffee und blicke ihn an. Die Wärme fließt langsam durch meinen Körper und breitet sich wohlig in mir aus.

„Ich dachte immer, in den Distrikten, die näher am Kapitol sind, gehe es den Leuten besser.“, sage ich vorsichtig. Er schüttelt milde den Kopf.

„Was heißt schon besser? Klar, geht es uns nicht so schlecht wie ihnen. Keiner von uns steht kurz vorm Hungertod, wie die Leute in Distrikt 11 oder 12. Aber wir müssen hart arbeiten und zwar für alles. Technik wird im Kapitol immer gebraucht, sie wollen immer mehr, schnellere Computer, bessere Hologramme, um das zu gewährleisten arbeiten wir Tag und Nacht. Klingt das für dich wirklich besser?“ Es wirkt nicht so, als wolle er mir Vorwürfe machen, im Gegenteil, er lächelt. Er ist wie ein Magier der einen Zaubertrick entlarvt, er klagt nicht an, er verspottet nur. Aus irgendeinem Grund fasziniert Luca mich. Er wirkt nicht, als würde er rumjammern, er wirkt nicht einmal bemitleidenswert. Seine Art ist überlegen, so als hätte er das Kapitol bereits durchschaut, als wäre er es, der die Fäden in der Hand hielte, die anderen wüssten es nur noch nicht. Als wäre das sein Spiel…
 

„Hasst du das Kapitol?“ Was für eine überflüssige Frage. Er lacht laut auf. „Natürlich, alle hassen euch. Allerdings ist es fast schon wieder amüsant, nicht wahr? Die Menschen dort laufen rum wie Clowns, bedecken ihre Gesichter so lang, bis sie sich selbst nicht mehr in die Augen sehen müssen, hasten von einer Perversität zur nächsten, ohne darüber nachzudenken…“ Er wird auf einmal ernst. „Ich glaube, diese Menschen sind noch viel mehr Sklave als ich. Wir haben zwar unsere Würde verloren, aber keineswegs unseren Stolz. Ihr aber habt eure Seele verkauft.“ Eine Zeit lang wird es still zwischen uns. Wir brauchen nichts mehr sagen. Ich weiß, dass er Recht hat und er weiß, dass ich es weiß. Ja, es stimmt. Wir sind die wahren Sklaven, die Unterdrückten, denn wir haben unsere Menschlichkeit an die Spiele verloren, wir sind nicht mehr als Marionetten in Snows Spiel. Als wir unseren Kaffee zu Ende getrunken haben, beenden wir auch unser Schweigen. Luca reicht mir seine langfingrige Hand und hilft mir auf. Ein sanfter aber kalter Wind, weht mein Kleid ein wenig hoch und spielt mit meinen langen Haaren. Ich streiche sie mir aus dem Gesicht und blicke ihn an. Ich würde so gerne sagen, dass ich ihn verstehe, dass ich das Kapitol ebenso hasse und dass ich es am liebsten zerstört und sich in Todesangst wimmernd auf dem Boden winden sehen möchte, aber ich bringe nichts dergleichen über meine Lippen, alles was ich sagen kann, bevor er wieder zurück zum Messegelände verschwindet und mich allein lässt, ist: „Ich heiße Olivia.“ Damals ahnte ich noch nicht, wie sehr ich es bereuen würde.
 

Seit diesem Tag ist nun ein Jahr vergangen. Ich habe Luca nicht vergessen, auch wenn ich ihn nicht wiedergesehen habe, im Gegenteil, ich denke oft an ihn und an seine Worte, die sich eingebrannt haben wie ein düsteres Mal und meinen Hass auf das Kapitol geschürt haben. Ich spiele weiterhin die brave Tochter, lache, gebe vor, glücklich und zufrieden zu sein, aber in meinem Herzen brodelt das Chaos, ich hasse diese Welt, ich hasse dieses Spiel und ich will nicht, dass es so weitergeht, ich will es nicht gewinnen, ich will es vernichten, für alle Zeit. Aber das kann ich nicht allein, das weiß ich. Ich bin klug genug, um nicht naiv von Heldentum zu träumen und mich als alleinige Befreierin von Panem zu feiern. Was ich brauche sind Verbündete, auf die ich mich verlassen kann, Menschen wie Luca. Das ist auch der Grund, warum ich meine Mutter angefleht habe, mich dieses Jahr wieder mit auf die Technikmesse zu nehmen. Sie war zunächst überrascht, aber dann ganz begeistert.

„Willst du also doch einen technischen Beruf ergreifen? Ich würde mich so freuen, wenn du Forscherin werden würdest, ich wusste immer, du bist dafür geschaffen!“ Das hatte sie gesagt und mich gedrückt als hätte ich ihr gerade eine besonders frohe Botschaft verkündet. Dabei hatte ich keinerlei Interesse daran, überhaupt irgendeinen Beruf zu ergreifen, das war erst einmal nebensächlich. Alles was zählte war, ihn wiederzufinden. Und ich fand ihn wieder, doch ich hätte nicht gedacht, dass dieser Moment einer der hoffnungslosesten und verzweifeltsten meines Lebens sein würde.
 

„Olivia, kommst du mal bitte?“ Ich folge dem Ruf meines Vaters ins Wohnzimmer. Er sitzt dort auf der Couch und sieht fern, was normalerweise nicht seine Art ist, da er fast immer arbeiten muss. Sein gebrochener Arm entschuldigt das jedoch. Die Technik des Kapitols hat ihn zwar fast vollständig geheilt, da der Bruch aber recht kompliziert ist und die Medikamente eine Belastung für den ganzen Körper sind, soll er sich noch einen Tag schonen. Er lächelt mich an. „Sieh doch ein wenig mit mir fern, ja?“ Widerstrebend setze ich mich zu ihm auf das sterile Sofa und richte meinen Blick auf den Fernseher. Mein Vater wirkt angespannt. Ich weiß, dass er es hasst, nicht arbeiten zu dürfen, weshalb ihn das Herumsitzen wahnsinnig macht. Ich kann nur hoffen, nichts von seinem Groll abzubekommen. Der Fernseher zeigt einen weitflächigen Platz, an dessen Seite große Gebäude aus Stahl und Beton hervorragen. Ich blinzle. Ich kenne den Platz. Ich war dort, ziemlich genau vor einem Jahr. „Und wir haben einen Gewinner.“ Ich spüre, wie mir übel wird. „Bei den diesjährigen Hungerspielen wird Distrikt 3 vertreten von – Luca Cressina!“ Ich hätte mich am liebstenauf den schneeweißen Teppich übergeben, aber stattdessen bringe ich nur ein heiseres Würgen hervor, während die Welt unter einem Tränenschleier und pochenden Kopfschmerzen verschwimmt. Luca? Wie kann das sein? Ich merke, wie ich zu zittern beginne. Es muss ein Fehler sein, ein gottverdammter Fehler, irgendwas muss schiefgelaufen sein. Doch das ist es nicht. Ich schluchze los. Luca war mein letzter Hoffnungsschimmer, ich hatte es gespürt, in seinen Augen, diesen Kampfeswillen, diesen Stolz, den das Kapitol ihm nun auch nehmen würde, so wie sie ihn mir genommen hatten. Alles was bleibt ist mein wummerndes Herz, das mir das Gefühl gibt, ich würde gleich platzen und Blut und Gedärme in alle Richtungen verspritzen. Luca vertritt Distrikt 3 bei den diesjährigen Hungerspielen. Luca wird sterben.



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