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Die Geflügelte Schlange - Aufstieg

* * make love, not war * * - Teil 1
von

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1. Der Überfall

Die Schädeloase lag friedlich in der Abendsonne. Die Karawane hatte die Zelte aufgebaut, am Brunnen waren nur noch einzelne Männer mit der für Oshey typischen schwarzen Augenbemalung dabei, Wasser zu schöpfen. Die Lastkamele waren anscheinend inzwischen versorgt.
 

"Nefut", flüsterte es plötzlich von hinten. Nefut drehte sich zu Terhan um.
 

Terhan zeigte auf ein Lichtsignal, das vom Lager kam, also ließen sich die beiden Unterführer in die Senke hinter der Düne gleiten.
 

Das Lager der Stammeslosen lag in sicherem Abstand von der Oase, die Zelte zwischen einigen Felsen versteckt. Etwa im Zentrum stand das Zelt ihres Anführers, der die anderen Befehlshaber bereits um sich geschart hatte, als Nefut und Terhan eintraten und die Kopftücher abnahmen.
 

"Wir greifen die Karawane heute nacht an", eröffnete Ashan seinen acht Unterführern. "Es gibt nur zehn Wachen, die..."
 

"Von den Reisenden sehen allerdings einige aus, als könnten sie mit Waffen umgehen", warf Terhan ein.
 

Nefut setzte zu einer Ergänzung über die Anzahl der Waffenfähigen an, aber Ashan schnitt ihm das Wort ab: "Du darfst deinen Einwand ausführen, Terhan. Auf wie viele schätzt du die gegnerischen Kräfte insgesamt?"
 

"Etwa zwanzig - im ungünstigsten Falle", antwortete Terhan.
 

"Mein guter Terhan, dann gibt es kein Problem: wir sind doppelt so viele." Und Ashan winkte einem seiner Diener, den Tee einzuschenken.
 

Nefut akzeptierte Ashan als Anführer, aber er respektierte ihn nicht. Natürlich war Ashan nicht von Adel und soweit Nefut wußte, kam er aus keinem der Stämme sondern ursprünglich aus einer der Städte am Nordrand der Wüste. Insbesondere störte Nefut jedoch die gönnerhafte Art, die Ashan gelegentlich seinen Untergebenen gegenüber an den Tag legte, oder wenn er sich wie ein Stammesfürst gab, Tee und Speisen servieren ließ, aber sich im Gegensatz zu einem wahren Fürsten, der aus seinen privaten Mitteln geschöpft hätte, dazu aus dem gemeinsamen Vorrat bediente und so die Großzügigkeit nur vorspielte. Den anderen Unterführern schien es egal zu sein, daß Ashan das Stammesleben nur nachäffte, aber vielleicht wußten sie es einfach nicht besser, denn die meisten waren die Söhne und Enkel anderer Ausgestoßener und hatten in ihrem Leben nie ein Fürstenzelt gesehen.
 

Nefut senkte den Blick auf den goldenen Inhalt seiner Teeschale: edelster Tee, ursprünglich für den Fürsten der Temhaly bestimmt, in feinster Keramik, die auf dem Weg zum Hof von Hannai gewesen war. Aber all das entschädigte nicht für den verlorenen Namen. Doch da es für Nefut keine Möglichkeit zur Rückkehr in sein altes Leben gab, konnte er nur hoffen, in einem der Kämpfe, in die Ashan ihn schickte, zu sterben, um wenigstens durch die Fürsorge für seine Leute und den Gehorsam seinem ungeschätzten Anführer gegenüber doch noch die Gärten der Freude betreten zu dürfen.
 

*
 

Beim Essen legte Ashan seine Angriffspläne dar und wies jedem Unterführer seine Aufgabe zu.
 

Nefut schob bald die Unterrichtung seiner Männer vor und verließ frühzeitig Ashans Zelt. Das eigene Zelt teilte er sich mit seinen vier Leuten, von denen jedoch nur sein Zweiter, Hamarem, sein Vertrauen genoß. Er war wie Nefut selbst etwa dreißig Jahre alt, hatte sich erst vor ein paar Jahren den Stammeslosen angeschlossen und kannte seinen Platz.
 

Hamarem hörte sich Nefuts Zusammenfassung der Pläne Ashans an, dann kaute er ein paar von seinen Zauberkräutern, trat vor das Zelt, nahm Sand in die Rechte und ließ ihn aus seiner auf Augenhöhe gehobenen Faust langsam wieder zu Boden rieseln. Aufmerksam betrachtete er in der Dämmerung den Fall der Körner und sagte dann: "Es wird ein schwerer Kampf, aber erfolgreich für uns."
 

Nefut unterdrückte ein Lächeln. Er kannte nur wenige Menschen, die Hamarem an Kenntnis der Schriften der Weisen und Heiligen übertrafen, unter den Stammeslosen keinen einzigen. Und doch praktizierte Hamarem auch die alten Weissagekünste, die ansonsten unter den Oshey eher verpöhnt waren. Nefut hatte Hamarem gegenüber aus seiner Herkunft keinen Hehl gemacht, aber nie gefragt, ob vielleicht die Neigung zum Schamanismus mit Hamarems Verbannung zu tun hatte. Und Hamarem schwieg über seine eigene Geschichte ebenso zuverlässig wie über das ihm Anvertraute.
 

"Werde ich sterben?" fragte Nefut, als Hamarem sich schon die letzten Sandkörner aus der Hand wischte.
 

Hamarem sah ihn lange aus seinen goldgesprenkelten Augen an. "Unser aller Schicksal erhält durch die heutige Nacht eine Wende, soviel ist sicher, Herr", sagte er dann. "Aber ob das in Eurem Falle der Tod ist kann ich nicht sagen."
 

Nefut nickte. In den verbleibenden Stunden hatte er Gelegenheit, Orem zu opfern und ihn zu bitten, sein Schicksal zu seinem Vorteil zu wenden, denn um den Tod konnte er den Nächtlichen Träumer leider nicht bitten.
 

*
 

Als der Mond seinen höchsten Stand erreicht hatte, bezogen Ashans Männer ihre Positionen rund um die Oase. Nefut und drei andere Unterführer sollten mit ihren Mannschaften die Reisenden gefangen nehmen, die anderen würden mit Ashan selbst gegen die Wächter der Karawane kämpfen.
 

Lautlos schlichen die Stammeslosen zwischen die Zelte der Reisenden, die dunklen Mäntel und Kopftücher ließen sie zu einem Teil der Schatten werden. In Zweier- und Dreiergruppen stellten sie sich an den Zelteingängen auf und warteten auf das verabredete Signal, um gleichzeitig loszuschlagen. Neben Nefut flüsterte Hamarem ein Gebet, er selbst faßte sein Schwertheft fester. Dann spähte er in das Zelt, neben dem sie kauerten.
 

Das durch die Zeltbahnen scheinende Mondlicht und das noch rötlich glimmende Herdfeuer im Innern des Zeltes reichte aus, um zwei schlafende Männer zu erkennen: einer wohl ein Städter, der andere ein weißhaariger Oshey, neben seiner Schlafstatt ein langes Schwert. Egal wie gut dieses Schwert sein mochte, ein weißhaariger Alter wäre Nefut nicht gewachsen. Der Städter hatte zudem seine Waffe offenbar nicht griffbereit, also schickte Nefut seine anderen Männer mit einer Handbewegung ein Zelt weiter. Mit diesen zwei würden Hamarem und er alleine fertigwerden.
 

Das verabredete Fuchsbellen ertönte, Nefut und Hamarem schlichen ins Zelt. Hamarem hielt die Seile zur Fesselung schon bereit, während Nefut sich nach dem Schwert auf dem Boden bückte. Da gellte ein Signalhorn durch die Oase, der Alte sprang viel zu behende auf und wie durch Zauberei hatte er sein Schwert blankgezogen, bevor Nefuts Hände es erreicht hatten.
 

Nefut wich vor dem Schlag hinter eine der Zeltstangen zurück. Wie konnte er den Mann besiegen, ohne Ashans Ware zu beschädigen?
 

Viel zu schnell hatte der alte Mann die Zeltstange umrundet und stieß nach Nefut.
 

Nefut sprang erneut beiseite und hörte die Klinge dicht neben seinem Ohr vorbeizischen. Für einen regelrechten Schwertkampf, in dem er seinen Gegner hätte entwaffnen können, war das Zelt zu niedrig. Aber auch wenn sein eigenes Leben vertan war, konnte er doch nicht zulassen, daß der Mann, der seine lange Klinge auf dem engen Raum sehr geschickt einsetzte, zuerst ihn und dann den bis auf seinen Dolch unbewaffneten Hamarem niedermachte um zu entkommen.
 

Nefut parierte den nächsten Schlag mit dem Schwert in der Scheide und hörte Hamarems Keuchen hinter sich, als dieser mit dem Städter rang. Am Rande seines Gesichtsfeldes nahm Nefut wahr, daß Hamarem seinen Gegner zu Boden geworfen hatte und begann, ihn zu fesseln. Nur mit List hatte Nefut eine Chance, den Weißhaarigen zu überwältigen.
 

In einer spontanen Eingebung riß Nefut das Schwert mit der Linken aus der Scheide und als sein Gegner das eigene Schwert zur Abwehr hob, schlug er mit der Holzscheide kräftig auf dessen Schwerthand. Die Waffe des Anderen fiel herab, Nefut setzte nach und zwang den Weißhaarigen zu Boden. Dessen Gegenwehr erstarb, als Nefut ihn herumrollte, um ihm die Hände auf dem Rücken zu fesseln.
 

Der Städter dagegen hatte es irgendwie geschafft, sich aus dem Strick zu winden, trat Hamarem in den Leib und stürmte aus dem Zelt, während Hamarem zusammenklappte. Doch noch bevor Hamarem sich wieder aufrappelte, ertönte draußen bereits ein Alarmschrei der Stammeslosen, also würde der Flüchtling aufgehalten werden.
 

Endlich zog Nefut seinen noch immer am Boden liegenden Gefangenen hoch und band ihm ein Stoffstück als Augenbinde um den Kopf.
 

Der Weißhaarige, der zuvor so entschlossen gekämpft hatte, ließ das nun widerstandlos mit sich geschehen.
 

Hamarem war inzwischen wieder zu Atem gekommen, also schickte Nefut ihn, den Alten in das vorbereitete Gefangenenzelt in der Wüste zu führen. Während die beiden das Zelt verließen, bückte Nefut sich nach seinem Schwert und der Scheide, die er während des Handgemenges beiseite geworfen hatte, dann griff er nach dem Schwert seines Gegners, den er im Zweikampf besiegt hatte.
 

Trotz der schwachen Beleuchtung konnte Nefut erkennen, daß es sich um eine erstklassige Klinge in sehr gepflegtem Zustand handelte, versehen mit einem Schmiedezeichen, daß Nefut nur allzu vertraut war -  zwei in sich verschlungenen Schlangen. Mit diesem Zeichen hatte sein Vater seine Werkstücke zu kennzeichnen gepflegt.
 

Nefut gelang es, mit der Anspannung des vorhergehenden Kampfes auch die düsteren Gedanken an seine Jugend, die aufsteigen wollten, abzuschütteln. Seit er bei den Stammeslosen war, hatte er selten einen so kenntnisreichen Gegner gehabt. Er nahm das erbeutete Schwert an sich und steckte es zu seinem eigenen in den Gürtel. Als Sieger hatte er es sich verdient, aber Ashan kümmerte sich wenig um Traditionen, wenn es um wertvolle Waffen ging, also achtete Nefut darauf, daß sich durch den Mantel nicht zwei Klingen abzeichneten. Dieses Beutestück ging Ashan nicht das Geringste an. Dann verließ auch Nefut das Zelt und stellte fest, daß der geflohene Städter in der Tat nicht weit gekommen war. Nur wenige Schritte neben der Zeltöffnung lag er in seinem Blute. Für ihn würde es kein Lösegeld mehr geben.
 

Aus dem Nebenzelt traten in diesem Moment zwei von Nefuts Männern, die drei gefesselte Männer herausführten. Mutar hatte eine blutige Nase, aber ansonsten waren beide unverletzt, also schickte Nefut sie mit ihren Gefangenen Hamarem hinterher und riet Mutar, sich seine Nase im Gefangenenlager versorgen zu lassen. Dann machte er sich auf die Suche nach Ashan, um ihm Bericht zu erstatten.
 

*
 

Ashan war mit Terhan und zwei anderen Unterführern, die er wie Nefut als Schreiber einsetzte, im Warenlager der Karawane. Anscheinend hatten sie gerade mit der Verzeichnung der Beute begonnen. Bei Nefuts Eintreten hob Ashan den Blick von einem Schriftstück. Er hatte eine Schnittwunde an der Wange, von der er mit einem Tuch das Blut abtupfte. "Wie ist es dir und deinen Männern ergangen?" fragte er Nefut.
 

Nefut trat näher, begrüßte die anderen kurz und antwortete: "Vier Gefangene und ein toter Städter. Er wollte fliehen und unsere Wachen haben ihn niedergestreckt."
 

"Ist von deinen Leuten jemand verletzt?" wollte Ashan wissen, und tupfte erneut an seiner frischen Wunde.
 

Nefut dachte an Mutars eingeschlagene Nase und schüttelte dann den Kopf. "Nichts Ernstes."
 

"Dann habt ihr Glück gehabt. Die Wächter haben sich heftig gewehrt", und Ashan deutete an seine Wange. "Drei der Karawanen-Wachen sind tot, wir haben nach dem momentanen Stand der Dinge acht Verletzte, einer davon hat seine Hand verloren. Aber immerhin wird es eine ordentliche Menge Lösegeld geben."
 

Also hatte Hamarem wieder einmal Recht gehabt, als er einen schweren Kampf vorhersagte. "Allerdings habe ich Lehan bisher nirgends finden können", bemerkte Nefut dann, als ihm einfiel, daß er nach dem Kampf erst drei seiner Leute gesehen hatte.
 

"Den habe ich ins Gefangenenlager geschickt", meldete sich der Unterführer Farhan zu Wort.
 

"Und dich und Nefut schicke ich in unser Lager zurück, damit ihr euch morgen ausgeruht um die Lösegeldforderungen kümmern könnt", beendete Ashan seine Audienz und wedelte mit der Hand in Richtung Zeltausgang. "Die Briefe werdet ihr wieder von der Kameloase aus schicken."
 

Nefut und Farhan, der wie Nefut mit seinen Leuten die Reisenden überfallen hatte, verneigten sich gehorsam vor ihrem Anführer und verließen das Zelt, um durch die Wüste in das Lager der Stammeslosen zurückzukehren.
 

Auf dem schweigend zurückgelegten Weg über knirschenden Sand und Steine spürte Nefut überdeutlich das zusätzliche Gewicht des zweiten Schwertes in seinem Gürtel. Am nächsten Morgen würden sie im Gefangenenlager die Namen der Gefangenen aufnehmen und die Lösegeldforderungen an deren Verwandten schreiben, in die einen Tagesritt entfernte Kameloase reiten, von dort die Briefe in alle Himmelsrichtungen senden und das Eintreffen der Lösegeldzahlungen abwarten. Erfahrungsgemäß würden sie für etwa zehn Tage Ashans Lager verlassen. Diese Tage würden angenehm und unbeschwert werden. Nefut gestattete sich, seine Gedanken für einen Moment zu Serah schweifen zu lassen, die er in der Kameloase besuchen würde. Sie war ein einfaches Mädchen, aber sie wußte sich zu benehmen und war eine willige Bettgefährtin.
 

"Das war ein sehr erfolgreicher Überfall", sagte Farhan plötzlich. "Allein die Schätze, die die Karawane mit sich führt, sind bemerkenswert."
 

Nefut hatte eigentlich kein großes Interesse, mit Farhan über die Schätze der Karawane zu sprechen, aber gewohnheitsmäßig nickte er und sagte: "Aha."
 

Farhan nahm das als Aufforderung, weiterzusprechen. "Außer den Gewürzen aus dem Süden und Stoffen aus dem Osten gibt es laut der Transportliste noch eine ganze Kamelladung mit Büchern. Die muß ich unbedingt genauer in Augenschein nehmen. Ich hoffe, der Aufenthalt in der Kameloase dauert nicht zu lang. Als Herkunftsangabe stand in der Liste 'Berresh', also sind aller Wahrscheinlichkeit nach unter den Rollen ungewöhnlichere Themen als nur die Schriften der Weisen und Heiligen zu finden."
 

Nefut nickte uninteressiert und fragte sich im Stillen, wie jemand nur so unkritisch versessen auf alle Arten von Büchern sein konnte. Farhan interessierte sich sogar für Herdenkalender der Tashrany und Kräuterbücher der Sertany.
 

Farhan aber erzählte unerschüttert weiter, bis sie endlich das Lager der Stammeslosen erreicht hatten und sich voneinander verabschiedeten, um sich jeder in seinem eigenen Zelt zur Ruhe zu begeben.
 

Auch wenn er sich selbst um seine Bequemlichkeit kümmern mußte, war es Nefut ganz recht, daß seine Leute mit der Bewachung der Gefangenen beauftragt waren und er den Rest dieser Nacht allein im Zelt verbringen konnte. So hatte er die Möglichkeit, die erbeutete Klinge mit der Doppelschlange ohne Zeugen zwischen seinen Habseligkeiten zu verbergen.
 

Dann legte er sich schlafen.
 

* * *
 

2. Auf Abwegen

Hamarem brachte den gefangenen weißhaarigen Oshey zum Gefangenenlager, das sich außerhalb der Sichtweite der Oase und des Banditenlagers in der Wüste befand. Auf dem Weg sprach der Gefangene kein einziges Wort, aber die Art wie er sich bewegte, seine hinter seinem Rücken gefesselten Hände und das, was trotz der Augenbinde im Mondlicht von seinem Gesicht zu sehen war, machten deutlich, daß es sich bei ihm keineswegs um einen alten Mann handelte, sondern eher um einen großgewachsenen Jüngling von vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahren. Der Gefangene war sogar sehr groß, denn obwohl er beim Gehen den Kopf hängen ließ war er größer als Hamarem und schien tatsächlich mindestens ebenso groß zu sein wie Nefut, der die meisten anderen der Banditen überragte.
 

Und die Wirbel der Kräfte um den Gefangenen, der bevorstehende Wandel in ihnen fast greifbar und fremdartig wie ein nordländischer Mantel, paßten nicht zu seiner Stammeskleidung. Hamarem würde dringend mit Nefut über diesen Jungen sprechen müssen.
 

*
 

Von dem Gefangenenlager war bisher erst ein Zelt errichtet. Es war hell erleuchtet und schließlich saßen alle neunundzwanzig Gefangenen entwaffnet, barfuß und nur mit ihren Untergewändern bekleidet dicht beieinander und beklagten flüsternd ihr Geschick. Hamarem stand mit seinen eigenen drei Zeltgenossen sowie sechs anderen Wächtern im Kreis um die Gefangenen, während weitere Männer außen um das Zelt herum postiert waren, um jeden Fluchtversuch zu vereiteln.
 

Kurz nachdem der letzte Gefangene in das Zelt geführt und ihm die Augenbinde abgenommen worden war, kam Ashan mit zwei seiner Leibwächter, ließ seinen Blick mit unverkennbarem Besitzerstolz über die Gefangenen schweifen, baute sich dann vor dem Zelteingang auf und sagte: "Ich bin Ashan, der Anführer eurer Wächter. Wir haben euch gefangen genommen, um Lösegeld für euch zu erhalten. Keiner meiner Männer wird euch auch nur ein Haar krümmen, wenn ihr nicht versucht, zu fliehen. Morgen könnt ihr Briefe an eure Familien schreiben, und sobald das Lösegeld hier eingetroffen ist, seid ihr frei." Dann winkte Ashan seine Leibwächter mit sich hinaus und verschwand wieder.
 

Die fünf Frauen, die mit der Karawane gereist waren, hatten ihre Schleier behalten dürfen, so weit immerhin wahrten die Banditen die Form, aber weder das, noch Ashans Ansprache hatte einen der Gefangenen beruhigt. Nur die vier kleinen Kinder schliefen in den Armen ihrer Mütter oder Großmütter schnell ein.
 

Die Nacht schritt fort und als Hamarems Neugierde über seine Vernunft siegte, kaute er ein paar Blätter des Traumkrautes und versuchte, durch Versenken in das Flackern der Lampenflamme neben sich einen Hinweis auf die kommenden Geschehnisse zu erhalten. Aber alles was er wahrnahm, nachdem sich das leicht bittere Aroma des Traumkrautes verflüchtigt hatte, war der Geschmack von Blut auf der Zunge.
 

Als der Morgen schon dämmerte wagte Hamarem schließlich, den Jungen genauer zu betrachten. Er hatte am Rand der Gefangenengruppe gesessen und sich zum Schlafen auf den Teppichen zusammengerollt. Sein weißes Haar war etwas kürzer als in den meisten Stämmen bei einem Jüngling üblich, sein hübsches, nach Stammesart bemaltes Gesicht noch bartlos. Wie die anderen Gefangenen war er von der Gestalt her unzweifelhaft Oshey, mit einer Hautfarbe wie dunkler Honig. Aber die weißen Augenbrauen und seine hinter den nun geschlossenen Lidern liegenden hellgrauen Augen paßten ebensowenig in das Bild eines Stammesabkömmlings, wie die weißen Haare zu seiner Jugend. Die Unirdischen, die Kinder des Ungenannten, die geflügelten Boten des Nächtlichen Träumers hatten so weiße Haare, waren von so vollkommener Schönheit. Und natürlich die Kinder, die sie mit Sterblichen zeugten. Allerdings hieß es, ihre Augen wären gelb wie die der Falken, nicht steingrau wie die des Gefangenen. Weiße oder hellgraue Augen sollten den Schriften nach die Dämonen Chelems haben.
 

In der Bemalung des Nasenrückens erkannte Hamarem plötzlich die Schlangenlinie der Darashy. War der Jüngling vielleicht die geflügelte Schlange, von der Hamarem seit langem in der vorletzten Nacht nun erstmals wieder geträumt hatte? Bisher hatte Hamarem die geflügelte Schlange stets mit Nefut in Verbindung gebracht, da die Träume aufgehört hatten, als er zu Ashans Bande gestoßen war. Aber eine geflügelte Schlange paßte wohl besser zu einem Darashy unirdischer Herkunft, als zu dem verstoßenen Sohn eines Darashy-Prinzen.
 

*
 

Als die Nacht schließlich vorüber war, kamen die fünf Unterführer, die von Ashan bei diesem Überfall als Schreiber eingesetzt worden waren, in das Gefangenenlager. Unter ihnen war auch Nefut, aber Hamarem bekam zunächst keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Auch war es nicht Nefut, der den jungen Weißhaarigen befragte, sondern der Unterführer Farhan. Immerhin hörte Hamarem den Namen des Jungen: Amemna Darashy. Er war also wirklich ein Angehöriger des Schlangenstammes!
 

Nachdem die Gefangenen die Briefe an ihre Familien diktiert oder selbst geschrieben hatten, organisierte Hamarem als einer der Befehlshaber des Gefangenenlagers die Versorgung der Gefangenen mit Wasser und ihre Verteilung nach Stammeszugehörigkeit in kleinere Zelte. Und er richtete es ein, daß seine Zeltgenossen mit der Bewachung des Darashy-Zeltes beauftragt wurden, um mehr über den jungen Amemna Darashy herauszufinden. Außerdem gelang es ihm, doch noch ungestört mit Nefut zu sprechen. "Ich nehme an, der Weißhaarige hat unirdisches Blut in sich, Herr", begann er vorsichtig. Hamarem kannte Nefut inzwischen zwar recht gut und wußte, daß der ehemalige Prinz sein Leben nach den Geboten der Schriften ausrichtete, aber er hatte keine Vorstellung, wie Nefut auf eine solche Nachricht reagieren würde, denn Unirdische waren in den vergangenen zwei Jahren nie ein Thema gewesen.
 

"Was willst du damit sagen?" Nefut klang eher neugierig als ablehnend.
 

Nefut kannte doch die Schriften! Trotzdem erklärte Hamarem geduldig: "Er ist wahrscheinlich der Abkömmling eines Unirdischen, vielleicht verfügt er auch über einige ihrer besonderen Fähigkeiten. Zumindest ist dieser Amemna Darashy in keinem Falle ein gewöhnlicher Oshey, Herr."
 

"So heißt er also", Nefuts Stimme klang seltsam tonlos, vielleicht weil er selbst einmal zu den Darashy gehört hatte, bevor er von seinem Vater verstoßen worden war.
 

Und wieder hatte Hamarem den leicht salzigen Geschmack von Blut auf der Zunge. "Ihr solltet Ashan zureden, ihn schnellstens freizulassen, Herr", drängte er Nefut.
 

"Das wird er nicht tun."
 

"Aber er sollte es tun, Herr", drängte Hamarem. "Bleibt der Junge hier wird es Mord und Totschlag unter uns geben."
 

*
 

Bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, waren Nefut, Farhan und Tarhan bereits zur Kameloase aufgebrochen, um von dort die Lösegeldforderungen zu den Familien der Gefangenen zu schicken. Soweit Hamarem wußte, hatte Nefut vor seiner Abreise nicht noch einmal mit Ashan über den mutmaßlich unirdischen Gefangenen gesprochen. Mit ungutem Gefühl sah er daher der Entwicklung der nächsten Tage entgegen, auch wenn er noch keine Vorstellung hatte, was passieren würde und nicht wagte, ein drittes Mal Traumkraut zu kauen, bevor er nicht völlig ausgeruht war. Die Kräfte der Unirdischen und ihrer sterblichen Abkömmlinge durfte man jedenfalls nicht unterschätzen.
 

Der erste Tag verging immerhin ruhig. Die insgesamt sieben Darashy waren friedlich und hatten sich anscheinend mit ihrer Gefangennahme abgefunden. Und da der Platz des Gefangenenlagers so gewählt worden war, daß man die nahe Schädeloase nicht sehen konnte, wagte sich auch keiner der Gefangenen hinaus in die Wüste.
 

Hamarem übergab am Nachmittag den Befehl über das Gefangenenlager an Enwar, Doshans Zweiten, dann sah er noch einmal nach seinem Zeltgenossen Mutar, dessen gebrochene Nase und die beginnende Schwellung zwar schon am Vorabend behandelt worden war, dessen Gesicht jedoch jetzt ein ausgedehnter Bluterguß zierte. Der dritte Befehlshaber des Gefangenenlagers, Farhans kahlrasierter Zweiter Derhan, betupfte Mutars Verletztung gerade wieder mit einer Tinktur und versicherte, daß Mutars Augen nicht weiter zuschwellen würden, so daß dieser seine Aufgaben im Gefangenenlager wohl erfüllen konnte.
 

Dann zog sich Hamarem zum Essen in das Befehlshaberzelt zurück, legte sich bald zur Ruhe und schlief nach der durchwachten letzten Nacht schnell ein. So schnell, daß es ihm nicht einmal mehr gelang, seine wirren Gedanken zu menschlichen Abkömmlingen von Unirdischen mit dämonischen Augen zu ordnen.
 

*
 

Hamarem spürte plötzlich, wie eine warme Hand sein Gewand hochschob und sanft aber bestimmt nach seinen Genitalien faßte. Die Hand begann sie zu streicheln und leicht zu kneten und weckte damit erfolgreich Hamarems Begierde. Trotz der Dunkelheit konnte Hamarem einen hellen Haarschopf neben sich erkennen, der dem Besitzer der Hand gehörte, die ihn liebkoste: dort saß der junge Unirdische, Amemna Darashy.
 

Hamarem schlug die Hand des jungen Mannes weg, sprang von seinem Lager auf und stellte fest, daß er, wenn auch äußerst lebhaft, geträumt hatte. Außer dem schlafenden Enwar befand sich niemand in dem Zelt, das den Befehlshabern des Gefangenenlagers als Quartier diente. Enwar drehte sich von einer auf die andere Seite, aber er schlief leise schnarchend weiter.
 

Es war nur ein Traum gewesen, Orem sei Dank, wenn auch ein sehr beunruhigender. Vielleicht hätte er in der vergangenen durchwachten Nacht nicht zwei Mal das Traumkraut zur Versenkung kauen dürften. Seine Lehrer hatten immer davor gewarnt, daß Traumkraut im übermüdeten Zustand leicht unerwünschte Visionen hervorrufen konnte.
 

Hamarem legte sich wieder auf seine Decken und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Vor lauter Erschöpfung schlief er schnell wieder ein.
 

*
 

Ein leises Geräusch neben seinem Ohr ließ Hamarem die Augen wieder öffnen. Neben ihm lag der junge Unirdische, hatte mit einer Hand das eigenen Gewand hochgeschoben und war dabei, sich selbst zu befriedigen, während seine andere Hand wieder nach Hamarems Geschlechtsteil tastete und es mit leichtem Druck zu reiben begann.
 

Schnell rückte Hamarem von ihm weg. "Weg mit dir!" rief er und erwachte von seinem eigenen Schrei - ebenso wie Enwar.
 

"Hamarem, schlaf", ermahnte Enwar ihn flüsternd. "Oder laß mich zumindest schlafen."
 

"Entschuldige bitte", gab Hamarem leise zurück und drehte sich mit dem Gesicht zur Zeltwand. Noch so ein Traum! Wortlos betete er zu Orem, diesen den Wahren Weg verlassenden Traum von ihm zu nehmen und stumm schloß er noch die Rezitation der Lobgesänge für den Nächtlichen Träumer an. Noch bevor er die Hälfte der zwölf Gesänge vollendet hatte, war er wieder eingeschlafen.
 

*
 

Nur noch wenige Stöße, und das verzückende und erleichternde Ende seiner Bemühungen würde erreicht sein. Hamarem schwamm auf einer Welle der Lust, die ihn höher und immer höher trug, bis er plötzlich merkte, daß er beide Hände vor Anspannung in seine Decken gekrallt hatte. Eine dritte, eine fremde Hand führte ihn kundig zum Höhepunkt.
 

Hamarem schlug erschrocken die Augen auf, sah den jungen Unirdischen nackt neben sich, ein schlanker junger Mann, der nun nach Erreichen seines Zieles die Hand von Hamarems Schoß nahm und ihn anlächelte. Der Schock darüber, in dieser Weise von einem anderen Menschen, noch dazu von einem Mann berührt worden zu sein, ließ Hamarem zittern und dieses Zittern ließ ihn tatsächlich erwachen.
 

Niemand saß neben Hamarems Lager, aber sein Samen hatte sich wirklich in sein Untergewand ergossen. Das Zittern wurde stärker und Hamarem zog die Decken fest um sich, um Halt zu haben und wieder zur Ruhe zu kommen.
 

So ging es nicht weiter. Am kommenden Morgen wurde von ihm erwartet, die Oberaufsicht im Gefangenenlager zu führen. Er mußte schlafen, ohne weitere Unterbrechungen durch beunruhigende Träume. Hamarem wollte auch gar nicht weiter über die Ursache oder die Quelle dieser Träume nachdenken, er dachte nur an das einzige ihm bekannte Heilmittel gegen unerwünschte Träume, das einen festen Schlaf garantierte: den Sud aus den Kernen des gelbblühenden Stechapfels. Hamarem verschwendete keinen Gedanken an die Warnungen, die ihm seine Lehrer wie bei jedem pflanzlichen Hilfsmittel der Mantik mit auf den Weg gegeben hatten. Er hatte noch eine kleine, mit einem Bodensatz der bräunlich-roten Flüssigkeit gefüllte Phiole bei seinem Vorrat an Traumkraut, den er mit in das Gefangenenlager genommen hatte. Es war genug, um diese Nacht zu überstehen und nicht so viel, daß er versehentlich eine gefährliche Menge zu sich nahm. Also suchte er leise in seiner Ledertasche nach dem Gefäß, entkorkte es und trank den süßlich-bitteren Inhalt mit einem Schluck.
 

Hamarem hatte gerade noch genug Zeit, es sich wieder auf seinem Lager bequem zu machen, als der Extrakt aus Stechapfelkernen bereits zu wirken begann, das Gefühl der Schwerelosigkeit sich einstellte und schließlich sein Bewußtsein schwand.
 

*
 

Derhan weckte ihn etwas unsanft und nur mühsam konnte Hamarem sich von der Wolle, mit der sein Kopf gestopft zu sein schien, befreien. 'Der Stechapfelsud', erinnerte Hamarem sich. Das Gefühl der Taubheit und der staubtrockene Mund war eine Nachwirkung, die zu erwarten gewesen war, ebenso wie die irritierend matten Erscheinungen der Kräfte. Für einen Moment flackerte die Erinnerung an den Grund für die Einnahme der Droge durch seine Gedanken, aber er konnte sie erfolgreich verdrängen, als Derhan begann: "Hamarem, ich denke, wir haben ein Problem. Du solltest dich darum kümmern."
 

Hamarem trank eine halbe Handvoll Wasser und warf sich den Rest in das Gesicht, um wieder zu Sinnen zu kommen, dann folgte er dem stämmigen Derhan aus dem Zelt, Mantel und Kopftuch noch in der Hand.
 

Auf dem Weg durch das Gefangenenlager erläuterte Derhan kurz die Hintergründe. "Nefut - unser Nefut - bat mich heute, mit deinem Mann Lehan tauschen zu dürfen. Da Lehan einverstanden war, sah ich keinen Grund, Einwände zu erheben. Nefut brachte also das Frühstück in das Zelt der Darashy und hat sich, den Berichten nach, vor dem weißhaarigen Darashy auf die Erde geworfen, die Stirn in den Staub gedrückt und ihm auch sonst in jeder Weise den Göttern vorbehaltene Ehren erwiesen."
 

Der Kleine Nefut, der jüngere Bruder von Derhans Befehlshaber Farhan, war also anscheinend davon überzeugt, es in Amemna Darashy mit einem Unirdischen zu tun zu haben. Das klang allerdings noch nicht nach einem ernsten Problem. Und das sagte Hamarem auch.
 

"Nein, das ist auch nicht das Problem. Aber zwei von Terhans Leuten haben gesehen, wie Nefut auf Knien und rückwärts das Zelt der Darashy verließ und spotteten über seine religiöse Scheu. Tyrimar sprang gleich dazu und schlug einen der Spötter zu Boden. Er hätte wohl auch den anderen verprügelt, wenn ich ihn nicht zur Ordnung gerufen hätte. Aber noch sind die Gemüter aufgewühlt und wir müssen dringend verhindern, daß der Vorfall Ashan berichtet wird. Ansonsten wird Tyrimar seines Lebens nicht mehr froh."
 

Hamarem nickte und versuchte, seinen Verstand zusammenzusammeln. Die Taubheit war einer anderen unerfreulichen Nachwirkung des Stechapfelsuds gewichen - dumpf pochenden Kopfschmerzen.
 

*
 

Im Schatten des Küchenzeltes saßen Tyrimar und der Kleine Nefut mit düsteren Gesichtern den beiden ebenfalls grollenden Männern von Terhan gegenüber. Da Hamarem für das Darashy-Zelt zuständig war, nahm er den Kleinen Nefut und Tyrimar beiseite, während Derhan die beiden anderen wieder zur Vernunft bringen wollte. Zumindest hatte der Vorfall unter den Gefangenen noch nicht die Runde gemacht.
 

Die jungen Männer blickten stumm zu Boden, als Hamarem sie zur Rede stellte. Der Kleine Nefut war kaum dem Kindesalter entwachsen und Tyrimar war nur wenig älter. Soweit Hamarem wußte, sah sich Tyrimar seit der Zeit, als Farhan mit seinem damals noch sehr jungen Bruder zu Ashan gestoßen war, als Beschützer des Jüngeren, so war sein Eingreifen nachvollziehbar, ja eigentlich sogar ehrenwert zu nennen, aber den Umständen natürlich nicht angemessen gewesen. Beide waren schon lang genug in Ashans Bande um zu wissen, daß sie sich bei der Bewachung von Gefangenen keine Prügeleien leisten konnten.
 

Hamarem ließ sich noch einmal den Hergang der Dinge erzählen, der sich aber auch in der Version der Beteiligten nicht von dem unterschied, was Derhan bereits erzählt hatte. "Tyrimar, versuche dich zu beherrschen", redete Hamarem dem älteren Jüngling dann ins Gewissen. "Wenn die Gefangenen den Eindruck bekommen, wir wären uns uneins, wird es schwer für uns, sie noch zu beherrschen. Wir sind nur zwanzig, sie sind fast dreißig." Auch wenn die Kinder und alten Frauen wohl nicht als Bedrohung anzusehen waren.
 

Tyrimar nickte mit zusammengepressten Lippen und zornig zusammengezogenen Brauen. Aber seine aufgewühlten Kräfte zeigten, daß da offenbar noch etwas im argen lag.
 

"Was hast du auf dem Herzen, Tyrimar?" fragte Hamarem darum.
 

"Es ist unrecht, daß wir einen Unirdischen gefangen halten", brach es aus Tyrimar heraus und der Kleine Nefut nickte eifrig.
 

"Ich dachte, du hättest Terhans Mann nur niedergeschlagen, weil er Nefut verspottet hat", erinnerte Hamarem ihn an seine vorherigen Worte.
 

"Das hab ich auch", gab Tyrimar patzig zurück. "Und trotzdem ist es unrecht, den Unirdischen gefangen zu halten. Die Götter werden uns strafen!"
 

"Terhans Männer sind wohl nicht der Ansicht, daß der weißhaarige Oshey unirdisches Blut hat", schlußfolgerte Hamarem aus dem Gehörten.
 

"Das sind Ketzer, Ungläubige..."
 

Der Schreck ließ Hamarems seine Kopfschmerzen vergessen, aber er versuchte, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. "Hüte deine Zunge, Tyrimar", warnte Hamarem den jungen Mann und korrigierte dann die Richtung, die das Gespräch genommen hatte. "Wenn Ashan hinterbracht wird, was hier vorgefallen ist, werden deine Gründe nicht erwogen. Du wirst dafür bestraft werden, daß du einen anderen Wächter angegriffen hast, egal aus welchem Grund das geschah. Wir dürfen den Gefangenen gegenüber nicht uneins erscheinen. Das ist hier und jetzt das allererste Gesetz. Ob Amemna Darashy ein Unirdischer ist oder nicht, ist zweitrangig. Haltet euch bedeckt mit eurer Meinung und geht den Konflikten mit anderen Wächtern aus dem Weg. Habt ihr beide das verstanden?"
 

"Darf ich dem Unirdischen weiterhin seine Mahlzeiten bringen?" fragte der Kleine Nefut leise.
 

Hamarem war hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Kleinen Nefut kräftig durchzuschütteln, um seinen Verstand in Gang zu bringen oder das Gespräch einfach an dieser Stelle abzubrechen, da er offenbar bisher gar nicht richtig zugehört hatte.
 

Tyrimar stieß dem Kleinen Nefut in die Seite. "Hast du's nicht verstanden? Du darfst ihm seine Mahlzeiten nicht wie eine Opfergabe darbringen. Und geh den Leuten von Terhan aus dem Weg, dann ist alles in Ordnung."
 

"Und du achtest ein bißchen auf Nefut", riet Hamarem Tyrimar, der eifrig nickte, dann entließ er die beiden jungen Männer.
 

Wenig später berichtete Derhan, daß das Gespräch mit Terhans Männern zufriedenstellend verlaufen war. So konnte Hamarem hoffen, daß der Vorfall nicht weitergetragen wurde und weitere Vorkommnisse dieser Art unterblieben. Aber da sich das Unheil, das Hamarem unter dem Einfluß des Traumkrautes gespürt hatte, anscheinend an der mutmaßlich unirdischen Natur Amemna Darashys entzünden würde, war es dringend geboten, sich darüber Klarheit zu verschaffen, ob der weißhaarige Junge denn nun Abkömmling eines Unirdischer oder etwas anderes war.
 

*
 

Als Enwar am Nachmittag den Befehl über das Gefangenenlager von Hamarem übernommen hatte, begab Hamarem sich in das Darashy-Zelt, um mit Amemna Darashy zu sprechen.
 

Die beiden gefangenen Frauen der Darashy war gestattet worden, sich einen Teil des Zeltes mit quergespannten Stoffbahnen abzuteilen. Amemna Darashy hatte sein Lager in einer durch diese Abteilung entstandene Ecke eingerichtet und sie vom Rest des Zeltes durch eine aufgehängte Decke abgetrennt.
 

Als Hamarem den provisorischen Vorhang teilte, um an das Lager des Gefangenen zu treten, saß der junge Mann wie ein geprügelter Hund auf seinen Decken, die Schultern hatte er nach vorne sacken lassen und sein Blick war so abwesend, als habe er gerade Traumkraut zu sich genommen, auch wenn der typische beißende Geruch der zerkauten Blätter fehlte. Die Kräfte konnte Hamarem noch immer nicht wieder richtig erkennen, sie wirkten wie fast verflogener Rauch einer längst erloschenen Feuerstelle, aber eine Gefahr ging von dem jungen Mann sicher nicht aus. Vielleicht hatte Hamarem den Geschmack des Blutes in der Traumkrautvision ganz falsch interpretiert.
 

"Amemna Darashy, darf ich mit euch sprechen?" fragte Hamarem höflich.
 

Nach ein paar Augenblicken sah der Gefangene zu Hamarem hoch und der traurige Blick aus den fremdartig hellen Augen schnürten Hamarems Kehle zusammen, als sei er persönlich für den Zustand dieses Gefangenen verantwortlich. "Geht es euch nicht gut?" fragte er leise.
 

"Bitte Herrr, könnt ihrr mirr nicht meine Schrriftrrolle brringen?" entgegnete Amemna Darashy statt einer Antwort mit eigenartig rollendem Zungenschlag. Eine Träne lief über die rechte Wange des jungen Mannes, aber er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen.
 

"Was für eine Schriftrolle?" wollte Hamarem wissen.
 

"Eine Papyrrusrrolle in dunklem Lederr mit Holzgrriffen. Sie hat bei meinem Gepäck gelegen, als ich gefangen genommen wurrde", erklärte Amemna Darashy langsam. Dann warf er sich plötzlich auf die Knie: "Ich bitte euch, Herrr, beschafft mirr die Schrriftrrolle wiederr. Ich habe mich seit meinerr Kindheit nie von ihrr ketrrennt!" Und der junge Mann ließ seinen Tränen freien Lauf, machte sogar Anstalten, sich an Hamarems Knöchel zu klammern, um seiner Bitte noch mehr Dringlichkeit zu verleihen.
 

Hamarem trat beunruhigt einige Schritte zurück, bis er an die Zeltbahnen stieß, die ein weiteres Zurückweichen unmöglich machten. Hier kniete ein verängstigter Junge vor ihm, der nicht um Freiheit, Wasser oder Lebensmittel flehte, sondern dessen einzige Sorge einer Papyrusrolle galt. Und die Bitte wurde mit solcher Inbrunst vorgetragen, daß Hamarem sein Herz nicht davor verschließen konnte. Eine Schriftrolle war kein Schwert und so war nicht zu erwarten, daß sie in den Händen des Jünglings für seine Bewacher eine Gefahr darstellte. Aber wieso war sie ihm so wichtig?
 

Die weißen, fast schulterlangen Haare flossen wie schwere Seide über das Gesicht des jungen Gefangenen, als er den Kopf weinend und anscheinend resignierend senkte, da Hamarem mit einer Antwort zögerte. Dieser Ausdruck der Hoffnungslosigkeit, als hätten die Dämonen Chelems ihm das Herz aus der Brust geschnitten um einen der ihren aus ihm zu machen, gab den Ausschlag für Hamarem. "Ich werde sehen, was ich tun kann", hörte Hamarem sich überrascht ein Versprechen geben. Was war nur in ihn gefahren? Aber nun konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Hamarem verließ das Gefangenenzelt ohne ein weiteres Wort, entschuldigte seine Abwesenheit bei Enwar und machte sich auf den Weg zur Schädeloase, um für einen Gefangenen eine Schriftrolle zu stehlen.
 

*
 

Erst als die Oase schon in Sichtweite kam, wurde Hamarem bewußt, daß das Lager der Karawane vielleicht von den damit beauftragten Männern bereits abgebaut, zumindest aber alle Besitztümer der Reisenden verzeichnet worden waren, damit dem Schatz der Banditen auch nicht der kleinste Goldring entging. Hamarem konnte nur hoffen, daß die Schriftrolle nicht so aufwendig verziert war, daß sie als Wertgegenstand angesehen werden konnte. Im Näherkommen stellte er zumindest beruhigt fest, daß die meisten Zelte noch standen und kein Wächter zu sehen war.
 

Hamarem schlich im Schutze der bereits lang werdenden Schatten näher. So gelangte er bis zu einem freien Platz um eine Palmengruppe, zu dem sich fünf Zelte öffneten. Eines davon war jenes, welches Hamarem in der vorletzten Nacht gemeinsam mit Nefut betreten hatte. Dann erst entdeckte er einen von Ashans Männern, der im Schatten der Bäume auf dem Boden saß und mit seinem Messer offensichtlich gelangweilt eine Frucht in schmale Schnitze teilte. Außer dem schmatzenden Kauen des Mannes war nur das Zirpen der Heuschrecken und das leise Rascheln der Palmblätter zu hören, und Hamarem erinnerte sich daran, daß nach den Überfällen für gewöhnlich zunächst die erbeuteten Pferde und Kamele, für die die Banditen keine Verwendung hatten, auf dem nächsten Viehmarkt verkauft wurden. So hatte er vielleicht doch einen günstigen Moment gewählt, um nach der Schriftrolle zu suchen, wenn er denn ungesehen das Zelt erreichte, in dem Amemna Darashy vor zwei Nächten geschlafen hatte.
 

Der Mann saß mit dem Rücken zum Eingang des ehemaligen Zeltes von Amemna Darashy und Hamarem gelang es, sich auf dem festen Sand der Oase fast lautlos zu bewegen. So konnte er das Zelt unbemerkt betreten und fand alles unverändert vor. Anscheinend war das Gepäck der Reisenden noch nicht auf Wertsachen durchsucht worden. Und wirklich, neben dem Lager auf dem der weißhaarige Jüngling genächtigt hatte, lagen zwei lederne Satteltaschen und auf ihnen eine gerade einmal spannenlange Schriftrolle, etwa eine halbe Spanne dick, wie von dem Gefangenen beschrieben in einer Hülle aus dunklem Leder und mit je zwei Holzknäufen an den beiden Stäben. Um sicher zu gehen, daß in der Schriftrolle nicht eine Waffe verborgen war und auch aus Neugierde, was an der Rolle wohl lebenswichtig sein mochte, untersuchte Hamarem sie mit so starkem Herzklopfen, daß er meinte, Ashans Mann müßte bei dem Lärm gleich ins Zelt gelaufen kommen.
 

Der untere Knauf des inneren Stabes ließ sich abschrauben und öffnen - und enthielt ganz gewöhnliche Tinte. Um den oberen Knauf war ein langes rötlich-blondes Haar geknotet, eine Haarfarbe, wie sie einige Ostler hatten. Hamarem löste die Bänder der Lederhülle. Eine gewöhnliche Schreibfeder steckte darin, und die Rolle selbst war vom Anfang bis etwa zu einem Viertel in vielen Kolumnen einer wie gemalt wirkenden Schrift sauber beschrieben. Niemals zuvor hatte Hamarem solche Schriftzeichen gesehen und die Schrift der Nordstädte und der Stämme oder die Ostlerschrift hätte er zweifelsfrei erkannt. Nachdenklich rollte Hamarem die Papyrusrolle wieder zusammen und schloß die lederne Hülle darum. Dann steckte er sie in seinen Gürtel.
 

Es begann bereits zu dämmern, aber der einsame Wächter hatte noch kein Feuer entzündet. Also schlich Hamarem ebenso leise, wie er hineingekommen war, wieder aus dem Zelt und auf die dem Gefangenenlager zugewandte Seite der Oase. Im Dunkeln machte er sich auf den Weg, die ersten Sterne als einziger Wegweiser bis zu dem Punkt, wo hinter den zahlreichen Dünen endlich die Lichter des Gefangenenlagers zu sehen sein würden.
 

Auf dem Weg versuchte Hamarem, sich an jedes Schriftsystem, das er während seiner Ausbildungszeit kennengelernt hatte, zu erinnern, aber nichts davon glich auch nur im entferntesten jenen bilderartigen Schriftzeichen, mit denen die Schriftrolle in seinem Gürtel gefüllt war. Und wieso hatte er sich nur darauf eingelassen, einen Diebstahl an der Bande zu begehen um einem Gefangenen einen Gefallen zu tun? War er durch den Stechapfelsud, dessen Nachwirkungen sich inzwischen erfreulicherweise verflüchtigt hatten, noch so benebelt gewesen? Hatten die Träume der vergangenen Nacht ihn empfänglich für Amemna Darashys Bitten gemacht? Sie fühlten sich nicht nach prophetischen Träumen an, aber sie waren auch viel zu lebhaft für gewöhnliche Träume gewesen. Konnte es tatsächlich allein das Traumkraut sein, das sie verursacht hatte?
 

War der Gefangene etwa doch ein Dämon und hatte die Träume geschickt? Das hieße aber doch auch, daß Amemna Darashys Verzweiflung nur die Verstellung eines verschlagenen Geistes gewesen war. Das konnte Hamarem nicht glauben! Auch wenn die dämonenhellen Augen des jungen Mannes beunruhigend waren, das ungewöhnlich bewegte Muster der Kräfte um den Gefangenen hatte keine Gefahr für Hamarem verheißen. Und wie hätte ihm der Junge so schnell sympathisch werden können, wenn er tatsächlich ein böser Dämon war? Vielleicht hatte Hamarem ja bei der Übergabe der Schriftrolle Gelegenheit, in Ruhe mit Amemna Darashy zu reden um sich endlich Klarheit zu verschaffen.
 

Schon kurz nachdem Hamarem das Gefangenenlager erreicht hatte, stellte sich allerdings die zu erwarten gewesene Erschöpfung ein, da die Betäubung durch Stechapfelsud nun einmal kein erholsamer Schlaf war. So verzichtete Hamarem darauf, an diesem Abend Amemna Darashy aufzusuchen, um ihn zu sprechen oder auch nur die Schriftrolle zu übergeben. Noch bevor Enwar seine Befehlsgewalt an Derhan abgab, legte Hamarem sich auf sein Lager und schlief fast sofort ein.
 

*
 

Leise Stimmen, die Nennung seines Namens, weckten Hamarem. Enwar unterhielt sich mit Tyrimar über den Vorfall am Morgen. Hamarem versuchte, einfach wieder einzuschlafen, aber er konnte nicht umhin, dem Gespräch zuzuhören.
 

"Ashan muß den Unirdischen freilassen", beharrte Tyrimar flüsternd. "Uns allen droht die Verdammnis, wenn wir ihn weiterhin gefangen halten."
 

Woher wollte dieser grüne Junge so sicher wissen, daß es sich bei Amemna Darashy um einen Unirdischen handelte, wenn sich Hamarem trotz seiner Vorbildung nicht einmal sicher war, ob der junge Mann ein Abkömmling der Unirdischen oder ein Dämon war.
 

"Aber Ashan hat kein Verhältnis zu den göttlichen Dingen. Er sieht die Welt nicht mit unseren Augen", flüsterte Enwar zurück.
 

"Dann müssen wir dafür sorgen, daß er die Welt mit unseren Augen sieht!" fuhr Tyrimar auf.
 

"Hüte deine Zunge, Tyrimar", zischte Enwar ihn an. "Du solltest soetwas noch nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen, wenn du nicht als Verräter dein Leben verlieren willst."
 

Tyrimar nuschelte etwas für Hamarem Unverständliches.
 

"Ich kann Doshan bitten, einmal mit Ashan darüber zu sprechen", antwortete Enwar nun etwas versöhnlicher.
 

"Bist du denn etwa mit der Situation zufrieden, Enwar?" fragte Tyrimar daraufhin.
 

Hamarem hörte Enwars Antwort nicht, nur das leise Rascheln von Stoff, als Enwar und Tyrimar sich erhoben und das Zelt verließen.
 

Hamarem schlief bald wieder ein und erwachte am frühen Morgen erholt und ohne von beunruhigenden Träumen heimgesucht worden zu sein. Wie es sich ergab, fand er bis zu dem Zeitpunkt, an dem Enwar ihn als Befehlshaber des Gefangenenlagers ablöste jedoch keine Gelegenheit, das Darashy-Zelt aufzusuchen.
 

Als Hamarem am Nachmittag dann gut gelaunt Amemna Darashy aufsuchte, bot sich ihm das gleiche Bild des Elends wie den Tag zuvor - bis zu dem Augenblick, als Hamarem die Schriftrolle aus dem Gürtel zog und sie dem Gefangenen zeigte.
 

Als würden zentnerschwere Lasten von seinen Schultern genommen hellte sich das schöne Gesicht des Jungen plötzlich auf, die zuvor matten Kräfte um ihn erstrahlten, und er warf sich vor Hamarem auf die Knie. "Ich danke Euch, Herrr!" rief er aus. Dann sprang er auf, und bevor es sich Hamarem versah, umarmte Amemna Darashy ihn herzlich und drückte ihm einen Kuß auf die Schläfe.
 

Hamarem stieß den groß gewachsenen Jungen weg und stolperte zurück. Sein erster Impuls war, nach dem Dolch in seinem Gürtel zu fassen, um sicherzustellen, daß der Gefangene ihn nicht an sich genommen hatte, dann erst wurde er sich der beunruhigend erregenden Wirkung der spontanen Umarmung bewußt. Erinnerungsfetzen aus den Träumen der vorvergangenen Nacht drängten sich ungefragt in sein Bewußtsein und Hamarem spürte, wie er errötete. Nie zuvor hatte er so auf die Umarmung oder den Freundschaftskuß eines Jungen oder Mannes reagiert.
 

Hamarem atmete ein paar Mal tief ein und aus, um wieder zur Ruhe zu kommen, während der Gefangene noch so wie er hingestürzt war auf seinem Lager saß und etwas verschreckt zu Hamarem hochsah, die Papyrusrolle unbeachtet vor seinen Füßen. "Entschuldigt bitte, Herrr, aberr ich konnte meine Frreude einfach nicht im Zaum halten", sagte der Junge nach einigen Augenblicken der Stille schließlich.
 

"Es ist nichts", behauptete Hamarem und wandte sich entgegen seiner Vorsätze, eine Unterredung über die mutmaßlich unirdische Natur des Gefangenen zu führen, zum Gehen.
 

Hamarems Herz pochte noch immer vor Aufregung, als er das Darashy-Zelt schon hinter sich gelassen hatte. War die Ursache der Träume weder das Traumkraut noch der junge Mann, sondern lag sie in ihm selbst? Aber wieso das? Was war an diesem Jungen so viel anders, als zum Beispiel am Kleinen Nefut, der ein ebenso bartloses und wirklich hübsches Gesicht mit einem bezauberndes Lächeln hatte.
 

Und was war, wenn die Träume in dieser Nacht wiederkamen, wo er keinen Stechapfelsud mehr hatte? Nicht das es sich empfahl, diese Droge gewohnheitsmäßig zu sich zu nehmen, aber es machte Hamarem unruhig zu wissen, daß er in dieser Nacht keine Möglichkeit hatte, die Träume zu unterbinden, falls sie ihn heimsuchen würden.
 

Es gab allerdings bei den Felsen, zwischen denen das Banditenlager lag, einige Stechapfelstauden. Da sie bereits früh im Jahr fruchteten, konnte es schon jetzt, Anfang Sommer, verwertbare Früchte des gelbblühenden Stechapfels geben. Er würde den Sud nicht so herstellen können, wie es die Kräuterkundigen des Oremheiligtums gemacht hatten, die die Kerne zerkleinerten, sie aufkochten und wochenlang stehenließen, bis das fermentierte Gebräu gefiltert und in ungefährlichen Mengen in kleine Phiolen abgefüllt wurde. Aber er konnte es versuchen.
 

Wieder entschuldigte er seine Abwesenheit bei Enwar, suchte und fand an den betäubend duftenden Stauden fünfzehn fast reife Stechapfelkapseln, und nahm nur die Kerne mit zurück ins Gefangenenlager. Er wollte sich im Küchenzelt ein tönernes Kochgefäß besorgen.
 

Die vier Männer, die im Küchenzelt für die Gefangenen die Mahlzeiten bereiteten, damit diese weder über Feuer noch Kochmesser verfügten, unterhielten sich leise, als Hamarem sich näherte. "Und er ist ein Unirdischer!" trumpfte einer hörbar auf, doch als Hamarem eintrat, erstarben die Gespräche plötzlich und alle waren mit hochwichtigen Angelegenheiten beschäftigt, um seinen fragenden Blicken auszuweichen.
 

Ohne weiteres händigte Mutar dem Zweiten seines Anführers den Topf und einen passenden Deckel aus, Hamarem nahm sie mit in das Befehlshaberzelt, zermahlte die Kerne grob zwischen zwei Steinen und kochte sie mit Wasser auf, dann verschloß er den Topf und grub ihn, noch heiß, neben seinem Lager halb in den Sand ein. Vielleicht hatte der Sud ja doch noch die Gelegenheit, in aller Ruhe zu reifen.
 

*
 

Nach der schweigend gegessenen Nachtmahlzeit fragte Enwar Hamarem: "Was hältst Du von dem weißhaarigen Darashy? Ist er wirklich ein Unirdischer?"
 

Es war immer wieder vorgekommen, daß Männer aus Ashans Bande Hamarem um Rat zu den Geboten der Weisen und Heiligen gebeten hatten, oder mit Fragen zu den Opferriten zu ihm kamen. Da er in den die Schriften und den Wahren Weg betreffenden Dingen als Autorität galt, auch wenn keiner seine Vergangenheit kannte, mußte früher oder später jemand mit der Frage nach der unirdischen Natur Amemna Darashys zu ihm kommen.
 

Hamarem versuchte, Klarheit über seine bisherigen Vermutungen zu erlangen. Das Aussehen des Jungen entsprach in den meisten Punkten dem, was über die Abkömmlinge der Unirdischen aus ihren Verbindungen mit Menschen berichtet wurde. Außerdem hatte er ein freundliches Wesen, was gegen eine Dämonennatur sprach. Die beängstigenden Träume und deren beunruhigend erregende Wirkung auf Hamarem sprachen nach einigen Überlieferungen sogar eindeutig für eine unirdische Natur. Hieß es nicht, die göttlichen Boten hätten in alter Zeit mit ihrem Duft Menschen verführt? Wie anders wäre es zur Geburt von Kindern mit einem unirdischen Erbteil gekommen? Vielleicht litt Hamarem durch seine gelegentliche Nähe zu dem Gefangenen einfach unter den Nebenwirkungen von dessen unirdischer Natur. Es hieß doch, daß ein Traum von ihnen in alter Zeit ausgereicht habe, damit ein Jahr später ein Kind geboren wurde. Allerdings hatte Hamarem keinen besondere Geruch an Amemna feststellen können. Vielleicht war die Bezeichnung 'Duft der Unirdischen' einfach ein Versuch der Alten gewesen, einen unsichtbaren Einfluß zu beschreiben.
 

"Ja, ich denke, er könnte von unirdischem Blut sein", faßte Hamarem seine Überlegungen schließlich für den geduldig schweigenden Enwar zusammen.
 

"Aha", entgegnete Enwar nun, schien zu überlegen, ob er noch weitere Fragen stellen sollte, aber verzichtete dann darauf, erhob sich, wünschte Hamarem eine gute Nacht und verließ das Zelt.
 

*
 

Kurz nachdem Hamarem eingeschlafen war, wurde er von einer wispernden Stimme geweckt: "Herrr", flüsterte Amemna Darashy dicht neben Hamarems Ohr. "Bitte entschuldigt meine Aufdrringlichkeit."
 

Hamarem wollte fragen, wie es dem Gefangenen gelungen war, aus dem bewachten Zelt durch das ganze Gefangenenlager bis in das Zelt der Befehlshaber zu schleichen, aber die Worte erstarben auf seiner Zunge, denn Amemna hatte angefangen, sich zu entkleiden.
 

"Was tut ihr da?" fragte Hamarem erschrocken.
 

Amemna lächelte nur, zog die Arme aus den langen Ärmeln, streifte elegant das Untergewand über den Kopf und setzte sich nackt auf die Seite von Hamarems Lager. Er war wirklich schön, mußte Hamarem sich eingestehen. Amemnas junger Körper war wohlgestaltet und in harmonischer Weise muskulös. Die dunkle Hautfarbe der Oshey stand in starkem aber ansprechendem Kontrast zu seinen weißen Haaren und Augenbrauen, und bei der schwachen Beleuchtung des Zeltes wirkten die Augen durch die großen Pupillen lange nicht so beunruhigend hell wie tagsüber.
 

Hamarem wartete, vor Faszination und Furcht wie gelähmt, was nun weiter geschehen würde. Enwar mußte doch bald von Derhan abgelöst werden und sich zur Ruhe begeben. Was würde passieren, wenn er den Unirdischen hier nackt neben Hamarem fand?
 

Amemna beugte sich vor und küßte Hamarem sanft auf die Lippen. Der Kuß war aufwühlend und erregend, auch wenn Hamarem versuchte, diese Erregung zurückzudrängen. Die Schriften klärten ausdrücklich, welche Beziehungen Männer nicht miteinander eingehen durften.
 

Dann schlug Amemna die Decke zurück und griff nach dem Saum von Hamarems Untergewand. Hamarem versuchte, Amemnas Hand festzuhalten, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern, aber Amemna drückte Hamarems Hand so federleicht beiseite, als hätte Hamarem gar keine Kraft in den Armen. Dann schob er das Untergewand nach oben, entblößte Hamarems Scham und streichelte seine Geschlechtsteile.
 

Der Schauer der Erregung, der Hamarem durchfuhr, raubte ihm fast die Besinnung. Willenlos ließ er seine Hände, mit denen er Amemna gerade eben noch hatte wegdrücken wollen, sinken. Und Amemna begann, Hamarems Genitalien in einer Weise zu liebkosen, die Hamarem in den Wahnsinn zu treiben schien, bis ihn plötzlich eine Welle der Übelkeit mit sich wegriß und er in seinem eigenen Erbrochenen erwachte.
 

Hamarem hatte keine Kraft, sich zu erheben, konnte nur mühsam die letzten Brocken seiner Nachtmahlzeit ausspucken und die Nase freischnauben. Er rollte sich von seinem Lager und versuchte, sich aus der neuen Position aufzurichten. Warum half Amemna ihm nicht auf die Beine? Warum schwirrten feurige Motten um das Kochfeuer, neben dem er gelandet war?
 

Jemand zog ihn hoch, setzte ihn auf, aber Hamarem nur erkennen, daß er ein bärtiges Kinn hatte. Also konnten es weder Amemna noch der Kleine Nefut sein. "Was ist passiert?" fragte eine Stimme drängend, die Hamarem bekannt vorkam, die er allerdings nicht einordnen konnte. Er wollte antworten, aber allein Atem zu holen, um zu sprechen, war fast unmöglich.
 

"Ich habe ihn so gefunden, als ich mich zur Ruhe begeben wollte", sagte eine andere Männerstimme nun.
 

"Sieht nach einer Vergiftung aus, Enwar. Was hat er gegessen?"
 

"Das selbe, wie ich auch. Hier ist noch ein Rest im Topf."
 

Irgendjemand wischte Hamarems Gesicht ab, sah ihm in die Augen. "Hamarem, was hast du zu dir genommen? Hat einer der Gefangenen dir etwas zu essen gegeben?"
 

"Nein", bekam Hamarem keuchend heraus. Seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, das Luftholen wurde von Atemzug zu Atemzug schwerer. Und da er außer Lichtblitzen nicht viel erkennen konnte, schloß er die Augen.
 

"Was ist das für ein Geruch, Hamarem? Hast du Kräuter gesammelt?"
 

"Stechapfelkerne", brachte Hamarem mühsam hervor.
 

"Tyrima hilf!" rief der andere aus. "Du solltest es besser wissen, als den Topf gerade neben deiner Schlafstatt zu lagern." Dann pustete jemand mehrfach Luft zwischen Hamarems Lippen, das Atmen fiel wieder etwas leichter, doch dann verschwamm sein Bewußtsein.
 

* * *
 

3. Nächtliche Gedanken

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

3. Nächtliche Gedanken (jugendfrei)

Überrascht registrierte Nefut den Anstieg einer gewissen freudigen Erregung, als er von ferne die umfangreichen Kamelherden an den Tränken sah, die dieser Oase ihren Namen gegeben hatten. Wie üblich suchten Ashans Männer nach dem mehr als einen Tag dauernden Weg die östliche Karavanserei der Kameloase auf, zahlten ein paar Tar für die Besorgung der Briefe und mieteten sich ein Zimmer in dem um einige Innenhöfe gebauten, weiß gekalkten Gebäude.
 

Durch Ashans Geschäfte in den letzten Jahren waren sie schon als gut zahlende Gäste bekannt, der Wirt brachte ihnen persönlich Wasser, Brot und frisches Obst und geleitete sie in den Raum, in dem sie gewöhnlich wohnten, wenn sie die Lösegelder eintrieben. Seit Nefuts letztem Besuch in der Kameloase waren die Wände offensichtlich frisch gestrichen, denn von den Lehmziegeln der Mauern war unter dem Anstrich aus weißen, roten und braunen Farbflächen, der an die geometrischen Stammesmuster erinnerte, diesmal nichts zu sehen. Auch auf den vier Liegen lagen frische Strohmatratzen, außerdem einige Decken und Kissen in Osheymachart. Sie standen an den gewohnten Plätzen, so daß Nefut seine Taschen gleich auf seinen bevorzugten Schlafplatz nahe dem Fenster legte. Einen Moment überlegte er, ob sein Wunsch nach einer vernünftigen Mahlzeit stärker war als der nach einem Treffen mit Serah, aber er würde ja noch einige Nächte in der Kameloase verbringen. "Laßt uns etwas essen", schlug er daher vor.
 

Farhan seufzte. "Ich habe meinem Bruder gegenüber jedes Mal ein schlechtes Gewissen wenn ich hier schlemme während er..." Farhan mußte gar nicht weitersprechen, damit die anderen ihn verstanden. Auch sie mußten sich ja in Ashans Diensten gewöhnlich mit den aus Trockenfrüchten hergestellten Mahlzeiten begnügen, ohne frisches Fleisch, ohne frisches Obst oder Gemüse, außer wenn überraschenderweise in einer Karawane einmal Lebensmittel dieser Art erbeutet werden konnten. Solche Beutestücke wurde jedoch von Ashan einbehalten und nur von seinem Koch verarbeitet. Die Unterführer und Schreiber wurden zwar eher zu einer Mahlzeit geladen, als die gewöhnlichen Gefolgsleute, zu denen Farhans Bruder Nefut gehörte, aber abgesehen von Ashans Günstlingen wie Terhan kamen nur wenige wirklich oft in den Genuß.
 

"Dann bring deinem kleinen Bruder etwas mit, wenn wir heimreisen", schlug Terhan vor. "Jetzt laß uns essen gehen, ich habe auch Hunger."
 

*
 

Nachdem sie den Abend ihrer Ankunft mit einem ausgedehnten Mahl verbracht hatten, für das sie fast die Hälfte ihrer vorhandenen Mittel ausgeben mußten, schliefen sie am nächsten Tag lange. Nefut erwachte erst kurz vor dem Mittag, aber dennoch vor Farhan und Terhan, und nutzte die Gelegenheit, in Gesellschaft seiner schnarchenden Mitschreiber das Schwert des jugendlichen Darashy ungestört zu betrachten.
 

Im Sonnenlicht das durch das Fenster zum Innenhof schien erkannte Nefut, daß der schwarze Lack am schmucklosen Heft durch häufigen Gebrauch schon so dünn war, daß die Holzmaserung hindurchschimmerte. Selbst konnte der junge Mann wohl noch nicht für diesen Verschleiß der Lackierung gesorgt haben, es war also ein Erbstück. Nefut zog das Schwert blank und betrachtete das Schmiedezeichen aus zwei ineinander verschlungenen Schlangen, dann das eigentümliche, fast wie Schuppen wirkende Muster, das sich durch den Schmiedeprozess aus weichem Eisen und hartem Stahl über die ganze Länge der Klinge zog. Nefut kam dieses spezielle Muster bekannt vor. Er vermutete, daß er dieses Schwert schon einmal als Jüngling gesehen hatte, vielleicht während sein Vater es schmiedete. Immerhin war er eine kurze Weile sein Lehrling gewesen. Doch dann mußte Nefut unwillkührlich daran denken, was seine Zeit als Schmiedelehrling beendet hatte, und er verbot sich, die Gedanken weiter schweifen zu lassen. Er verstaute das Schwert wieder in seinem Gepäck, schwang sich durch das Fenster in den Innenhof und machte seine morgendlichen Waffenübungen. Danach wusch er sich und stutzte seinen Bart und kehrte in das Zimmer zurück, wo Terhan und Farhan noch immer schliefen. Also begann er, zum Zeitvertreib in den Schriften zu lesen.
 

Wenig später erwachte Terhan und dann auch Farhan und es war nicht mehr ans Lesen zu denken. Unentwegt plapperte der Farhan, erzählte, daß er mit seinem Anteil an diesem Überfall nun endlich Ashans Bande verlassen könne, um sich mit seinem Bruder in einer Oase niederzulassen, sich eine hübsche Frau zu suchen und als Schreiber und Schriftgelehrter zu arbeiten.
 

Terhan schüttelte dazu nur grinsend seinen Kopf. "Du wirst dich langweilen", prophezeihte er dem jungen Mann.
 

"Aber nein. Ich freue mich schon darauf, nie wieder ein Schwert, sondern allenfalls ein Federmesser zur Hand nehmen zu müssen", erklärte Farhan. "Und ich werde die Kindern der Bauern unterrichten und ihnen den Wahren Weg näher bringen können."
 

Terhan wünschte sich natürlich keine andere Zukunft als ein Leben bei den Stammeslosen, denn er stand wie kein anderer der Unterführer in Ashans Gunst. Es galt als sicher, daß er einmal die Führung über die Stammeslosen übernehmen würde, wenn Ashan sein Amt niederlegte. Und für Nefut gab es keine andere Zukunft, als in Ashans Diensten zu sterben. Er konnte nur versuchen, bis dahin die wenigen Annehmlichkeiten die sich ihm boten zu genießen. Also entschuldigte Nefut sich und ging, um Serah einen Besuch abzustatten.
 

*
 

Serah war noch mit ihrem Tagwerk als Tochter eines Gemüsebauern beschäftigt. Nefut packte mit an und genoß die Arbeit fast so sehr wie seine Waffenübungen. Es war sehr entspannend, sich in ihrer Gegenwart einfach nur als Mann zu fühlen, nicht als verstoßener Prinz, oder Stammesloser, oder verantwortlicher Unterführer. Serah wußte natürlich, daß Nefut in der Oase gewöhnlich auf Lösegeldzahlungen für gefangene Reisende und kostbare Waren wartete, aber sie bestärkte ihren Vater erfolgreich in der Meinung, daß Nefut ein reicher Müßiggänger sei, den es eben gelegentlich in die Kameloase verschlug, vor allem da Nefut ihr jedes Mal ein Schmuckstück oder etwas Geld aus seinem Anteil der Beute mitbrachte um sich ihre Freundlichkeit zu erhalten.
 

Am Abend bereitete Serah ihm ein wunderbar heißes Bad in einem großen Holzbottich. Sie half Nefut, sich zu entkleiden, begleitete den Weg ihrer Hände über seinen Körper mit Küssen auf seine Brust und seinen Rücken, streichelte sehr begehrlich auch sein Gesäß, so daß er endlich auf ihre Liebkosungen einging, sie ebenfalls küßte und in das Badewasser stieg.
 

"Laß mich dich waschen", flüsterte sie neben seinem Ohr, strich mit ihren Fingern zärtlich durch sein Brusthaar, und Nefut ließ es sich gefallen, daß ihre sanften Hände trotz der Entspannung durch das heiße Wasser lüsterne Hitze in seinen Adern weckten. Nefut merkte, wie die Göttin nach ihm griff und er konnte kaum an sich halten, Serah nicht einfach zu sich in den Bottich zu ziehen, um sich Befriedigung zu verschaffen. Aber Serah erkannte wohl, wie es um ihn stand, denn schließlich hielt sie inne und reichte ihm die Hand, damit er aus dem Wasser steigen konnte. Mit wenigen Handgriffen entkleidetet sie sich und zog ihn mit sich auf eine Liege in die Ecke des Raumes.
 

Unvermutet knarrte das Holz der Liege und Nefut wünschte sich für einen Moment das direkt auf dem Erdboden bereitete Deckenlager einer Osheyfrau. Aber immerhin war Serah jung und hübsch, und angesichts ihrer honigfarbenen Haut und der schwarzen Haare konnte Nefut sich sogar der Illusion hingeben, sie sei eine Oshey, auch wenn sie sich ihre Augenlider natürlich nicht mit der Schwarzen Tinte schminkte. Begleitet von einem Kuß, der aus der momentanen Gier, sie mit allen Sinnen zu spüren, geboren war, nahm Nefut endlich die Frau und pflichtbewußt liebkoste er danach Serahs Schoß mit der Hand, bis auch sie endlich die Göttin erkannte.
 

Als Serah sich in seinem Arm entspannte, schloß Nefut zufrieden die Augen, genoß die Schwere seiner Glieder, die Erschöpfung nach der körperlichen Betätigung. Er duldete auch, daß sie sich an ihn schmiegte, ihre Küsse an seinen Hals und sein Kinn, begann sogar schließlich, ihr langes Haar zu kraulen. "Nefut", flüsterte sie plötzlich, "wieso nimmst du diesmal nicht einfach das Geld und bleibst bei mir? Du könntest mich heiraten, mich zu einer ehrlichen Frau machen und Söhne..."
 

"Wie kommst du denn auf eine solche Idee?" fuhr Nefut auf, ebenso erschüttert über den Vorschlag, wie über Serahs plötzlichen Versuch, ihn zu vereinnahmen. "Ich kann doch nicht das Geld unterschlagen, ich bin kein Bandit!"
 

"Doch, genau das bist du", beharrte Serah, "ein Mann aus einer Bande von stammeslosen Menschenräubern. Da kann ich dich doch nur 'Bandit' nennen."
 

Nefut war ein Stammesloser, zugegeben, und der Weg zurück war ihm verwehrt. Aber er folgte weiterhin dem Wahren Weg, sorgte für seine Leute, gehorchte seinem Anführer und beachtete die Gebote der Weisen und Heiligen im Umgang mit Göttern und Menschen. Eine Oshey hätte den Vorschlag mit der Unterschlagung niemals gemacht. Wie konnte Serah erwarten, daß Nefut auf soetwas einging? Niemals würde er es auch nur erwägen - zumindest nicht seit Hamarem ihm geholfen hatte, den Rest seiner Würde wiederzufinden.
 

Nefut sah aus dem Lichtschein der Lampe hinauf zu der im Dunkel verschwundene Zimmerdecke. Wäre vor gut zwei Jahren nicht Hamarem zu den Stammeslosen um Ashan gestoßen, wäre Nefut auf Serahs Vorschlag vielleicht sogar eingegangen, hätte mit ihr angefangen zu planen, wie er Terhan und Farhan und der Rache Ashans mit dem Geld entkommen konnte. Damals war er kurz davor gewesen, sich dem Verfall der Sitten in Ashans Bande hinzugeben. Nur wenige von Ashans Männer hatten jemals eine anständige Erziehung genossen, hatten auch nur eine rudimentäre Vorstellung davon, wie sich ein gottgefälliger Mann zu benehmen hatte. Und dann kam der schmächtige, schon etwas ergraute Hamarem zu den Stammeslosen, voller Naivität über ihre Tätigkeit, sich anscheinend nicht bewußt darüber, daß die aus den Stämmen ausgestoßenen Männer zumeist keinen Sinn mehr darin sahen, sich den Gesetzen der Stämme zu unterwerfen. Er hatte so hilfsbedürftig ausgesehen, daß Nefut sich geschworen hatte, ihn vor allen Unbilden zu beschützen.
 

Und Hamarem hatte mit ihnen allen gesprochen, als wären sie gottesfürchtige Männer, belehrte sie in freundlichem Ton bei Fehlverhalten, machte viele von Ashans Männern wieder zu guten Oshey, einfach weil er sie als solche behandelte. Er hatte auch schnell Nefuts Trauer um seinen verlorenen Namen erkannt, hatte ihn ermutigt, ihm von seinen Tagen im Zelt des Fürsten der Darashy als Sohn des Prinzen Murhan zu erzählen, und ihn schließlich gefragt, warum er sich denn unter Ashans Stammeslosen dann nicht wie ein Prinz verhielt, wenn er es wahrhaft vermisse, ein Prinz der Darashy gewesen zu sein. Das hatte Nefut die Augen geöffnet, und er hatte daraufhin die zu diesem Zeitpunkt von ihm allenfalls noch aus Gewohnheit verfolgten Tugenden mit Hamarems Hilfe wieder mit den Inhalten des Wahren Weges gefüllt.
 

Und plötzlich erinnerte Nefut sich, daß er das Schwert in seinem Gepäck, die Klinge, die ein anderer Darashy nun führte, schon als Kind gesehen hatte, zu einer Zeit, als er seinem Vater auf die Schlachtfelder zwischen den Nordstädten gefolgt war. Es war nicht einfach eine Klinge aus Murhan Darashys Werkstatt, sondern es war Murhans Meisterstück, sein Kriegsschwert, die Schlangenklinge des Städtezerstörers. Ein Schwert, das Murhan vielleicht irgendwann seinem Sohn vererbt hätte, wäre dieser von ihm nicht verstoßen worden, von dem er sich jedoch zu Lebzeiten niemals auf andere Weise getrennt hätte.
 

Was mochte also mit Murhan Darashy passiert sein? War er tot? Vielleicht konnte Nefut das von dem jungen Darashy erfahren, doch dazu würde er erst einmal sein Vertrauen gewinnen müssen, wenn er ihn nicht, wie ein Bandit es getan hätte, zu einer Antwort zwingen wollte.
 

"Nein, du bist kein Bandit", sagte Serah plötzlich, küßte Nefut zärtlich auf die Wange. "Aber vielleicht kannst du deine Männer allein wieder zu eurer Bande schicken, und du bleibst ohne das Geld für immer bei mir."
 

* * *
 

4. Vor dem Sturm

Hamarem wurde wach und kämpfte sich aus der Umarmung des Schlafes, als müsse er aus einem Wasserbecken auftauchen, um Luft zu holen.
 

"Willkommen unter den Lebenden", begrüßte ihn Derhan.
 

"Was ist passiert?" Hamarem bemühte sich, klar zu sehen, aber alles was er anblickte, wurde in dem Moment verschwommen. Nur an den Rändern seines Gesichtsfeldes konnte er erkennen, daß er sich im Befehlshaberzelt befand und es noch dunkel war.
 

"Du hast dich mit Stechapfelkernen vergiftet. Du wirst es überleben, aber es wird eine Weile dauern, bis du wieder richtig sehen kannst", erklärte Derhan und Hamarem glaubte, einen gehässigen Ton in seiner Stimme zu hören.
 

"Aber ich habe doch darauf geachtet, meine Hände vor dem Essen gründlich von den Kernen zu reinigen. Ich habe sicher nichts..."
 

"Die Dämpfe von deiner Aufkochung waren wohl schuld, denke ich. Wie bist du nur auf die Idee mit der Giftmischerei gekommen? Hast du vor, dich Enwar und Tyrimar anzuschließen und Ashan zu vergiften, wenn er den sogenannten Unirdischen nicht freiläßt?"
 

"Was habe ich vor?" fragte Hamarem, der glaubte, nicht richtig gehört zu haben. "Was haben Enwar und Tyrimar vor?" Hamarem richtete sich auf und versuchte aufzustehen, aber der Boden unter ihm schwankte zu sehr und so ließ er sich wieder auf das Lager plumpsen.
 

"Sag nicht, du hast nichts davon gemerkt in den letzten Tagen. Ich jedenfalls habe mitbekommen, wie sie sich ständig zusammensetzen und tuscheln. Auch Farhans kleiner Bruder ist dabei und das wird Farhan gar nicht gefallen, wenn er aus der Kameloase zurückkehrt."
 

"Die letzten Tage?" fragte Hamarem und fühlte Panik in sich aufsteigen. "Was für letzte Tage? Ich habe sie letzte Nacht reden gehört, aber das klang nicht, als würden sie einen Umsturz planen."
 

"Letzte Nacht? Wie viele Tage nach dem Überfall?" fragte Derhan nach.
 

Hamarem mußte kurz überlegen. "Zwei Tage nach dem Überfall. Letzte Nacht eben."
 

"Du meinst also die vorletzte Nacht", berichtigte Derhan ihn. "Du liegst hier bereits einen Tag und eine Nacht. Und diese Nacht ist bald zuende."
 

"Der Stechapfelsud war für mich", erklärte Hamarem in einem Nachgedanken.
 

"Du wolltest also dich selbst umbringen", stellte Derhan fest.
 

"Orem bewahre! Ich wollte einen Schlaftrunk herstellen", empörte Hamarem sich.
 

"Aber du hättest dich damit umgebracht, wenn du etwas davon zu dir genommen hättest, soviel ist sicher. Warum hast du mich nicht gefragt, ob ich etwas für dich habe?"
 

"Weil du gefragt hättest, warum ich ein Schlafmittel brauche."
 

"Richtig." Derhan lachte leise. "Also, weswegen brauchst du ein Schlafmittel?"
 

Hamarem drehte sich von Derhan weg und schwieg.
 

"Dein Leben hast du übrigens Lehan zu verdanken. Wenn er dir nicht immer wieder Atem eingeblasen hätte, hättest Du es wohl nicht überlebt", erzählte Derhan beiläufig.
 

Obwohl Hamarem mit dem stillen und in sich gekehrten Lehan nun seit zwei Jahren in einem Zelt wohnte, wußte er nicht mehr über den Mann, als daß er gewöhnlich für die Reittiere in Nefuts Einheit verantwortlich war und die Tiere, wenn erforderlich, auch die Nacht hindurch pflegte. Wenn er nun auch in den Genuß von Lehans Ausdauer in der Behandlung von Kranken gekommen war, "dann hat Lehan wohl meinen Dank verdient", sagte Hamarem leise. "Und wer hat mich gestern vertreten?"
 

"Da darfst du Enwar und mir danken, das haben wir uns geteilt", antwortete Derhan leichthin. "Und wir werden dich wohl auch noch heute und morgen vertreten, denn ich glaube nicht, daß du so bald wieder auf den Beinen bist."
 

Hamarem seufzte. Wieso hatte er versuchen müssen, den Stechapfelsud zu brauen? Natürlich, er hatte befürchtet, erneut von Amemna Darashys Annäherungen zu träumen, er hatte regelrecht Angst davor, diese Träume zu haben. Wieso bereiteten sie ihm solche Furcht? Der junge Mann war keineswegs furchterregend. Und Orem, der ihm aus welchem Grund auch immer diese Träume geschickt hatte, würde ihn dafür doch nicht bestrafen, auch wenn Hamarem darin gegen die Gebote der Weisen und Heiligen verstieß. Zumindest nicht, wenn es sich bei ihm wirklich um den Abkömmling eines Unirdischen und nicht doch um einen Dämon handelte, der ihn mit den Träumen vom Wahren Weg abbringen wollte.
 

Es mußte etwas in den Träumen stecken, das diese Angst begründete, ebenso wie die Träume von der geflügelten Schlange ihn hinausgetrieben hatten in die Welt, allein durch das Gefühl, sich in Harna am falschen Ort zu befinden. Also sollte er die Träume wohl nicht fliehen, sondern versuchen, sie zu verstehen.
 

*
 

Vier Tage war Hamarem praktisch an sein Lager gefesselt, da es ihm zunächst schwer fiel, das Gleichgewicht zu halten, und er kaum genug sah, um auch nur allein das Zelt zu verlassen um sich zu erleichtern. Lehan half ihm, schien fast ständig an seiner Seite zu sein, wenn er eine helfende Hand brauchte, die ihn fütterte oder säuberte. Hamarem nahm die Hilfe so selbstverständlich an, wie sie gewährt wurde, ohne darüber ein weiteres Wort zu verlieren, nachdem er sich für die Rettung seines Lebens bedankt hatte. "Es steht in meiner Macht, zu helfen, also helfe ich", hatte Lehan nur erwidert und von da ab kaum mehr als das Nötigste gesprochen.
 

Hamarem hatte also Zeit, sich über die Träume Gedanken zu machen. Eine Theorie über ihre Ursache hatte er schnell entwickelt. Sie waren stets aufgetreten, wenn Hamarem den jungen Darashy berührt hatte oder dieser ihn. Vor dem ersten Traum hatte er ihn an Hand und Arm aus der Oase in das Gefangenenlager geführt, und vor dem zweiten Traum hatte Amemna Darashy ihn aus Dankbarkeit über die Rückgabe der Schriftrolle umarmt und geküßt. In der Nacht nach ihrem Gespräch, das ohne eine Berührung verlaufen war, hatte er keinen Traum gehabt. Ob diese Theorie Bestand hatte, würden allerdings erst weitere Begegnungen mit dem jungen Darashy erweisen. Die Gründe für seine Angst vor den Träumen wagte er jedoch wie einen faulen Zahn nicht näher zu erforschen.
 

Enwar erkundigte sich täglich einmal nach Hamarems Befinden, dann teilten sie schweigend die Nachtmahlzeit und legten sich schlafen. Derhan, der tagsüber im Zelt schlief, kam zu seinen Wachzeiten mehrfach ins Zelt, betrachtete jedes Mal prüfend Hamarems Augen, und wenn niemand anderer zugegen war, nutzte er die Gelegenheit, weiter von den Verschwörungsgerüchten zu berichten, während er sich säuberlich den Schädel rasierte. Demnach planten Enwar, Tyrimar, der Kleine Nefut und Hamarems Zeltgenosse Mutar einen bewaffneten Umsturz, sollte Ashan den jungen Amemna Darashy nicht auf ihre Forderung hin freilassen. Derhan berichtete, daß sie auch versucht hätten, Enwars Befehlshaber Doshan auf ihre Seite zu ziehen, aber der hielt sich noch bedeckt, auch wenn er anscheinend ebenso wie die Verschwörer davon überzeugt war, daß Amemna Darashy von unirdischem Blute war.
 

Derhan dagegen glaubte nicht daran, daß Menschen mit unirdischem Blut unter den Sterblichen wandelten, vielleicht glaubte er nicht einmal an die Existenz der Unirdischen oder an die Götter, und Hamarem selbst hatte das Gefühl, daß sich seine Gedanken wirr im Kreis bewegten wenn er sich sein Wissen zu Unirdischen und Dämonen vergegenwärtigen wollte.
 

Vier Tage lang konnte Hamarem nicht das Zelt verlassen, um einfach mit dem jungen Mann zu sprechen und ihn nach seiner Herkunft zu fragen, und vier Tage blieben gnädigerweise auch die beunruhigenden Träume aus. Am fünften Tag war Hamarem endlich wieder ganz er selbst, erhob sich, vom Liegen schwach und wackelig auf den Beinen aber ansonsten gesund, von seinem Lager und trat hinaus in die Morgensonne, um endlich wieder als Befehlshaber des Gefangenenlagers tätig zu werden.
 

*
 

Terhan war als erster der drei Schreiber am Vorabend mit Lösegeldzahlungen aus der Kameloase zurückgekehrt, und die ausgelösten Gefangenen mußten nun in die Kameloase gebracht werden, damit sie von dort in ihre Heimat zurückkehrten, ohne den Schlupfwinkel der Banditen verraten zu können.
 

Hamarem hatte viel zu tun aber trotzdem gelang es ihm, eines der Probleme, die ihm am Herzen lagen, in Angriff zu nehmen, indem er spät am Abend, als Derhan die Befehlsgewalt über das Gefangenenlager übernommen hatte, Enwar um ein Gespräch bat. "Gerüchteweise habe ich gehört, daß einige Männer damit unzufrieden sind, daß Ashan einen Mann gefangengesetzt hat, der möglicherweise unirdisches Blut in seinen Adern hat", begann Hamarem direkter, als er es eigentlich vorgehabt hatte, denn der anscheinend geplante Aufstand gegen den gewählten Anführer Ashan beunruhige ihn fast noch mehr als die Frage, ob der mutmaßliche Unirdische denn nun ein solcher war oder nicht.
 

Enwar sah in die Tonschale, in die er seine Portion des Nachtmahles gefüllt hatte, wollte wohl zunächst schweigend essen, aber überlegte es sich dann anders. "Es gärt im Lager, Hamarem." Enwar sah Hamarem direkt in die Augen, etwas, das er die letzten Tage nicht getan hatte. "Wenn ich den Männern nicht ein Ventil für ihren Unmut gegeben hätte, wäre der Aufstand schon lange ausgebrochen."
 

"Was für ein Ventil?" fragte Hamarem.
 

"Die Aussicht, Amemna Darashy zu befreien, wenn das Lösegeld in den nächsten Tagen nicht eintrifft - egal wie Ashans Entscheidung zu diesem Thema ausfällt", gab Enwar unumwunden zu.
 

"Du sprichst von einem Aufstand", gab Hamarem in gedämpftem Ton zu bedenken.
 

"Ja", antwortete Enwar schlicht.
 

Hamarem schüttelte den Kopf, aber er wußte nicht, wo er beginnen sollte. Was war mit Terhans Männern hier im Gefangenenlager? Hatten sie schon Wind bekommen von der Verschwörung? Hatten die Aufständischen überhaupt einen der Unterführer auf ihrer Seite? Wenn sie Enwars Befehlshaber Doshan bereits erfolgreich auf ihre Seite gezogen hätten, so hätte doch Enwar sicher nicht versäumt, es zu erwähnen. Und Farhan, der Befehlshaber von Tyrimar und dem Kleinen Nefut, war genau wie Nefut noch immer einen Tagesritt weit entfernt in der Kameloase.
 

"Ich werde dich nicht fragen, ob du dich uns anschließt", sagte Enwar plötzlich in die Stille.
 

"Aber offenbar befürchtest du nicht, ich könnte dich und deine Pläne verraten." Hamarem wußte nicht, ob er diese Einschätzung als Kompliment nehmen konnte.
 

"Du wirst Nefut folgen, egal wie er sich entscheidet", sagte Enwar.
 

"Was ist, wenn Nefut in ein paar Tagen mit dem Lösegeld für Amemna Darashy kommt?" wollte Hamarem wissen.
 

"Wenn er freigelassen wird sind wir zufrieden. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß er ausgelöst wird. Alle anderen Darashy sind seit heute wieder auf dem Weg nach Hause, nur auf seinen Brief gab es keine Antwort, obwohl die Zelte der Darashy zur Zeit nahe an der Kameloase stehen."
 

Natürlich hatte Enwar recht, Hamarem würde Nefut folgen. Wenn Nefut, wie es zu erwarten war, seinen gewählten Anführer unterstützte, würde auch Hamarem alles daransetzen, den Aufstand zu verhindern. Aber Hamarem wurde unwohl, wenn er an die möglichen Konsequenzen für den jungen Darashy dachte, sollte das Lösegeld ausbleiben. Gewöhnlich wurden Gefangene, deren Familien sich auf die Lösegeldforderungen nicht meldeten, als Sklaven verkauft. Aber so weit durfte es nicht kommen! Nefut mußte Ashan zur Freilassung des jungen Darashy bewegen - allein schon um das Blutvergießen innerhalb der Bande zu verhindern. Allerdings konnte er Nefut von der Verschwörung nichts erzählen, denn dann hätte es das Ehrgefühl des ehemaligen Darashy-Prinzen sicher verlangt, seinem Anführer Ashan davon zu berichten. Die Folgen der Verhinderung eines Aufstandes wären ebenso verheerend, wie die eines stattfindenden Aufstandes. So oder so würde es Tote geben.
 

Hamarem fragte nicht, wer denn bereits zu den Mitverschwörern des geplanten Aufstandes gehörte und Enwar sagte nichts dazu. Aber Derhan hatte recht, es war mehr als offensichtlich, daß Tyrimar und der Kleine Nefut dabei waren, wenn sie sich auffällig unauffällig mit Enwar in dunkle Ecken zurückzogen. Auch Mutar schien mit der Verschwörung tatsächlich mehr als nur zu liebäugeln. Hamarem konnte nur hoffen, daß Nefut bald aus der Kameloase zurückkehrte - mit dem Lösegeld für Amemna Darashy.
 

*
 

Am nächsten Morgen suchte Hamarem den letzten gefangenen Darashy in dem ansonsten leeren Zelt auf. Bei Hamarems Eintreten hatte der junge Mann hastig etwas verborgen. Als er Hamarem erkannte, atmete er sichtlich auf, zog die rasch zusammengeraffte Schriftrolle hervor und rollte sie ordentlich zusammen. "Ich frreue mich, euch zu sehen, Herrr", begrüßte er Hamarem mit einem herzlichen Lächeln.
 

"Ihr habt euch inzwischen gut hier eingerichtet, wie ich sehe", gab Hamarem zurück. Das Zelt war mit Kissen und einem niedrigen Tischchen ausgestattet, auf dem Tisch stand eine Kanne mit Tee und eine Trinkschale, und der Fußboden war mit mehr Teppichen bedeckt als das Zelt der Befehlshaber des Gefangenenlagers.
 

Amemna Darashy errötete und senkte den Blick. "Die Männerr, die mich bewachen, haben mirr die Sachen gebrracht."
 

Hamarem fragte sich, ob der junge Mann die anderen zur Durchsetzung seiner Wünsche ebenso um den Finger gewickelt hatte, wie vor einigen Tagen Hamarem, damit der ihm die Papyrusrolle besorgte. Aber wie er da kniete, sah er so unschuldig aus, daß Hamarem diesen Gedanken schnell wieder von sich schob. Hier sah er wohl nur die freundlichen Gaben der Männer, die davon überzeugt waren, es in Amemna Darashy mit dem Nachkommen eines Unirdischen zu tun zu haben und die ihm seine Gefangenschaft so leicht wie nur irgend möglich machen wollten.
 

"Bisher ist leider noch kein Lösegeld von den Darashy für euch eingetroffen", begann Hamarem das Gespräch.
 

"Seid ihrr sicherr, daß mein Brrief die Zelte derr Darrashy errreicht hat, Herrr?" fragte der junge Mann.
 

Hamarem nickte entschieden. "Alle Briefe an die Darashy sind zusammen befördert worden. Und wie ihr seht, sind die anderen Darashy bereits ausgelöst worden."
 

Amemna Darashy nickte traurig.
 

"Und so leid es mir tut das sagen zu müssen: ohne Geld werdet ihr nicht freigelassen werden." Auf den erschrockenen Gesichtsausdruck des jungen Mannes war Hamarem gefaßt gewesen, aber nicht auf das Gefühl, das es in ihm auslöste. Er war drauf und dran dem Jungen anzubieten, das Lösegeld aus seiner eigenen Tasche aufzubringen.
 

Leuchtende Wirbel stoben durch die Kräfte um den jungen Mann, dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf und er begann überraschend: "Vielleicht kann ich auf anderre Weise dafürr sorrgen, daß ihrr oder euerr Anführrerr das Geld errhält."
 

"Und wie wollt ihr das machen?" fragte Hamarem neugierig.
 

"Von einem Mitrreisenden derr Karrawane hatte ich gehörrt, daß derr König von Hannai bei Nemis Trruppen fürr einen Krrieg sammelt. Err hat fürr jeden einzelnen Mann viel Geld verrsprrochen, ganze Einheiten sollen sogarr noch einen Bonus errhalten", erzählte der junge Mann nun. "Wenn sich viele oderr sogarr alle Stammeslosen zu diesem Heerrzug melden, wirrd derr Bonus wohl dem entsprrechen, was ihrr als Lösegeld fürr mich verrlangt habt. Und wenn ihrr mich als den Verrmittlerr dieses Geschäftes anseht, da ich euch die Inforrmation gegeben habe, würrde derr Bonus mirr doch zustehen und ich würrde ihn dafürr nutzen, mich selbst auszulösen." Amemna Darashy strahlte vor Freude über seinen gelungenen Einfall.
 

Die Idee klang in der Tat nicht schlecht und wurde dadurch noch attraktiver, daß sich hier nun eine Möglichkeit des anständigen Gelderwerbs auftat. Es mochte tatsächlich genügend Bandenmitglieder geben, die mit der Aussicht, danach ein ehrliches Leben führen zu können, den Krieg dem Verbleiben in der Bande vorzogen. "Ich werde diese Information an unseren Anführer weiterleiten", versprach Hamarem also, denn Nefuts Rückkehr aus der Kameloase war bald zu erwarten.
 

* * *
 

5. Der Aufruhr

Zwölf Tage waren seit dem Überfall auf die Schädeloase vergangen, als Nefut mit Satteltaschen voller Lösegeld aus der Kameloase zurückkehrte. Nur für einen Gefangenen stand die Lösegeldzahlung noch aus - und der war nicht nur ein Angehöriger des Stammes, dem auch Nefut einst angehörte, sondern er hatte auch ein Schwert von Nefuts Vater mit sich geführt.
 

Da die Darashy sich zu dem letzten Gefangenen bisher nicht geäußert hatten, zeichnete sich ab, daß der junge Mann von Ashan wohl als Sklave verkauft werden würde, um Geld für ihn zu erhalten. Verhandlungen mit Sklavenhändlern dauerten gewöhnlich ihre Zeit und vielleicht konnte man das Ganze noch soweit hinauszögern, daß Nefut einige Antworten von diesem jungen Mann erhielt. Zuerst erstatte Nefut jedoch Ashan Bericht über die ausgelösten Gefangenen.
 

*
 

Doshans Zweiter Enwar hatte den Befehl, als Nefut im zum Teil bereits abgebauten Gefangenenlager eintraf. Er nahm Nefuts Liste der ausgelösten Gefangenen entgegen, dann ging er, um deren Abreise zur Kameloase für den nächsten Morgen zu organisieren. Nefut suchte nach Hamarem und traf ihn mit Derhan im Zelt der Befehlshaber beim Nachtessen an. Er begrüßte beide und nahm ihre Einladung zum Essen an.
 

"Ich hoffe, bei euch ist alles so glatt gelaufen, wie bei uns", begann Nefut dann das Gespräch. "Bereits vorgestern hatten wir die Gelder für alle Gefangenen zusammen, abgesehen von einem Darashy. Farhan will morgen hier sein, entweder mit oder ohne das Geld", sagte er an Derhan, Farhans Zweiten gewandt.
 

"Das wird auch Zeit", brummte Derhan kurz angebunden, dann aß er weiter. Hamarem sagte nichts und aß offensichtlich mit schlechtem Appetit. Er wirkte auch blasser als sonst. "Ist alles in Ordnung, Hamarem?" fragte Nefut besorgt.
 

Hamarem nickte nur und Derhan mischte sich ein: "Er hatte gesundheitliche Probleme in den letzten Tagen."
 

So schnell, daß Nefut nicht sicher war, ob er tatsächlich richtig gesehen hatte, warf Hamarem Derhan einen warnenden Blick zu. Wenn Hamarem gesundheitliche Probleme gehabt hatte, war natürlich Derhan mit ihrer Behebung beschäftigt gewesen, und vielleicht hatte es dabei Streit gegeben. Derhan war für seine scharfe und gelegentlich lästerliche Zunge bekannt.
 

"Herr, dieser Überfall hat doch bereits reichlich Profit gebracht. Könntet Ihr Ashan nicht einfach um die Freilassung des jungen Darashy bitten?" fragte Hamarem plötzlich und sah aus, als ob ihn Magenschmerzen plagten.
 

"Warum?" fragte Nefut zurück und schien Hamarems Magenschmerzen damit zu verstärken. Aber eigentlich brachte Hamarem Bitten an ihn doch nie ohne guten Grund vor.
 

Hamarem holte tief Luft und seufzte, dann hub er an: "Viele unserer Männer hier sind der Ansicht, daß der junge Darashy ein Unirdischer ist. Sie befürchten, den Zorn der Götter auf sich zu laden, wenn der junge Mann noch länger festgehalten wird."
 

Richtig, der Darashy hatte weiße Haare gehabt und bei Tageslicht hatte er auch deutlich jünger gewirkt, als bei dem nächtlichen Kampf. "Wenn ich mich recht erinnere, bist du ebenfalls der Ansicht, daß der Darashy ein Unirdischer ist", erinnerte Nefut seinen Zweiten. Hamarem hatte vor Nefuts Aufbruch in die Kameloase auch davon gesprochen, daß es Mord und Todschlag unter den Stammeslosen geben würde, wenn der Darashy mit unirdischem Blut gefangen gehalten werde.
 

Derhan lächelte versonnen, schwieg jedoch. Von ihm war kaum anzunehmen, daß er irgendjemanden für einen Unirdischen hielt. Dazu hatte er viel zu wenig Respekt vor dem Göttlichen.
 

"Es liegt zumindest im Bereich des Möglichen, Herr", quälte Hamarem derweil heraus.
 

"Ich werde sehen, was ich machen kann", versprach Nefut. Wenn der letzte Gefangene seine Freilassung Nefut zu verdanken hatte, würde er vielleicht dankbar genug für die Beantwortung einiger Fragen sein. "Ich brauche für Ashan aber bessere Argumente, als nur die Bitte, einen Gefangenen ohne Lösegeld freizulassen."
 

Hamarem öffnete schon den Mund, aber Nefut schnitt ihm das Wort ab. "Wir reden später darüber." Denn solche Dinge sollte man nicht vor Zeugen besprechen.
 

*
 

Früh am nächsten Morgen kehrten Nefuts Männer Lehan, Nesfat und Mutar aus demGefangenenlager zurück. Nefut hoffte, am Vormittag eine Gelegenheit für ein ungestörtes Gespräch mit Hamarem zu finden, zunächst mußte er mit seinen Männern jedoch die unter Hamarems Führung wieder einmal vernachlässigten Waffenübungen mit den Männern nachholen. Nach wenigen Augenblicken wurde Nefut jedoch in Ashans Zelt zitiert, und es stellte sich heraus, daß der nächste Überfall bereits geplant und ein Teil des Lösegeldes aus dem letzten Überfall auch schon als Bestechungsgeld für die Wächter einer Gewürzkarawane aus Ma'ouwat ausgegeben worden war.
 

Als Nefut dann endlich wieder in sein Zelt zurückkehrte, war Lehan schon damit beschäftigt, das Nachtessen zu kochen. Angesichts des zu erwartenden Eintopfes aus Getreide und Kichererbsen erinnerte Nefut sich wehmütig an die Speisen mit vielen frischen Zutaten, die er in der Kameloase hatte genießen können. Und da bei dem nächsten Überfall kein Lösegeld einzutreiben war, konnte es noch Monate dauern, bis er wieder in den Genuß der relativen Freiheit und des Wohllebens dort kam. Größere Karawanen mit Reisenden, die einen Überfall lohnend machten, waren erst wieder nach dem Sommer zu erwarten. Vielleicht hätte er doch Serahs Bitte, bei ihr zu bleiben, sie zur Frau zu nehmen und Farhan und Terhan allein zurückzuschicken, ernsthafter erwägen sollen. Aber er konnte sich nicht dazu durchringen, seinen treuen Zweiten allein bei den Stammeslosen zurückzulassen.
 

Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, begann Nefut vor dem Zelt mit seinen Waffenübungen, als Mutar plötzlich neben ihm stand und fragte: "Herr, darf ich euch stören?"
 

"Was ist, Mutar?" Jetzt hatte der nervtötende Alltag ihn also wieder: nach Ashans Einberufungen von Beratungsrunden, in denen keiner wagen durfte, Ratschläge vorzubringen, die von Ashans Ansichten abwichen, kamen nun irgendwelche Streitigkeiten in seiner Zeltgemeinschaft, die zu schlichten waren. Die letzten zehn Tage, in denen er sein eigenen Herr hatte sein können, waren so wunderbar gewesen.
 

"Herr, hört ihr mir zu?" fragte Mutar ungewohnt drängend nach.
 

Nefuts mußte sich von seinen Gedanken an die Bequemlichkeit der Kameloase regelrecht losreißen. "Ja, Mutar, ich höre dir zu."
 

"Herr, die Unruhe unter den Männern über den letzten Gefangenen, den jungen Darashy, ist groß. Sie... wir sehen mit Unbehagen der Aussicht entgegen, daß er als Sklave verkauft wird", sagte Mutar dann leise mit gesenktem Blick.
 

"Und weswegen sehen du und andere dem mit Unbehagen entgegen?" wollte Nefut wissen.
 

Jetzt sah Mutar auf, die leichte Panik im Blick war Nefut an ihm nicht gewöhnt. "Herr, er ist von unirdischem Blut! Die Götter werden uns strafen, wenn wir ihn nicht nur gefangen halten sondern auch noch als Sklaven verkaufen!"
 

Hamarem hatte also unter anderem in Mutars Namen gesprochen. Und wenn der junge Darashy wirklich unirdisches Blut hatte, war es wahrhaft frevelhaft, ihn gefangen zu halten. "Habt ihr denn einen Vorschlag, wie wir dem Gefangenen dieses Schicksal ersparen können?"
 

Mutar machte den Mund zu einer Erwiderung auf, aber dann schloß er ihn abrupt wieder. Nach einem Augenblick sagte er dann: "Herr, bittet Ashan, ihn ohne Lösegeld freizulassen." Aber das war offensichtlich nicht, was Mutar ursprünglich hatte sagen wollen.
 

"Vielleicht bringt Farhan heute abend ja noch das Lösegeld", beschwichtigte Nefut ihn.
 

"Ja, Herr", antwortete Mutar aber glaubte offensichtlich ebensowenig daran wie Nefut selbst.
 

*
 

Als Farhan am späten Abend aus der Kameloase zurückkehrte konnte er erwartungsgemäß nur berichten, daß aus den Zelten der Darashy keine Antwort zur Gefangennahme von Amemna Darashy gekommen war. Nefut begab sich ins Gefangenenlager, um Hamarem die Neuigkeit selbst zu überbringen und endlich mit ihm zu sprechen. Er fand seinen Zweiten wieder im Zelt der Befehlshaber, diesmal allein. "Farhan hat keine Lösegeldzahlung für den jungen Darashy gebracht."
 

Hamarem nickte und begann dann eifrig: "Herr, unser Gefangener hat einen Vorschlag gemacht, wie er für einen Ersatz des Lösegeldes sorgen kann."
 

"Und wie sieht dieser Vorschlag aus?" wollte Nefut wissen.
 

"Er sagte, daß nördlich von Hannai, in Nemis, ein Heer gesammelt wird und für jeden, der sich als Söldner meldet, ein großzügiges Handgeld gezahlt wird, für größere Einheiten sogar ein Bonus. Er meint, wenn sich alle oder ein größerer Teil der Bande dort meldet, würde allein der Bonus reichlich das zu erwartende Lösegeld für ihn aufwiegen. Außerdem ist das Kriegsgeschäft technisch gesehen zwar nichts anderes als das Banditendasein aber doch viel ehrenhafter."
 

Nefut mußte schmunzeln. Mit der Art von Geschäften, die Ashan zur Zeit betrieb, hatte das Kriegsgeschäft nicht das Geringste zu tun, aber hier zeigte sich einmal mehr die auffällige Naivität Hamarems in einigen Dingen, so wie er in anderen Dingen kenntnisreich und weise war, wie ansonsten nur Männer, die das Doppelte an Jahren gesehen hatten. Nefut hielt sich mit einer direkten Erwiderung zurück, gab nur zu bedenken: "Allerdings müßten wir den Gedanken nun noch Ashan schmackhaft machen, und das könnte schwierig werden." Immerhin hatte er nun mehr für eine Unterredung mit Ashan in der Hand als nur eine Bitte.
 

*
 

Ashan saß mit einigen seiner Unterführer zusammen, als Nefut ihn nach der Waffenübung am nächsten Morgen in seinem Zelt aufsuchte.
 

"Meine Männer schicken mich, die Freilassung Amemna Darashys zu erbitten", begann er sein Anliegen vorzutragen.
 

"Und mit welcher Begründung? Lösegeld wurde bisher nicht für ihn bezahlt."
 

"Es heißt, er sei von unirdischer Herkunft und sie wollen nicht den Zorn der Götter auf sich laden, indem er weiter gefangengehalten wird", sagte Nefut vorsichtig.
 

"Von unirdischer Herkunft?" Ashan lachte aus vollem Halse. "Ein Ostler-Bastard ist er. Vermutlich wollen ihn die Darashy deswegen nicht wiederhaben. Und seine Ostlerfamilie in Ma'ouwat ist dort bisher nicht aufzutreiben. Wenn sie sich nicht bald melden, werden wir ihn als Sklaven verkaufen."
 

Terhan und die drei anderen Anwesenden lachten mit Ashan, wenn es auch bei einigen eher nach Pflichterfüllung aussah. Offenbar war nicht allen wohl bei dem Gedanken, doch möglicherweise einen Unirdischen gefangen zu halten.
 

"Unser Gefangener weiß eine Möglichkeit, auf andere Weise zu dem Geld zu kommen, das uns durch seine Freilassung als Lösegeld entgeht", warf Nefut ein, als das Lachen abebbte. Ashan forderte ihn mit einem Wink auf, weiterzusprechen und Nefut legte den Plan dar, wie er ihn von Hamarem gehört hatte.
 

Ashan strich sich danach versonnen über seinen Kinnbart. "Das ist in der Tat eine wertvolle Nachricht. Aber ich denke immer noch, daß er als Sklave mehr Geld einbringt. Und jetzt Schluß mit dem ganzen Unfug, laßt uns speisen." Er klatschte in die Hände, um auftragen zu lassen.
 

Nefut zog sich unter murmeln einer Höflichkeitsfloskel zurück und wurde vor dem Zelt vom Unterführer Doshan um ein Gespräch gebeten. Nefut lud ihn in sein Zelt ein.
 

*
 

Nach der ersten Tasse Tee begann Doshan gerade heraus: "Nefut, es ist zu befürchten, daß der Unirdische als Sklave verkauft wird."
 

"Ashan hat es eben beschlossen", bestätigte Nefut. "Er ist nicht der Meinung, daß Amemna Darashy von unirdischem Blute ist."
 

"Aber das ist doch offensichtlich", widersprach Doshan auffällig leise. "Und wir werden den Zorn der Götter auf uns ziehen, wenn wir zulassen, daß er als Sklave verkauft wird." Er griff nach dem Tyrima-Amulett an seinem Hals um das üble Schicksal für sich abwenden.
 

"Ashan bringt die Argumente eines Städters", entgegnete Nefut vorsichtig.
 

Doshan spuckte aus. "Natürlich, denn in Wahrheit ist er einer. Irgendjemand muß ihn zur Vernunft bringen, oder das ganze Lager ist in Aufruhr. Überall gärt es und meine Männer sprechen davon, Ashan abzusetzen!"
 

In all den Jahren hatte bisher niemand in Nefuts Gegenwart so offen gegen Ashans Anführerschaft gesprochen. Er hatte das Gefühl, auf einem Haufen Eier zu balanchieren. "Viele sind unzufrieden mit der Situation", gab er leise zurück.
 

Wie die anderen Unterführer hatten auch Nefut und Doshan Ashan die Treue geschworen. Wenn einzelne Männer unzufrieden mit dem Anführer waren, ließen sie sich gewöhnlich ihren Anteil des Schatzes auszahlen und zogen allein oder mit ihren Leuten davon, um sich einer anderen Gruppe Stammesloser anzuschließen - oder um zu versuchen, mit ihrer Beute als Startkapital eine ehrbare Existenz in einer der Städte am Rande der Wüste aufzubauen. Den gewählten Anführer abzusetzen war undenkbar.
 

Aber die jetztige Situation war anderes. Eine Reihe von Männern war durch Ashans Haltung gegenüber dem unirdischen Jungen auf das Äußerste beunruhigt. Sein gotteslästerliches Verhalten würde auf alle die ihm folgten zurückfallen, und auch unter den Stammeslosen gab es nicht viele, die diese Aussicht unberührt ließ.
 

Nefut rang mit sich. Einerseits hatte er zwar nur als treuer Gefolgsmann Ashans die Aussicht, nach seinem Tod die Gärten der Freude betreten zu dürfen, andererseits mochte der Darashy aber tatsächlich unirdisches Blut haben, Hamarem zumindest war anscheinend davon überzeugt. Und Ashan war nicht der Anführer, dem zu folgen Nefut stolz machte. Also sagte Nefut schließlich: "Laß uns beraten, wie wir Ashan vielleicht überzeugen können, seinen Entschluß zu ändern."
 

*
 

Nefut goß seinem Gast gerade die zweite Tasse Tee ein, als sich plötzlich Unruhe im Lager ausbreitete. "Befreit Amemna Darashy!" rief jemand und das Geräusch gegeneinanderschlagender Schwerter war zu hören.
 

Alarmiert rannte Nefut aus seinem Zelt, Doshan folgte ihm. Tatsächlich kämpfte eine Handvoll Männer vor dem Zelt des Anführers gegen Ashans Wachen. Zuvorderst stand Enwar, Doshans rechte Hand, und da war auch Nefuts eigener Mann Mutar unter den Aufständischen.
 

"Was sollen wir nur tun?" fragte Doshan leise. "Ich hoffe, wir müssen nicht kämpfen."
 

Nefut unterdrückte den Impuls, das Schwert zu ziehen und sich zu Ashans Wachen zu stellen. Eigentlich sollte er sich sofort für Ashan ins Getümmel werfen, aber es widerstrebte ihm zutiefst. Die Situation zwischen den Aufständischen und Ashans Wachen sah noch ausgeglichen aus, aber er mußte nun wohl unwiderruflich Farbe bekennen, auch wenn ihm gar nicht wohl in seiner Haut war. Nefut seufzte und rief dann: "Alle hierher, die den Unirdischen frei sehen wollen!"
 

Sofort erhielt Nefut Zulauf aus den Zelten, während sich ein Teil von Ashans Gruppe dem neuen Gegner zuwandte. Und auch Ashans Wachen erhielten Verstärkung durch Terhan und einige andere Männer, sogar Ashan selbst trat aus seinem Zelt. Diesen Moment der Formierung der beiden Parteien nutzte Enwar. Er stürzte sich mit blanker Waffe auf den unbewaffneten Anführer der Stammeslosen, durchbohrte Ashan und fiel gleich darauf selbst durch Terhans Schwert.
 

Und nun entbrannte der Kampf zwischen den restlichen Aufständischen und Terhans Männern um Ashans noch zuckenden Leib um so heftiger.
 

"Hört auf zu kämpfen!" rief Nefut, aber das Handgemenge um Terhan wurde schlimmer. Und auch die bisher friedlichen Männer um Nefut herum griffen nachihren Schwertern. Doshan hielt seinen Mann Oremar, der schon losstürmen wollte, am Arm zurück.
 

"Ashan ist tot! Befreit den Unirdischen!" gellte plötzlich Tyrimars Stimme durch den Kampfeslärm und ein Speer, auf dem das bluttriefende Haupt Ashans steckte, wurde hoch über den Köpfen der Kämpfenden geschwenkt. Der Schreck über diese Bluttat, dem niedergestreckten, aber noch lebenden Anführer den Kopf abzuschneiden, lähmte die Kontrahenten für einen Moment und in die plötzliche Stille rief Nefut: "Ashan ist tot! Alles kann neu verhandelt werden!"
 

Diesmal ließen die Kämpfenden tatsächlich zögernd voneinander ab und schufen Abstand zwischen sich. Die überlebenden vier Aufständischen - Nefuts eigener Mann Mutar, Farhans Männern Nefut und Tyrimar und einer von Doshans Männern - zogen sich, die Waffen noch in den Händen und nach allen Seiten sichernd, zu Nefut zurück. Die Wächter Ashans sammelten sich um Terhan, ebenso wie die meisten Unterführer. Nur Doshan und Farhan hatten sich wie Nefut gegen ihren Eid entschieden.
 

Zwischen den beiden Gruppen, direkt vor dem Eingang zu Ashans Zelt, hatte Tyrimar den Speer mit der grausigen Trophäe in den Sand gerammt, daneben lagen Ashans blutüberströmter Körper, der tote Enwar und eine weitere Leiche. Der Anblick der Toten brachte die alle anscheinend wieder zur Besinnung, denn die Schwerter und Messer verschwanden aus den Händen und leise begannen die Männer auf beiden Seiten, untereinander über das weitere Vorgehen zu diskutieren.
 

"Laß uns eine Einigung finden, Terhan", rief Nefut über das Raunen seinem Gegner zu.
 

Terhan nickte. "In Ordnung." Sie trafen sich in der Mitte. "Ich werde auf die Hinrichtung der Aufständischen bestehen müssen", sagte Terhan so leise, daß nur Nefut ihn hören konnte.
 

"Das ist mir klar", antwortete Nefut ebenso leise. "Und ich bestehe auf den freien Abzug aller anderen Männer, die sich mir angeschlossen haben."
 

Terhan sah ihn zweifelnd an. "Wie willst du deine paar Männer denn ernähren? Für Überfälle seid ihr zu wenig."
 

Nefut schaute zu der kleinen Gruppe um Farhan und Doshan hinüber. Mit ihm selbst waren es vierzehn Männer, davon drei eidbrüchige Unterführer und vier Totgeweihte. Ein wirklich kümmerliches Häufchen für eine Banditenschar.
 

"Wir werden nach Nemis gehen", sagte Nefut spontan. Vielleicht gelang es auf diese Weise sogar, den jungen Darashy zu befreien und Nefut gegenüber zur Dankbarkeit zu verpflichten.
 

"Und euch als Zehnereinheit verpflichten?" fragte Terhan nach. "Da fehlt euch noch ein Mann."
 

Natürlich. "Dann gib uns den letzten Gefangenen", forderte Nefut.
 

Terhan schob die Hände in den Gürtel. "Laß uns verhandeln."
 

* * *
 

6. Getrennte Wege

Doshans Mann Oremar brachte Hamarem die Nachricht, daß Nefut die Gegenwart des jungen Darashy im Lager der Banditen wünschte.
 

"Was ist denn passiert?" fragte Hamarem alarmiert. Wieso kam nicht Enwar und seit wann machten Doshans Männer Botengänge für Nefut? Hamarem haßte Waffen, verließ sich lieber auf die Kraft seiner Worte. Aber jetzt wäre ihm mit einem Knüppel in der Hand fast wohler gewesen: Die Kräfte um Oremar verhießen großes Unheil.
 

"Sieh es dir selbst an", antwortete Oremar. "Enwar hat Ashan erschlagen. Die Aufrührer sind inzwischen gerichtet, aber das ganze Lager ist gespalten. Nefut und Terhan haben Ashans Erbe angetreten und nun wird die Beute verteilt."
 

Also war der Sturm losgebrochen. "Ich bringe ihn gleich", versprach Hamarem.
 

Oremar war zufrieden und ritt zurück ins Banditenlager. Hamarem sah ihm ein Weilchen nach, dann wandte er sich dem der beiden noch stehenden Zelten zu, in dem als letzter Gefangener noch immer Amemna Darashy untergebracht war. Der junge Mann blickte bei Hamarems Eintreten überrascht von der Schriftrolle hoch, in die er mit seinen seltsamen Schriftzeichen gerade noch etwas geschrieben hatte.
 

"Entschuldigt", begann Hamarem. "Ich soll euch in das Lager der Stammeslosen führen."
 

"Ist aus den Zelten derr Darrashy endlich Nachrricht eingetrroffen?" fragte Amemna Darashy hoffnungsvoll.
 

Hamarem schüttelte bedauernd dem Kopf. "In unserem Lager wird die Beute verteilt, und als Gefangener seid ihr ein Teil der Beute."
 

"Hat euerr Anführrerr schon etwas zu meinem Vorrschlag gesagt?" fragte er dann, während er die Rolle sorgfältig zusammenpackte und in seinen Gürtel schob. Diesen Gürtel mußte er von einem seiner Wächter erhalten haben, denn nach der Gefangennahme war er von Hamarem mit bloßen Füßen und nur im Untergewand hierher gebracht.
 

"Er wurde heute bei einer Unruhe erschlagen. Wir werden sehen, wie seine Nachfolger dazu stehen." Hamarem hoffte für den Jüngling, daß Nefut ihn in seine Obhut nehmen würde, denn in Terhans Gewalt würde er sicherlich doch noch ein Sklavendasein kennenlernen. Nefut dagegen hatte zugesichert, sich für seine Freilassung einzusetzen. Hamarem gab Amemna Darashy ein Paar Sandalen, einen Mantel und ein Kopftuch gegen die Mittagshitze, dann fesselte er ihm vorsichtig die Hände, denn nach den bisherigen Erfahrungen wagte er nicht, Amemna zu berühren. Den Weg durch die Wüste zum Lager der Banditen, legten sie schweigend zurück.
 

Hamarem schauderte, als er vor Ashans ehemaligem Zelt sieben Tote liegen sah, auf einen Blick erkannte er Enwar, den Kleinen Nefut und seinen eigenen Zeltgenossen Mutar. Ein Leichnam war enthauptet, das war wohl Ashan, denn direkt neben dem Zelteingang war sein blutleerer Kopf auf einen in den Boden gerammten Speer aufgespießt. Beim Blick in Ashans tote Augen verspührte er zu seinem unbehagen sogar eine gewisse Genugtuung.
 

Amemna Darashy neben ihm folgte Hamarems Blick, wurde blaß und murmelte ein paar unverständliche Worte, die wie ein Gebet klangen. "Wie kam es dazu?" fragte er dann flüsternd.
 

"Ich denke, es hatte mit den Plänen, die unser ehemaliger Anführer für Euch hatte, zu tun", flüsterte Hamarem zurück.
 

"Was fürr Pläne?"
 

Aber bevor Hamarem darauf antworten konnte, betraten sie das Zelt und sahen sich in der Gegenwart der beiden neuen Anführer und ihrer Berater, die den Schatz der Banditen zwischen sich liegen hatten und anscheinend gerade darüber verhandelten, wie er aufzuteilen sei.
 

Terhan saß dort, wo gewöhnlich Ashan zu sitzen pflegte, neben ihm zwei von Ashans Wächtern und zwei Unterführer, die wie Terhan zu Ashans Günstlingen gehört hatten. Nefut saß mit Doshan, Farhan und seinem eigenen Mann Nesfat nahe dem Eingang und winkte Hamarem, sich mit dem Gefangenen dazu zu setzen. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Verhandlung mit Terhan, bei der es um die Wertbestimmung und Aufteilung des Banditenschatzes in Form von Tafelgeschirr, Schmuck und einigen ausländischen Silbermünzen sowie des letzten Gefangenen ging.
 

Hamarem fragte sich, wie Amemna Darashy sich wohl fühlte, wie ein Kamel oder Pferd taxiert zu werden, aber allem Anschein nach hatte der junge Gefangene Schwierigkeiten, der schnell geführten Verhandlung auch nur zu folgen. Statt dessen hob er nun eine der ausländischen Silbermünzen auf, die in seine Nähe gerollt war. Er rieb sie zwischen den Fingern hin und her, wog sie in den Händen und roch an ihr.
 

"Was ist?" fragte Hamarem, als Amemna Darashy zu einem Schluß seiner Untersuchung gekommen zu sein schien.
 

"Das ist keine Silberrmünze," antwortete der Gefangene bestimmt. "Das ist irrgendeine Legierrung, die nurr den Anschein von Silberr errwecken soll." Und er warf Hamarem die Münze zu, damit er sie selbst in Augenschein nähme.
 

Hamarem fühlte nur kühles Metall. Er biß darauf, um zu versuchen, sie zu verbiegen, wie es mit schlechten Münzen leicht möglich war, aber er erreichte nur, daß ihn seine Zähne schmerzten. "Was ist daran kein Silber?"
 

"Im Zweifel alles", antwortete Amemna Darashy gleichmütig.
 

"Woher wollt ihr das wissen?" fragte Hamarem mißtrauisch zurück. Von den Unirdischen hatte er nie gehört, daß sie sich mit der unbelebten Natur befaßten. Das war eher die Domäne der Dämonen.
 

"Ich bin Goldschmied und habe in Ma'ouwat einige Jahre lang Münzen geschlagen. Ich weiß, wie sich eine Silberrmünze anfühlen muß."
 

Auch wenn dieser Goldschmied noch ein Jüngling war, war das eine plausible Erklärung. Hamarem hätte durch seine Ausbildung innerhalb von Augenblicken feststellen können, woher ein beliebiges Exemplar der Schriften stammte und wie alt es war. Also nahm er die Münze und rutschte hinüber zu Nefut.
 

"Der Darashy sagt, die Münzen sind falsch, Herr", flüsterte er Nefut zu, während Terhan sich gerade mit seinen Leuten auseinandersetzte.
 

Nefut warf verstohlen einen Blick auf die Münze in Hamarems Hand. "Meinst du, daß er vertrauenswürdig ist?"
 

Hamarem nickte. Die Kräfte zwischen Amemna Darashy und Nefut waren harmonisch. "Er sagt, er war Goldschmied in Ma'ouwat."
 

"Terhan, ich denke, wir können die Verhandlungen abkürzen", entschied Nefut. "Ich bin bereit, auf den Schmuck und die Silbermünzen zu verzichten, wenn ich dafür den letzten Gefangenen erhalte."
 

Terhan hielt in dem Gespräch mit seinen Leuten inne und sah Nefut überrascht an. "So plötzlich eingelenkt?" Und dann grinste er. "Wenn Dir Dein 'Unirdischer' so viel wert ist, mir soll es Recht sein. Ich bin einverstanden." Und auch Nefuts und Terhans Männer bekundeten ihr Einverständnis.
 

Als die Einigung erreicht war, versuchte Hamarem, von Nefut Genaueres über den Hergang der Dinge zu erfahren, aber Nefut schwieg. Nesfat, der die Frage ebenfalls gehört hatte, nahm Hamarem beiseite und sagte: "Nefut hat unseren freien Abzug mit dem Leben der Aufständischen erkauft."
 

"Was soll das heißen?" fragte Hamarem erschrocken.
 

"Außer Ashan starben nur Enwar und Paltar bei dem Aufruhr. Die anderen vier verlangte Terhan als Preis für den freien Abzug der eidbrüchigen Unterführer und ihrer Männer."
 

Das erklärte, warum an den meisten Leichen so auffällig wenig Blut zu sehen gewesen war: sie waren durch Erdrosseln hingerichtet worden. Hamarem versuchte, die Gedanken an die Toten zu verdrängen. Jetzt war wohl wichtiger, so schnell wie möglich die Zelte abzubauen und abzuziehen, bevor Terhan auf die Idee kam, daß das Leben der vier Aufständischen das Leben Ashans doch nicht aufwog.
 

*
 

Innerhalb einer guten Stunde war nahezu das halbe Banditenlager und die Reste des Gefangenenlagers abgebaut und der Schatz wie vereinbart zwischen den Anführern aufgeteilt worden. Männer, die die Bande verließen, erhielten stets ihren Teil der Beute. Nefut hatte allerdings ausgehandelt, daß seine Männer nur einen geringen Teil des Schatzes in Münzen erhielten und die Gruppe statt dessen außerdem Zelte und Vorräte, elf Pferde, zwei Kamele und ein Schwert bekam. Das Schwert war für Hamarem bestimmt.
 

"Herr, ich brauche kein Schwert. Mein Dolch hat mir bisher gute Dienste geleistet", wandte Hamarem ein, als Nefut es ihm, das Heft voran, reichte. Alles in Hamarem sträubte sich dagegen, das Schwert zu ergreifen.
 

"Wenn du dich mit uns anwerben lassen willst, wirst du es tragen müssen", entgegnete Nefut leise aber unnachgiebig. "Ansonsten steht dir natürlich frei, deiner eigenen Wege zu gehen."
 

"Herr!" wandte Hamarem vorwurfsvoll ein. Es wäre ihm niemals eingefallen, Nefut zu verlassen, und da Nefut den jungen Darashy mit sich nehmen würde, gab es für Hamarem noch einen Grund, weiterhin seinem Herrn zu folgen. Hamarems eigenes Schicksal war mit dem Amemna Darashys verbunden, das war durch den jüngsten Traum von der geflügelten Schlange mehr als klar geworden.
 

Doch dann wurde Hamarem bewußt, was Nefut gesagt hatte. Er und alle, die mit Nefut das Banditenlager verließen, würden sich in Nemis von den Hannaiim anwerben lassen und in einen Krieg ziehen. Es blieb ihm also anscheinend nichts anderes übrig, als das Schwert zu nehmen. In Nefuts Hand sah es nach nicht mehr als einem lackierten Stock aus. In das Heft waren Falken geschnitzt, das Zeichen der Tashrany.
 

Hamarem atmete tief ein, versuchte, mit der Luft zugleich Mut zu fassen und griff nach dem schön verzierten Heft. Es lag gut in der Hand und würde ihm durch die Schnitzereien auch in feuchtem Zustand nicht leicht wegrutschen. Feucht vom Blut der Männer, die er damit töten würde. Hamarem fiel es schwer, das Aufsteigen der Übelkeit einzudämmen und er war froh, neben seinem Pferd zu stehen. Er steckte das Schwert zu seinem Gepäck hinter den Sattel. Noch konnte keiner von ihm verlangen, daß er das Mordinstrument tatsächlich am Körper trug. Dann schwang er sich auf sein Pferd.
 

Amemna Darashy wurde ebenfalls auf ein Pferd gesetzt, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Hamarem war sicher, daß Nefut vorhatte ihn freizulassen, aber nur als Nefuts Gefangener war sichergestellt, daß der junge Mann nicht doch noch Terhan in die Hände fiel und als Sklave verkauft wurde. Nefuts Besitz würde keiner von Terhans Männern anrühren. Und Nefut verließ mit seinen neun Männern und einem Gefangenen, dessen Pferd Hamarem am Zügel führte, das Lager der Banditen.
 

* * *
 

7. Die Beförderung

An der Wasserstelle von Bussir, wenige Wegstunden von dem Lager der Stammeslosen entfernt, machte Nefut mit seinen Männern halt und befahl, die Zelte für die Nacht aufzubauen. Er überließ den jungen Darashy Hamarems erprobter Obhut, dann führte er sein Pferd zur Tränke, streifte das Kopftuch ab, wusch sich das Gesicht und trank auch selbst ein paar Schluck aus der hohlen Hand. Als das Wasser sich beruhig hatte, sah ihm ein alt gewordener Mann mit angegrauten Schläfen, von weißen Haaren durchzogenem Bart und müdem Blick aus dem Wasser entgegen. Bis auf die langen Haare fast ein Ebenbild seines Vaters, bevor dieser sich vom Kriegshandwerk zurückzog und wieder eine Schmiede einrichtete. Nefut war damals etwa so alt gewesen, wie der junge Darashy, gerade alt genug, um des Ehebruchs angeklagt und verbannt zu werden. Heute nun hatte er seinen Anführer verraten, dem treu zu dienen er einst geschworen hatte. Und als reiche Ashans Blut an seinen Händen noch nicht, hatte er Terhan auch noch zugestanden, die restlichen Aufständischen, einschließlich Farhans Bruder Nefut, der noch ein halbes Kind gewesen war, hinzurichten. Nefut ertrug seinen eigenen Anblick nicht länger und wischte sein Spiegelbild aus dem Wasser, trank eine weitere Handvoll, sah in die Wüste hinaus.
 

Farhan hatte ohne mit der Wimper zu zucken zugesehen, wie seinem Bruder die Schlinge um den Hals gelegt und zugezogen wurde, doch die Anspannung in seinen Kiefermuskeln war nicht zu übersehen gewesen. Doch was anderes hätte Farhan tun können, wollte er nicht ebenfalls das Leben verlieren. Wozu hatte Nefut die anderen vor einer sicheren Bestrafung, vielleicht sogar vor einer Hinrichtung durch Terhans Männer eigentlich gerettet? Er wollte sie doch als Söldner der Hannaiim in einen Kampf führen, dem sie kaum gewachsen waren und den sie folglich nicht überleben würden: Farhan, der eher als Schriftgelehrter denn als Bandit taugte und während härterer Kämpfe meist zu denen gehört hatte, die Blessuren davontrugen; den bedächtigen Doshan, der zwar besser kämpfte als Farhan aber im Zweifelsfall nicht schnell genug reagieren würde, um sein Leben oder das eines anderen zu retten; Hamarem, der Waffen so sehr haßte, daß er sie nicht einmal in die Hand nehmen wollte, fünf weitere junge Männer, die alle nicht die geringste Vorstellung von einem echten Krieg hatten. Einzig der schon deutlich ältere Derhan mochte in dieser Hinsicht einige Erfahrungen haben, denn seine Kenntnisse als Wundarzt konnten nicht allein aus seiner Zeit bei den Stammeslosen stammen. Und alles auf das Wort eines dahergelaufenen jugendlichen Darashy hin, der auf welch verschlungenen Wegen auch immer irgendwie zu der Schlangenklinge gekommen war. Allerdings waren die Waffenfertigkeiten Amemna Darashys anerkennenswert, er hatte dem legendären Schwert Murhan Darashys an dem Tag des Überfalls keine Schande gemacht.
 

Wie mochten die Männer auf die Eröffnung reagieren, daß Amemna Darashy sie als Wanack der Söldnereinheit nach Nemis führen sollte? Der junge Mann galt den Männern als Unirdischer, auch wenn die wenigsten anscheinend mehr damit verbanden als die Pflicht zu frommer Scheu und die Geschichten, die an den Herdfeuern über die weißhaarigen geflügelten Halbgötter erzählt wurden. In den Schriften galten die Unirdischen und ihre menschlichen Nachkommen als die Kulturstifter, die großen Helden und überragenden Kämpfer. Sie vollbrachten Dinge, die kein rein sterblicher Mensch vollbringen konnte und am Ende ihres Lebens zogen sie sich in Falkengestalt in die Gärten der Freude zurück, die ihnen durch Geburtsrecht offenstanden, ungeachtet ihrer Taten oder Untaten unter den Menschen. Und auch für ihre Getreuen war zumeist ein Platz in den Gärten der Freude vorgesehen.
 

Hamarem war offenbar recht sicher, daß der Junge unirdisches Blut in seinen Adern hatte, sonst hätte er sich nicht so drängend für seine Freilassung eingesetzt. Und ihm war in diesen Dingen gewöhnlich zu trauen. Trotzdem stimmte irgendetwas mit diesem Amemna Darashy ganz und gar nicht. Wieso war er allein mit der Karawane nach Norden gereist und warum hatten die Darashy nicht auf die Lösegeldforderungen reagiert? Hamarem hatte erzählt, daß der Junge den Brief mit der Forderung selbst geschrieben hatte und daß auch ein Brief nach Ma'ouwat geschickt worden war. Was hatte in diesen Briefen gestanden? Trug der Junge den Namen Darashy womöglich nur, weil sein Vater ihn zu Recht getragen hatte, aber nicht, weil er selbst in den Zelten aufgewachsen war? Er hatte das Schmiedehandwerk gelernt, war Goldschmied in Ma'ouwat gewesen, hatte Hamarem erzählt. Die Darashy waren berühmt für ihre Schmiede und auch sein Akzent würde für ein Aufwachsen im Süden sprechen. Aber außerdem konnte er schreiben und war ein überaus fähiger Schwertkämpfer.
 

Langsam schlenderte Nefut von der Tränke zu den Zelten, in denen bereits die Kochfeuer brannten. Dieser bartlose Jüngling war entweder tatsächlich unirdischer Herkunft oder mußte schon ein paar Jahre älter sein, als er erschien.
 

*
 

Als die Dunkelheit hereingebrochen war, ließ Nefut Amemna Darashy zu sich bringen. "Wir brauchen Geld für unseren Weg nach Nemis. Kannst du uns aus den Gefäßen Münzen prägen, Goldschmied?" begann Nefut seine Befragung.
 

"Ich kann es verrsuchen", antwortete Amemna Darashy. "Aber ich habe keine Errfahrrung im Münzstempel-Schneiden. Außerrdem sind Münzen mit einem unbekannten Bild verrdächtigerr als Töpfe und Kannen, die ihrr in jederr Stadt zu ihrrem Metallwerrt verrkaufen könnt."
 

Diese Antwort klang vernünftig. "Wenn wir eine Stadt erreichen, werde ich es tun."
 

Hamarem brachte zwei Schalen und den Tee, schenkte ein und zog sich diskret in den Schatten zurück.
 

"Zu deinem Vorschlag, Goldschmied", begann Nefut dann wieder und der Junge sah überrascht von seiner Teetasse auf.
 

"Du hattest vorgeschlagen, daß die Stammeslosen sich in Nemis für das Heer anwerben lassen, das dort gesammelt wird."
 

Amemna Darashy nickte und wartete wie ein gut erzogener Oshey-Jüngling höflich darauf, daß der Ältere wieder zu sprechen begann.
 

"Sicherlich ist das Handgeld und der Bonus, etwa für eine Wannim - eine Einheit von zehn Männern zu Pferd - mehr, als wir als Lösegeld für dich erhalten hätten. Das Problem ist nur, daß sie uns kaum mit offenen Armen empfangen werden." Ganz abgesehen davon, daß ihnen ohne den Jüngling ein Mann zur Wannim fehlte.
 

Der fragende Blick des Jungen zeigte Nefut, daß er die Tragweite dessen, was es hieß, aus einem Stamm ausgestoßen zu sein, nicht erfaßte. Und anscheinend auch nicht einmal ahnte, wie andere Oshey und erst die Städter Stammeslosen gegenübertraten, wenn sie wußten, daß sie mit ihnen zu tun hatten.
 

"Wir sind Stammeslose: Rechtlose und Vogelfreie in den Augen der Oshey, Banditen und der Bodensatz der Gosse in den Augen der Städter. Wir können uns nicht als Stammeslose in Nemis anwerben lassen. Wir brauchen einen ehrlichen Namen - zumindest einen Anführer mit einem ehrlichen Stammesnamen, einem Namen wie Darashy."
 

Das verstand Amemna Darashy schnell. "Aberr was soll ich in einem Heerr?" fragte er erschrocken. Die Panik ließ ihn erbleichen und sehr jung aussehen.
 

Fast hatte Nefut Mitleid mit ihm, aber es gab kein Zurück mehr zu Terhan und seinen Leuten. Außerdem würden die Männer wohl eher dem Unirdischen als Nefut in ein solch gefährliches Abenteuer wie einen Krieg folgen. "Du hältst dich gut im Sattel, und als wir dich gefangen nahmen hast du dich tapfer gewehrt. Im Schwertkampf bist du besser als die meisten hier - und du trägst in jedem Fall einen besseren Namen." Nefut nahm die Schlangenklinge in die Hand, die neben ihm gelegen hatte. Seinem Blick nach erkannte Amemna Darashy das Schwert wieder. Nefut reichte es ihm.
 

Der junge Darashy griff nicht danach. "Ich soll also eurre Handpuppe sein und ihr befehlt weiterrhin, bis euch gefällt, mich schließlich doch zu verrkaufen."
 

Nefut schüttelte den Kopf. "Nein, du bist frei. Wenn du willst, geh deiner Wege und wir ziehen allein nach Nemis um unser Glück zu versuchen. Aber unter deinem Namen werden wir eher ehrenhaft behandelt und durch dein Wissen sofort entdecken, falls man uns mit falschem Geld bezahlen will." Wenn der Jüngling tatsächlich ging, war der Plan, die Männer durch die Anwerbung in Nemis zu ernähren, zum Scheitern verurteilt, da war Nefut sicher, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. "Sei unser Anführer, unser Wanack", fuhr er fort. "Es heißt doch, die Unirdischen seien in allen Künsten der Menschen meisterhaft bewandert. Sicher wirst du der größte Kriegsherr, den die Oshey seit Hermil Tashrany hervorgebracht haben."
 

Diese Worte schienen dem jungen Mann zu schmeicheln. "Aber ich bin doch auf dem Weg nach Hannai und will nicht in irrgendeinen Krrieg ziehen", klagte er, doch in seinen Augen sah man schon jenes Glitzern, die Hoffnung auf Ruhm und Ehre in einer Schlacht.
 

Nefut ging auf das Spiel ein. "Dann zieh deiner Wege", und er streckte dem Jungen die Schlangenklinge noch ein bißchen weiter entgegen.
 

Nun griff Amemna Darashy danach. Seine Hände umschmeichelten Heft und Scheide, dann legte er es auf seinen Schoß. "Ihrr habt eurre Handpuppe, Stammesloserr. Aber ich denke, ihrr solltet derr Befehlshaberr bleiben."
 

Nefut mußte grinsen. "Ich werde dein Zweiter sein, Wanack Darashy."
 

"Wanack", flüsterte Amemna Darashy.
 

Anführer von zehn Stammeslosen zu Pferd würde er sein - und vielleicht seine erste Schlacht nicht überleben.
 

*
 

Beim gemeinsamen Nachtessen eröffnete Nefut seinen Männern schließlich die Entscheidung, daß sie nun unter dem Befehl des jungen Darashy, der wohl unirdischer Herkunft war, nach Nemis ziehen würden, um sich dort als Söldnerwannim einschreiben zu lassen.
 

Für einen Moment war es so still, daß man nur die Fliegen summen hörte, und Farhan sah sehr erschrocken aus.
 

"Ein Hoch auf unseren Wanack!", rief Doshan aus, was nun wieder den frischgebackenen Wanack zusammenzucken ließ. Aber er würde sich an den Titel gewöhnen, dafür würde Nefut schon sorgen. Von Doshans und Nefuts Männern kam verhaltene Zustimmung, Derhan und Telwar dagegen warteten noch auf eine Reaktion ihres Anführers Farhan, der gerade seinen kleinen Bruder durch dessen Eintreten für den jungen Darashy verloren hatte.
 

Schließlich nickte Farhan langsam. "Ich werde Wanack Darashy folgen."
 

Auch Telwar neigte zustimmend den Kopf.
 

Derhan zögerte noch und würde sich sicherlich nicht durch Argumente bezüglich der unirdischen Natur ihres Wanack bewegen lassen, also sagte Nefut gemessen: "Ich werde unserem Wanack in jedem Falle mit Rat und Tat beistehen."
 

Derhan strich durch seinen grauen Bart und grinste. "Ohne mich wär' es doch keine Wannim, nicht wahr?"
 

* * *
 

8. Zeltgenossen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

8. Zeltgenossen (jugendfrei)

Während des gemeinsamen, aber sehr schweigsamen Abendessen in Doshans Zelt offenbarte Nefut den Männern, daß das Ziel ihres Weges Nemis und die Einschreibung in die Heereslisten der Hannaiim war. Außer Hamarem hatte anscheinend keiner Einwände dagegen und Hamarem schwieg. Nefut kannte seine Ansicht zu dem Thema, wenn auch nicht die Gründe dafür, und Nefut wußte auch, daß Hamarem ihm dennoch folgen würde.
 

Später wurde Doshans Mann Oremar und einem von Farhans Männern die Wache übertragen und die anderen zogen sich nach dem ereignisreichen Tag in ihre Zelte zurück. Wie Nefut hatten auch Farhan und Doshan jeweils für sich und ihre verbliebenen Männer ein Zelt aufstellen lassen. Für den ehemaligen Gefangenen war ein viertes Zelt errichtet worden, das nun plötzlich zum Wanackzelt geworden war.
 

"Hab bitte ein Auge auf unseren jungen Wanack, Hamarem", bat Nefut seinen ehemaligen Zweiten. "Ich befürchte zwar nicht, daß er uns verläßt, aber vielleicht möchte er in dieser Nacht etwas Gesellschaft."
 

Hamarem erschrak darüber so sehr, daß er das Gefühl hatte, sein Herz würde ein paar Schläge aussetzen. Es konnte keine gute Idee sein, mit Amemna Darashy das Zelt zu teilen, nicht nach den vergangenen Träumen. Die Furcht schlug so hohe Wellen in Hamarem, daß er drauf und dran war, Nefut zu widersprechen, aber dann schloß er seinen Mund schnell wieder. So wohlerzogen war der junge Mann, er konnte doch nicht wirklich ein Dämon sein. Und wenn Hamarem vermied, ihn zu berühren, würde es auch keinen der beunruhigenden Träume geben. Also nickte Hamarem nur und setzte den frisch ernannten Wanack von Nefuts Idee in Kenntnis. Dieser akzeptierte klaglos, daß sein ehemaliger Aufseher weiterhin an seiner Seite blieb, aber zu Hamarems großer Beruhigung teilte er den Zeltraum mit Decken, die er über eine quer gespannte Leine legte.
 

Lange hörte man noch Stimmen aus dem Lager, leises Klagen, das unruhige Scharren von Füßen über den Sand. vermutlich fiel es keinem in dieser Nacht leicht, einzuschlafen, denn jeder der Männer hatte einen Vertrauten oder Freund verloren - oder im Falle Farhans sogar einen Bruder. Daß ausgerechnet der Kleine Nefut und Tyrimar, die ja noch halbe Kinder gewesen waren, zu den Hingerichteten gehört hatten, war schrecklich. Und nicht weniger schrecklich war Nefuts wie versteinert wirkendes Gesicht gewesen, als Hamarem ihn ahnungslos nach dem Hergang der Dinge, die zur Teilung der Bande geführt hatte, befragte. Warum hatte Nefut nicht versucht, die vier überlebenden Aufständischen ebenfalls freizubekommen? Mit Waffengewalt gegen zwanzig Banditen auf Terhans Seite wäre es natürlich nicht geglückt, aber Nefut war doch immer ein geschickter Unterhändler gewesen, der gewöhnlich bekam, was er wollte.
 

Da Hamarem auch nach vielfachem Drehen und Wenden seiner Gedanken nicht herausfand, was bei den Verhandlungen so schief gelaufen sein konnte, daß Nefut die vier hatte opfern müssen, begann er zur Ablenkung stumm die einhundert Lehrsätze der Ahnen der Stämme zu rezitieren. Während dessen kehrte im Lager endlich etwas Ruhe ein, aber Hamaren konnte hören, wie Amemna sich auf seiner Schlafstatt noch immer unruhig hin- und herwälzte. Und irgendwann, wohl mitten in der Nacht, als Hamarem immer noch mit den Lehrsätzen beschäftigt war, hörte er, wie der Vorhang zwischen ihren Schlafstätten beiseitegeschoben wurden und der junge Darashy an sein Lager trat, sich neben Hamarem auf den Boden niederließ und zaghaft fragte: "Schlaft ihrr, Herrr?"
 

Darüber mußte Hamarem lächeln. Er setzte sich auf. "Herr, als Wanack ist es für euch nicht angemessen, mich, euren Diener, so ehrerbietig anzusprechen", sagte er in die Dunkelheit, die nur durch das Glitzern der unruhigen Kräfte um den jungen Mann erhellt wurde.
 

"Ach, Wanack ist doch nurr ein leerres Worrt. Ich bin doch noch immerr abhängig von den Entscheidungen eurres Anführrerrs", wandte Amemna Darashy leise ein. Seine Kräfte zeigten seine Resignation.
 

Hamarem schüttelte den Kopf, auch wenn sein Gegenüber das nicht sehen konnte. "Das ist keineswegs so, Herr", wandte er dann ein. "Füllt euren Titel mit Bedeutung und ihr werdet wie ein Wanack behandelt. Wenn ihr Nefut befehlt, wird er euch folgen oder allenfalls versuchen, euch mit Argumenten umzustimmen. Er steht gewöhnlich zu seinem Wort."
 

Darüber dachte der junge Mann anscheinend ein Weilchen nach, denn er schwieg. "Und wie ist euerr Name, damit ich euch als meinen Dienerr angemessen ansprrechen kann?" fragte er dann, mit einer Spur von Humor wie es Hamarem schien.
 

"Bitte nennt mich Hamarem, Herr", antwortete Hamarem gehorsam.
 

"Hamarrem also", sagte Amemna Darashy fast flüsternd. "Und du wirrst mich forrtan immerr mit 'Herrr' ansprrechen?" fragte er dann.
 

"Das wäre die angemessene Bezeichnung. Aber ich kann euch auch 'Wanack' nennen, wenn euch das lieber ist", gab Hamarem ebenfalls flüsternd zurück, obwohl nicht anzunehmen war, daß sie durch ein Gespräch in normaler Lautstärke die Männer in den anderen Zelten hätten stören können.
 

"Mirr wärre 'Amemna' am liebsten", bekannte der junge Mann.
 

Die Anrede mit Namen hatte sich Hamarem nicht einmal Nefut gegenüber gestattet, trotz der generell mangelnden Umgangsformen im Banditenlager. Erschreckenderweise kam Hamarem bei seinem neuen Wanack dagegen in Versuchung, nun mit 'Ja, Amemna' zu antworten. "Das ist gänzlich ausgeschlossen, Herr", gab er also bestimmt zurück.
 

Amemna seufzte vernehmlich.
 

"Ihr fühlt euch hier allein, nicht wahr, Herr?" fragte Hamarem mitfühlend.
 

"Ja", gab der junge Mann unumwunden zu. "Und auch wenn ich nicht dem Namen nach ein Gefangenerr bin, muß ich doch mit euch nach Nemis ziehen und den Krriegszug mitmachen... mirr fehlt meine Familie, meine Liebsten..." Amemnas Stimme erstarb in einem fast lautlosen Schluchzer.
 

Obwohl Hamarem nur die trägen Kräfte um den gebeugten schwarzen Schatten vor der etwas weniger schwarzen Zeltwand ausmachen konnte, griff ihm der Kummer des jungen Wanack mit solcher Macht ans Herz, daß er unbedacht einem Impuls folgte und den leise weinenden Jüngling in die Arme schloß. Für einen Moment erstarrte Hamarem, doch dann wurde ihm bewußt, daß es nun für ein Zurück zu spät war, also ließ er seine Arme wo sie waren und gestattete Amemna, das tränennasses Gesicht an seine Schulter zu legen.
 

Haltsuchend und kraftvoll zugleich umfaßten Amemnas Arme wiederum Hamarem.
 

Durch den dünnen Stoff des Untergewandes fühlte Hamarem den warmen, muskulösen Rücken, der hin und wieder in halberstickten Schluchzern erbebte. Es fühlte sich so unfaßbar gut an, diesen jungen Mann in den Armen zu halten, daß Hamarem schwindelig vom plötzlich aufsteigenden Verlangen wurde. Trotzdem unterdrückte er den Impuls, den anderen von sich zu stoßen, legte die Wange an Amemnas Schulter und versuchte, in ihm nicht mehr zu sehen, als einen jungen Mann, der Trost brauchte, und keine anderen als brüderliche Gefühle für ihn zu hegen.
 

Was war eigentlich verkehrt daran, ein so vollkommenes Wesen wie einen Unirdischen zu lieben, nur weil er zufällig das selbe Geschlecht wie Hamarem selbst hatte? Doch natürlich war Amemna kein Unirdischer, sondern allenfalls ein menschlicher Abkömmling eines oder einer Unirdischen. Ein Mensch, der sich so wunderbar in seinen Armen anfühlte und so verführerisch duftete, daß es Hamarem die Kehle zuschnürte vor Unfassbarkeit über diesen Moment. Ein Mensch, den er nach dem Willen der Weisen und Heiligen nur wie einen Bruder lieben durfte. Doch einen Bruder durfte er trösten, er durfte ihm mit einer Hand sanft über das unglaublich weiche Haar steichen und ihm beruhigend, wie einem Kind zuflüstern: "Du bist hier nicht allein. Ich werde immer für dich da sein." Gleich darauf wollte Hamarem sich auf die Zunge beißen für die unbedacht gewählte vertrauliche Anredeform.
 

Eine ganze Weile saßen sie so da, eng umschlungen, während Amemnas Schluchzer seltener wurden und nun auch weniger verzweifelt klangen. Schließlich löste Amemna sich aus der Umarmung mit den Worten: "Ich danke dirr, Hamarrem." Dann erhob er sich und zog sich hinter den improvisierten Vorhang zurück.
 

Hamarem legte sich auf sein Lager und wartete mit aufgeregt klopfendem Herzen auf den Schlaf. Da sie sich berührt hatten, Würde er wieder einen Traum von Amemna haben. Und einen Traum verboten die Weisen und Heiligen nicht.
 

*
 

Der Horizont färbte sich bereits orange, als Hamarem erwachte. Neben sich sah er Amemna sitzen, der aus dem Zelteingang in die Ferne blickte und sich zu ihm drehte, als er merkte, daß Hamarem erwacht war. "Hast Du mich diese Nacht errwarrtet?" fragte er leise.
 

Hamarem nickte stumm. Obwohl die Sonne schon aufging, war im Lager von den anderen Männern noch nichts zu hören.
 

Amemna beugte sich herunter zu Hamarem und küßte ihn sanft auf die Lippen. Auf diesen glühenden Strom der Lust, der ihn nun plötzlich durchfuhr, hatte Hamarem voller Verlangen und voller Furcht gewartet. Was mochte weiter passieren, wenn er seinem Wanack nicht Einhalt gebot? Was, wenn die anderen sahen was hier passierte? Doch das Pochen in Hamarems Lenden machte das Nachdenken über mögliche Folgen schwierig.
 

Amemna streifte sein Untergewand ab und noch einmal beugte er sich zu Hamarems Gesicht, streichelte seinen Bart, legte die Lippen auf Hamarems Lippen, drückte sie mit seiner Zunge spielerisch auseinander und saugte leicht an Hamarems Unterlippe.
 

Hamarem schmolz dahin, ließ sich fast willenlos entkleiden und nahm wie unter Betäubung wahr, daß Amemna sehr sanft seinen Schoß mit zartduftendem Öl salbte ...
 

*
 

Als Hamarem wieder zu sich kam, allein auf seinem Lager, dämmerte es gerade. 'Ein Traum also', ging Hamarem durch den Kopf. Sein Untergewand trug er noch, doch da war ein klebriger Fleck an der Innenseite, wo sein Samen haftete. Er glaubte sogar, noch den zarten Mandelduft des Öls riechen zu können.
 

Nie zuvor hatte er seine Lust mit einem anderen Menschen geteilt. Wie konnte er da solche Träume über die Vereinigung mit einem jungen Mann haben? War da nicht doch zu befürchten, daß die Träume dämonischen Ursprungs waren? Die Dämonen Chelems waren doch die Verderber der Menschen, immer bestrebt, sie vom Wahren Weg abzubringen, den die Schriften der Weisen und Heiligen vorgaben. Und das war wohl auch der Grund für seine Angst vor den Träumen, denn wenn er wach war fanden sie ihr Echo in seinen Gedanken und Gefühlen Amemna gegenüber. Angesichts dessen hatte der Dämon anscheinend bereits Erfolg gehabt.
 

* * *
 

9. Das Fest

Der Ritt von Bussir zur Mondoase, die nur einen halben Tagesritt von Hannai entfernt war, verlief erfreulicherweise ereignislos. Nefut hatte zwar Terhans Wort, aber wie sicher konnte er sein, daß nicht einer der anderen bei den Stammeslosen verbliebenen Unterführer auf eigene Faust versuchte, den Abtrünnigen den Garaus zu machen? Und wie sicher konnte er sein, daß Farhan und Doshan ihm weiterhin folgten?
 

Die Mondoase war bewohnt, es gab ein paar Bauern, bei denen frische Früchte und ein paar Zicklein gekauft werden konnten, also beschloß Nefut, daß am heutigen Abend die Einsetzung des Wanack in sein Amt zu feiern sei. Und bevor Doshan und Farhan ihre Männer zum Aufbau der Zelte schicken konnten, hielt er sie zurück. "Laßt uns heute abend ein Fest feiern. Dann brauchen wir nur ein Zelt, in dem wir alle die Nacht verbringen können." Denn die Männer, die sich immer noch als 'Farhans Männer', 'Doshans Männer' oder 'Nefuts Männer' sahen, als wären sie weiterhin ein Teil von Ashans Bande, mußten zu einer Wannim werden. Bisher schliefen und aßen sie getrennt voneinander, als hätten sie nicht mehr miteinander zu tun als ihre gemeinsame Vergangenheit. Daß sie in der Zukunft auf Leben und Tod voneinander abhängig waren schien keinem klar zu sein. Aber wie auch, unerprobt in Kriegsdingen wie sie nun einmal waren. Es wäre die Aufgabe ihres Wanack sie zu einen - doch der junge Darashy war zu unerfahren, um das selbst zu erkennen. Also mußte Nefut, als Zweiter des Wanack, dafür sorgen, daß die Männer zusammenfanden.
 

Doshan schien Nefuts Absicht zu ahnen. "Wir sollten besser schon heute Nacht die Zeltgemeinschaften formen, die auch im Heerlager Bestand haben können. Ein Zelt für unseren Wanack, eines für die ehemaligen Unterführer und Zweiten und eines für die Mannschaft."
 

"Das ist eine gute Idee", stimmte Nefut zu. "Das macht dann fünf Mann pro Zelt."
 

"Wäre es nicht sinnvoller, dafür zu sorgen, daß die Mannschaft ein wenig sittliche Führung hat?" wandte Farhan ein.
 

"Und wer sollte für diese 'sittliche Führung' wie du sie nennst, sorgen?" fragte Nefut herausfordernd.
 

Farhan zuckte mit den Schultern. "Das ist mir egal. Vielleicht Hamarem oder Derhan?"
 

Doch Doshan warf ein: "Nein, keiner unserer ehemaligen Zweiten. Laß Farhan den Unterführer machen, wenn er so darauf besteht."
 

Nefut nickte und Farhan zuckte wiederum mit den Schultern. "Meinetwegen."
 

Also wurden nur zwei der großen Zelte aufgebaut und das kleinere für den Wanack. Nefut gab fast seinen ganzen Anteil am Schatz der Stammeslosen für das Festmahl aus, kündigte das abendliche Fest zu Ehren ihres neuen Wanack an und opferte Tyrima das Blut der drei Zicklein. Und schon während der Festvorbereitungen stellte Nefut dann fest, daß sein Geld für das Festmahl offenbar gut angelegt war. Farhans, Doshans und Nefuts eigene Männer schmückten gemeinsam den freien Platz zwischen den drei Zelten, um diese Nacht unter freiem Himmel, gewissermaßen unmittelbar unter Orems Mantel zu speisen, sie bereiteten gemeinsam eine große Feuerstelle vor, die in der Nacht genügend Wärme spenden würde, sie saßen beim Häuten und Ausnehmen der Zicklein einträchtig nebeneinander und tauschten während der Zubereitung des Fleisches Rezepte aus.
 

Doch auch die Waffenübungen, die sie im Lager der Stammeslosen täglich abgehalten hatten, mußten sie - alle gemeinsam - fortsetzen. Nefut suchte seinen ehemaligen Zweiten und fand ihn in einem der Mannschaftszelte. Hamarem saß während der Mittagshitze im vergleichsweise kühlen Zelt und las in einer dicken, abgegriffenen und an den Rändern schon eingerissenen Schriftrolle. Nefut war klar, daß Hamarem seine Kenntnisse über die Schriften wohl nur aus der eingehenden Lektüre dieser Schriften und der Kommentare dazu gewonnen haben konnte, aber tatsächlich lesend hatte er ihn selten gesehen. Nefut zögerte, Hamarem anzusprechen, weil er so sehr in seine Lektüre vertieft war und die Enden der Rolle festhielt wie ein Ertrinkender einen Baumstamm festhalten mochte, aber da sah Hamarem schon auf.
 

"Was ist, Herr?" fragte er in seiner stets höflichen Art, aber er sah sonderbar aus, als er zu Nefut aufblickte.
 

"Ich will fragen, wie unser junger Wanack seine Beförderung verkraftet hat", begann Nefut also.
 

Hamarem legte die Schriftrolle beiseite. "Ich denke, er hat die Tragweite inzwischen verstanden, auch wenn er wohl lieber nicht mit in den Krieg ziehen würde."
 

Nefut sah Hamarem deutlich an, daß auch er kein großes Interesse daran hatte, in den Krieg zu ziehen, aber er war zu treu, um die Entscheidung Nefuts auch nur in Gedanken anzuzweifeln. Nefut wußte, daß Hamarem ihm überall hin folgen würde, selbst wenn es sein sicherer Untergang sein sollte.
 

"In Hannai werdet ihr das Silbergeschirr verkaufen, nicht wahr Herr?" fragte Hamarem plötzlich.
 

Nefut mochte nicht an den nächsten Tag denken, der die Männer näher an Nemis, näher an den Kriegszug und wohl auch näher an ihren Tod brachte, aber er nickte. "Ja, wir werden in Hannai das Silbergeschirr verkaufen."
 

"Ich brauche einige Kräuter, die ich nur in Hannai bekommen kann", rückte Hamarem dann mit der Sprache heraus.
 

"Hast du bei den Bauern hier schon gefragt? Zumindest bei Früchten haben sie eine außergewöhnliche Auswahl."
 

Hamarem schüttelte den Kopf. "Nein, meine Kräuter haben sie nicht. Deswegen möchte ich euch ja auch bitten, mir zu gestatten, euch nach Hannai zu begleiten, Herr... auch wenn ich eigentlich unseren Wanack be...aufsichtigen soll."
 

"Das werden auch die anderen Männer schaffen. Du kannst gerne mit in die Stadt kommen."
 

Hamarem nickte dankbar.
 

"Wir sollten die Waffenübungen fortsetzen", brachte Nefut dann sein eigentliches Anliegen vor. "Ich werde unseren Wanack fragen, ob er sich uns anschließt... und du solltest auch teilnehmen, Hamarem", mahnte Nefut noch an.
 

Und Hamarem nickte gehorsam.
 

"Wenn es etwas kühler geworden ist, fangen wir an", sagte Nefut, dann verließ er das Zelt. Als er schon einige Schritte gegangen war, fiel Nefut plötzlich auf, was ihm an Hamarem so seltsam erschienen war. Hamarem hatte stark gerötete Augen gehabt, als hätte er geweint. Ob er um ihren gemeinsamen Zeltgenossen Mutar getrauert hatte und in den Schriften las um dort Trost zu finden? Nefut erinnerte sich, daß die beiden gelegentlich die halbe Nacht beisammengesessen und geredet hatten.
 

Auch Wanack Darashy saß im Schatten seines Zeltes und las in einer ungewöhnlich kleinformatigen Schriftrolle. Wo mochte er die herbekommen haben? "Ich möchte dich bitten, an unseren Waffenübungen zu Fuß und zu Pferd teilzunehmen, Wanack", begann Nefut, ohne sich mit Förmlichkeiten aufzuhalten.
 

"Waffenübungen zu Pferd habe ich bisher noch nicht gemacht", warf der junge Darashy ein.
 

'Unsere Pferde sind schlachterprobter als unsere Männer', war Nefut versucht zu antworten, aber warum sollte er dem jungen Mann unnötig den Mut nehmen? Statt dessen sagte er: "Ein Grund mehr, spätestens heute damit anzufangen."
 

Auch Amemna Darashy nickte gehorsam und Nefut war zufrieden. Die Waffenübungen würden das Gemeinschaftsgefühl stärken. Und selbst wenn sich in den wenigen Tagen, die ihnen blieben, die Fähigkeiten der Männer nicht verbesserten, würden sie im Kampf einander doch eher beistehen, hoffte Nefut.
 

*
 

Als die Sonne wieder tiefer stand und für das Festmahl alles bereitet war, fanden sich tatsächlich alle Männer zwischen den Zelten zu den Waffenübungen ein. Kampfübungen zu Fuß hatten Ashans Unterführer mit ihren Männern täglich abgehalten, auch wenn Nefut wußte, daß seine Männer sie während der Zeiten, in denen Hamarem für sie verantwortlich gewesen war, nicht fortgeführt hatten. Doch nun war auch Hamarem gekommen, mit einem schwertlangen Übungsstock im Gürtel, auch wenn er das Schwert, das er nun besaß, noch immer nicht anrührte.
 

Als Nefut die seinen Männern bereits bekannten Übungen vorexerzierte, sahen Farhan und Doshan und ihre Männer zunächst recht skeptisch aus. Nefut hatte die Übungen von seinem Vater gelernt und sie entsprachen nur ansatzweise dem, was in den Stämmen üblich war. Ihr junger Wanack dagegen sah sich nur kurz jede Übung an und machte die Bewegungen dann mit, als hätte er seit Jahren täglich mit Nefut geübt. Er mußte einen guten Lehrmeister gehabt haben oder als Unirdischer wahrhaftig ein Meister in allen menschlichen Künsten sein. Nach Schlag- und Verteidigungsübungen zu Fuß sattelten sie ihre Pferde und kämpften hinter den Zelten am Rand der Oase gegeneinander. Dort stellte Nefut bestürzt fest, daß seine intuitive Einschätzung der Männer richtig gewesen war. Die Pferde, die sämtlich aus Ashans Beutezügen stammten, zuckten kaum mit den Ohren, wenn die Kämpfer sich trafen und die Holzschwerter gegeneinanderschlugen. Und auch wenn die Übungen mit dem Lärm einer Schlacht nicht vergleichbar waren, durchgehen würde wohl keines der Tiere. Aber die Männer achteten nicht auf ihre Deckung oder hätten mit einer scharfen Klinge ihre eigenen Pferde gefährdet. Allein Derhan und der junge Darashy machten eine halbwegs gute Figur.
 

Also brach Nefut den Kampf ab und begann mit grundlegenden Übungen, so daß die Männer wenigstens verstanden, wie sie ihr Leben und das ihres Reittieres im Kampf schützen konnten. Als die Sonne schon tief stand und die Pferde und ihre Reiter schon völlig durchgeschwitzt waren, ließ Nefut die Männer noch einmal zum Abschluß gegeneinander antreten. Beruhigenderweise folgten sie auch jetzt noch widerspruchslos seinen Anweisungen und es sah so aus, als ob sie sogar verstanden hatten, worauf sie achten mußten. Einige der Männer hatten vielleicht doch eine Chance, im Kampf gegen die Gegner Hannais zu bestehen. Und nachdem die Pferde abgerieben und versorgt waren, badeten die Männer in einem kleinen Teich in der Nähe ihrer Zelte, nur ihr junger Wanack ließ sich einen Eimer Wasser in sein Zelt bringen. Vielleicht meinte er, durch die Absonderung und den Verzicht auf die Teilnahme an dem gemeinschaftlichen Badevergnügen, seine Stellung deutlich zu machen. Ob diese Verhaltensweise sinnvoll war, würde sich zeigen.
 

*
 

Am Abend schließlich saßen die Männer bunt gemischt in der Runde, und als Hamarem und Derhan in die Hände klatschten und begannen, ein Willkommenslied für ihren jungen Wanack zu singen, fielen tatsächlich alle mit ein, sogar Farhan, der den Tag über verständlicherweise eher mißmutig und schweigsam gewesen war.
 

Wanack Darashy nahm die Huldigung mit vor Aufregung geröteten Wangen entgegen, erhob sich von dem prächtigen Teppich, auf dem man ihm seinen Platz bereitet hatte und sagte: "Ich danke euch allen. Ihrr habt mich aus derr Gefangenschaft errrettet, und mit Nefuts Hilfe werrde ich euch ein guterr und fürrsorrglicherr Wanack sein, das versprreche ich!" Als er sich wieder setzte, lächelte er Nefut so freundlich an, daß dieser den Verdacht irgendwelcher Hintergedanken in der Formulierung schnell wieder von sich schob.
 

Dann wurden die Speisen aufgedeckt und angesichts des ungewohnten Gaumenschmauses von zartem Fleisch und frischem Obst und Gemüse wurde die Stimmung der Männer noch besser. Es wurde geredet und gelacht und schließlich sprang einer der Männer auf und tanzte zu Derhans Rhythmus. Andere fielen ein und tanzten mit, sangen oder trommelten den Takt auf ihren Oberschenkeln. Gelegentlich versuchte der eine oder andere, Nefut zum mitsingen oder zum mittrommeln zu überreden, aber er winkte ab, nahm sich statt dessen die Zeit, die Männer aufmerksam zu beobachten.
 

Ihren neuen Wanack schienen sie akzeptiert zu haben. Abgesehen von Derhan, der jedoch fraglos Farhan folgte, war er für alle von unirdischem Blut, würde alle Gefahren von ihnen abwenden und dafür sorgen, daß ihnen ein Platz in den Gärten der Freude gewiß war. Wahrscheinlich änderte sich das nach der Bewährungsprobe des Wanack in der ersten Schlacht, wenn sich herausstellte, daß auch ein Mann mit unirdischem Blut nur ein Mann war und einige der Männer qualvoll durch die Schwerter der Feinde starben. Aber diese düsteren Gedanken gehörten nicht hierher. Jetzt feierten alle, scherzten, lachten und umarmten sich, und Nefut lachte mit ihnen. Sie würden eine echte Wannim werden.
 

Die Zeit verging so schnell, daß Nefut bei einem Blick zum Sternenzelt überrascht feststellte, daß die Mitte der Nacht nicht mehr fern war. Und er stellte fest, daß nicht alle lachten. Etwas entfernt von der Gruppe saßen Farhan und Doshan, die sich weinend in den Armen lagen. Natürlich, sie trauerten. Farhan hatte seinen kleinen Bruder verloren, Doshan seinen Zweiten Enwar, der ihm fast wie ein Bruder gewesen war. Und wenn Nefut auch wußte, daß Doshan der Meinung war, Enwar sei selbst der Verursacher seines Unglücks gewesen, konnte Farhan den Tod des jungen Nefut doch ihm oder Terhan anlasten und hatte einen Schuldigen, gegen den er gerechten Zorn empfinden konnte.
 

Nefut spürte verhaltenen Neid aufsteigen. Er selbst hätte gerne Zorn über Terhans Bedingungen empfunden, aber er hatte die Entscheidung nur zu gut verstanden. Egal was mit der gesamten Gruppe weiter geschah: Aufrührer, denen es nicht gelang, durch ihren Aufruhr die Macht in die Hand zu bekommen, mußten sterben, um den Frieden und die bestehenden Machtstrukturen zu erhalten. Auch für die Wannim wären sie gefährlich gewesen. Zu leicht wäre es diesen Männern gefallen, im Streitfall wieder gegen ihren Anführer zu den Waffen zu greifen. Ihr Tod war die Sühne für ihr Abweichen vom Wahren Weg, und hatte dazu gedient, die Gemeinschaft zu erhalten. Es war, als höre Nefut die Worte seines Vaters in den eigenen Gedanken, so sehr waren dessen Wertvorstellungen seine eigenen geworden. Er verstand ja sogar, daß Murhan Darashy ihn für jene unaussprechliche Tat als Ehebrecher verstoßen mußte, ebenso wie jene Frau, die ihn verführt hatte, ihre gerechte Strafe erhalten hatte. Das Abweichen vom Wahren Weg mußte stets bestraft werden, um den Stamm zu schützen. Und so konnte Nefut allenfalls Zorn gegen sich selbst empfinden, weil er gedankenlos seiner Lust nachgegeben hatte. Süß war die verbotene Frucht gewesen, doch das Leiden durch den Verlust des Namen und des Standes wog es nicht auf. Er neidete der Frau den Tod, aber er betrauerte sie nicht. Doch wie wäre es gewesen, einen Bruder zu haben und diesen durch eine Hinrichtung zu verlieren? Hätte ihn das mehr gekümmert als der Tod dieser Frau? Eine kleine Schwester, gerade geboren, hatte es im Hause seines Vaters noch gegeben. Wenn sie noch lebte, mußte sie jetzt mannbar sein, vielleicht schon selbst Kinder geboren haben, einer ihrer Söhne würde vielleicht einer der nächsten Fürsten der Darashy werden. Aber das war etwas, worüber er nie Nachricht erhalten würde, also schob Nefut den Gedanken von sich.
 

Hamarem hatte ein weiteres Lied begonnen, von der mit Hindernissen gepflasterten Liebe eines einfachen Mannes zu einer Fürstentochter. Alle anderen Sänger waren verstummt und Hamarem verzauberte offensichtlich auch ihren jungen Wanack mit seiner wunderbaren Singstimme, denn völlig selbstvergessen schaute Amemna Darashy zu Hamarem hinüber und sah aus, als hätte er sich gerade in dessen Stimme verliebt. Nefut mußte lächeln, als er sich daran erinnerte, daß es ihm ebenso gegangen war, als er Hamarem das erste Mal singen gehört hatte. Es war tatsächlich so, als könnte man einen Blick in die Gärten der Freude werfen, wenn Hamarems Stimme erklang.
 

Während des Gesangs hatten sich einige Frauen aus dem Dorf am Rande des Lichtscheins des großen Feuers eingefunden. Als Hamarem verstummt war, hörte man sie kichern. Sie winkten zu den Männern herüber, die ebenfalls anfingen, miteinander zu scherzen und schließlich aufstanden und zu den Frauen hinübergingen. Nur der Wanack, der wohl zu jung für die Verlockungen der Frauen war und natürlich Hamarem, der ähnlichen Angeboten stets widerstanden hatte, schienen von den herüberwinkenden Frauen unbeeindruckt zu sein.
 

Offenbar versprachen die Frauen, den Männern die Festnacht gegen klingende Münze noch weiter zu versüßen, und nach und nach verschwanden Zweier- und Dreiergrüppchen im Schatten. Auch Farhan und Doshan sahen schließlich fragend zu Nefut herüber, der nickte und versprach, sich um die Nachtwache zu kümmern. Sie sollten den Rest der Nacht genießen, denn wer wußte, wann sie wieder einen Grund zum Feiern hatten.
 

* * *
 

10. Fürstliche Gewänder

Ein Weilchen saßen Amemna, Nefut und Hamarem noch neben dem schon weit heruntergebrannten Festfeuer. "Ich übernehme die erste Wache", bot Hamarem an.
 

Nefut nickte, schickte Amemna in sein Zelt und ging schlafen.
 

Da die Ströme der Kräfte für diese Nacht Ruhe verhießen, spielte Hamarem für einen Moment mit dem Gedanken, während seiner Nachtwache Traumkraut zu kauen, um Amemnas Natur zu erforschen. Doch welche hilfreiche Erkenntnis mochte ihm das bringen? Sein Problem war nicht Amemnas unirdische oder vielleicht dämonische Natur, die in den Wirbeln der Kräfte um ihn verschlüsselt war, sondern Hamarems eigene Reaktion auf Amemnas menschliche Natur, auf den Körper des jungen Mannes.
 

Seit Hamarem selbst ein junger Mann gewesen war, waren seine Gefühle und Gedanken nicht mehr so auf einen Menschen gerichtet gewesen. Damals war das unerreichbare Ziel seiner Leidenschaft eine Fürstentochter gewesen, ähnlich wie in dem Lied, das er während des Festmahls gesungen hatte, nur seine Leidenschaft war nie erfüllt worden. Vermutlich hatte die schöne Temhalyprinzessin ihn noch nicht einmal wahrgenommen. Orem allein mochte wissen, wie sein Leben ausgesehen hätte, wenn er nicht wenig später in die Orakelstätte Orems gerufen worden wäre. Hätte ihn seine unerfüllbare Sehnsucht zerfressen oder hätte er einen Weg gesucht, das Herz der schönen Prinzessin zu erobern?
 

Das Orakel in Harna war weit von den Zelten der Temhaly und Hamarem lernte dort so unendlich viel Neues, daß er die schöne Prinzessin schließlich vergessen hatte. Erst jetzt dachte er wieder an sie - und wußte nicht einmal mehr ihren Namen.
 

*
 

Schließlich löste Nefut Hamarem ab und Hamarem begab sich in das große leere Zelt, um bis zum Sonnenaufgang noch ein wenig zu schlafen. Als er lag, dachte er an den Traum der vergangenen Nacht. Wenn er ehrlich zu sich war, sehnte er sich danach, von Amemna auch im wachen Zustand geküßt und liebkost zu werden, ihn zu küssen und zu liebkosen. Aber wie konnte er als treuer Diener seines Gottes wissentlich gegen die Gebote der Weisen und Heiligen verstoßen? Und die Schriften waren sehr deutlich, wie er bei nochmaliger Lektüre am vergangenen Tag festgestellt hatte. Träume wurden zwar nicht erwähnt, aber Männer durften sich nicht miteinander vereinigen und nichts unternehmen, was dazu führen konnte.
 

Was blieb ihm anderes übrig, als seine unerfüllbare Leidenschaft in seiner Phantasie auszuleben, so wie er es getan hatte, als sein Herz für die Temhalyprinzessin schlug, und er selbst nicht älter war als Amemna Darashy.
 

Also schob Hamarem im Schutze der Decke sein Untergewand hoch und faßte nach seinem bereits aufgerichtetem Glied. Er rief sich in Erinnerung, wie Amemna ihn im Traum geküßt und berührt hatte und fühlte, wie seine Lenden allein durch die Vorstellung zu pochen begannen. Er versuchte, Amemnas Kunstfertigkeit mit seiner eigenen Hand nachzuahmen und träumte, es wäre die Hand des jungen Mannes, die mal schnell und plötzlich wieder langsam, die Spannung herauszögernd, an ihm arbeitete, bis er sich endlich Erleichterung verschafft hatte. Und wie schon in seiner Jugend sorgte das zumindest dafür, daß er wenig später tief und fest schlief und trotz der Kürze der Nachruhe beim Weckruf entspannt und erholt aufwachte.
 

Das Frühstück mit den Resten des Festmahls fand in angenehm fröhlicher Atmosphäre statt. Die jungen Männer berichteten je nach Naturell prahlend oder schwärmerisch von den Erlebnissen der vergangenen Nacht, während die älteren lächelten und schwiegen. Auch Amemna schwieg und hörte zu. Hamarem merkte, daß er offenbar zunächst nicht verstand, worüber die Männer redeten. In dem Moment, als er es verstand, errötete er merklich und senkte den Blick.
 

Hamarem versuchte wie stets, wenn Ashan die Gunst gewährt hatte, daß ein Unterführer mit seinen Leuten eine der bewohnten Oasen aufsuchen und den Kauf von Vorräten auch mit dem Erwerb von Sinnesfreuden verbinden durfte, diese Art von Gesprächen zu ignorieren. Er hatte sich bei solchen Gelegenheiten prinzipiell herausgehalten, schon um seine mangelnde Erfahrung zu verbergen. Und auch Nefut hatte keine dieser Nächte mit einer Frau verbracht. Allerdings glaubte Hamarem nicht, daß Nefut ebenfalls unerfahren war, denn einige eher beiläufige Bemerkungen seines Herrn ließen auf anderes schließen. Aber bei aller Offenheit Hamarem gegenüber hatte Nefut über seine Beziehung zu Frauen nie ein Wort verloren.
 

*
 

Schnell waren die Zelte abgebaut und sie zogen in Richtung Hannai. Kurz nach der Mittagsstunde konnten sie bereits die ersten Türme der Stadt am Horizont erkennen und erreichten endlich die Straße, die durch das Zypressentor Hannais führte. In Sichtweite der großen geöffneten Holztore in der massiven Steinmauer hielten sie neben einem überdachten Brunnen und betrachteten das laute Treiben auf der Straße. Es wurden mit frischem Obst und Gemüse beladene Esel und Maultiere vorangetrieben, außerdem waren schwer beladene staubige Fußgänger mit ihren Waren auf dem Weg in die Stadt. Dazwischen sah man einzelne Reiter in prächtigen Gewändern, manche so vornehm, daß ein Diener die Zügel des Pferdes führte, und sogar eine reich geschmückte Sänfte mit einer tief verschleierten Städterin.
 

Die mit Speer und Schild bewaffneten, etwas erhöht stehenden Wachen neben den offenen Torflügeln ließen ihre Blicke geübt über die Köpfe der Passanten schweifen, und an Nefuts Gruppe, elf zum Teil recht abgerissen aussehenden Gestalten, blieben sie mehr als einmal hängen. Hamarem erinnerte sich an das Leben in dieser Stadt. Er war froh, es hinter sich gelassen zu haben. In Hannai waren Oshey nicht gern gesehen, obwohl einst sogar Osheykönige auf dem Goldenen Thron gesessen hatten, die Nachkommen von Hermil Tashrany, von dem es hieß, er habe vor vielen hundert Jahren die Stadt mit Unterstützung der Götter in nur drei Tagen erobert.
 

"Nefut, unser Wanack braucht angemessene Kleidung", bemerkte Farhan, als wieder einmal ein vornehm gekleideter Reiter an ihnen vorbeiritt.
 

Der junge Kermul flüsterte etwas und begann erwartungsvoll zu zappeln, machte so auch das Pferd, das er am Zügel hielt, unruhig, und Orem stieß ihn an die Schulter. "Sei ruhig, Kermul. Wir werden ohnehin nicht alle mit in die Stadt gehen."
 

"Wenn du willst, kannst du mit mir kommen. Ich habe eine Kleinigkeit zu besorgen", mischte Hamarem sich ein.
 

Farhan, Doshan und Nefut berieten sich noch, wer in die Stadt gehen sollte, um das Silbergeschirr aus den Banditenschatz zu verkaufen, als Hamarem feststellte, daß noch ein anderer Jüngling sehnsüchtig zu den schweren Holzflügeln des Stadttores blickte. Amemna wollte ebenfalls in diese Stadt, das hatte er Nefut ja auch schon vor zwei Tagen bei ihrem Gespräch in Bussir gesagt. Was mochte er in Hannai suchen?
 

"Wolltest du nicht mit in die Stadt?" riß Nefut ihn plötzlich aus seinen Gedanken.
 

Hamarem nickte. "Und Kermul auch", sagte er dann mit einem Seitenblick auf den Jüngling.
 

"Dann kommt mit."
 

Hamarem und Kermul beeilten sich, Nefut und Doshan zu folgen, während die anderen im Schatten des Brunnens Rast machten.
 

*
 

Mißtrauisch wurden sie von den Wachen gemustert, als sie durch das Tor gingen, den anderen Leuten waren sie jedoch gleichgültig. Kermul brachte den Mund kaum zu vor Staunen über die hohen, dicken Steinmauern, die riesigen Torflügel, den hinter dem Zypressentor liegenden weitläufigen, steingepflasterten Platz, die Brunnen an seinem Rand und die sie umgebenden schattenspendenden Bäume.
 

An einem der Brunnen machten sie kurz halt und Nefut erklärte: "Doshan und ich verkaufen das Silber, du suchst deinen Kräuterhändler auf und wir treffen uns dann wieder hier, um von dem Erlös des Geschirrs noch angemessene Kleidung für unseren Wanack zu kaufen."
 

"Ist es nicht auch mit einem edlen Stoff getan? Ich kann unserem Wanack einen Mantel nähen", warf Hamarem ein. Vor einiger Zeit hatte er auch für Ashan einen Mantel genäht.
 

Nefut nickte. "Das wäre wohl weniger kostspielig, und da du ihn während einer Rast auf unserem Weg nähen kannst, verlieren wir auch keine Zeit. Nach dem, was ich eben auf der Straße gehört habe, müssen wir uns beeilen, wenn wir uns anwerben lassen wollen. In zwei Tagen soll das Heer von Nemis aufbrechen." Dann nagelte Nefut den von seiner Umgebung völlig überwältigten Kermul mit seinem Blick fest. "Und du bleibst an Hamarems Seite, egal wohin er geht."
 

Kermul nickte eingeschüchtert.
 

An den Brunnenplatz hinter dem Zypressentor grenzte der große Basar und Hamarem erinnerte sich noch gut genug daran, um zügig die Straße zu finden, die er suchte. Hier hatten die Gewürz- und Kräuterhändler ihre betäubend duftende Ware unter den dicht an dicht aufgespannten Baldachinen vor ihren Läden ausgebreitet. Als Hamarem einen Stand entdeckte, der zwischen den gewöhnlichen Küchenkräutern auch einzelne Heilmittel in der Auslage hatte, fragte er den grauhaarigen Händler nach Schlafmitteln.
 

Der alte Mann sah von seiner Arbeit am Mörser auf. "Was für ein Schlafmittel sucht ihr, Herr?"
 

Nach einem Seitenblick auf Kermul, der aber ganz eingenommen war von der Vielfalt der ansprechend angebotenen Waren, rückte Hamarem mit seinem Wunsch heraus: "Stechapfelsud."
 

"Das ist nichts, was gewöhnlich verlangt wird", sagte der Händler gedehnt. "Und es ist nichts, was ich jedermann verkaufen würde, Herr."
 

Um zu bekommen, was er wollte, mußte er also wohl bluffen. "Auch nicht einem Diener Orems?" fragte Hamarem also nach und formte mit Daumen und Mittelfinger seiner Linken den Anfangsbuchstaben von Harna. Das Oremorakels lag nur wenige Wegstunden südlich von Hannai in der Wüste.
 

Der Händler zog überrascht die Augenbrauen hoch. "Wenn die Dinge so stehen..." Er erhob sich und winkte Hamarem zu sich. "Kommt mit."
 

"Warte hier", zischte Hamarem Kermul zu und folgte dann dem alten Mann in den kühlen Raum hinter seinem Marktstand. Hier hingen Kräuterbüschel von der Decke und große und kleine verschlossene Tongefäße waren auf Regalen an den Wänden entlang gestapelt.
 

Der Händler legte seine faltige Hand auf einen der bauchigen Krüge. "Ich habe hier einen Sud aus den Blättern des weißblühenden Stechapfels, dort aus den Blättern des gelbblühenden Stechapfels und noch einen aus den Blättern des violettblühenden Stechapfels. Dann noch..."
 

Hamarem schüttelte den Kopf. Er hätte den Nächtlichen Träumer gar nicht erwähnen dürfen, seines Wissens waren die aus den Blättern gewonnenen Mittel in der Wirkung allesamt eher der des Traumkrautes ähnlich. "Ich meine ein Mittel gegen unerwünschte Träume, den Sud aus den Kernen des gelbblühenden Stechapfels."
 

Der Händler schürzte die Lippen. "Ihr seid also wirklich einer der Seher, nicht wahr, Herr? Eure Augenfarbe legt es ja nahe. Ja, ich habe auch den Sud aus den Kernen des gelbblühenden Stechapfels. Wieviel wollt ihr, Herr?"
 

Hamarems Gedanken verweilten einen Moment bei der Bemerkung des alten Mannes über seine Augen. Keiner der anderen Priester in Harna hatte eine ähnlich scheckige Augenfarbe gehabt wie er. Aber dann beließ er es dabei und holte die kleine gläserne Phiole aus dem Gürtel, aus der er die letzten Spuren des alten Suds herausgewaschen hatte. "Nur dieses Gefäß voll."
 

Der alte Händler nickte. Mit einem gläsernen Trichter füllte er die Phiole mit einer bräunlich-roten Flüssigkeit, verkorkte sie wieder und verlangte einen eher geringen Preis, den Hamarem ohne zu zögern zahlte.
 

Als Hamarem wieder auf die Straße trat, war Kermul verschwunden. Hamarem verfluchte im Stillen seine Unaufmerksamkeit und schaute rechts und links die Reihen der Marktstände unter den aufgespannten Baldachinen entlang, aber in dem bunten Treiben war kein schwarzer Mantel zu sehen. Und über den Lärm der Händler, die ihre Waren anpriesen und der Kunden, die mit ihnen feilschten, hatte es auch keinen Sinn, nach Kermul zu rufen. "Chelem!" entwich es Hamarem.
 

Da, ein dunkler Fleck zwischen den bunten Gewändern! Ja, das mochte ein Oshey sein, der Größe nach vielleicht sogar Kermul. Hamarem arbeitete sich durch die Menge. Jetzt konnte er einen Blick auf das Gesicht des Oshey erhaschen: es war tatsächlich Kermul. Hamarem beschleunigte seinen Schritt und holte seinen auf Abwege geratenen Schützling schnell ein, denn Kermul war stehen geblieben, um die Auslage eines Lederhändlers zu bestaunen. "Kermul, warum hast du nicht auf mich gewartet?"
 

Kermul sah sich zu Hamarem um. "Was ist los?" Er sah dabei so überrascht aus, das Hamarem lächeln mußte, denn er erinnerte sich noch gut an seinen ersten Tag in Hannai.
 

"Hier ist eine Menge zu sehen, nicht wahr?" fragte Hamarem verständnisvoll.
 

Der Jüngling nickte aufgeregt.
 

"Dann laß uns noch ein bißchen gemeinsam schauen", schlug Hamarem vor.
 

Sie gingen bis zur nächsten Straßenecke, dort hatten Tuchhändler und Schneider ihre Auslagen.
 

Und gerade besah sich Nefut an einem der Stände fein gewebte Untergewänder. Überrascht sah er auf, als Hamarem ihn ansprach. "Ich dachte, wir wollten uns auf dem Brunnenplatz wieder treffen." Dann bemerkte er, daß Kermul wie hypnotisiert auf den benachbarten Stand eines Tuchhändler zuging und Hamarem nach dem Arm des Jünglings griff, um ihn in der Nähe zu halten. "Ach, unser junger Freund wollte wohl ein wenig über den Markt schlendern." Und Nefut grinste.
 

Hamarem wußte, daß Nefut einige Jahre in Hannai und Berresh aufgewachsen war. Für ihn war der märchenhafte Zauber des Basars einer großen Stadt wohl nie so stark gewesen, aber anscheinend konnte er Kermuls Gefühle trotzdem nachvollziehen, der von der Pracht der Auslagen wie geblendet schien und zugleich den Blick nicht davon abwenden konnte.
 

"Wo ist Doshan?" fragte Hamarem dann, denn Kermuls ehemaliger Anführer war nirgends zu sehen.
 

"Hier", antwortete Doshan für sich selbst hinter Hamarem plötzlich. "Der Tuchhändler dort drüben hat schöne Stoffe, die wohl für einen Mantel geeignet wären", sagte er an Nefut gewandt und zeigte auf den fraglichen Stand.
 

Nefut nickte und hielt eines der weißen Untergewänder mit grün und blau besticktem Saum und Ärmeln an die eigenen Schultern. "Das müßte unserem Wanack passen, nicht wahr?" fragte er in die Runde und Hamarem und Doshan nickten. Da Amemna ebenso groß wie Nefut war, wenn auch etwas schmaler gebaut, würde alles, was Nefut vollständig bekleidete, auch Amemna passen.
 

"Sandalen brauchen wir noch", erinnerte Doshan die anderen, als Nefut die zwei Untergewänder, die er ausgewählt hatte, bezahlte.
 

"Und Tuch für den Mantel", ergänzte Hamarem.
 

"Und einen Gürtel", fiel Kermul überraschend ein und zeigte auf einen Stand, der die bunten Schärpen feilbot.
 

Sie entschieden sich für eine grüne Schärpe und gold und grün bestickte Sandalen und suchten dann gemeinsam das Tuch für den Mantel aus. Hamarem war auf den ersten Blick angetan von einem gänzenden schwarzen Stoff, der bei jeder Berührung leise raschelte.
 

"Das ist eine gute Wahl", beeilte sich der Tuchhändler zu versichern. "Ein sehr edler Stoff aus dem Osten, aus den Fasern eines Zauberkrautes gewonnen, heißt es." Der Preis den er nannte, war allerdings unverschämt. Immerhin würden sie gut vier Mannslängen davon brauchen, um einen angemessenen Mantel und ein passendes Kopftuch daraus machen zu können.
 

"Das können wir uns nicht leisten", sagte Hamarem und Doshan nickte dazu, während Nefut nachzählte, was er noch an Münzen hatte. Das Tafelgeschirr hatten sie offenbar zu einem guten Preis verkauft, mit dem Tuch würde dann allerdings fast der ganze Erlös in die Bekleidung ihres jungen Wanack fließen.
 

Der Händler ließ sich erweichen, und kam ihnen mit dem Preis etwas entgegen, aber was ihnen nach dem Kauf noch blieb, reichte nicht, die ganze Wannim für zwei Tage zu ernähren.
 

"Morgen sind wir in Nemis. Ich nehme doch an, daß wir das Handgeld sofort erhalten, dann können wir noch auf dem Markt von Nemis Lebensmittel kaufen", rechtfertigte Nefut seine Entscheidung, nachdem sie den Stoff gekauft hatten. Aber Hamarem sah, daß ihm trotzdem nicht ganz wohl bei der Sache war.
 

*
 

Als es schließlich Abend wurde, waren sie schon kurz vor Nemis und rasteten für die Nacht. Hamarem zog sich mit dem Stoff in das Zelt zurück, um mit dem Nähen des Mantels anzufangen, als plötzlich Farhan dazu kam und darum bat, helfen zu dürfen. Überrascht lud Hamarem ihn ein, sich dazuzusetzen. Farhan teilte den Stoff und dann begannen er und Hamarem gemeinsam, zwei Bahnen zu einem neuen Mantel für ihren Wanack zusammenzunähen.
 

Offensichtlich hatte Farhan irgendetwas auf dem Herzen, doch erst als sie schon eine ganze Weile schweigend nebeneinander gearbeitet hatten, fragte Farhan endlich: "Weißt Du etwas über das Buch unseres Wanack? Du hast doch schon mehrfach mit ihm gesprochen."
 

"Wieso fragt ihr, Herr?" fragte Hamarem. Eigentlich wußten alle, daß ihr Wanack gelegentlich die Schriftrolle hervorholte und darin las oder schrieb.
 

"Als wir vor Hannai rasteten, schrieb er in die Rolle und ich habe die seltsamen Zeichen gesehen, die er verwendet. Das müssen doch die Schriftzeichen der Unirdischen sein, nicht wahr? Ich habe sie jedenfalls nie zuvor gesehen und ich kenne viele Schriften. Aber auf meine Frage, was für ein Buch das sei, sagte er nur 'Das ist mein Opfer für Hawat'."
 

'Hawat die Große Mutter' war einer der Namen Amas, bei den Oshey war seine Verwendung jedoch unüblich. Hamarem dachte an seinen Diebstahl zurück. "Ich weiß, daß er fast täglich darin liest und schreibt, Herr. Sie ist ihm offensichtlich sehr wichtig." So wichtig, daß er Hamarem auf Knien angefleht hatte, sie ihm wiederzubeschaffen. Aber als Opfer für Ama oder Hawat war diese Schriftrolle natürlich heilig. Kein Wunder, daß sie Amemna wichtiger gewesen war, als alles andere. Das machte dann auch seinen überschwänglicher Dank verständlich, als er die Schriftrolle zurückerhalten hatte, der Kuß dieser seidenweichen Lippen... Hamarem versuchte, an nichts anderes mehr zu denken, als die Naht, die er gerade nähte.
 

Nach einer Unterbrechung für das gemeinsame Nachtessen war eine gute Weile nach Einbruch der Dunkelheit endlich der Mantel für den Wanack fertig, und Farhan holte Amemna für eine Anprobe. Dann aber zog er sich in das andere Zelt zurück und überließ es Hamarem, für den richtigen Sitz des Mantels zu sorgen.
 

Während Hamarem seinem Wanack vorsichtig den Mantel um die Schultern drapierte um ihn nicht versehentlich zu berühren - obwohl es auch Momente gab, in denen er sich die Träume, die die Berührung hervorrief, herbeisehnte - fragte Amemna leise: "Hamarrem, kannst du mirr rraten, wie ich am sicherrsten einen Brrief an meine Frrau schicken kann?" Und er strich wohlgefällig über den glänzenden Stoff seines neuen Mantels.
 

Hamarem hielt erstaunt im Nähen der Falten inne und dann ärgerte er sich über seine aufkeimende Eifersucht.
 

"Nun?" hakte Amemna nach und Hamarem erinnerte sich an die Frage.
 

"Ihr seid verheiratet?" fragte er jedoch mit gedämpfter Stimme zurück.
 

"Ja, mit derr Tochterr meines Ziehvaterrs. Nachdem wirr aus Ma'ouwat zu den Zelten derr Darrashy gezogen warren, hat err mich offiziell an Sohnes Statt angenommen und mit seinerr Tochterr Merrat verheirratet." Dann lächelte Amemna versonnen. "Und wirr haben eine kleine Tochterr."
 

"Wie alt seid ihr denn, wenn ihr bereits eine eigene Familie habt, Herr?" fragte Hamarem weiter.
 

"Und eine eigene Werrkstatt", fügte Amemna stolz hinzu, "denn ich habe die Schmiede meines Ziehvaterrs überrnommen... ich denke, ich bin etwa siebzehn."
 

Hamarem versuchte, seine Gefühle vor sich selbst zu verschließen und trat zum Zeichen der Beendigung seiner Arbeit ein paar Schritte von seinem Wanack zurück. "Gebt den Brief einem Darashy mit, der mit einer Karawane in den Süden zieht. Dann wird er wohl getreulich befördert werden."
 

"Ich danke Dirr fürr den Rratschlag, Hamarrem, und fürr diesen prrachtvollen Mantel. Err ist eines Fürrsten würrdig", und Amemna lächelte Hamarem in einer Weise an, daß diesem schwindelig und die Knie so weich wurden, daß er sich an einer Zeltstütze festhalten mußte. Sein Herz klopfte bis in den Hals, auch wenn sein Blut sich in einem anderen Körperteil sammelte.
 

Gerade in dem Moment betrat Nefut mit Derhan und Doshan das Zelt, wohl um sich zur Ruhe zu begeben. Nefut musterte seinen jungen Wanack zufrieden und klopfte Hamarem wohlwollend auf die Schulter, so daß dieser fast den Halt verlor. "Gut gemacht, Hamarem. Jetzt haben wir einen angemessen gekleideten Wanack."
 

Amemna nickte zustimmend, sagte irgendetwas zum Abschied und ging hinaus und Hamarem ließ sich auf den Boden sinken und versuchte, sein in Aufruhr geratenes Herz wieder zur Ruhe zu bringen. Wie kam es nur, daß Amemna ihn derartig in Wallungen brachte, wo er doch offenbar ein anständiger, dem Wahren Weg folgender Oshey mit Frau und Kind war?
 

"Was ist Hamarem?" fragte Nefut leise.
 

Erst da wurde Hamarem bewußt, daß Nefut ihn anscheinend schon eine ganze Weile beobachtet hatte. Er quälte sich ein Lächeln ab und rappelte sich auf. Was ihn bewegte war nichts, worüber er mit irgend jemandem reden konnte, und darum versuchte er, Distanz aufzubauen. "Es sind nur unerwünschte Gedanken, die mich heimsuchen, Herr."
 

Nefut musterte Hamarem skeptisch an, schaute dann jedoch in Richtung Zelteingang und sagte: "In dem Mantel wirkt er älter, als er ist. Eine gute Voraussetzung für sein Amt als Wanack."
 

"Herr, er sagt, er sei siebzehn Jahre", antwortete Hamarem. Er hätte lieber nicht über Amemna gesprochen, jetzt, wo er gerade seine Fassung wiedergewonnen hatte.
 

"Siebzehn und noch bartlos?" fragte Nefut ungläubig.
 

"Von einigen Abkömmlingen der Unirdischen berichten die Weisen, daß sie die ewige Jugend ihrer unirdischen Elternteile geerbt haben, Herr. Sie bleiben jugendlich und wenn sie sterben, verwandeln sie sich in Falken um in die Gärten der Freude zurückzukehren", erklärte Hamarem, der sich durch das Zitieren aus den vertraute Schriften wieder einigermaßen wohl fühlte. "Was ich bemerkenswert finde ist die Tatsache, daß er über die Bräuche der Stämme auffällig wenig weiß. Und außerdem betet er zu Ama und nennt sie Hawat, Herr."
 

"Ist das nicht der Name, den sie in Ma'ouwat für Ama haben? Insofern paßt doch alles gut zusammen: sein Akzent und die Unkenntnis über die Stammesbräuche liegen wohl daran, daß er in der Fremde aufwuchs und seine vielen Talente sind für einen Siebzehnjährigen zwar bemerkenswert aber realistisch. Oder haben wir Gründe, uns Sorgen zu machen, Hamarem?"
 

Hamarem dachte an die Träume zurück, die so lebhaft gewesen waren, daß er selbst jetzt, im wachen Zustand, die unkeuschen Berührungen Amemnas zu spüren glaubte. Aber das betraf nur ihn. Also atmete er tief durch und antwortete: "Die Kräfte sind unruhig aber nicht bedrohlich, Herr."
 

"Das ist doch eine gute Voraussetzung, wenn man in den Kampf zieht. Und nun laß uns schlafen gehen."
 

* * *
 

11. Die Uniformierung

Da der junge Wanack in seiner neuen Kleidung eine so gute Figur machte, sorgte Nefut noch vor Sonnenaufgang dafür, daß die Stammeslosen mehr nach den Gefolgsleute eines Darashyprinzen aussahen. In Hannai hatte er Schwarze Tinte gekauft, befahl den Männern nun, ihre Augenlider zu schminken und half, die Darashy-Schlange auf ihre Nasenrücken zu zeichnen. Und auch hier zeigte sich wieder, wie wenig die Stammeslosen von dem Erbe ihrer Väter wußten. Der junge Kermul und sogar der schon längst erwachsene Oremar mußten sich von den älteren Männern zeigen lassen, wie man die Schwarze Tinte verwendete.
 

Als sie dann in der Morgensonne an der Stadtmauer von Nemis vorbei zum Heerlager ritten und Amemna Darashys neuer Mantel sich in seinem Rücken bauschte, als verberge er ein paar Flügel darunter, fand Nefut das sehr passend für einen, der als Unirdischer galt. Bei den Anwerbern des Heeres machte das allerdings weniger Eindruck. "Schreibt euch hier in die Liste, Herr", sagte der Schreiber, sein abschätziger Blick jedoch strafte seine höflichen Worte Lügen.
 

Amemna Darashy nahm die Feder in die Hand, aber zögerte noch. "Soll ich mich einfach mit vollem Namen einschrreiben oder auch mit den Namen meinerr Väterr und..."
 

"Schreibt euren Namen, Oshey, egal wie vornehm ihr seid. Schließlich meldet ihr euch und nicht eure Väter", unterbrach der Schreiber ihn barsch.
 

Wanack Darashy schrieb sich also ein und bestimmte: "Mein Zweiterr wirrd sich ebenfalls einschrreiben."
 

Der Schreiber zuckte mit den Schultern und ließ geschehen, daß auch Nefut sich über die Rolle beugte. 'Amemna, Sohn des Prinzen Murhan von den Darashy' stand dort in sehr ordentlichen Buchstaben. 'Wanack mit Wannim'. 'Nefut von Bussir', schrieb Nefut kurzentschlossen darunter, 'Zweiter des Wanack Darashy'. Es mochte ja noch andere Männer mit Namen 'Murhan' in der fürstlichen Familie der Darashy geben. Da der Vater von Amemna aber mindestens so alt wie Nefut selbst sein mußte, war es unwahrscheinlich, daß Nefut den betreffende Murhan nicht kannte. Als Amemnas Vater kam also nur der Murhan Darashy in Frage, der auch Nefuts Vater war. Da der junge Wanack Nefuts Vater allerdings kein bißchen ähnlich sah, sollte er Amemna Darashy wohl einmal auf den Zahn fühlen.
 

Der Schreiber fügte die Namen der anderen neun Männer hinzu und händigte dem Wanack eine aus Horn geschnitzte Marke aus, die dieser dem Zahlmeister vorlegen sollte, um das Handgeld und den Bonus zu erhalten. Und bevor er sich mit Amemna Darashy auf den Weg zum Zelt des Zahlmeisters machte, wies Nefut die Männer an, für den Aufbau der Zelte zu sorgen.
 

"Soso, Nefut von Bussirr heißt du also, Zweiterr", neckte der junge Wanack auf dem Weg durch das Lager. "Warr das schon vorr unserrerr Rrast in Bussirr dein Name?"
 

Nefut erwiderte das Grinsen und nutzte die sich ihm bietende Gelegenheit. "Und du bist also der Sohn von Murhan Darashy, dem Sohn der Schwester des Fürsten?"
 

"Ja, ich bin Murrhans Ziehsohn und Ehemann seinerr Tochterr."
 

Also hatte Amemna Darashy Zugang zur Schlangenklinge gehabt. Aber hatte er sie wirklich von Murhan erhalten? "Wie kommt Murhan Darashy denn zu einem unirdischen Ziehsohn?" fragte Nefut wie beiläufig. Ob Amemna Darashy etwas von Murhans Erstgeborenem wußte?
 

"Das ist eine lange Geschichte, die auf den Westlichen Inseln beginnt", antwortete Amemna nur und ging mit langen Schritten weiter die Reihen der Zelte entlang ins Zentrum des Lagers, so daß Nefut schon fast Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten ohne zu laufen. Amemna war also eine Art Bruder, doch Nefut würde es ihm nicht sagen können ohne zu erwähnen, wieso er verstoßen worden war.
 

*
 

Amemna Darashys Wannim war den berittenen Hilfstruppen zugeteilt worden und bereits kurz nach der Mittagsstunde wurden sie mit den anderen Wannimin gemustert, da für den nächsten Tag der Marsch nach Tetraos anstand, der Stadt, die der König von Hannai erobern wollte.
 

Bei den berittenen Söldnern war nur eine andere Oshey-Wannim zu sehen. Es gab einige Ostler, die mit Bögen bewaffnet waren und eine Einheit aus dem tiefen Süden mit Schleudern und Schwertern. Die meisten anderen Einheiten setzten sich aus Bewohnern der nördlichen Städte zusammen und waren mehr oder weniger einheitlich gerüstet mit den kurzen städtischen Schwertern an ihrer Seite und kleinen runden Schilden auf ihrem Rücken. An der ledergeharnischten Brust des einen oder anderen Wanack blinkten auch frisch polierte Metallteile, doch nur der Melack, der Befehlshaber der Söldner zu Pferd, trug einen Schuppenpanzer. Dieser Melack, ein Städter mit eingeöltem Bart, goldenen Ohrringen und einem leuchtend gelben Federbusch auf dem Helm schaute sich Amemnas Wannim einige Zeit mit gerümpfter Nase an. "Ihr seht aus wie eine Räuberbande", sagte er dann. "Aber von Oshey kann man wohl nicht mehr erwarten."
 

Nefut sah Derhan neben sich grinsen, bemühte sich aber, selbst keine Miene zu verziehen.
 

"Immerhin habt ihr ganz ordentliche Pferde, nunja. Sehen wir mal, wer von euch die erste Schlacht überlebt, dann können wir uns darum kümmern, wie ihr ausseht." Bei diesen Worten strich sich der Melack über den Bart, dann ritt weiter zur nächsten Wannim.
 

Kaum war er außer Hörweite, quäkte Oremar mit zugehaltener Nase: "Ihr seht aus wie eine Räuberbande", und die anderen lachten lauthals, sogar Nefut konnte sich nun ein Grinsen nicht mehr verkneifen.
 

Wanack Darashy drehte sich im Sattel zu seiner Wannim um. "So, also eine Rräuberrbande." Dann sah er Nefut an. "Weißt du, was Ma'ouwati-Tücherr sind, Zweiterr?"
 

Nefut kannte die bunt gemusterten Tücher, die die Frauen in den großen Städten und vornehmen Stammessippen kauften, um sich daraus Kleider zu nähen und nickte. "Was hast Du damit vor, Wanack?"
 

Amemna lächelte hinterhältig. "Wirr uniforrmieren uns. Wirr kaufen von meinem Geld auf dem Marrkt von Nemis elf Tücherr und heute abend zeige ich euch allen, wie man den Tarra'kt bindet."
 

Neidvoll mußte Nefut anerkennen, daß eine Uniformierung tatsächlich eine gute Idee war, um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, doch dazu Männer mit Ma'ouwati-Tüchern zu bekleiden war Nefut mehr als suspekt. Amemna allerdings ignorierte hoheitsvoll Nefuts skeptisch zusammengezogene Augenbrauen und besprach auf dem Weg zu den Pferdepferchen statt dessen mit Farhan und Oremar, welche Vorräte noch zu kaufen seien. Vielleicht hatte der junge Wanack nicht genügend Erfahrung, die Wannim in allen Dingen ohne Hilfe zu befehligen, aber im Umgang mit Untergebenen kannte er sich offensichtlich aus.
 

Als sie ihre Zelte wieder erreicht hatten, wurde der Wanack von einem Boten in das Zelt des Melack gerufen, so daß schließlich Nefut und Farhan den Markt von Nemis aufsuchten, um die Ma'ouwati-Tücher und die Vorräte für die nächsten Tage zu kaufen. "Wie kommt ein so junger Mann auf eine solch perverse Idee, seine Wannim mit Frauenkleidern zu behängen", fragte Nefut auf dem Weg, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
 

"Vielleicht ist das Ostlerhumor", antwortete Farhan überraschend. Auf Nefuts erstaunten Blick fuhr er fort: "Kennst Du nicht die Geschichten von der Ostlerwannim, deren Angehörige alle Liebhaber sind und im Kampf gegen die stärksten Gegner bestehen, weil sie niemals zurückweichen, um ihre Liebsten nicht preiszugeben? Männer, die sich wie Frauen begatten lassen oder die sich wie Frauen kleiden, wo ist da der Unterschied?"
 

Nefut berührte dieses Gesprächsthema sehr unangenehm und er merkte, wie seine Ohren heiß wurden. Egal wie andere Stammeslose das vielleicht sahen, für ihn galten nach wie vor die Gebote der Weisen und Heiligen. Nefut holte schon Luft für eine passende Bemerkung, aber hielt dann inne. War Farhan nicht als Schreiber für Amemna zuständig gewesen? "Ist es denn wahr, daß unser Wanack aus der Schädeloase an seine Ostlerfamilie in Ma'ouwat geschrieben hat?" fragte er darum statt dessen.
 

Farhan nickte. "Der Brief nach Ma'ouwat war an einen... Am...Adarach um-Anasku adressiert, den Brief selbst konnte ich nicht so gut lesen, er war in Schrift und Sprache der Südländer verfaßt. Aber da der Brief an die Darashy in Ordnung gewesen war und ich in dem anderen Brief nichts offensichtlich Verfängliches gefunden hatte, war Ashan damit einverstanden, daß er nach Ma'ouwat geschickt wird."
 

"Und dieser Adarach ist ein Familienangehöriger von unserem Wanack?" fragte Nefut neugierig.
 

"Ich nehme es an. Der Brief war jedenfalls in sehr vertrautem Ton abgefaßt, deswegen hatte ich auch Probleme, ihn zu lesen. Mit den diplomatischen Texten der Südländer bin ich einigermaßen vertraut."
 

Vielleicht kam man als junger Mann auf perverse Ideen, wenn das strenge Regiment Murhan Darashys durch den Einfluß ausländischer Verwandter aufgeweicht wurde, ging Nefut durch den Kopf. Auch Nefut war die meiste Zeit fern der Stämme aufgewachsen, aber seiner Mutter hatte in Nefuts frühester Jugend darauf geachtet, daß er die Erziehung eines Oshey erhielt. Nefut stellte fest, daß er neidisch auf Amemna war, der es unter ähnlichen Voraussetzungen geschafft hatte, Murhans Wertvorstellungen und Gedanken nicht ungeprüft zu seinen eigenen zu machen. Und ein kleines bißchen war er deswegen auch stolz auf seinen jüngeren Bruder. Aber die Sache mit den Ma'ouwat-Tüchern gefiel ihm trotzdem nicht.
 

Da Nefut nicht in der Stimmung für weitere Gespräche war und Farhan stetig die Liste der Einkäufe memorierte, gingen sie schweigend über den Markt, beluden ihr Kamel mit Getreide, Gemüse, Trockenfrüchten und Gewürzen und fanden schließlich auch elf einander ähnliche Ma'ouwati-Tücher, mußten aber Amemnas ganzen Anteil am Handgeld und fast den halben Bonus dafür ausgeben. Nach dem, wie der Melack zu den Oshey stand, würde ihn das Aussehen von Amemnas Wannim sicher nicht erschüttern, aber die Männer würden ihm im Gedächtnis bleiben.
 

*
 

Als die abendlichen Kochfeuer entzündet worden waren, wollte Amemna allen zeigen, wie das Ma'ouwat-Tuch zu einer Art Turban, dem 'Tarra'kt' gewickelt werden konnte. Aber Telwar weigerte sich, ein Frauentuch auch nur in die Hand zu nehmen und rief herausfordernd: "Ich laß' mich nicht wie eine Fotze ficken und ich werd' mich nicht wie eine kleiden!" Die anderen bekundeten laut johlend ihre Zustimmung mit diesem Ausruf.
 

Nefut, der sich dem gerne angeschlossen hätte, aber als Zweiter eigentlich dafür verantwortlich war, den beginnenden Aufruhr einzudämmen, war einen Moment durch Hamarems Reaktion abgelenkt. Während Amemna bei Telwars Ausruf zwar zusammengezuckt war, nun aber verständnislos in die Runde schaute, war Hamarems Gesicht knallrot geworden. Und das erste Mal seit er ihn kannte fragte Nefut sich ernsthaft, in welchem Kloster Hamarem nur sein Leben verbracht hatte, daß er über eine so große Kenntnis der Schriften verfügte, aber so wenig über das wirkliche Leben wußte. Dann aber griff Nefut sich den Wortführer, zog Telwar am Kragen des Untergewandes auf die eigene Augenhöhe hoch und herrschte ihn mit seinem ganzen eigenen Zorn über Amemnas Befehl und der Frustration über die Tatsache, daß er den Befehl auch noch durchsetzen mußte, an: "Du tust genau wie alle, was dir von deinem Wanack befohlen wurde, sonst steck' ich dir das Tuch wohin, daß du dir wünscht, du hättest dich ficken lassen!"
 

Das hatte die gewünschte Wirkung. Telwar zog den Kopf ein und alle anderen Männer verstummten. Nefut dankte Tyrima im Stillen für die lückenhaften Sprachkenntnisse seines Wanack, dann verbeugte er sich vor Amemna und sagte: "Wir sind alle begierig darauf zu lernen, wie man den ... 'Tarrax' bindet."
 

Keiner wagte, dem zu widersprechen, auch Amemna nicht, obwohl er bei dem schlecht ausgesprochenen Klicklaut die weißen Augenbrauen zusammengezogen hatte. Und alle lernte noch vor dem Nachtmahl, einen manierlichen Turban aus den großen, bunten Ma'ouwati-Tüchern zu binden.
 

*
 

Am nächsten Morgen machte sich das Heer der Hannaiim auf den Weg nach Tetraos und natürlich passierte, was Nefut im Stillen schon befürchtet hatte. Zwei der Männer aus der anderen Oshey-Wannim sprachen ihn während der Mittagsrast an der Wasserausgabe auf die Ma'ouwati-Tücher an. Nefut versuchte, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen und antwortete steif: "Unser Wanack lebte eine Weile in Ma'ouwat. Er wollte auf diese Weise sicherstellen, daß wir auf einen Blick von eurer Wannim zu unterscheiden sind."
 

"Der hat ja merkwürdige Ideen, euer Wanack", sagte der eine Oshey, der bisher den Wortführer machte.
 

Dann warf der andere ein: "Und er hat einen merkwürdigen Akzent. Er klingt wie ein Südler."
 

"Wie ich schon sagte, er lebte in Ma'ouwat", entgegnete Nefut darauf ein zweites Mal und versuchte, das Gespräch zu beenden, indem er sich auf den Weg zurück zu seiner Wannim machte.
 

"Also seid ihr wohl... Mawati und keine Oshey", rief ihm der erste der beiden Männer hinterher und beide schütteten sich aus vor Lachen.
 

"Es heißt 'Ma'ouwati', nicht 'Mawati'", presste Nefut zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, aber er drehte sich nicht um. Das Lachen verfolgte ihn noch eine Weile und Nefut verfluchte ein weiteres Mal die Ma'ouwati-Tücher auf die sein Wanack bestanden hatte.
 

Während des Marsches hatten die anderen Oshey ihren Witz unter den berittenen Hilfstruppen wohl weiter verbreitet, denn während der nächtlichen Rast hörte Nefut mehrfach von ihrer Wannim als den 'Mawati' sprechen. Er überlegte, ob er nicht doch noch den Erfinder dieser Bezeichnung suchen und zusammenschlagen sollte, aber die Männer der Wannim nahmen diese Bezeichnung mit Begeisterung, ja, sogar mit Stolz auf. Vielleicht waren die Ma'ouwati-Tücher doch keine so schlechte Idee gewesen, wenn die Männer innerhalb eines Tages durch die farbenfrohen Kopftücher zu ihren schwarzen Mänteln tatsächlich die 'Mawati' geworden waren.
 

* * *
 

12. Vor der Schlacht

Am Nachmittag des zweiten Tages nach ihrem Aufbruch aus Nemis erreichte das Heer der Hannaiim die hügelige Ebene, an deren felsigem Nordrand sich die Stadt Tetraos erhob. Neben der Stadt war bereits das gegnerische Heerlager errichtet, gerade noch in Sichtweite des geplanten Lagerplatzes der Hannaiim. Ein umlaufender Graben wurde ausgehoben und der aufgeschüttete Erdwall mit den mitgebrachten Palisaden verstärkt, dann stellten die Einheiten ihre Zelte auf.
 

Am kommenden Morgen war die Schlacht gegen die Tetraosi zu erwarten und Hamarem fand trotz der schweren Schanzarbeit beim Aufbau des Lagers nicht in den Schlaf. Der Fluß der Kräfte verhieß den Tod, und außerdem quälten ihn unkeusche Gedanken. Fünf Nächte waren seit ihrem Aufenthalt in Hannai inzwischen vergangen, fünf Nächte, in denen Hamarem zwar nicht von Amemna geträumt hatte, jedoch vor dem Einschlafen stets mit den Gedanken bei dem jungen Wanack gewesen war und angesichts der Unerreichbarkeit des Ziels seiner Begierden inzwischen eine innige Beziehung zu seiner rechten Hand aufgebaut hatte. Derhan, der stets neben Hamarem schlief, mochte mitbekommen haben, wie Hamarem jede Nacht in den Schlaf fand, auch wenn er von den frevelhaften Gedanken seines Zeltgenossen nichts ahnen konnte. Schon bei ihrer letzten Übernachtung hatte Derhan ihn gefragt, ob er nicht am Abend mit ihm das Zelt Amas besuchen wolle, wo Frauen der Göttin dienten, indem sie nach der Sitte des Südens fremden Männern beiwohnten. Aber Hamarem hatte abgelehnt.
 

Die anderen Männer im Zelt schliefen bereits und Hamarem begann gerade, im Schutze der nächtlichen Dunkelheit sein Verlangen weiter anzufachen, damit er es um so lustvoller befriedigen konnte, als plötzlich ein Schatten in das Zelt schlich, zu seinem Lager kroch und mit der herbeigesehnten und gefürchteten Stimme flüsterte: "Hamarrem, bist du noch wach?"
 

Hamarem unterdrückte mühsam ein Stöhnen, zog unter der Decke sein Untergewand über seine Blöße und antwortete ebenso flüsternd: "Ja, Herr."
 

"Ich möchte mit dirr rreden, aberr nicht hierr", wisperte Amemna nun.
 

Hamarem erhob sich, aber als er sich das Ma'ouwati-Tuch um den Kopf wickeln wollte, hielt Amemna ihn zurück. "Man muß uns nicht gleich errkennen." Amemna trug ein gewöhnliches Oshey-Kopftuch und den alten Mantel.
 

Gemeinsam verließen sie das Zelt, in dem mit Hamarem die halbe Wannim schlief, gingen im Licht der halb heruntergebrannten Feuerschalen an dem anderen Mannschaftszelt und dem Zelt des Wanack vorbei und weiter zu den Pferdepferchen. Während des Weges sprach Amemna kein Wort und darum schwieg auch Hamarem, doch als sich Amemna schließlich über den Zaun lehnte und die unruhig schlafenden Pferde betrachtete, fragte er: "Was wollt ihr mit mir besprechen, Herr?"
 

"Ich habe Angst, Hamarrem", begann Amemna langsam, ohne den Blick von den Pferden zu wenden.
 

"Ihr fürchtet euch, weil ihr nie zuvor einen Menschen getötet habt und nicht wisst, ob ihr eine solche Tat auf euer Gewissen laden könnt", mutmaßte Hamarem.
 

Aber Amemna schüttelte den Kopf und sah Hamarem traurig an. "Ich habe vorr zwei Jahrren dem Mann den Schädel eingeschlagen, derr meine Ziehmutterr tötete. Aber das warr etwas anderres. Ich wußte nicht berreits Tage vorrherr, was passieren würrde und ich warr durrch meinen Haß wie im Rrausch. Wenn man mich damals nicht wiederr zurr Verrnunft gebrracht hätte, hätte ich ihn wörrtlich zu Brrei geschlagen."
 

"Und wovor habt ihr dann Angst?" wollte Hamarem wissen.
 

"Das ich nicht in Rrausch gerrate oder nicht aus meinem Rrausch zurrückfinde - oder daß ich durrch meinen Rrausch ein leichtes Ziel fürr meine Gegnerr bin und errschlagen werrde... Oderr vielleicht doch, daß ich es nicht ferrtigbrringe, im entscheidenden Moment fürr die paarr Münzen, die wirr errhalten, wildfrremde Männerr umzubrringen, die mirr nichts getan haben."
 

"Aber ihr werdet euch verteidigen müssen", gab Hamarem zu bedenken. Und er dachte zurück an seinen ersten und einzigen Kampf in den Reihen der Temhaly. Sie alle waren wie im Rausch gewesen, hatten beim Angriff geschrieen um ihre Feinde einzuschüchtern und um ihre eigene Angst zu vergessen. Die Kunst war es doch wohl, soviel Bewußtsein zu bewahren, daß man selbst nicht völlig unterging. Nicht, daß ihm das gelungen war - und Hamarem spürte, wie die schwarze Verzweiflung von damals plötzlich wieder nach seinem Herzen griff. Er schloß die Augen. "Gnädiger Orem! Ich wünschte, wir ständen nicht hier", flüsterte er. "Ich wünschte, keiner von uns müßte morgen in den Kampf ziehen."
 

Leicht wie Vogelschwingen umschlossen Amemnas Arme Hamarems Schultern, Wärme sickerte durch den Stoff seiner Kleidung - und Trost. "Bitte entschuldige, daß ich ausgerrechnet dich belästigt habe. Ich will dirr nichts Böses, Hamarrem. Du warrst immerr frreundlich zu mirr und hast mirr währrend derr Gefangenschaft sogarr meine Schrriftrrolle wiederrbeschafft. Und so danke ich es dirr nun. Bitte verzeih mirr." Weiche Lippen streiften Hamarems Wange, dann zog Amemna sich wieder zurück.
 

Hamarem sah in Amemnas zerknirschtes Gesicht. Ihm selbst drohten die Tränen zu kommen, als er den Kummer in den plötzlich erstaunlich dunklen Augen seines Wanack sah. Im Dämmerlich waren Amemnas Pupillen so groß, daß seine Augen fast so schwarz wie die eines gewöhnlichen Oshey wirkten. "Es tut mir leid, wenn ich euch beunruhigt habe, Herr. Es ist nur..." und er verstummte. Auch seinen Wanack ging das nichts an.
 

"Es ist nurr was?" fragte Amemna sanft nach.
 

Hamarem wandte den Blick ab von Amemna, seinem wunderschönen, traurigen Gesicht, und versuchte, sich vor dem Mitgefühl seines Wanack zu verschließen, das ihn noch wie eine Umarmung umfing. Es gelang ihm nicht. "Es ist nur, daß ich den Tod derjenigen spüre, die durch meine Hand sterben. Ich erleide ihn mit und das ertrage ich nicht gut", sagte er leise.
 

"Wie konntest du so das Leben bei den Banditen aushalten?" fragte Amemna erstaunt.
 

"Unser Anführer wollte Gefangene, für die er Lösegeld erhalten konnte, keine Leichen." Tatsächlich war es ein leichteres Leben als bei den Temhaly gewesen, wenn auch nicht so angenehm wie der Dienst in Orems Orakelstätte.
 

"Dann bleibst du morrgen bei den Zelten. Ich sage, daß...", fing Amemna eifrig an, aber Hamarem winkte ab.
 

"Wir haben den Bonus als Wannim erhalten. Wenn wir nicht als vollständige Wannim antreten, werden wir ihn zurückzahlen müssen - oder sogar das ganze Handgeld. Irgendwie wird es mir gelingen, meine Gegner abzuwehren ohne sie zu töten. Aber sprechen wir nicht von mir, Wanack. Wie kann ich euch helfen?" Er würde heute nacht von Amemna träumen, das tröstete für den Moment über die schwarzen Gedanken hinweg.
 

Amemna sah ihn an. "Ich würrde dich gerrne zufrrieden sehen, Hamarrem. Dich vorr allen in meinerr Wannim... und ich glaube, du hast mirr schon geholfen. Es ist berruhigend zu wissen, daß man mit seinerr Angst nicht allein ist." Und er schaute wieder in den Pferdepferch. "Auch die Tiere scheinen zu wissen, daß derr Tag morrgen schwerr wirrd."
 

"Seid ihr unirdischer Herkunft, Herr?" fragte Hamarem, jede Vorsicht vergessend.
 

"Derr Fürrst derr Darrashy errklärte mich offiziell zum Sohn Murrhan Darrashys und einerr Unirrdischen. Ich weiß jedoch nurr, daß Hawat... Ama anscheinend meine Schrritte lenkt. Aberr von den Unirrdischen heißt es doch, daß sie Orrem dienen."
 

Hamarem nickte. Natürlich kannte er die in den Schriften der Weisen zu findenden Berichte über die Boten Orems, die als weiße Falken mit gelben Augen aus den Gärten der Freude zu den Menschen flogen und zu ihnen sprachen, und sich manchmal in Menschengestalt zu Männern oder Frauen gesellten und Kinder mit ihnen zeugten. Es gab einige dieser Kinder und ihre Nachfahren in der Geschichte der Stämme. Auch das erste Fürstengeschlecht Hannais führte sich auf eine Unirdische zurück. Aber zumeist waren sich die Abkömmlinge der Unirdischen dessen bewußt. "Wißt ihr es nicht, Herr?" fragte Hamarem leise.
 

Amemna schüttelte den Kopf. "Ich bin ein Findelkind und kenne meine Elterrn nicht. Ich warr dabei, eine Spurr meinerr Ahnen nach Hannai zu verrfolgen, als eurre Bande mich gefangen nahm. Und aufgewachsen bin ich an einem Orrt, derr derr Göttin heilig ist, bis ich dorrt nicht mehrr bleiben konnte. Errst danach wurrde ich derr Ziehsohn Murrhan Darrashys." Wieder dieser Name. Ob es Zufall war, daß Amemnas Ziehvater den selben Namen hatte wie Nefuts leiblicher Vater? Aber Hamarem sagte nichts, wagte kaum zu atmen, um Amemna nicht zu unterbrechen. "Ich lerrnte ein Handwerrk, kam zu den Stämmen und fand endlich Hinweise auf meine Herrkunft. Davorr konnte ich nurr annehmen, daß zumindestens ein Oshey zu meinen Ahnen gehörrt."
 

"Eurem Aussehen nach steht das außer Frage", konnte Hamarem sich nicht verkneifen und biß sich gleich darauf auf die Zunge.
 

Aber Amemna lächelte. "Am Orrte meinerr frrühesten Jugend galt ich als blasses Kind und meine Haarrfarbe machte das nicht besserr. Die Menschen dorrt haben fast schwarrze Haut, und die Oshey und Nordstädler sind ihnen unbekannt. 'Geisterrkind' nannten sie mich, weil ich so hell warr, denn nurr die Geisterr - oderr Dämonen - sind so blaß, weil sie das Tageslicht meiden... Meinst du auch, daß ich ein Dämon bin?" fragte Amemna plötzlich neckend und Hamarems Herz setzte einen Schlag aus.
 

Amemna merkte, daß er ins Schwarze getroffen hatte. "Du denkst es wirrklich, nicht wahrr? Aberr hast nicht du im Lagerr derr Banditen verrbrreitet, ich sei ein Unirrdischerr?"
 

Was konnte Hamarem dazu sagen?
 

"Nach den Maßstäben derr Westlichen Inseln bin ich kein Dämon, denn ich muß das Tageslicht nicht fürrchten. Welche Maßstäbe legen die Oshey in einem solchen Fall an?" Amemna klang wirklich interessiert an einer Antwort.
 

"Bei den Oshey sind die Dämonen einfach die Bewohner von Chelems Unterwelt, die den Sterblichen Böses wollen", erklärte Hamarem. "Bei den Nordstädtlern allerdings heißt es, daß der Herr der Dämonen im andauernden Krieg mit dem Ungenannten ist, daher können seine Gefolgsleute nicht unbeschadet betreten oder berühren, was dem Ungenannten geweiht wurde." Hannai war die Stadt des Ungenannten. Eines der Zelte im Zentrum des Heerlagers war dem Ungenannten geweiht und beherbergte ein paar Priester, die dem Ungenannten täglich auf dem Platz davor opferten. Vielleicht sollte er wirklich verlangen, daß sein Wanack eine Probe machte.
 

"Wer da?" rief plötzlich eine unbekannte Stimme. Ein Wachsoldat der Hannaiim.
 

"Wir sehen nach den Pferden unserer Wannim, Herr", beeilte sich Hamarem zu antworten.
 

"Ach, Oshey", brummte der Wachsoldat, nachdem er Amemna und Hamarem in Augenschein genommen hatte. "Geht schlafen! Es wird morgen eine große Schlacht geben, nicht ein kleines Stammesgeplänkel mit der entfernten Verwandtschaft."
 

Sie kehrten schweigend zurück zu ihren Zelten, aber bevor Amemna in seinem verschwand flüsterte er noch. "Laß uns morrgen weiterr rreden."
 

Wenn wir die Schlacht überleben, dachte Hamarem, aber er verzichtete darauf, es auszusprechen, betrat das Zelt und suchte sein Lager auf. Amemna hatte ihn umarmt als sie bei den Pferdepferchen gestanden hatten, er würde diese Nacht wieder einen jener unheimlich wirklichen Träume haben. Noch immer konnte er Amemnas Arme um seine Schultern spüren, als säße der junge Wanack neben Hamarems Lager. Wie weit mochte der Traum diesmal gehen? Würde es zu einer tatsächlichen Vereinigung ihrer Leiber kommen? Und morgen würde er dann den Tod erleben, wenn nicht seinen eigenen, dann den der Männer, die er tötete. Die Furcht umklammerte sein Herz erneut, ihm wurde schlecht vor Angst vor dem kommenden Tag. Und dann fiel ihm der Stechapfelsud ein, den er in Hannai gekauft hatte. Es war besser, in dieser Nacht nicht von Träumen bedrängt zu werden, für die er sich nicht bereit fand und vielleicht war ja auch die Schlacht in dem etwas benebelten Zustand, den die Droge noch am Folgetag erzeugte, leichter zu ertragen. Also nahm er die neu befüllte Phiole aus seiner Satteltasche und trank einen kleinen Schluck.
 

Während die Flüssigkeit mit einem ungewohnten Brennen seine Kehle hinunterrann bereute er seinen aus Panik geborenen Entschluß bereits, aber nun war es zu spät.
 

* * *
 

13. Der Untergang

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

13. Der Untergang (jugendfrei)

Die Wunakim waren am Vorabend der Schlacht in das Zelt des Melack gerufen worden, und als Amemna zurück kam, legte er Nefut kurz den Angriffsplan dar. Da taktische Raffinessen mit einer frisch zusammengestellten Einheit kaum umsetzbar waren, war der Plan denkbar einfach. Die berittenen Hilfstruppen der Hannaiim sollten als erste Angriffswelle durch die gegnerische Reiterei stürmen und danach den Tetraosi in den Rücken fallen. Wenig später schickte Amemna seinen Zweiten dann hinaus, aber da der Eingang noch eine Weile offen war, sah Nefut seinen Wanack später in seine Schriftrolle schreiben.
 

Nefut überlegte, ob er Hamarem nach dem Ausgang der Schlacht fragen sollte, wie er es vor jedem Angriff der Stammeslosen getan hatte, aber dann entschied er sich dagegen. Es würde ausgehen, wie die Götter es vorgesehen hatten. Was Gutes brachte es, vorher zu wissen, wer von ihnen den Kampf überleben würde und wer nicht? Und das erste Mal seit seiner Verstoßung verspürte Nefut vor einem Kampf nicht den Wunsch, durch die Waffe seines Gegners zu sterben. Er wollte - er würde diese Schlacht überleben und alles daran setzten, daß auch Amemna, sein Wanack, sein jüngerer Bruder, diese Schlacht überlebte. Er brachte Tyrima ein Weihrauchopfer dar und bat um Schutz für Amemna und sich in der kommenden Schlacht, dann legte er sich schlafen.
 

*
 

Früh am nächsten Morgen fanden sich die Wannimin der berittenen Hilfstruppen am vereinbarten Sammelpunkt ein. Hamarem wirkte erstaunlich gefaßt mit dem Schwert an seiner Seite, aber er erwiderte nichts auf Nefuts aufmunternde Worte. Der Melack ermahnte sie, den versprochenen Lohn und die durch die Plünderung Tetraos zu erwartende reiche Beute als Ansporn zu nehmen und die gegnerischen Reihen gründlich in Unordnung zu bringen, so daß die Schwere Reiterei der Hannaiim sie vernichten konnte. Der Feldherr sprach vom Ruhm für den König und der Ehre für die Soldaten, und die Priester opferten dem Ungenannten ein Pferd für den günstigen Ausgang der Schlacht. Gegen den langsam heller werdenden Himmel war am anderen Ende der Ebene ein Schatten auszumachen: das gegnerische Heer.
 

Amemna sah etwas blaß um die Nase aus, ebenso wie Kermul und ein paar junge Reiter in anderen Wannimin. Viele von ihnen ritten wohl in ihren ersten Kampf. Amemna würde seine mangelnde Kampferfahrung jedoch sicherlich durch seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert wettmachen - und durch die Tatsache, daß ihm Murhan Darashy als sein Lehrmeister im Laufe der Zeit sicher wertvolle Ratschläge für den Krieg mitgegeben hatte, so wie vor langer Zeit bei seinem Erstgeborenen. Und Nefut lächelte Amemna aufmunternd zu.
 

Dann wurden die Signalhörner geblasen wurden und ihr Flügel setzte sich in Bewegung. Ihr Melack ritt voran, trieb sein Pferd an und riß das Schwert aus der Scheide, hielt es ausgestreckt wie ein Banner vor sich, so daß die Klinge die endlich über dem Horizont erscheinende Morgensonne reflektierte und dadurch strahlte wie eine Fackel. "Für Hannai!" schrie er, legte noch mehr Geschwindigkeit zu, "für den König!" und die Männer wiederholten seinen Schrei und folgten ihm waffenschwenkend. Auch Amemna ließ sich von dem Tempo und dem Gebrüll mitreißen, fiel ein in die stetig wiederholten Rufe "Für Hannai, für den König!" und wie der Rest seiner Wannim beeilte Nefut sich, den Anschluß an seinen Wanack nicht zu verlieren.
 

Die hundert berittenen Söldner der Hannaiim hielten auf den linken Flügel der Tetraosi zu. Mit Bleigeschossen und Pfeilen konnten sie gegen die mit Helmen, Brustpanzern und Schilden geschützten Reiter nicht viel ausrichten, doch der Melack hielt das Tempo, er erreichte den Gegner und preschte ungehindert durch die Reihen. Seine Leute folgten ihm. Tatsächlich schafften sie es, die Reiterei der Tetraosi ohne Verluste zu durchqueren, da die gepanzerten Gegner nicht wendig genug waren, sie wirksam aufzuhalten. Und mit ihrem Geschrei hatten sie auch die gegnerischen Tiere so weit verstört, daß die Schlachtordnung sich auflöste und sicher einige Zeit vergehen würde, bis die Tetraosi sich neu formiert hatten. Die berittenen Hilfstruppen sammelten sich ein gutes Stück hinter den gegnerischen Linien um ihren Melack, der rief: "Gut gemacht! Das wird ein leichtes Spiel!" Doch bevor der Befehl zum Angriff von hinten auf die Fußsoldaten kam, brach das Chaos über sie herein.
 

Aus heiterem Himmel war plötzlich die Reiterei des Gegners mitten unter ihnen und nun hieß es: Schwert gegen Schwert. Nefut hatte keine Zeit, sich nach den anderen 'Mawati' umzusehen, obwohl sie mit ihren bunten Turbanen auffällig genug sein sollten. Mit seinem langen Oshey-Schwert konnte er die Vorstöße seines Gegners abwehren, doch zunächst gelang es ihm nicht, an der Deckung aus Schwert und Schild vorbeizukommen. Er nahm seinen Dolch in die Linke, fing den nächsten Schwerthieb damit ab, drückte die Klinge des anderen beiseite und nutzte die entstandene Lücke, um zuzuschlagen. Er traf seinen Gegner am Hals und er sackte im Sattel zusammen.
 

Nefut lenkte seine wohlerzogene Stute mit den Knien an dem durch die plötzliche Gewichtsverlagerung seines toten Reiters nervös werdenden Pferd vorbei, um den nächsten Gegner zu erreichen. Doshan kämpfte ganz in der Nähe und nickte Nefut kurz zu, dann widmeten sie beide sich wieder ihrem blutigen Geschäft.
 

Eine scharfe Klinge nahm seine Brust zum Ziel, doch ohne nachdenken zu müssen wehrte Nefut den Schlag mit dem Dolch ab und schlug ein weiteres Mal mit dem Schwert zu, er traf und der Mann fiel zu Boden.
 

Und plötzlich war fast Stille um Nefut herum. Die Reihen der Feinde waren etwas gelichtet, ein paar herrenlose Pferde liefen in der Nähe vorbei, und am Boden lagen Leichen der Hannaiim und Tetraosi. Das aggressive Summen der Fliegen, angelockt durch das vergossene Blut, mischte sich mit dem entfernten Kampfeslärm, dem Stöhnen der Verwundeten und dem Wiehern verstörter Pferde. Da war Doshans reiterloses Pferd, unter den Hufen ein Fetzen des Ma'ouwati-Tuches, das der Mann um den Kopf gewickelt gehabt hatte. Wo war Amemna? War er diesem Kampf wirklich gewachsen? Was, wenn auch er getötet würde? Einige Reiter mit bunten Turbanen konnte Nefut ausmachen, einer davon zweifelsfrei Amemna, Tyrima sei Dank.
 

Dann wurde Nefut von einem Wanack oder Melack der Tetraosi angegriffen, ohne Schild, dafür mit zwei Schwertern. Dieser Mann verstand sein Handwerk und gab sich keine Blöße, egal welche Tricks Nefut versuchte. Doch gelang es auch dem anderen nicht, Nefuts Deckung zu durchbrechen. Dann war ein weiterer Mann mit buntem Turban neben Nefut, und gemeinsam mit Derhan gelang es ihm schließlich, den Gegner schwer am Oberschenkel zu verwunden. Bevor der Tetraosi jedoch aus dem Sattel rutschte, stieß er eine seiner schmalen Klingen noch tief in Derhans Eingeweide.
 

"Zieh Dich zurück, Derhan", rief Nefut in der Atempause, die der Tod des Mannes ihnen verschaffte, und Derhan, der sich gerade noch auf seinem Pferd halten konnte, gehorchte mit bleichem Gesicht und großen Schweißperlen auf der Stirn.
 

Nur noch drei der bunten Turbane waren zu sehen!
 

"Stirb, du dreckiger Oshey", schrie ein noch junger Mann Nefut entgegen, bevor er auch nur auf Schwertlänge herangekommen war. Nefut wartete nicht auf weitere Beleidigungen, war mit einem Satz seines Pferdes neben dem Jüngling und tötete ihn.
 

Wo war Amemna? Dort drüben war Hamarem, beide Arme bis zu den Schultern blutig, doch noch immer sicher im Sattel. Also war es wohl nicht sein eigenes Blut. Da war Oremar, der sich im Kampf mit einem Tetraosi zu Fuß befand und ihn gerade niederstreckte, und da war Amemna - in Bedrängnis!
 

Nefut spornte sein Pferd an, preschte rücksichtslos über die Verwundeten beider Seiten, die sich nicht mehr aus eigener Kraft aus dem Kampfgetümmel zurückziehen konnten und stieß Amemnas Angreifer den Dolch von hinten unterhalb des ledernen Brustpanzers in den Leib.
 

Erst als sein Gegner zusammensackte, bemerkte der Wanack seinen Zweiten. "Danke", keuchte Amemna, und schon trennten sie weitere Tetraosi wieder voneinander. Wie lang würde das noch so weitergehen? Wie viele Männer hatte die Reiterei der Tetraosi? Die Arme wurde Nefut schon schwer, doch auch mit dem nächsten Gegner wurde er fertig. Und endlich erklang ein Gong aus dem nahen Lager der Tetraosi. Wie ein Mann zogen sich die Gegner dorthin zurück, sogar die Verwundeten versuchten, dem Ruf zu folgen. Die Hannaiim hatten die Schlacht also gewonnen, und Nefut sah sich wieder nach seinem Wanack um.
 

Amemna hing nach vorne gebeugt über dem Hals seines Pferdes, das Blut floß aus seiner Brust. Nefut eilte an seine Seite, aber Oremar war schneller, zog seinen Wanack vom Pferd und bettete ihn vorsichtig auf dem zertrampelten Boden. Ein abgeerntetes Getreidefeld war es, auf dem diese Schlacht ausgetragen worden war, stellte Nefut - seltsam losgelöst von den Ereignissen - fest.
 

"Er stirbt", sagte Oremar so leise, daß Nefut es im ersten Moment nicht verstand.
 

Dann kam die Erkenntnis: hier starb sein gerade erst gefundener Bruder. Er sah Amemna in die noch immer offenen, aber blicklosen Augen, der Mund halb geöffnet, als versuche er, etwas zu sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Und der Blutstrom aus der Wunde unter Amemnas Schulter versiegte. Nefut kniete sich neben seinen Bruder, griff nach seiner schlaffen Hand, aber jedes Leben war aus diesem Körper gewichen. Nefuts Augen begannen zu brennen, er kämpfte gegen die Tränen, sah weg von dem leblosen Körper in die Ferne und erblickte eine willkommene Ablenkung. "Da ist eines unserer Pferde! Die sollen nicht irgend jemandes Kriegsbeute werden", rief er im Aufspringen und ritt hinterher, um das herrenlose Tier einzufangen. Nach kurzer Jagd war es Nefut gelungen, insgesamt drei der Mawati-Pferde einzufangen, dann machte er kehrt, um zu Amemna und Oremar zurückzureiten.
 

Auf dem Rückweg entdeckte er Hamarem und Derhan, die an einen Pferdekadaver gelehnt zwischen den Gefallenen saßen. Derhan lebte noch, sah aber ungesund blaß und apathisch aus. Und auf die geringe Entfernung stellte Nefut fest, daß Hamarems Ärmel einige Schnitte aufwiesen, das Blut, das sein graues Untergewand rot färbte, also durchaus sein eigenes war.
 

"Ich bringe Amemna zu euch", sagte er und ärgerte sich über seine belegte Stimme, dann kehrte er zurück zu Oremar und seinem toten Wanack, zu dem Leichnam seines Bruders Amemna Darashy.
 

* * *
 

14. Nach dem Ende

Das metallisch klingende Signal hallte noch immer dröhnend in Hamarems Schädel wider. Sein kluges Pferd schloß sich jedoch nicht der Masse der fliehenden Reiter an und rettete ihm so vermutlich ein weiteres Mal das Leben. Wenn er sich nicht auf den Instinkt seiner schlachterprobten Stute hätte verlassen können, wäre er von der Desorientierung, die ihn seit dem Aufwachen umfangen hielt und erst langsam nachließ, längst in den sicheren Tod geführt worden. Etwas überrascht nahm Hamarem wahr, daß die Ärmel seines Untergewandes zerschnitten und blutig waren, auch an der hellen Mähne des Pferdes klebte Blut. Also hatte er wohl nicht geträumt, daß er sich während der Schlacht mit beiden Armen um den Hals seines Reittieres geklammert hatte, um es vor den Schwerthieben eines reittierlosen Tetraosi zu beschützen. Gerettet hatten ihn seiner Erinnerung nach zwei schwarzhäutige Männer mit strahlend weißen, grimmig gefletschten Zähnen und breiten Krummsäbeln. Hatte Amemna sie ihm wirklich durch Zuruf in einer fremden Sprache zur Hilfe geschickt oder hatte er das wiederum nur geträumt?
 

"Nane'Hawat", sagte jemand neben Hamarem.
 

Erstaunt sah Hamarem, daß die beiden Südmänner, die ebenfalls zu den berittenen Hilfstruppen der Hannaiim gehörten, noch bei ihm waren. Einer hielt die Zügel von Hamarems Pferd und reichte sie nun an Hamarem zurück.
 

"Orems Segen für Euch", erwiderte Hamarem aus vollem Herzen und nahm die Zügel entgegen.
 

Die beiden schwarzen Männer ritten davon.
 

Der Blutgeruch um ihn herum, der in wenigen Stunden zum Gestank der Verwesung werden würde, verursachte Hamarem Übelkeit. Und als ihm bewußt wurde, daß die blutfleckigen Stoffbündel auf der Erde tote Männer waren, mußte er sich wirklich übergeben. Danach ging es ihm erstaunlicherweise viel besser, und er sah sich um. An einen Pferdekadaver gelehnt entdeckte Hamarem eine zusammengekrümmte Gestalt mit buntgemustertem Turban. Es war Derhan. Hamarem ritt zu ihm, saß ab und beschwerte den Zügel seines verletzten Pferdes mit einem faustgroßen Stein, den er auf dem Boden fand. Dann bot er Derhan seinen Wasserschlauch an.
 

Derhan schüttelte langsam den Kopf. "Das lohnt sich nicht, ich werde sterben", sagte er matt und trotzdem lächelte er. Er hatte eine schwere Bauchwunde und vermutlich irgendetwas gegen die Schmerzen eingenommen.
 

Hamarem trank in großen Schlucken, dann gab er auch seinem Pferd zu trinken und untersuchte den Hals des Tieres. Es hatte einen Schnitt am Hals, lang aber nicht sehr tief, der schon begann, zu verschorfen und ohne Probleme verheilen würde. Die Schnitte an seinen eigenen Armen stellten ebenfalls keine ernsten Verletzungen dar, und durch die betäubende Nachwirkung des Stechapfelsuds waren sie so gut wie gar nicht zu spüren. Doch hätten die Südmänner dem Tetraosi nicht den Garaus gemacht, hätte wohl weder Hamarems Pferd noch er selbst überlebt. Es war Hamarem ohnehin ein Rätsel, wie er die Schlacht in halbbetäubtem Zustand lebend überstanden hatte. Er hatte auch keine Erinnerung daran, ob er während des Kampfes sein Schwert gezogen hatte oder nicht, das Heft zumindest war blutig. Hamarem löste seinen Wasserschlauch vom Sattel und setzte er sich zu Derhan. Er trank erneut, und das Wasser schien einen Teil des Drogennebels wegzuspülen, dann aber sickerte es wie Blei in seine Glieder.
 

*
 

Plötzlich ritt Nefut heran, drei der Pferde ihrer Wannim am Zügel, eines davon Doshans Wallach. Waren die Besitzer der Pferde tot? Aber bevor Hamarem fragen konnte sagte Nefut mit eigenartiger Stimme: "Ich bringe Amemna zu euch", und ritt vorbei.
 

Das klang, als würde er Amemna quer vor seinem Sattel liegend oder auf einer Bahre bringen wollen. War er etwa verletzt? Amemna konnte doch nicht tot sein, oder? Auch wenn Hamarem eigentlich zu müde dafür war, und noch dazu die verbleibenden Nachwirkungen des Stechapfelsuds dagegen sprachen, griff er nach den Blättern des Traumkrautes in der Tasche seines Mantels und versuchte, im Muster der zertrampelten Gras- und Getreidehalme vor ihm auf dem Erdboden eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten.
 

Der Blutgeschmack war fast überwältigend und erneut kämpfte Hamarem mit der Übelkeit. Viele der Mawati mußten tot sein. Und obwohl die Kräfte um Derhan verblaßten, als das Leben ihn langsam verließ, zeigte Hamarems Vision ihn lebend! Also würde er seine Verletzung überleben, wie unwahrscheinlich das auch schien.
 

Und dann kamen Oremar, Nefut und Amemna schon angeritten, allesamt mit bis zu den Schultern blutbespritzten Ärmeln. Sie hatten mit Sicherheit ihre Schwerter benutzt. Amemna war anscheinend am Oberkörper, ein Stück unterhalb der Schulter verletzt, aber er lebte, Orem sei Dank. Eine seltsame Spannung herrschte zwischen den dreien, so daß die Kräfte regelrecht flirrten.
 

"Was ist passiert?" fragte Hamarem.
 

Nefut zuckte ratlos mit den Schultern und saß etwas schwerfällig von seinem Pferd ab.
 

Der ansonsten kaum zu beeindruckende Oremar dagegen wirkte erschüttert bis ins Mark und machte ein unheilabwehrendes Zeichen, während er in Amemnas Richtung blickte. "Er war tot", stieß Oremar hervor. "Er war ganz sicher tot. Ein Dämon Chelems muß in ihn gefahren sein!" Auch seine Erschöpfung war offensichtlich, als er sich aus dem Sattel gleiten ließ. Verletzt schienen Nefut und Oremar allerdings nicht zu sein.
 

Amemna dagegen sprang vom Pferd, als hätte er der Schlacht nur zugesehen. Dabei sprachen die beschmutzten Ärmel seines Untergewandes eine andere Sprache, zudem war die linke Seite seines schönen Mantels zerschnitten und das Untergewand darunter mit Blut getränkt. Mit wenigen Schritten war er bei Derhan, kniete sich neben ihn und faßte seine Hand. Und dann tat Amemna etwas, was Hamarem nur aus den in Orems Orakelstätte gehüteten Geschichten über die Unirdischen kannte: er bündelte die ersterbenden Kräfte um Derhan, entriß sie dem Schattenreich und verknüpfte sie erneut mit Derhan. Derhan sackte zusammen, aber er war wohl nur ohnmächtig, denn die Bauchwunde hatte sich geschlossen und seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Atemzügen. Und Hamarem wurde klar, daß es anscheinend nicht die erste tödliche Wunde war, die Amemna an diesem Tag geheilt hatte. Oremar hatte seinen sterbenden Wanack wohl für tot gehalten, und Amemna war aus eigener Kraft aus dem Schattenreich zurückgekehrt. Er war also tatsächlich unirdischer Herkunft - ja, angesichts seiner Kräfte mußte er der direkte Abkömmling eines Unirdischen sein.
 

Hamarem sprang auf und warf sich vor Amemna auf den Boden. "Herr, eure Kräfte sind erfurchtgebietend!" rief er inbrünstig aus und drückte die Stirn in den Staub. Ihm war schwindelig durch das schnelle Senken des Kopfes, und plötzlich war er wieder der Novize vor dem großen Schrein des Nächtlichen Träumers und er sprach die Formel, die alle angehenden Priester sprachen: "Ich bitte Euch Herr, richtet Euren Zorn auf andere und nehmt mich als Euren Diener unter Euren Schutz."
 

Doch der Staub unter ihm war nicht der des Innenhofes von Harna, sondern der des Schlachtfeldes vor Tetraos. Verwirrt blickte Hamarem sich um und als erstes sah er den ungewohnten Anflug von Zweifel in Nefuts Gesicht.
 

"Steh auf, Hamarrem", sagte Amemna leise und Hamarem gehorchte. Auch Amemna sah eher unangenehm berührt aus.
 

Oremar wich sogar ein paar Schritte von Hamarem zurück. Die Kräfte um ihn schrien seine Furcht heraus. Traumkraut und Stechapfelsud trübten Hamarems Verstand, aber trotzdem begriff er, daß sein Kniefall und seine Worte Oremars Dämonenfurcht noch verstärkt zu haben schienen. Aber ungeschehen machen konnte er sie nicht.
 

In das betretene Schweigen hinein erinnerte Nefut die anderen plötzlich: "Wir müssen unsere Gefallenen bergen." Das sorgte für die nötige Ablenkung. Oremar nickte erleichtert und machte sich mit Nefut zusammen auf die Suche. Hamarem ließ sich von Amemna dabei helfen, den noch immer bewußtlosen Derhan auf sein Pferd zu hiefen. Dann ritten sie zurück ins Lager der siegreichen Hannaiim.
 

*
 

Bereits kurz bevor Hamarem und Amemna bei den Pferdepferchen des Lagers angekommen waren, erwachte Derhan. Er war noch etwas bekommen, als sie schließlich die Zelte erreicht hatten und Hamarem erklärte ihm: "Unser Wanack hat dich geheilt."
 

Derhan brauchte eine Weile, um diese Nachricht zu verdauen, aber dann sah er Amemna mit für ihn ungewöhnlicher Ehrfurcht an. "Also seid ihr tatsächlich ein Unirdischer", sagte er leise. Und wie kurz zuvor Hamarem warf Derhan sich vor Amemna auf die Knie um ihm zu danken. Danach jedoch, als er mit Amemna und Hamarem zusammen eines der beiden Mannschaftszelte für die Leichname leerräumte, sprach er kaum mehr ein Wort.
 

Etwas später trafen auch Nefut und Oremar mit den sechs gefallenen Mawati ein. Die Getöteten wurden in das leere Zeit gelegt, und nachdem sich die Männer gewaschen und umgezogen hatten, wuschen Hamarem und Oremar zuerst die Mäntel der Toten, dann die beschmutzte Kleidung der Lebenden, während die drei anderen die Leichname nach Osheysitte wuschen und herrichteten. Bedauernd stellte Hamarem fest, daß der Stoff von Amemnas Mantel durch die Wäsche den größten Teil seines Glanzes eingebüßt hatte, so daß er sich kaum noch von einem gewöhnlichen Osheymantel unterschied.
 

Gemeinsam machten sie dann schweigend ihre sechs Waffenbrüder für den Weg durch das Schattenreich bereit, und schließlich wurden sie in ihre Mäntel eingenäht. Nefut übernahm die Aufgabe, jedem der toten Mawati einen kunstvoll gestalteten Vers aus dem Buch der Weisen auf die Stirn zu schreiben, bevor die letzte Naht ihrer Totenhüllen geschlossen wurde. Und danach setzte sich Hamarem daran, die langen Schnitte in Amemnas Mantel und seinem Untergewand zu nähen, um Beschäftigung für seine Finger zu haben, während sich sein Verstand durch die Reste der Drogen in seinem Körper immer wieder auf Irrwege begab.
 

Er mußte an die sieben Toten im Lager der Banditen denken. Den Aufrührern war ein ordentliches Begräbnis verweigert worden, nur Ashan dürfte dessen teilhaftig geworden sein. Die anderen sechs hatte Terhan vermutlich in der Wüste den wilden Tieren zum Fraße überlassen. Hamarem sprach leise ein Gebet für sie, denn sie waren doch für ihre Überzeugung gestorben, daß Amemna Darashy ein Unirdischer war und so war ihnen zumindest der Eingang in die Gärten der Freude sicher. Er selbst dagegen hatte mehrfach und, wie sich nun gezeigt hatte, zu Unrecht an der unirdischen Natur seines Wanack gezweifelt. Denn Amemna hatte durch seine Tat bewiesen, daß er tatsächlich von unirdischer Herkunft war.
 

Als Hamarem zuletzt noch die zerfetzten Ärmel seines eigenen frisch gewaschenen Gewandes nähte, ging ihm auf, daß er die Träume von Amemnas Annäherungen nun einfach genießen konnte, schließlich war sein Herr von unirdischer Herkunft. Aber durfte er diese Träume durch eine Berührung Amemnas willentlich hervorrufen? Und was passierte, wenn Amemna durch seine Kräfte durchschaute, welche Beweggründe Hamarem hatte? Aber bisher ahnte Amemna anscheinend nichts, denn er kam im Laufe des Nachmittags zu Hamarem und bat ihn, das am Vorabend bereits verabredete nächtliche Treffen an den Pferdepferchen einzuhalten, da er selbst durch die Ereignisse nach der Schlacht verunsichert worden sei. Hamarem sagte sofort zu und Amemna war darüber sichtlich erleichtert.
 

*
 

Am Abend, als Hamarem sich endlich wieder ganz wie er selbst fühlte, wurden die Toten der Hannaiim auf einen großen Scheiterhaufen vor dem Heerlager gelegt. Während am anderen Ende der Ebene bereits ein Scheiterhaufen mit den Toten der Tetraosi brannte, berichtete der Feldherr der Hannaiim in einer Ansprache, daß man dem unterlegenen Gegner erlaubt habe, seine Toten zu bergen. Tatsächlich hätten nur die Reiter der Hannaiim schwere Verluste hinnehmen müssen, sowohl der andere Flügel des Heeres, als auch die Hauptmacht aus schwerbewaffneten Fußsoldaten seien siegreich gewesen und hätten die Tetraosi vernichtend geschlagen. Für den nächsten Tag erwartete der Feldherr sogar die Kapitulation der Stadt. Und schließlich wurde - mit dem Segen der Priester des Ungenannten - der Scheiterhaufen entzündet.
 

Bei der Nachtmahlzeit war es ungewöhnlich still und alle, insbesondere Oremar, hielten auffälligen Abstand von ihrem Wanack. Bei den anderen mochte das Ehrfurcht sein, aber Oremar machte deutlich, daß er in Amemna weiterhin nur die Hülle eines Dämons sah, auch wenn er kein Wort mehr darüber verlor. Und Hamarem wollte noch immer nichts einfallen, womit er Oremars Dämonenfurcht zerstreuen konnte.
 

* * *
 

15. Unter Beobachtung

Als der Scheiterhaufen mit den Toten der Schlacht lichterloh brannte, überwältigten Nefut fast die Schuldgefühle gegenüber seinen toten Männern. Er hatte gewußt, daß die Wenigsten in einer Schlacht bestehen würden. Hätte er sie nicht nach Nemis geführt, wären sie ihm nicht getreulich gefolgt, würden sie noch leben: der junge Kermul, den sie mit fast abgeschlagenen Beinen und wohl qualvoll verblutet gefunden hatten; Doshan geköpft, so daß sie den Kopf nach der Leichenwäsche wieder annähen mußten; Telwar von hinten erstochen; Lehan mit eingeschlagenem Schädel und zur Unkenntlichkeit zertrümmertem Gesicht; Nesfat mit zerborstenen Rippen anscheinend unter den Hufen durchgegangener Pferde gestorben; und Farhan schließlich, der eine ähnliche Verletzung wie Derhan nicht überlebt hatte.
 

Nefut konnte nur hoffen, daß die Männer tatsächlich als Gefolgsleute eines Unirdischen gestorben waren und sich so ihren Platz in den Gärten der Freude verdient hatten. Hamarem hatte sich so seltsam benommen, daß Nefut zum ersten Mal seit sie sich kannten, Zweifel an seinem Urteil hatte. Was, wenn die wundersame Heilung Derhans kein sicheres Zeichen für Amemnas unirdische Natur war? Wenn Oremar Recht hatte und Amemna einem Dämon als Hülle diente, wären sie und wohl auch die toten Aufständischen der Schädeloase, Mutar, Enwar, der Kleine Nefut, Tyrimar, Gardan und Peltar, allesamt verdammt. Und Derhan mußte in diesem Falle besonders um sein Heil fürchten, wenn es ihn denn interessieren würde. Der Vorfall bedurfte noch dringend der Klärung.
 

*
 

Nefut fing Hamarem ab, als der kurz vor der Nachtruhe noch einmal das Zelt verlassen wollte. "Kannst du mir erklären, was mit Amemna passiert ist?" fragte er drängend. Oremars panische Angst vor seinem wieder aufgestandenen toten Wanack stand ihm noch deutlich vor Augen. Als Nefut mit den eingefangenen Pferden zu Oremar zurückgekehrt war, hatte Amemna sich bereits wieder erhoben gehabt und war dabei gewesen, die umherliegenden Leichen, die der Tetraosi und der Hannaiim gleichermaßen, zu fleddern. Nefut mußte ihn ermahnen, das zu unterlassen. Und dann hatte er Oremar, der sich auf dem Boden zusammengekauert hatte und alle guten Götter zum Schutz vor Chelems Dämonen anflehte, beruhigen müssen. "Hat der Darashy irgendeinen Handel mit Chelems Dämonen abgeschlossen?"
 

Hamarem war Nefuts Blick ausgewichen und er schien sich um eine Antwort drücken zu wollen, doch nun schüttelte er entschieden den Kopf. "Nein, natürlich hat er keinen Handel mit Dämonen abgeschlossen!" Er erklärte noch irgendetwas, aber Nefut hörte gar nicht mehr zu. "Das schwörst Du mir?"
 

"Bei Orem und dem Ungenannten: ich schwöre euch Herr, an der Rückkehr unseres Wanack ins Leben und der Heilung von Derhan ist nichts dämonischen Ursprungs", antwortete Hamarem ernsthaft in seiner gewohnten Art.
 

Das schien vertrauenswürdig genug, und Nefut gestattete, daß Hamarem sich an ihm vorbeidrückte, auch wenn er nicht wirklich eine Erklärung dafür erhalten hatte, was genau passiert war. Er sah Hamarem nach, der an Amemnas Zelt Halt machte, ihren Wanack, der gerade heraustrat, kurz begrüßte und mit ihm gemeinsam zwischen den Zelten davonging. Kurzentschlossen folgte Nefut den beiden. Die Männer hatte sich ohne Umstände vor der Totenwäsche ihrer zerschnittenen und blutigen Gewänder entledigt und neu bekleidet. Amemna dagegen hatte sich zu diesem Zweck allein in sein Wanackzelt zurückgezogen. Das war natürlich sein gutes Recht, aber Nefut konnte sich nicht erinnern, seinen Wanack auch nur einmal leicht oder gar nicht bekleidet gesehen zu haben, nicht einmal bei den schweißtreibenden morgendlichen Waffenübungen, die sie gemeinsam machten. Und auch das Badezelt hatte Amemna nicht zusammen mit seinen Mawati aufgesucht. Vielleicht sollte Nefut versuchen herauszubekommen, warum Amemna so auffällig darauf bedacht war, daß andere seinen Körper nie unbekleidet zu sehen bekamen. Vielleicht versteckte er tatsächlich seine Unirdischen-Flügel unter seinen Gewändern. So abwegig kam Nefut dieser Gedanke nach dem auf dem Schlachtfeld Erlebten nicht mehr vor. Wie mochten die Flügel eines Unirdischen wohl aussehen? Es hieß, die Unirdischen könnten sich in weiße Falken verwandeln. Waren es also weiße befiederte Flügel, wie die eines Falken? Oder eher mit Haut bespannte Flügel wie die einer Fledermaus wenn sie in ihrer menschlichen Gestalt unter den Sterblichen wandelten?
 

Der Weg von Amemna und Hamarem endete an den Pferdepferchen. Nefut zog sich in den Schatten eines Zeltes zurück, so daß er nicht gesehen werden konnte, aber die beiden, die zunächst schweigend die schlafenden Pferde beobachteten, gut sehen und gegebenenfalls hören würde. Erst nach einer Weile fragte Amemna seinen Begleiter leise: "Kannst du mirr errklären, was mit mirr passierrt ist, Hamarrem?"
 

Hamarem lächelte. "Vielleicht hättet ihr Nefut dazubitten sollen, Herr. Er stellte mir gerade die selbe Frage."
 

"Vermutlich weil auch err denkt, daß du als einzigerr von uns wenigstens eine Ahnung hast, was passierrt ist."
 

Amemnas Blick zeugte von einer Verbundenheit mit Hamarem, die ungeahnte Eifersucht in Nefuts Herz weckte. Wie war diese Vertrautheit zustande gekommen? Hätte sie nicht eher ihm als Amemnas älterem Bruder zugestanden?
 

"Was soll ich sagen als daß ihr heute bewiesen habt, daß ihr wahrhaftig von unirdischem Blute seid, Herr", war Hamarems unbefriedigende Erklärung.
 

"Das sagtest du berreits auf dem Schlachtfeld." Amemna war sichtlich enttäuscht über die Antwort.
 

Hamarem holte tief Luft, seufzte und begann: "Es heißt, die Unirdischen sind die Kinder des Ungenannten und die Diener Orems. Sie haben die Aufgabe, einem Gott zur Seite zu stehen, und das können sie nur, weil sie selbst über göttliche Kräfte verfügen. Und wenn sie unter uns wandeln und mit Menschen Kinder zeugen, so erben diese Kinder auch einen Teil dieser göttlichen Kräfte und können sie später ihrerseits ihren Kindern vererben. Daß ihr auf den Tod Verwundete wieder ins Leben zurückbringen könnt, ist eine der machtvollsten Fähigkeiten der Unirdischen. Es ist über tausend Jahre her, daß zuletzt von einem direkten Kind eines Uniridischen berichtet wurde, das so etwas vermochte. Seine Nachkommen hatten diese Fähigkeit nicht."
 

Nefut fragte sich, woher Hamarem das so genau wissen wollte.
 

Doch Amemna fragte nicht nach, sondern schüttelte nur zornig den Kopf. "Und warrum seigt sich diese Ferrtigkeit errst heute? Wieso nicht schon vorr swei Jahrren, dann hätte ich..." Amemna war so aufgeregt, daß sein Akzent sich verstärkte. Er kämpfte mit den Tränen und verlor.
 

Hamarem schien Anstalten zu machen, tröstend den Arm um Amemnas Schulter zu legen, unterbrach die begonnene Bewegung jedoch plötzlich, ließ den Arm wieder sinken und sagte: "Diese Kräfte entfalten sich bisweilen langsam, Herr. Einige entdecken sie früh, andere erst im Alter."
 

Amemna spannte die Schultern und sah mit noch immer tränengefüllten Augen in die Ferne. "Ich hätte meine Siehmutterr vorr dem Tod rretten können, hätte ich diese Fähigkeit damals schon entdeckt. Doch errst als ich selbst mit dem Tode rrang, offenbarrte sie sich. Anscheinend habe ich mirr nicht kenug kewünscht, sie ins Leben surückholen su können."
 

Das klang so verzweifelt und Amemna sah so herzzerreißend jung aus, doch Hamarem unterließ nicht nur die Umarmung, sondern er brachte auch kein Wort des Trostes hervor und schwieg. Nefut wäre am liebsten aus seinem Versteck gekommen, um seinen kleinen Bruder zu umarmen und zu trösten. Er erinnerte sich noch gut an das langsame Dahinsiechen seiner leiblichen Mutter, Murhan Darashys erster Frau, bis sie schließlich starb, als Nefut noch nicht einmal zehn Jahre alt war. Nefuts Verzweiflung über ihren Tod hatte lange angedauert, auch wenn es für seine Mutter wohl eine Erlösung gewesen war. Wie mochte Amemnas Ziehmutter gestorben sein? Für einen Moment hatte Nefut sogar Mitleid mit Murhan, der anscheinend mindestens drei Frauen durch einen frühzeitigen Tod verloren hatte, und er sandte stumm ein kurzes Gebet an den Ungenannten.
 

Amemnas Schluchzen wurde leiser und schließlich wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. "Weißt Du, Hamarrem", begann Amemna nach einer Weile dann wieder, "es warr ein seltsames Gefühl, zu spürren, wie das Leben den Körperr verlassen wollte und ich es wie mit Händen grreifen und festhalten konnte, um es zurrückzuziehen... ich konnte dem Leben gebieten." Die letzten Worte waren fast geflüstert leise, als erschrecke Amemna selbst über die Tragweite dieser Aussage. Und Hamarem stand der Mund offen. Wenn wirklich nichts Dämonisches an Amemna war, schien sein jüngerer Bruder also eine Art junger Gott zu sein, der gerade begann, seine Flügel zu erproben.
 

Wieder vergingen einige Momente in Stille, dann lächelte Amemna plötzlich. "Eigentlich eine ganz prraktische Ferrtigkeit, wenn man als Wanack einerr Söldnerreinheit verrpflichtet ist... Gute Nacht, Hamarrem." Und Amemna verließ die Pferdepferche und ließ Hamarem zurück.
 

Nefut sah ihm nach und wartete darauf, daß auch Hamarem wieder zurück zu den Zelten ging. Aber der lehnte sich auf den Zaun des Pferches, betrachtete zunächst die Pferde und dann den Sternenhimmel über dem Lager. Diesen gedankenverlorenen Ausdruck kannte Nefut nur zu gut und nutzte die Gelegenheit, unbemerkt vor Hamarem zurück im Mawati-Zelt zu sein. Und obwohl ihm das Gehörte noch lange durch den Kopf ging, schlief er schließlich ein, bevor Hamarem das Zelt wieder betreten hatte.
 

*
 

Amemna lag nackt auf seinem schönen glänzenden Mantel, die bis auf die Brust reichenden langen weißen Haare lagen wirr, wie durch einen Sturmwind aufgepeitscht, um seinen Kopf, die ebenso weißen Flügel unter ihm waren halb ausgebreitet. Sein Gesicht, mit den geschlossenen Augen mit langen weißen Wimpern unter den weißen Augenbrauen, wirkte wie das eines Schlafenden, aber die linke Seite seiner Brust war zerfetzt, als hätte ihm ein Raubtier zugesetzt. Das Blut hatte Nefut abgewaschen, die dunkle Haut wieder über die bloßen Rippen gelegt, und unter Tränen faltete er nun die großen, leise raschelnden Flügel unter seinem toten Bruder zusammen, so wie der sie zu Lebzeiten unter seiner Kleidung verborgen hatte.
 

Nefut schminkte Amemnas Augen wieder mit der Schwarzen Tinte und nähte ihn sorgfältig in seinen Mantel ein, bis nur noch das makellose, jugendlich schöne Gesicht herausschaute, umrahmt von den seidigen weißen Haaren. "Den Frommen Mann rühren die Bösen Geister nicht an" schrieb Nefut in Falkenform mit schwarzer Tinte auf Amemnas Stirn. Dann schlug er den letzten Zipfel des Mantels über das Gesicht und nähte die letzte Naht.
 

Zusammen mit seinem Vater trug er den Leichnam auf den Scheiterhaufen vor ihrem Haus in Berresh. Eine weitere eingenähte Leiche, Nefuts Mutter in einem braunen Frauenmantel, lag dort schon. Und sie entzündeten den Holzstapel. Die Flammen schlugen schnell hoch und begannen, an den Mänteln zu lecken, ihre Spuren zu hinterlassen. Doch die beiden Toten waren plötzlich wieder lebendig und begannen zu schreien, sich zu winden, versuchten, sich aus den Totenhüllen zu befreien, um dem Feuer zu entkommen. Die Schreie waren entsetzlich.
 

Nefut erwachte schweißgebadet. Was für ein furchtbarer Traum!
 

* * *
 

16. Die geflügelte Schlange

Eine riesige, sandfarbene Schlange mit Flügeln glitt über die Karte des Erdkreises, die aus Jaspis, Marmor, Lapislazuli und Metall in den Fußboden der Empfangshalle des Oremheiligtums eingelegt war. Der Schwanz der Schlange lag auf der Steppe des Ostens, der Körper schlängelte sich zwischen Ma'ouwat und der Wüste, der Kopf lag auf dem Westmeer. Die Federn ihrer Schwingen waren ebenfalls sandfarben, und wenn sie die Flügel ausbreitete, bedeckten sie die Westlichen Inseln und die Städte des Nordens.
 

Hamarem schreckte von Nefuts Schrei aus seinem Traum auf. Es war noch dunkel und zunächst dachte er, sie wären in Ashans Banditenlager, aber dann fühlte er das leichte Brennen der Schnitte an seinen Armen, erinnerte sich an die Schlacht, die Toten und an Amemnas beängstigende Wundertaten. Der Inhalt der Feuerschalen, die am Anfang der Nacht für die Beleuchtung des Lagers gesorgt hatten, war heruntergebrannt, und auch die Glut des Kochfeuers war ganz von Asche bedeckt. Doch trotz der Dunkelheit konnte Hamarem erkennen, daß Nefut sich aufgesetzt hatte. "Was ist, Herr?" wisperte Hamarem, um die anderen nicht zu wecken, aber auch Oremar und Derhan begannen, sich zu bewegen.
 

"Nichts, es ist nichts", flüsterte Nefut beschwichtigend zurück. Doch seine Stimme und die in Aufruhr geratenen Kräfte um ihn straften seine Worte Lügen. "Nur ein Traum", setzte Nefut hinzu.
 

Hamarem presste die Lippen aufeinander, um dazu nichts zu sagen, denn er hatte Schweigen gelobt, als er die Orakelstätte verließ. Nefut würde schon zu ihm kommen, falls er doch über seinen Traum sprechen wollte. Doch Ruhe, über seinen eigenen Traum von der so mächtig gewachsenen geflügelten Schlange nachzudenken, hatte Hamarem zunächst keine. Und als er endlich allein mit der Frühstückszubereitung beschäftigt war, kam Derhan zu ihm.
 

Natürlich wollte Derhan über seine wundersame Heilung Klarheit erhalten, und als Hamarem ihn aufforderte, zu sprechen, ließ Derhan sich neben dem Herdfeuer nieder, strich mit der Handfläche seiner Rechten ein paar Mal über seinen anscheinend am Vortag zuletzt rasierten Schädel, denn die in das Zelt dringende Sonne brachte die im Vergleich zu seinem Bart viel stärker ergrauten Haarstoppeln zum glänzen. Schließlich begann er mit leiser Stimme:"Ich weiß, wie schwer ich verwundet war. Diese Wunde hätte kein menschlicher Arzt heilen können. Oremar glaubt ja, daß unser Wanack verstorben ist und sein Fleisch nun einem Dämon als Hülle dient. Meinst du, der Wanack hat mich mit dämonischen Kräften wieder ins Leben zurückgeholt?"
 

Hamarem schüttelte energisch den Kopf. Das Muster der Kräfte um Derhan entsprach wieder weitgehend dem vor seiner Verwundung. "Da du noch ganz der Derhan zu sein scheinst, als den ich dich kennengelernt habe, ist das bestimmt nicht durch dämonische Kräfte passiert. Ein Dämon hätte höchstens in deinen toten Körper schlüpfen können, aber er hätte nicht vermocht, dich zu heilen. Das ist nur möglich durch die Kräfte der Unirdischen, über die unser Wanack mit Sicherheit verfügt." So einfach zurechtgelegt konnte sogar Hamarem fast glauben, daß alles in bester Ordnung war.
 

Und tatsächlich stellte Derhan die Erklärung zufrieden. Er blieb noch ein Weilchen schweigend neben Hamarem sitzen, dann bot er sich an, dem Wanack sein Frühstück zu bringen.
 

*
 

So unruhig wie der Tag begonnen hatte ging er auch weiter, so daß Hamarem sich nach der Versorgung der Wunde seiner Stute schließlich entschied, das Lager mit seinen müßigen Soldaten, die wie ihr Feldherr nur auf die Kapitulation des Gegners warteten, zu verlassen, um Raum zum Nachdenken zu haben. Alles schwirrte von Stimmen und Geräuschen, als Hamarem zu Fuß aus dem Lager floh, bis er endlich einen nahen Olivenhain erreichte, in dem er nur eine murmelnde Quelle entdeckte, eingefaßt von grob behauenen Steinen und daneben eine kleine, einfach gestaltete Ama-Statue.
 

Wenn Nefut geahnt hätte, das Hamarem seit Erreichen des Mannesalters in der Orakelstätte von Harna als Traumdeuter ausgebildet worden war, hätte er in seiner Gegenwart wohl weniger geringschätzig von einem Traum gesprochen. Hamarem hatte sogar Aussicht auf höhere Weihen gehabt, aber gerade weil ihm ein Traum keine Ruhe gelassen hatte, hatte er das Oremorakel verlassen.
 

Vor etwa sechs Jahren hatte er das erste Mal von der geflügelten Schlange geträumt. Damals war sie winzig gewesen, nicht mehr als ein geflügelter Wurm auf der steinernen Weltkarte, gerade groß genug, um eine der Westlichen Inseln abzudecken. Doch mit fast jedem Traum wurde sie größer und in Hamarem wuchs die Überzeugung, daß diese Träume von großer Wichtigkeit für ihn waren. In einem Traum war die geflügelte Schlange auf das Festland gekrochen, über die Wüste und die Markierung, die für das weithin berühmte Oremheiligtum von Harna stand, nach Norden, nach Hannai. Da hatte Hamarem sich entschlossen, die Orakelstätte zu verlassen, um dem Weg der Schlange zu folgen. Ohne zu wissen, was die geflügelte Schlange bedeutete, nur in der Überzeugung, daß sie für ihn wichtig sein würde, war Hamarem losgezogen, lebte ein Jahr unter elenden Verhältnissen in Hannais Hafenviertel und wandte sich dann, nach einem erneuten Traum, wieder der Wüste zu. Doch ein Priester aus Orems Heiligtum zog sich nicht einfach aus dem Amt zurück. Hamarem hatte Schweigen geloben müssen, denn eigentlich hatte er sein ganzes Leben dem Gott geweiht und galt den Temhaly daher als tot. Er konnte nicht zu seinem Stamm zurückkehren. Statt dessen stieß er auf die Banditen unter Ashan. Dort verstummten die Träume für zwei Jahre, bis sie vor gut zwanzig Tagen wieder begonnen hatten.
 

Erst als er Amemna Darashys Namen erfahren hatte, war Hamarem der Verdacht gekommen, daß die geflügelte Schlange nicht für Nefut den Ausgestoßenen, sondern eher für einen unirdischen Vertreter des Schlangenstammes stand. Nach den Vorkommnissen des Vortages konnte an der unirdischen Natur Amemna Darashys auch kein Zweifel mehr bestehen. Was aber, wenn er seinen Traum doch anfangs richtig verstanden hatte? War die geflügelte Schlange vielleicht doch Nefut, der älteste Sohn des Städtezerstörers Murhan Darashy? Die Schlange war richtig groß geworden, reichte vom Gebiet der Ostler bis in das Westmeer. Bedeutete das einen großen Krieg oder eine lange Reise? Hatte die Schlange Zähne? Hamarem wurde klar, das er sich diese Frage gar nicht beantworten konnte. Zähne würden sicherlich Blutvergießen bedeuten. Aber als Hamarem in sich horchte, spürte er keinerlei Gefahr von der geflügelten Schlange ausgehen, und die Verbindung zwischen Amemna und der Schlange erschien ihm ebenfalls richtig. Auch sein Bedürfnis, sich in der Nähe der geflügelten Schlange aufzuhalten, war ganz in Übereinstimmung mit den Strömungen der Kräfte. Und solange Nefut Amemnas Zweiter war, schien es gleichgültig zu sein, wer von ihnen die geflügelte Schlange war.
 

Nun war Hamarem also Nefut und Amemna in ein Kriegslager gefolgt und würde, was Orem verhüten mochte, bei der Fortsetzung des Kriegszuges vielleicht sogar andere töten müssen. Wie durch ein Wunder hatte er die Schlacht am Vortrag trotz des Drogennebels in seinem Kopf überlebt. Und er konnte sich gnädigerweise nicht erinnern, ob er dabei sein Schwert gezogen oder sogar gebraucht hatte. Wie der Krieg des Königs von Hannai sich auch entwickeln mochte, Hamarem würde einen Weg finden, ihn zu überstehen, denn sein Schicksal lag in Orems Hand, und wenn er die bisherigen Ereignisse richtig verstand, würde der Gott auch weiterhin über ihn wachen. Sicher hatte Orem Amemna als seinen Boten geschickt, und die Heilung Derhans mitzuerleben hatte Hamarem mit Ehrfurcht erfüllt. Es war eine Sache, in Büchern zu lesen, daß die Unirdischen über göttliche Fähigkeiten verfügten, aber eine ganz andere, selbst zu sehen, wie die Kräfte aus dem Schattenreich zurückgezogen und sogar neu geschaffen wurden. Selbst der Orakelpriester des Oremheiligtums, den Hamarem mehrfach bei seinen Weissagungen beobachtet hatte und dessen unirdisches Erbteil sich in seinen falkengelben Augen zeigte, war mit seinen machtvollen Fähigkeiten nicht zu mehr in der Lage gewesen, als das Gefüge der Kräfte zu lockern und neu zu verbinden.
 

Doch eben diese Handlungen des jungen Wanack hatten Oremars Dämonenfurcht ausgelöst. Und wenn man nicht bald etwas unternahm, würde sie sich wahrscheinlich zu einem ernsten Problem für die Mawati auswachsen. Es konnte für die Wannim nicht gut sein, wenn einer der Männer in seinem Wanack einen Diener Chelems sah! Jetzt, da er wieder klare Gedanken fassen konnte, lag Hamarem nichts ferner, als noch einmal den in Hannai gekauften Stechapfelsud einzunehmen, denn seine Nebenwirkung war völlig unvorhersehbar gewesen, selbst wenn es sich um eine Wechselwirkung mit dem Traumkraut gehandelt haben sollte. Niemals zuvor war er so plötzlich aus der Gegenwart herausgerissen worden. Vorsichtshalber würde er den Sud weggießen, sobald er wieder ins Lager kam, um nicht ein weiteres Mal in Versuchung zu geraten. Unter anderen Umständen wäre es Hamarem vielleicht gelungen, Oremar noch auf dem Schlachtfeld davon zu überzeugen, daß Amemna kein Dämon war. Und nun fiel ihm noch immer kein Argument ein, das Oremars inzwischen gewachsene Befürchtungen sicher beilegen konnte.
 

Die begehrliche Leidenschaft für Amemna war dagegen Hamarems ganz privates Problem. Und obwohl das Verlangen, Amemna zu berühren, am Vorabend so stark gewesen war, hatte Hamarem die Furcht, von dem jungen Unirdischen mit seinen gerade erwachten Kräften doch noch in seinen Absichten durchschaut zu werden, davon abgehalten. Dabei hätte Amemna des Trostes so dringend bedurft. Aber Hamarems Umarmung hätte nicht vorrangig dem Trost seines Herrn gedient, sondern vor allem Hamarems eigene Begierde nach einem weiteren dadurch ausgelösten Traum befriedigt. Hamarem hätte seine Lust, seine Zuneigung, so gerne mit Amemna geteilt, aber sein Verstand sagte ihm, daß sein Begehren außerhalb seiner Träume und Vorstellungen keine Erfüllung finden konnte. Der junge Mann war - ganz abgesehen von seiner unirdischen Herkunft - beweibt und Vater und in seinem Verhalten wies nichts darauf hin, daß er durch den Aufenthalt in der Fremde selbst fremde Sitten angenommen hatte. Also hatte Hamarem auch in der vergangenen Nacht wieder eifrig seine Hand betätigt, war vor dem Einschlafen mit den Gedanken bei Amemna gewesen, wenn schon nicht im Traum.
 

Irgendwie mußte Hamarem endlich die beängstigend erregenden Wirkung, die allein Amemnas Gegenwart auf ihn hatte, überwinden. Zuletzt hatte er sich als gerade zum Mann herangewachsener Jüngling so gefühlt, als der Augenaufschlag einer schönen Temhaly gereicht hatte, sein Blut zum Kochen zu bringen. Fünfzehn Jahre hatte er in der Orakelstätte wie ein Mönch gelebt und niemals solche Sehnsucht zu einem anderen Menschen empfunden. Weitere zwei Jahre hatte er im Lager der Banditen zugebracht, ohne jemals den Wunsch zu verspüren, zusammen mit seinen Zeltgenossen die willigen Frauen in einer der großen Oasen zu besuchen, oder gar in Versuchung zu geraten, eine oder etwa einen der Gefangenen zu mißbrauchen, wie es durchaus vorgekommen war, obwohl Ashan diejenigen streng zu bestrafen pflegte. Aber wenn Hamarem von Amemna träumte oder Amemna ihn in einer gewissen Weise anblickte, verlor er fast den Verstand.
 

Hamarem ließ sich auf das weiche Polster aus Gras und Kräutern sinken, das unter den Bäumen um die Quelle wuchs, und sah hinauf in die leise raschelnden, silbrig glänzenden Blätter. Die Gefühle, die die Träume von Amemnas Annäherungen hervorgerufen hatten, waren von Anfang an sehr angenehm gewesen, obwohl Hamarem zunächst darüber erschrocken gewesen war, wer sie erzeugte, denn die Vereinigung von Männern war nicht nach dem Willen der Götter - zumindest nicht aus der Sicht der Weisen und Heiligen. Nachdem nun sicher war, das die Träume nicht dämonischen Ursprungs waren, fiel es Hamarem allerdings noch schwerer, seine Gefühle einfach so hinnehmen zu müssen ohne auch nur darauf hoffen zu können, sie auszuleben.
 

In den Träumen schien es so klar zu sein, daß Amemna seinerseits an Hamarem interessiert war. Konnte er es wagen, sich Amemna zu offenbaren? Aber wer war er denn, daß er von dem unirdischen Jüngling nach seinem Liebesgeständnis mehr erwarten konnte, als freundliches Mitgefühl? Hamarem seufzte und schob den frevelhaften Gedanken, daß die Ostler, bei denen die geschlechtliche Verbindung von Männern angeblich erlaubt war, damit vieles vereinfachten, zögernd von sich. Wem mochte Amemnas Herz gehören? Seiner Familie, seiner Frau und seinem Kind war zu vermuten. Ob es möglich war, mit Hilfe des Traumkrautes festzustellen, wie Amemna auf Hamarems Offenbarung reagieren würde?
 

Ohne mögliche Argumente gegen die Verwendung der mantischen Droge auch nur zu erwägen, schob Hamarem zwei Blätter des Traumkrauts in den Mund und zerkaute sie. Das Muster der bewegten Olivenblätter über ihm war Bestens zur Versenkung geeignet und schon schmeckte er über den bitteren Geschmack des Traumkrautes etwas leicht salziges, das er nicht interpretieren konnte. Er war seltsam, aber angenehm. Hamarem wußte zwar noch immer nicht, ob Amemna ihn erhören würde, aber seine Offenbarung würde zumindest keine negativen Folgen haben. Erfreut von dieser Aussicht gestattete er sich, einfach in den Schlaf hinüberzugleiten.
 

*
 

Es war spät geworden, als Hamarem erwachte. Die Sonne stand schon tief, und er eilte ins Heerlager zurück. In den Gassen zwischen den Zelten standen noch immer Männer und redeten miteinander. Hamarem schnappte auf, daß die Antwort von den Tetraosi noch immer ausstand, aber die Länge der seit der Schlacht vergangenen Zeit sprach wohl gegen eine Kapitulation. Die Männer sahen der zu erwartenden Belagerung Tetraos' freudig entgegen, hielten den Gegner für mutlos angesichts der Stärke der Hannaiim und verteilten schon die Schätze aus der Plünderung der Stadt. Und das, obwohl vielen von ihnen zu den am Vortag schwer geschlagenen berittenen Hilfstruppen gehörten.
 

Im Mawati-Zelt hatte Oremar gerade das Nachtmahl aufgetragen, als Hamarem es betrat. Oremar hielt noch immer deutlichen Abstand von seinem Wanack, aber er setzte sich zum Essen neben Derhan. Es war beruhigend zu sehen, daß sich Oremars Dämonenfurcht nicht auf seinen von schwerer Verwundung geheilten Waffenbruder erstreckte. Und vielleicht gelang es Hamarem irgendwie, Oremar überzeugend zu erklären, daß Amemna kein Dämon war. Vielleicht löste sich sogar sein höchst privates Problem eines Tages in Wohlgefallen auf.
 

"Wo warst du den ganzen Tag?" fragte Nefut neugierig, als Hamarem sich zum Essen gesetzt hatte.
 

Hamarem senkte den Blick auf seine Hände. "Ich brauchte ein wenig Ruhe, Herr."
 

"Warst Du in dem Badehaus, von dem einige der Hannaiim erzählen?" fragte Oremar kauend.
 

"Was fürr ein Badehaus?" Amemna beteiligte sich selten an den Gesprächen beim Essen, klang nun aber sehr interessiert.
 

"In dem Dorf, ein paar Pferdelängen von hier", erklärte Derhan und zeigte mit einem Hühnerbein vage nach Osten, weg von Tetraos.
 

"Nein, ich war in keinem Badehaus", erklärte Hamarem.
 

"Für heute ist es sicherlich geschlossen", überlegte Derhan laut. "Aber das wäre wirklicher Luxus. Und Geld hätten wir zur Zeit auch genug."
 

"Hach, in wirklich heißem Wasser baden", träumte Oremar vor sich hin.
 

Hamarem mußte zugeben, daß der Gedanke etwas sehr Verlockendes hatte. Am nächsten Tag könnten sie ja versuchen, das Badehaus zu besuchen. Vielleicht schloß sich sogar ihr Wanack an und für Hamarem ergab sich so möglicherweise eine günstige Gelegenheit, mit Amemna zu sprechen.
 

Nefut aber machte ein unzufriedenes Gesicht. "Die Frage ist, ob wir morgen noch so einfach das Lager verlassen können", warf er ein. "Vielleicht belagern wir ab morgen Tetraos."
 

* * *
 

17. Die Enthüllung

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

17. Die Enthüllung (jugendfrei)

Beim Nachtessen redeten die Männer über den gemeinsamen Besuch eines Badehauses. Ein dörfliches Badehaus würde es zwar kaum mit den Prachtbauten, die Nefut aus Berresh und Hannai kannte, aufnehmen können, aber gegen das Badezelt hier im Heerlager würde es sicherlich luxuriös ausfallen. Amemna sah im Gegensatz zu den anderen während des Gespräches eher nachdenklich als träumerisch aus, als überlege er, wie er noch vor der zu erwartenden Belagerung Tetraos zu einem Badehausbesuch kam. Nefut ging sein Traum der vergangenen Nacht durch den Sinn, insbesondere die Flügel des Unirdischen, deren Existenz er nur vermuten konnte und die er doch zu gerne sehen wollte. Nefut nahm sich vor, Amemna diese Nacht nicht aus den Augen zu lassen.
 

Der Wanack zog sich schließlich in sein Zelt zurück und die Männer begaben sich im Mawati-Zelt zur Ruhe. Nefut richtete es so ein, daß er auch im Liegen das Wanack-Zelt beobachten konnte, bettete sich und wartete darauf, daß Amemna das Licht löschte. Wie bisher in jeder Nacht schrieb Amemna wohl noch in seiner Schriftrolle. Das Licht in Amemnas Zelt ging erst aus, als die Mawati bis auf Nefut tief und fest schliefen. Gleich darauf schnappte Nefut sich den Mantel und ein gewöhnliches schwarzes Kopftuch und schlich hinaus zum Wanack-Zelt. Er mußte nicht lange warten, bis Amemna leise, aber nicht besonders um Heimlichkeit bemüht, aus seinem Zelt kam und in Richtung der Pferdepferche ging. Natürlich, er würde den Weg zu Pferd zurücklegen.
 

Bei den Pferchen angekommen weckte Amemna sanft seine Stute, sattelte sie und führte sie hinaus, ohne daß die anderen Tiere auch nur unruhig wurden. Als er außer Sichtweite war, führte auch Nefut sein Pferd heraus und konnte problemlos das Lager verlassen, indem er gegenüber der Wache behauptete, sein Wanack hätte seine Begleitung befohlen.
 

*
 

Im Mondschein war der einzelne Reiter über die Ebene leicht zu erkennen, und Nefut folgte Amemna über die ansteigenden Hügel bis zu einem Dorf, das auf felsigem Untergrund gebaut war. Nefut versteckte sein Pferd hinter einem Gebüsch und setzte die Verfolgung zu Fuß fort, um nicht durch das Klappern der Hufe auf sich aufmerksam zu machen. Amemna fand das Badehaus, weckte anscheinend den Wirtschafter und veranlaßte ihn erfolgreich, ihm ein Bad zu bereiten. Nefut sah Silber aufblitzen, das den Besitzer wechselte. Amemna hatte sein Handgeld bereits ausgegeben. Dem Wanack war das ungestörte Bad also so wichtig, daß er dafür einen Teil des ihm anvertrauten Bonus, der eigentlich den ehemaligen Stammeslosen gehörte, ausgab. Der Wirtschafter verschwand mit seinem Gast im Eingang, und Nefut schlich um das Gebäude herum, um eine Möglichkeit zum unbemerkten Eindringen zu finden. Tatsächlich gab es eine offene Tür zum Keller, durch die Nefut schlüpfte und sich den Weg an Wirtschaftsräumen und Heizanlagen vorbei nach oben ins Bad suchte. Die zentrale Halle war sehr repräsentativ gestaltet, mit blau, grün und gold gekachelten Säulen und einem recht großen Kaltwasserbecken. Ein gewöhnliches dörfliches Badehaus war das sicher nicht und an einer Wand fand sich auch eine Stifterinschrift. Eine Adlige aus Tetraos hatte dieses Badehaus vor über hundert Jahren als Dankesgabe an Ama und die Dorfbewohner bauen lassen.
 

Vier Bedienstete mit je zwei großen Wassereimern kamen in die Halle, und Nefut drückte sich in den Schatten einer Säule. Sie verschwanden in einem hell beleuchteten Seitenraum, in dem geräuschvoll die Wanne befüllt wurde. Als alle vier Männer den Wannenraum wieder verlassen hatten, huschte Nefut zu der offenen Tür und hinein. Die bereits gut gefüllte Wanne war in die Mitte des Raumes eingelassen, die Fenster mit hölzernen Läden verschlossen, an einer Seitenwand standen zwei zusammengefaltete Wandschirme aus dunklem Holz, an der anderen eine breite Ruhebank, Hocker und ein Tisch. Nefut entfaltete den von der Tür aus hinteren Wandschirm ein kleines Stück und versteckte sich dann dahinter.
 

Die Sklaven kamen ein weiteres Mal. Im Untergeschoß war zudem anscheinend das Feuer entfacht worden, denn der Raum begann, merklich wärmer zu werden.
 

"Mein Herr, alles ist für Eurer Bad bereitet. Wünscht ihr noch eine Sklavin oder einen Sklaven für eure Bequemlichkeit? Wollt ihr etwas Obst oder habt ihr sonst einen Wunsch?" Die näherkommenden Schritte gehörten also anscheinend dem Wirtschafter und Amemna.
 

Nefut lugte durch einen Spalt des Wandschirms und sah, wie der untersetzte Wirtschafter und eine große, dunkel gekleidete Gestalt den Raum betraten. Erst auf den zweiten Blick erkannte Nefut seinen Wanack, der in dem einfachen schwarzen Mantel und dem Kopftuch zunächst wie ein gewöhnlicher Oshey ausgesehen hatte.
 

"Seid so gut und stellt einen Wandschirrm vorr die Türr. Ansonsten bin ich mit allem sehrr zufrrieden", sagte Amemna gnädig.
 

Nefuts Herz setzte einen Schlag aus. Aber die Sklaven, die nun anscheinend zum letzten Mal ihre Wassereimer in die Wanne geleert hatten, stellten auf den Wink des Wirtschafters den vorderen Wandschirm zwischen Wanne und Tür auf. Dann folgten sie ihrem Herrn, der sich unter Verbeugungen rückwärts zur Tür zurückzog und sie endlich mit einem leisen 'Klack' schloß.
 

In dem Moment schien eine schwere Last von Amemna abzufallen, er reckte die Schultern, streckte wohlig die Arme aus, riß sich dann das Kopftuch vom Kopf, warf es achtlos in Richtung Ruhebank und legte sein Schwert auf den Tisch. Der Mantel wurde zum Kopftuch geworfen, der Gürtel geöffnet, und da Amemna seinem Zweiten den Rücken zuwandte, konnte Nefut bald sehen, daß der Wanack der Mawati keine Flügel hatte. Trotz seiner Größe waren Amemnas Schultern noch fast jungenhaft schmal und auch seine Körperbehaarung war anscheinend noch die eines Jünglings. Die kräftigen Muskeln jedoch, die sich unter der auffällig makellosen Haut abzeichneten, verrieten, daß der junge Darashy gewohnt war, körperlich zu arbeiten. Das paßte zu seiner Behauptung, ein Schmied zu sein. Aber keine Narbe oder Muttermal verunzierten die im Licht der Öllampen fast golden erscheinende Haut. Gewöhnlich waren zumindest die Unterarme der Schmiede durch den Funkenflug gezeichnet.
 

Als er sich völlig entkleidet hatte, nahm Amemna sein Schwert in die Hand und ging zur Wanne, und Nefut preßte seine Hand vor den Mund, um sich nicht durch einen Laut zu verraten. Amemna hatte Brüste! Er hatte kleine, aber wohlgeformte, eindeutig weibliche Brüste - und außerdem ein ganz gewöhnlich aussehendes männliches Geschlechtsteil.
 

Amemna sah sich einen Moment prüfend um, als ahne er, daß er nicht allein war, dann legte er sein Schwert neben den Wannenrand und stieg ins heiße Wasser. Er streckte sich aus, schloß die Augen, genoß sichtlich das Bad, so daß in Nefut der Neid darüber erwachte. Das vom Geld der Stammeslosen bezahlte Bad stand ihm mehr zu als ihrem ehemaligen Gefangenen!
 

Nefut ging um den Wandschirm herum, und Amemna war so schnell im Wasser aufgesprungen, hatte sein blankgezogen Schwert in der Hand, wie damals bei dem Überfall in der Schädeloase. Er sah Nefut sehr überrascht entgegen und ließ das Schwert wieder in die Scheide zurückgleiten. "Ich dachte, du würdest vielleicht Falkenflügel unter deinem Mantel verstecken", sagte Nefut und bemühte sich erfolglos, seinen Blick von Amemnas schönen Brüsten zu dessen Gesicht zu heben. "Damit hatte ich nicht gerechnet."
 

"Und nun bist du enttäuscht", folgerte Amemna.
 

Endlich gelang es Nefut, Amemna in die fast farblosen Augen zu sehen. "Ich weiß nicht", antwortete er, kam noch näher an die Wanne heran, bis an den niedrigen gemauerten Rand. Da Amemna keine Anstalten machte, vor ihm zurückzuweichen, faßte Nefut zögernd nach der rechten Schulter seines Wanack, die am Vortag von einer gegnerischen Waffe durchbohrt und in seinem Traum zerfetzt worden war. Amemnas Haut war fast trocken, sehr warm, es waren keine Spuren einer Verwundung zu finden. Nefut zog seine Hand wieder weg, spürte noch einen Moment die Weichheit der Haut an seinen Fingern. Die schnelle und spurlose Heilung konnte nur bedeuten, daß Amemna Darashy tatsächlich unirdischer Herkunft war. "Mich sollte wohl nichts wundern, was mit dir zu tun hat, Wanack Darashy", sagte Nefut förmlich.
 

"Nefut, ich heiße Tk'awla", berichtigte Amemna seinen Zweiten.
 

Das klang nach der Südländersprache. Flüsternd bildete Nefut die Silben nach, auch wenn der Klicklaut wie üblich widerspenstig war. "Das ist ein Name aus Ma'ouwat, nicht wahr?"
 

Amemna lächelte sehr entspannt. "Das ist ein Name von den Westlichen Inseln. Es heißt, kenau wie 'Amemna', 'Von derr Köttin beschenkt'." Er bemühte sich noch nicht einmal um eine korrekte Aussprache.
 

"Aber Amemna ist ein Männername", wandte Nefut ein wenig vorwurfsvoll ein. Das Bild einer anderen nackten Frau im Bad stieg in seiner Erinnerung auf.
 

"Und ich BIN ein Mann", antwortete Amemna bestimmt.
 

"Aber du hast die Brüste einer Frau", schnappte Nefut und streckte ohne nachzudenken die Hand aus. Für einen Moment berührte er Amemnas rechte Brust, und als hätte er sich verbrannt, zog Nefut schnell seine Hand zurück. So fängt das Unheil an, fuhr ihm durch den Kopf. Mit Jener Frau vor etwa fünfzehn Jahren in einem anderen Bad war ähnlich gewesen, wenn auch vermutlich die Kräuter, die sie im Bad verbrannt hatte, ihren Teil dazu beigetragen hatten. Nun war sie tot und er verbannt. Aber welch köstliche Stunden hatten sie miteinander verbracht.
 

Um durch den Anblick der nackten Brüste nicht weiter an jene schicksalshafte Begegnung denken zu müssen, senkte Nefut den Blick - genau auf die Stelle der Wasserfläche, an der Amemnas Glied zu sehen war. Der plötzliche Schock, auf diese Weise daran erinnert zu werden, daß das Objekt seiner Begierde offensichtlich ein Mann war, ließ Nefut einen Moment schwarz vor Augen werden. Er schwankte, doch bevor er in das Becken fiel, fingen Amemnas kräftige Arme ihn auf. Diese Umarmung hatte nichts Weibliches, Sanftes an sich: sie war kraftvoll, und war dennoch durch den Duft von Amemnas Haut nahezu berauschend. Als Nefut seinen Halt zurückgewonnen hatte, trat er einen Schritt von Amemna und der Wanne zurück und betrachtete dieses unirdische Wesen, das zugleich ein Mann und eine Frau war.
 

Amemna seinerseits betrachtete seinen Zweiten von oben bis unten, sprach leise ein paar Worte in der Südländersprache, die wie eine Beschwörung klangen und stieg dann aus der Wanne. Er lächelte, als er auf Nefut zukam.
 

Nefut wurde heiß und kalt, aber was auch immer in dieser Nacht geschah, lag in Amas Hand. Mit geschlossenen Augen flüsterte Nefut ein Gebet an die Schutzherrin dieses Badehauses und gestattete seinem unirdischen Wanack, ihn zu einer Sitzgelegenheit zu führen und zu entkleiden. Dabei küßte Amemna ihn sanft auf die Lippen, so daß Nefut feststellen konnte, daß die Haut von Amemnas Gesicht so zart wie die einer Frau war. Ein weiterer Schauder des Verlangens durchfuhr Nefut.
 

...
 

Und als Nefut gewahr wurde, daß in Wirklichkeit Amemna auf seinem Schoß saß, riß er halb erschrocken, halb erleichtert die Augen auf und sah Amemna in die hellgrauen Augen. "Wie ist das möglich?" Aber warum sollten die göttlichen Wesen, die in vergangenen Zeiten so viele Männer und Frauen im Traum beglückt hatten, nicht in Wahrheit zweigeschlechtlich sein?
 

Amemna lächelte nur, küßte Nefut wieder, ... Und Amemna seufzte wohlig an seiner Schulter.
 

Für eine Weile saßen sie noch eng umarmt auf der Ruhebank und schwiegen. Schließlich lösten sie sich voneinander. Nefut legte die restliche Kleidung ab und bemerkte erstaunt eine feine Blutspur an seinen eigenen Genitalien und Amemnas Oberschenkeln. "Warst du noch Jungfrau?" flüsterte er ungläubig, denn dafür war Amemna viel zu kenntnisreich vorgegangen.
 

"Bisherr habe ich nurr als Mann kelebt", nuschelte Amemna und lächelte Nefut verträumt an. "Nie habe ich Hawat als Frrau kehuldigt." Eine scheue Röte überzog für einen Moment das wunderschöne Gesicht.
 

Ein paar weißer Schwingen hätten gut dazu gepaßt fand Nefut. "Laß uns das heiße Bad genießen", flüsterte er und küsste Amemna.
 

Gemeinsam legten sie sich in die großzügige Wanne, und erst durch das Brennen des Wassers auf rohem Fleisch wurde Nefut auf die Wunde an seiner Schulter aufmerksam, wo Amemna ihn durch das Untergewand hindurch bis auf das Blut gebissen hatte.
 

Als Nefut zusammenzuckte, wurde Amemna neugierig, sah die Bißspuren auf Nefuts Schulter und küßte ihn sanft auf die Stelle. Dann umarmte sie Nefut, strich mit den Händen über seinen Rücken, fand die Narben, die Murhans Peitsche vor Jahren dort hinterlassen hatte, hielt einen Moment inne, fuhr sie dann mit den Fingerkuppen nach und schmiegte sich an Nefut, um über seine Seite hinweg einen Blick auf seinen Rücken zu werfen. "Wie kommst du zu diesen Narrben?" fragte Amemna leise. Es war ja offensichtlich, daß sie nicht aus einem Kampf stammen konnten.
 

Ob Murhan jemals einen Grund gehabt hatte, seinen Zieh'sohn' auszupeitschen? "Es war ein Teil meiner Strafe für die Tat, der ich meine Verstoßung verdanke", antwortete Nefut ebenso leise. Auch die Frau war ausgepeitscht worden, doch sie hatte es nicht überlebt.
 

Amemna nahm Nefuts Kopf zwischen die Hände und strich mit den Daumen seine Stirnfalten glatt. "Denk nicht mehr daran, Nefut von Bussirr", sagte sie. "Laß uns dieses Bad genießen."
 

Amemnas Lächeln war sehr ansteckend und da sie nun begann, Nefuts Gesicht und seine knapp vom Wasser bedeckte Brust zu küssen, wurde bald wieder Nefuts Leidenschaft geweckt.
 

...
 

Amemnas seufzte: "Hawat as'schel", und wie auf Kommando erreichte auch Nefut einen Höhepunkt wie ein Feuerwerk, so wie er es seit acht Jahren nicht mehr erlebt hatte. In der Tat, gepriesen sei die Süße Hawat!
 

Sie umarmten sich im Wasser liegend, verließen Amas eigenes Element schließlich und schmiegten sich unter Nefuts Mantel auf der Ruhebank aneinander, Amemnas Kopf lag auf Nefuts linkem Arm, ihr Rücken ruhte an seiner Brust; Nefut hatte seine linke Hand auf eine ihrer weichen Brüste gelegt und seine rechte Hand auf ihrem etwas zu festen, muskulösen Bauch. Sie sprachen kein Wort und Nefuts Gedanken schweiften ab, zurück zu jener ersten Frau, die ihn einst in einem Bad verführt hatte und jener anderen Frau, die ihn später in die Fünfhundert Künste zum Lobe der Göttin eingeführt hatte. Wie Amemna hatte sie die Göttin 'Hawat' genannt, die Nefut als 'Ama' anbetete.
 

Schelschér hatte die zweite Frau geheißen, 'Süße Blume' in der Sprache der Südländer. Eine schwarzhäutige Schönheit mit üppigen Brüsten und wunderbar weichem Bauch und Hüften, die im Zelt der Ama im Heer der Letrani diente, dem er selbst als Söldner angehört hatte. Sie hatten sich am Anfang nur in der Sprache der Letrani verständigen können, da er nicht die Sprache des Südens und sie nicht Oshey verstanden hatte. Und nach fast sieben Jahren, kurz bevor Nefut sein Heimweh nicht mehr ertrug und zurückkehrte in die Wüste, ohne die Zelte seines Stammes wieder aufsuchen zu dürfen, hatten sie eine Mischung aus Oshey und der Südsprache miteinander gesprochen, die kein anderer verstand. "Hawat as'schel" hatte sie oft gesagt, Süße Hawat, wenn sie ihre Göttin erkannt hatte. Und bevor Nefut ihr beiwohnen durfte, hatte sie ihren Körper stets mit heiligen Symbolen bemalt, denn für sie war die Vereinigung mit einem Mann Gottesdienst gewesen.
 

Keine der Frauen, bei denen Nefut seit Verlassen des Letrani-Heeres gelegen hatte, hatte in dieser Form die Erinnerungen an Schelschér wieder geweckt, auch wenn sie ihr körperlich alle viel ähnlicher gewesen waren als Amemna, allem voran in der Körpergröße. Doch nie wieder würde Nefut Amemna als Mann ansehen, trotz ihrer Größe und ihrer männlich tiefen Stimme.
 

Amemna schmiegte sich plötzlich enger an Nefut, umschloß Nefuts Hand, die auf ihrem Bauch lag, mit ihrer Hand und schob sie tiefer in Richtung ihres Schoßes. "Darrach, frr'tschan", flüsterte sie inbrünstig. Aber Amemna schlief bereits, denn als Nefut ihr seine Hand vorsichtig entzog und sie auf ihre Hüfte legte, protestierte sie nicht.
 

Wer mochte dieser 'tschan', der 'Liebste' sein, von dem sie träumte? 'Darach' klang nach einem Ostlernamen. War das vielleicht einer ihrer Verwandten aus Ma'ouwat? Aber Amemna lag hier in Nefuts Armen, ihr Kopf an sein Kinn gedrückt. Nefut küßte die schlafende Unirdische auf den noch immer ein wenig feuchten Scheitel, und der Duft, der ihren Haaren entströmte, war fast unerträglich in seiner erregenden Wirkung. Doch Nefut war erschöpft und schlief schließlich ebenfalls ein.
 

* * *
 

18. Neue Aufgaben

Hamarem erwachte früh und und fühlte sich erholt wie schon lange nicht mehr. Derhan und Oremar waren noch in ihre Decken eingewickelt, nur Nefuts Lager war verlassen, obwohl es draußen gerade erst anfing, zu dämmern. Noch nicht einmal die Hühner waren zu hören, aber Nefut war wohl schon wieder mit seinen Waffenübungen beschäftigt, kaum daß es hell genug war, die Zelte erkennen zu können. Als Hamarem noch überlegte, ob er aufstehen sollte oder warten, bis Nefut sie alle weckte, schlich ein Osheyschatten in das Zelt, hin zu Nefuts Lager. Kopftuch, Schwert, Mantel und Gürtel legte er ab und kroch zwischen die Decken. Was sollte diese Heimlichkeit? Seine frühmorgendlichen Waffenübungen hielt Nefut normalerweise nicht in Mantel und Kopftuch ab. Und irgendetwas war geschehen - die Kräfte um Nefut hatten sich verändert. Einen Augenblick später spielte Nefut den Erwachenden, erhob sich geräuschvoll, hantierte mit dem Wassereimer und weckte damit erfolgreich Oremar und Derhan. Auch Hamarem stand nun auf.
 

Dann hallte ein Signal durch das Lager und Hamarem wurde bewußt, daß nun die Belagerung von Tetraos beginnen sollte. Die Kräfte ließen nicht darauf schließen, daß der Kampf an diesem Tag ebenso verlustreich sein würde, wie vor zwei Tagen. Die Feuertaufe hatten die Mawati ja nun wie die anderen Wannimin der berittenen Hilfstruppen hinter sich, und angesichts Amemnas neu erwachter Fähigkeiten war ihre Wannim wohl sicher vor Todesfällen. Ohne weitere Gedanken an den Grund des Appells zu verschwenden, um nicht durch die eigene Panik doch noch gelähmt zu werden, machte Hamarem sich wie die anderen Mawati bereit. Nachdem Nefut Tyrima für eine sichere Rückkehr geopfert hatte, eilten sie zu den Pferdepferchen, und erst dort holte Amemna sie ein, die Kräfte um ihn ungewöhnlich stark in Bewegung. Aber jetzt war Hamarem hauptsächlich damit beschäftigt, sein Pferd aus dem Lager herauszuführen, aufzusitzen und die langsam aufsteigende Angst niederzuhalten, so gut es eben ging.
 

*
 

Es war die erste Musterung seit der Schlacht. Der Melack ritt, wie das erste Mal, die Reihen entlang. Sein gelber Federbusch war deutlich kleiner geworden, und er trug einen Verband am Unterschenkel. Außerdem begleitete ihn ein Schreiber, der bei jeder Wannim aus seinen Listen vorlas. Schließlich blieb der Melack auch vor Amemna Darashys arg dezimierter Wannim stehen.
 

Der Schreiber verlas auf einen Wink seines Herrn: "Wannim des Wanack Darashy, sieben Gefallene."
 

Der Melack zog eine Augenbraue hoch. "Wie das? Ich sehe noch vier Mann und einen Wanack."
 

Der Schreiber hob nur ratlos die freie Hand. "Das ist, was in dieser Liste steht, Herr."
 

"Darrf ich es euch errklären, Herrr", warf Amemna plötzlich ein.
 

"Bitte?"
 

"Dies hierr ist mein Wirrtschafterr", und Amemna wies auf Hamarem, der vor Erstaunen nicht protestierte. "Err wurrde nicht in die Listen eingetrragen, weil err ja kein Kämpferr ist."
 

"Das sieht man", bestätigte der Melack und musterte verächtlich Hamarems linke Seite, an der dieser das Schwert trug.
 

Hamarem war geneigt, dem Melack recht zu geben, hielt aber vorsichtshalber den Mund und senkte den Blick. Da bemerkte er, daß er in der Hektik des Aufbruchs das ungeliebte Schwert mit der Schneide nach hinten in den Gürtel geschoben hatte.
 

"Als dein Wirtschafter hat er hier nichts zu suchen, Wanack Darashy. Oder will er unbedingt anstelle eines deiner toten Männer mitkämpfen?" Der Blick des Melack war herausfordernd, als er Hamarem musterte.
 

Voller Unbehagen dachte Hamarem an die Gefallenen des Kampfes vor zwei Tagen, an den schwarzen Abgrund des Todes, den er wieder zu betreten fürchtete, wenn er ohne die Betäubung durch Stechapfelsud gegen andere Männer kämpfen mußten. Und diese abgrundtiefe Furcht mußte sich in Hamarems Augen widergespiegelt haben, denn plötzlich lachte der Melack schallend und rief: "Schaut euch an, wie das Männlein zittert! Nein, geh' du zu den Zelten, koch' das Essen für deinen Herrn, und laß die Männer kämpfen." Damit ritt er weiter zur nächsten Wannim.
 

Hamarem war im Zweifel, was er von dem plötzlichen Wandel seines Geschicks halten sollte. Eben noch hatte er versucht, sich für einen drohenden Kampf zu wappnen, nun wurde er offiziell zum Nichtkämpfer erklärt. Amemna aber sah sehr zufrieden mit sich aus, lächelte Hamarem an und beugte sich ein Stück zu ihm. "Ich hoffe, es ist dirr rrecht, daß ich diese Gelegenheit genutzt habe", sagte er leise.
 

"Ja, Herr", antwortete Hamarem und erst als er seine Stimme hörte, wurde ihm bewußt, wie erleichtert er darüber tatsächlich war, auch wenn die Beleidigung des Melack noch schmerzte. Aber was genau hatte Amemna gemeint? Hatte er nur geistesgegenwärtig einen Fehler des Schreibers ausgenutzt, oder mit seinen Kräften für Hamarem die Listen geändert? Während Hamarem noch versuchte, in dem Muster der Kräfte um Amemna eine Antwort darauf zu erhalten, klopfte Nefut seinem ehemaligen Zweiten auf die Schulter.
 

"Die Götter sind offenbar mit dir", sagte Nefut ebenfalls lächelnd. Und die lächelnden Lippen Amemnas und Nefuts verschmolzen für einen Moment mit den Linien der Kräfte, die sie beide wie ein Geflecht umgaben.
 

Was war in der vergangenen Nacht geschehen? Irgendetwas verband die beiden zu einer harmonischen Einheit, als wären sie Brüder. Konnte das sein?
 

"Er wird für seine Beleidigung bezahlen!" ereiferte sich Oremar kampfeslustig neben Hamarem. "Laß uns..." doch dann verstummte er, als der Schreiber des Melack noch einmal zurückkam. "Ihr sorgt mit der Südlerwannim für die Bedeckung der Kriegsmaschinen, Wanack Darashy."
 

Amemna nickte und winkte seiner Wannim, ihm zu der noch aus fünf Männern bestehenden Wannim der schwarzhäutigen Südmänner zu folgen.
 

Nur Derhan verharrte einen Moment neben Hamarem. "Hamarem, nutze die Gelegenheit und besuche das Zelt der Ama", sagte er in gedämpfter Lautstärke. "Es ist nicht normal für dich, daß du jede Nacht deinen Stab polierst."
 

"Du wirst mir nicht sagen wollen, daß ich damit die Götter verärgere, oder?" fragte Hamarem herausfordernd.
 

Derhan zog seine Stirn in ernst aussehende Falten. "Ich bin in Versuchung, es zu tun." Und ohne ein weiteres Wort zog er sein Pferd herum und folgte den anderen fast im Galopp.
 

Wieso maßte Derhan sich solche Ratschläge ihm gegenüber an? So viel älter als Hamarem war er auch nicht, und der Zweite der Wannim war er erst recht nicht. Außerdem konnte er sich nachts kaum gestört fühlen, denn Hamarem machte so gut wie keine Geräusche, wenn er sich selbst befriedigte. Es mochte schon sein, daß Derhan während ihrer Zeit in Ashans Bande nie mitbekommen hatte, wenn Hamarem sich 'den Stab polierte', wie Derhan es ausgedrückt hatte. Aber sie hatten auch selten das Zelt geteilt. Eigentlich nur, wenn sowohl Farhan als auch Nefut als Schreiber mit der Lösegeldeinforderung beauftragt worden waren. Und bevor Amemna ihn mit seiner unirdischen Natur verrückt gemacht hatte, war es ja auch nicht allnächtlich zur Besänftigung von Hamarems Begierden notwendig gewesen. Derhan hätte es sicherlich noch viel weniger gutgeheißen, wenn Hamarem statt dessen regelmäßig den Stechapfelsud zu sich genommen hätte, den er immer noch nicht weggegossen hatte. Wenn er wieder bei den Zelten war, mußte er das als erstes tun.
 

Und was war zwischen Nefut und Amemna geschehen? Wie war es so schnell zu dieser vertrauten Zuneigung gekommen? Hatten sie in der vergangenen Nacht endlich festgestellt, daß Amemnas Ziehvater und Nefuts Vater der selbe Murhan Darashy war?
 

Als Hamarem sich umsah, stand er fast allein vor dem Lager der Hannaiim. Bis auf die Lagerwachen war das ganze Heer abgezogen, um den Tetraosi und ihren Bundesgenossen die Macht Hannais zu demonstrieren. Hamarem saß ab und führte sein Pferd zurück in das Lager, zu den Pferchen. Eigentlich brauchte das Tier Bewegung, aber als Amemnas 'Wirtschafter' hatte Hamarem sich in den Zelten der Mawati aufzuhalten oder zumindest innerhalb des Lagers. Immerhin war der Pferch für die Pferde der leichten Reiterei so leer, daß Hamarems Stute ein wenig Auslauf hatte. Hamarem kontrollierte noch einmal die inzwischen fast verheilte Wunde seines Pferdes, gab ihr und den übrigen Tieren der Mawati frisches Stroh und Futter und ging dann zurück zu den Zelten.
 

*
 

Der Unterschied zum Vortag war auffällig. An diesem Tag wirkte die Zeltstadt der Söldner wie in einem unheimlichen Traum. Bis auf die fünf Hühner in einem Weidenkäfig, die die Wannim neben den Mawati als Vorrat hielten, schien sie vollkommen verlassen. Am Vortag hatte Oremar ihren Nachbarn zwei dieser Hühner für das Nachtmahl abgeschwatzt.
 

Dann stand Hamarem im leeren Mawatizelt vor der Asche des Herdfeuers, auf dem noch die verkohlten Reste der Getreidekörner von Nefuts Bittopfer an Tyrima lagen. Nun war er also Amemnas Wirtschafter, plötzlich aller Verpflichtungen zum Kampf enthoben, dem er sich an diesem Tag eigentlich gewachsen gefühlt hatte. Er legte das Schwert ab und das Fehlen dieser Last ließ ihn sich plötzlich sehr unsicher fühlen, als wäre die furchtbare Verpflichtung, an Amemnas und Nefuts Seite in den Kampf zu ziehen, sein einziger Antrieb gewesen.
 

Hamarem mußte mit dem Wunsch kämpfen, sich einfach auf sein Lager sinken zu lassen und zu versuchen, von Amemna zu träumen. Doch er durfte sich nicht durch die Sehnsucht nach Amemna lähmen lassen. Natürlich war die Offenbarung seiner Gefühle keine Garantie für das Erreichen seines Zieles, aber wenn Hamarem sich Amemna nicht offenbarte, blieb der junge Unirdische auf immer unerreichbar für ihn. Und bis sich eine Gelegenheit für ein ungestörtes Gespräch ergab, konnte Hamarem zumindest versuchen, günstige Voraussetzungen für eine Erhörung zu schaffen und ein guter, ein unentbehrlicher Wirtschafter werden. Also raffte er sich auf und ging zu den Vorräten. Ein kritischer Blick zeigte ihm, daß die Vorräte reichten, um zu fünft drei Tage zurecht zu kommen. Aber er sollte sich rechtzeitig erkundigen, wann die Händler, die zum Troß des Heeres gehörten, den nächsten Markt abhielten. Also machte sich Hamarem nach den Vorbereitungen für das Nachtessen wieder auf den Weg durch das Lager, in den Teil, in dem der Troß seine Zelte hatte, in dem die das Heer begleitenden Händler, Ärzte, Ingenieure und Priester mit ihren Familien lebten.
 

Der Weg führte ihn aus einem wie ausgestorbenen Lagerviertel in ein höchst lebendiges, mit lachenden und schreienden Kindern, redenden und arbeitenden Frauen und allen Anzeichen des Lebens, das auch die Zelte der Temhaly und anderer Stämme erfüllt hatte. Es war so seltsam vertraut, die Kinder im Staub der Zeltgassen spielen zu sehen, die Frauen beim Waschen und Kochen, daß es ein beklemmendes Gefühl des Verlustes in Hamarems Eingeweiden auslöste und ihm wider Willen die Tränen in die Augen trieb, obwohl er schon vor so vielen Jahren die Zelte der Temhaly hinter sich gelassen hatte. Schnell wischte Hamarem die Tränen weg, aber das Gefühl konnte er nicht so einfach wegwischen.
 

"Dai tasch'ekt!" schrie eine schwarzhäutige Frau. Die Worte verstand Hamarem nicht, aber es klang zornig. Höhnisches Kinderlachen war die Antwort. Der Ausruf der Frau jedoch hatte ganz plötzlich das Gefühl des Verlustes vertrieben. Hamarem befand sich nicht zwischen den Zelten eines Stammes, sondern zwischen des Zelten des Trosses der Hannaiim, in dem Menschen aus allen Teilen der Welt lebten. Händlerkarren fand Hamarem keine, nur einen freien Platz, an dessen Rand im Schatten eines Zeltes zwei Jungen ein Würfelspiel spielten. Hamarem trat näher, begrüßte die Jungen und fragte: "Wißt ihr, wann der nächste Markt abgehalten wird?"
 

"Seid ihr ein Tarrek oder ein Oshey?" fragte der ältere der beiden statt einer Antwort zurück und musterte Hamarem von oben bis unten.
 

Unter dem prüfenden Blick des Städterjungen wurde Hamarem sich seiner osheytypischen Erscheinung überbewußt, des einfach geschnittenen dunklen Mantels und der geschwärzten Augenlider. Nur die Fransen des nachlässig gebundenen Ma'ouwati-Tuches kitzelten ungewohnt im Nacken. "Warum diese Frage?"
 

"Wegen des Turbans. Dann seid ihr wohl ein Oshey mit einer außergewöhnlichen Kopfbedeckung", und der Junge verzog sein schmales Gesicht zu einem bemerkenswert breiten Grinsen.
 

"Ich bin einer der Mawati des Wanack Darashy", entgegnete Hamarem, bevor ihm einfiel, daß Amemna ihn ja zum Wirtschafter befördert oder degradiert hatte. "Also, wann ist der Markt?"
 

"Morgen follen die Wagen wieder eintreffen", lispelte nun der andere Junge. "Mein Papa ift einer von den Händlern." Er hatte eine von den nachwachsenden Zähnen bisher erst halb gefüllte Lücke in der oberen Zahnreihe.
 

"Mein Vater gehört zu Reiterei", beeilte sich der größere Junge herauszustreichen. "Ich war schon fast überall auf der Welt."
 

"Ich habe keine Luft mehr auf das Würfelfpiel, Nefut", sagte der Jüngere nun wieder.
 

"Dann geh doch mit den Kindern spielen", war Nefuts gehässige Antwort, und er sammelte seine vier Würfel ein. "Er ist selbst noch ein Kind", erklärte der kindliche Nefut abfällig und wies mit dem Kinn auf den leichtfüßig davonlaufenden Jungen, der nur mit einem schon etwas ausgefransten Untergewand bekleidet war, das gerade noch über Knie und Ellbogen reichte. Nefut selbst war ebenfalls barfuß und ähnlich einfach gekleidet, aber sein Untergewand schien noch neu und paßte.
 

Wie viele Jungen mit dem Namen 'Nefut', 'der Sohn', mochten so aufgewachsen sein? Von seinem Nefut wußte Hamarem, daß er nach dem frühen Tod seiner Mutter seinen Vater auf dessen Heerzügen begleitet hatte. "Ich kenne auch einen Nefut, der zeitweilig in einem Heer aufgewachsen ist", sagte Hamarem ganz in Gedanken.
 

"Und jetzt ist er ein großer Krieger?" fragte der jüngere Nefut interessiert nach.
 

Hamarem überlegte eine Weile. "Ja, jetzt ist er ein großer Krieger. Er ist der Zweite meines Wanack." Und natürlich hatte der vor fürstlichen Tugenden nur so strotzende Nefut, der große Krieger, Amemnas brüderliche Liebe gewonnen, ohne tatsächlich mit ihm aufzuwachsen, während Hamarem für seinen Wanack offenbar nur als Wirtschafter taugte. Vielleicht hätte er vor dem Melack gegen Amemnas Behauptung, er sei der Wirtschafter, protestieren sollen, um Amemna zu zeigen, daß auch er nun bereit war, in Amemnas Wannim zu kämpfen.
 

"Kennt ihr das Bohnenspiel?" fragte der Junge plötzlich. "Das hilft gegen düstere Gedanken."
 

Das Bohnenspiel war in den Stämmen ebenso wie in den Städten am Rande der Wüste verbreitet. Im Oremheiligtum hatte Hamarem es oft mit seinen Mitschülern und später mit den anderen Priestern gespielt. Und Hamarem mochte es, obwohl es eigentlich einen Krieg oder eine Schlacht simulierte. Also nickte Hamarem. "Ja, ich kenne das Bohnenspiel."
 

"Dann spielt mit mir eine Partie!" forderte Nefut.
 

Der Junge hatte vielleicht Recht und es lenkte Hamarem von den düsteren Gedanken um eine verlorene Chance ab. Und obwohl Hamarem das Bohnenspiel in Ashans Bande nie gespielt hatte, waren ihm die einfachen Regeln noch im Gedächtnis, auch wenn er vielleicht seine strategischen Fähigkeiten mangels Übung eingebüßt hatte. Also nickte er ein weiteres Mal.
 

"Dann kommt mit!" rief Nefut eifrig und sprang behende auf, lief schon los, bevor er noch einmal innehielt und sich umwandte um zu sehen, ob sein Spielpartner auch mitkam. Etwas langsamer gingen sie dann gemeinsam zu einem auffällig prächtig geschmückten Zelt, das wie das eines Fürsten wirkte. Bewohner oder Bedienstete waren allerdings nicht zu sehen. Nefut bat seinen Gast, sich unter einer der schattenspendend aufgestellten Zeltbahnen auf einem dicken Teppich niederzulassen und lief weiter in das Zelt hinein, hinter die quergespannte dichte Stoffbahn, die den Blick in den hinteren Teil des Zeltes verwehrte. Er kam gleich darauf mit einem Stück Stoff und einem Säckchen wieder. Auf den Stoff war ein Spielplan gemalt und das Säckchen enthielt natürlich die Bohnen, je hundert weiße und getupfte. Sie knobelten aus, wer beginnen sollte und so legte Hamarem als erster eine der getupften Bohnen auf den Spielplan.
 

Es ging schnell voran, und für einen vielleicht Zehnjährigen spielte der Junge sehr durchdacht und erstaunlich aggressiv. Schon nach ein paar Zügen hatte er die erste Bohne von Hamarem gefangen genommen. Aber Hamarem setzte zum Gegenangriff an, umschloß eine unklug plazierte Stellung Nefuts und gewann gleich fünf Gefangene. Doch Hamarems Vorsprung währte nicht lange, und am Ende hatte Hamarem dreißig Punkte und der Junge neunundzwanzig. Und das Spiel hatte Hamarem so viel Spaß gemacht wie schon lange nichts anderes mehr.
 

"Laß uns noch einmal spielen. Ich will Vergeltung!" forderte Nefut und Hamarem willigte nur zu gerne ein.
 

*
 

Als Nefut über einem Zug grübelte, fiel Hamarems Blick auf sein abgelegtes Ma'ouwati-Tuch und er erinnerte sich an Nefuts Frage, ob er ein 'Tarrek' sei. Als Nefut seinen Zug gemacht hatte, fragte Hamarem: "Was ist eigentlich ein 'Tarrek'?"
 

Nefut sah überrascht vom Spielplan auf, auf dem er schon nach einer günstigen Stelle für einen weiteren Vorstoß zu suchen schien. "Die Männer von den Westlichen Inseln nennen sich so. 'Fischer' heißt es einfach, denke ich. Sie tragen diese bunten Tücher als Turbane, daher werden die Turbane ja auch 'Tarra'kt' genannt."
 

"Sind diese Männer nicht eigentlich schwarzhäutig?" wollte Hamarem wissen. Schließlich lagen die Westlichen Inseln, trotz ihres Namens, im äußersten Süden.
 

"Die, die ich gesehen habe, schon", antwortete Nefut. "Aber es gibt so viel verrückte Dinge auf der Welt, warum nicht einen hellhäutigen Tarrek, wenn es auch Oshey mit einem Fischerturban gibt." Nefut grinste wieder von einem Ohr zum anderen.
 

"Bei den Oshey tragen Frauen diese Tücher", bemerkte Hamarem.
 

"Ich weiß", entgegnete Nefut. "Ich habe auch schon Osheyfrauen gesehen."
 

"Es gibt nicht viel, was du noch nicht gesehen hast, oder?" fragte Hamarem ein wenig provozierend.
 

Nefut schüttelte den Kopf. "Nein. Ich habe doch gesagt, ich war schon fast überall auf der Welt." Und dann klopfte er ungeduldig zwei seiner Bohnen aneinander. "Macht endlich euren Zug."
 

Der Junge war bemerkenswert. Anscheinend hatte er in seinem jungen Leben wirklich schon genug gesehen, um eine Ahnung der Erkenntnis zu gewinnen, daß es noch viel mehr gab. Darauf ließen auch die für sein Alter erstaunlich gleichmäßigen Wellen der Kräfte um ihn schließen. Und trotzdem legte er diese kindliche Überheblichkeit an den Tag, 'fast alles' zu kennen und zu wissen. Nun, vom Bohnenspiel verstand er tatsächlich etwas. Er hatte Hamarem in eine ausweglose Situation gebracht. Halbherzig versuchte Hamarem einen neuen Vorstoß, doch wie schon erwartet, nahm ihn Nefut in die Zange und drei weitere von Hamarems Bohnen landeten bei den Gefangenen des Jungen auf dem Teppich. Diese Partie würde Hamarem turmhoch verlieren.
 

Nefut nahm eine weitere seiner eigenen Bohnen, um sie auf den Spielplan zu legen, als er plötzlich in der Bewegung innehielt und zum hinteren Teil des Zeltes schaute, von wo sich das Klingeln von Schmuck näherte. Hamarem erkannte eine sehr hellhäutige junge Frau mit zahllosen silbernen Arm- und Fußreifen, die zu ihnen kam. Sie trug weder einen Schleier noch ein Schultertuch, nur ein ärmelloses knöchellanges Kleid aus einfachem hellblauen Stoff. Vermutlich war sie eine Sklavin. "Nefut, deine Mutter verlangt nach dir", sagte sie freundlich, ohne Hamarem auch nur eines Blickes zu würdigen.
 

"Ich will nur diese Partie zuende spielen", begehrte Nefut auf.
 

"Die Rückkehr des Heeres ist zu erwarten. Du mußt dich bereit machen", entgegnete die Sklavin jedoch bestimmt.
 

Nefut senkte schicksalergeben seinen Kopf. "Entschuldigt bitte, aber leider können wir das Spiel nicht beenden", sagte er leise zu Hamarem, dann verneigte er sich nach Osheysitte.
 

Hamarem tat es ihm nach. "Wenn es dir recht ist, kann ich später wiederkommen", sagte er, denn zuletzt hatte er sich im Heiligtum zu Harna so unbeschwert gefühlt.
 

Das zauberte ein kleines Lächeln auf Nefuts Gesicht. "Oh ja! Also bis morgen". Er ließ sich von Hamarem beim Zusammenpacken der Bohnen helfen und folgte dann der Sklavin in den rückwärtigen Teil des Zeltes.
 

Hamarem nahm sein Ma'ouwati-Tuch wieder an sich und band es wie ein Oshey-Kopftuch um seinen Kopf, dann erhob er sich, um zum Mawatizelt zurückzukehren. Die Sonne begann bereits, wieder zu sinken und für Hamarem wurde es Zeit, das Nachtmahl für die heimkehrenden Krieger zuzubereiten.</p>
 

* * *
 

19. Bettgenossen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

19. Bettgenossen (jugendfrei)

Während des Appells fühlte Nefut sich trotz der zu kurzen Nachtruhe zwar hellwach, aber die Geistesgegenwart Amemnas, aus den vom Schreiber offenbar falsch aufgenommenen Verlusten einen Vorteil für Hamarem zu machen, hätte er nicht gehabt. Den kampfesscheuen Hamarem zum Wirtschafter ihrer Wannim zu erklären war ein wirklich guter Einfall gewesen. Den aufsteigenden Neid, daß es nicht seine Idee gewesen war, schluckte Nefut schnell herunter. Es war seine Geliebte, die diese Idee gehabt hatte. Und was schmückte einen Mann mehr als eine kluge Frau? Auch wenn nur sie beide von ihrer Verbindung wußten, da sie es kaum öffentlich machen konnten, solange Amemna in Männerkleidern als Wanack diente.
 

Der schwarzhäutige Wanack hatte einen buschigen Oberlippenbart, der bereits von einzelnen weißen Haaren durchzogen wurde. Nefut vermutete, daß der Südländer etwa ebenso alt war wie er selbst. Der Schwarze Wanack war mit einem Raubkatzenfell über dem nackten Oberkörper und breiten goldenen Armreifen in barbarischer Weise geschmückt, nur sein bunter Kilt und der nach Südländerart stramm gebundene leuchtendrote Turban ähnelte der Kleidung seiner Wannim. Seine fünf Männer sahen dagegen nach ganz gewöhnlichen Südländern aus, wie Nefut sie auch im Heer der Letrani als Söldner kennengelernt hatte, mit bunt gemusterten Tuniken, bewaffnet mit breiten Krummschwertern, mit roten Turbanen und zum Teil ebenfalls mit Oberlippenbärten. Auf dem Weg zu den Kriegsmaschinen wechselte Amemna mit dem Wanack der Südländer ein paar Worte in der Südsprache, um zu verabreden, wer auf welcher Seite der Maschinen ritt.
 

Die drei mächtigen, aber noch gar nicht ganz fertiggestellten hölzernen Maschinen wurden von Ochsen gezogen und von einer halben Hundertschaft an Ingenieuren und Zimmerleuten zu Fuß begleitet. So gestaltete sich der Weg über die Ebene bis vor die Tore Tetraos' und das Heerlager seiner Verbündeten langwierig. Alle Planungen Amemnas und des Schwarzen Wanacks waren allerdings überflüssig gewesen, denn kein Tetraosi ließ sich außerhalb der Mauern der Stadt oder des Heerlagers blicken. Und auch nachdem die Maschinen ihren Standort endlich erreicht hatten und der Bau an íhnen fortgesetzt wurde, gab es keine Angriffe auf die Hannaiim. Söldner zu Fuß wurden vorgeschickt, um durch ihre Rufe und das Abschießen von Pfeilen und Schleudersteinen einen Ausfall der Tetraosi zu provozieren, aber es bewirkte nichts.
 

Nefut bedauerte, seine Zeit unnütz zu verwarten, denn die Tatenlosigkeit ließ ihn seine Müdigkeit merken. Allerdings hatte er nun auch viel Zeit, Amemna zu beobachten und über die Geschehnisse der vergangenen Nacht nachzudenken. Im Sattel sah Amemna weiterhin aus wie ein junger Mann, trotz Nefuts neuem Wissens über ihre Zweigeschlechtlichkeit. Tatsächlich war sie als Frau nicht besonders attraktiv, Nefut zumindest bevorzugte üppigere Formen an kleineren Körpern. Und doch war ihre Jugend, ihr Duft, die Art, wie sie ihn in Besitz nahm, wenn er in sie eindrang etwas, was sie dennoch unwiderstehlich machte. Nur Schelschér hatte eine vergleichbare Kontrolle über ihr Innerstes gehabt, hatte ihn und seine Lenden in dieser Weise beherrschen können. Nefut rätselte, ob es einfach eine Laune Amas war, diese Fähigkeit manchen Frauen zu schenken und sie anderen zu verweigern, oder ob Schelschér sie ihrer Ausbildung in den Fünfhundert Künsten zu verdanken gehabt hatte. Aber was war mit Amemna? Wie hätte sie soetwas lernen und dabei Jungfrau bleiben können? Außerdem war sie als Mann aufgezogen worden. Lag es in Amemnas Falle doch einfach an ihrer unirdischen Natur?
 

Die Gedanken an die Geschehnisse im Badehaus weckten mit Macht die Lust in Nefut, aber er konnte sich nicht überwinden, Amemna in der Öffentlichkeit auch nur unauffällig zu berühren. Mehrfach trafen sich ihre Blicke und Nefut glaubte, in Amemnas Augen die gleiche Begierde zu lesen, die auch ihn erfüllte: der Wunsch nach Fortsetzung ihrer rauschhaften Vereinigungen im Badehaus. Doch das mußte bis zum Abend warten. Und nicht ein privates Wort konnten sie den Tag über wechseln. Wider Erwarten machte Nefut das fast genauso viel zu schaffen wie die Unmöglichkeit, Amemna zu berühren, und sei es nur, mit den Händen über ihre Finger zu streichen. Es drängte ihn, sein Begehren Amemna gegenüber in Worte zu fassen, aber nicht einmal wenn sie ihre Pferde tränkten, war es möglich, denn die Ohren und Augen anderer waren überall. Welche Macht hatte Amemna über ihn, daß Nefuts Gedanken stets um die Vereinigung ihrer Körper kreisten? Das war nicht einmal Schelschèr gelungen, trotz ihrer Kunstfertigkeit.
 

*
 

Erleichtert und voller Erwartung folgte Nefut schließlich mit dem Rest der Reiterei dem Befehl des Melack, zum Lager der Hannaiim zurückzukehren. Die fast fertigen Kriegsmaschinen sollten während der Nacht von Fußsoldaten bewacht werden. Auf dem Rückweg jedoch plauderte Amemna mit dem Wanack der Südländer, scherzte mit ihm, so daß dieser schenkelklopfend lachte und seine in dem schwarzen Gesicht so auffällig weißen Zähne zeigte. Eifersucht nagte an Nefuts Herzen, als er hinter Amemna und dem Schwarzen Wanack ritt und nur kleine, nichtssagende Bruchstücke des in der Sprache der Südländer geführten Gespräches verstand.
 

"Die scheinen sich gut zu verstehen", bemerkte Oremar neben Nefut überflüssigerweise.
 

"Ja", knurrte Nefut, was ihm einen erstaunten Blick Oremars einbrachte.
 

"Unser unirdischer Wanack ist Nefuts Zögling. Scheinbar wird Nefut eifersüchtig, wenn der junge Darashy sich mit einem Fremden unterhält", spottete Derhan auch noch, woraufhin Oremar grinste, aber nur, bis er Nefuts Griff zum Schwertheft bemerkte.
 

Derhan ließ sich dadurch jedoch nicht einschüchtern. "Gib doch zu, daß du an dem Jungen einen Narren gefressen hast, Nefut. Das haben wir ohnehin schon alle gemerkt. Und warum auch nicht? Ich wäre stolz, einen kleinen Bruder wie ihn zu haben."
 

Nefuts brüderlichen Gefühle gegenüber Amemna waren seit dem Besuch des Badehauses jedoch denen eines Ehemannes gewichen. Aber wer war Derhan, daß Nefut sich vor ihm rechtfertigen müßte. Gegen seine sonstige Gewohnheit machte Nefut von dem Wissen Gebrauch, das er Farhan, Derhans ehemaligem Befehlshaber, verdankte. "Aber wer wäre stolz, einen Giftmischer und verurteilten Mörder zum Bruder zu haben?" zischte er Derhan zu. Derhan schwieg darauf, ließ sich ein Stück zurückfallen und ritt schließlich weit hinter seiner eigenen Wannim durch das Tor des Heerlagers. Und Amemna unterhielt sich weiter angeregt mit dem Schwarzen Wanack.
 

Schließlich trennten sich die Wege der Südländer und der Mawati am Pferdepferch, da die Unterstände der beiden Wannimin weit auseinander lagen, und der Schwarze Wanack verabschiedete sich mit dem Segenswunsch der Südländer: "Nane'Hawat", 'Hawats Segen', den Amemna sogleich erwiderte. Blitzte da Verlangen in ihrem Blick, als sie dem Schwarzen Wanack mit dem kurzen Rock und den langen, sehnigen Beinen nachblickte? Nefut mußte sich zwingen, seinen schwärenden Zorn weiterhin auf Derhan und seine Unverschämtheit zu richten. Aber konnte er sich Amemnas ausschließlicher Zuneigung so sicher sein wie der Antwort ihres Körpers auf seine Liebkosungen? Fühlte sie sich vielleicht auch im Wachen zu jedem 'Darach' hingezogen, dessen Namen sie im Traum so inbrünstig geflüstert hatte als sie in Nefuts Armen geschlafen hatte?
 

*
 

Hamarem hatte ein schmackhaftes Nachtmahl gekocht und das Mawatizelt strahlte geradezu von Sauberkeit. Er sah sehr zufrieden mit sich aus, offensichtlich war er mit seine Aufgabe als Wirtschafter viel glücklicher als in seiner Rolle als Söldner. Das Essen verlief nichts desto trotz in brütendem Schweigen. Nefut war noch immer nicht über Derhans Aufsässigkeit und seinen Verdacht bezüglich Amemnas Interesse an dem Schwarzen Wanack hinweggekommen, Derhans Grund war vielleicht zu verhindern Nefut mit seinen unbequemen Bemerkungen noch weiter zu verärgern und Oremar hatte ganz offensichtlich weiterhin Furcht vor dem Dämon, den er in Amemna vermutete.
 

"Hamarem, wie hast du denn heute den Tag verbracht?" fragte Nefut also schließlich, um die Stille zu vertreiben.
 

Hamarem sah überrascht auf, dann lächelte er glücklich. "Ich habe gespielt, Herr."
 

"Und was hast du gespielt", fragte Nefut nach, um das Gespräch, das erfreulich zu werden versprach, in Gang zu halten.
 

"Das Bohnenspiel, Herr."
 

"Mit einem der Verwundeten?" fragte Nefut wieder. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es außer Hamarem noch einen unversehrten Mann gab, der lieber ein Kinderspiel spielte, anstatt seinen Körper zu üben.
 

Aber Hamarem schüttelte den Kopf. "Nein, mit einem Jungen, der im Troß lebt."
 

Und Amemna sagte zu Nefuts Erstaunen voller Eifer: "Ich wußte garr nicht, daß du das Bohnenspiel kennst, Hamarrem. Vielleicht können wirr auch einmal eine Parrtie spielen."
 

"Heute abend?" fragte Hamarem ebenso eifrig.
 

"Bei mir ist es bestimmt schon zehn Jahre her, daß ich das letzte Mal gespielt habe", ließ sich nun Derhan vernehmen und Hamarem lachte daraufhin.
 

"Man verlernt es nicht, Derhan", sagte Hamarem bestimmt. "Und wenn ich schon früher gewußt hätte, daß auch du spielst, hätten wir uns die Zeit bei der Bewachung der Gefangenen ja auch angenehmer vertreiben können." Dann ergriff Hamarem überraschenderweise sogar die Initiative: "Wie ist es mit dir, Oremar? Spielst du auch das Bohnenspiel?"
 

Aber Oremar schüttelte den Kopf. "Nein, das ist nichts für mich. Nachdem mich mein kleiner Bruder regelmäßig besiegt hat, habe ich es schließlich aufgegeben."
 

Trotzdem konnte Oremar wie die anderen von großen Siegen oder schweren Niederlagen im Bohnenspiel berichten, so daß Nefut sich schließlich wie ausgeschlossen von einer die anderen verbindenden Leidenschaft fühlte. Schon sein Vater hatte nichts vom Bohnenspiel gehalten und für seinen Sohn zur Schulung des strategischen Verständnisses die Lektüre einschlägiger Lehrbücher vorgezogen. War Murhan Amemna gegenüber weich geworden oder stammte Amemnas Interesse an dem Spiel von seiner Ostlerfamilie? "Wie hast du das Spiel kennengelernt, Wanack? Du bist doch im Süden aufgewachsen", fragte Nefut daher schließlich, als die leeren Schalen schon weggeräumt wurden.
 

"Ein.. Frreund, den ich in Ma'ouwat kennengelerrnt habe, hat es mirr beigebrracht. Und dann habe ich es auch oft mit meinerr Frrau gespielt", antwortete Amemna bereitwillig.
 

Richtig, Amemna war mit einer Tochter Murhans verheiratet. Und was bedeutete das fast unmerkliche Zögern vor der Bezeichnung des Mannes, der ihr das Spiel beigebracht hatte? Hatten sie vielleicht noch mehr gemacht, als zusammen das Bohnenspiel zu spielen? Sprach sie vielleicht von ihrem Liebling Darach? Amemna konnte Wunden heilen. Warum nicht auch die Wunde, die bei der ersten Begegnung mit einem Mann entstand, um später wieder als Jungfrau zu erscheinen? Oder war Nefut einfach zu eifersüchtig? Hatte Amemna vielleicht nur einen Moment nach dem Wort suchen müssen, das sie verwenden wollte? Nefut hatte das Gefühl, durchdrehen zu müssen, wenn er nicht schnell Amemna in die Arme nehmen und küssen konnte und auch von ihr alle Zeichen des Begehrens empfing.
 

"Wanack Darashy?" fragte da plötzlich eine fremde Stimme am Eingang des Zeltes.
 

Amemna drehte sich zu dem Boten des Melack. "Was ist?"
 

"Es gibt eine Besprechung im Zelt des Melack. Bitte folgt mir", und schon ging der Bote wieder.
 

Amemna war aufgesprungen und wollte das Zelt verlassen, aber Nefut hielt sie auf. "Wäre es nicht sinnvoll, wenn ich dich als dein Zweiter begleite?"
 

Amemna schüttelte den Kopf. "Keinerr derr Wunakim hat bisherr seinen Zweiten zu den Besprrechungen mitgebrracht, Nefut. Ich errwarrte dich nach meinerr Rrückkehrr in meinem Zelt, dann teile ich dirr alles mit." Lag Verheißung noch anderer Dinge in ihrem Lächeln? Dann war sie verschwunden.
 

Nefut verweigerte Hamarems Angebot, ihm das Bohnenspiel beizubringen, statt dessen holte er zur Beruhigung seiner in Aufruhr befindlichen Gefühle die am Morgen ausgefallenen Waffenübungen nach, denen sich allerdings nur Oremar anschloß, der sich wenig später entschuldigte, um die Männer der benachbart lagernden Wannim zu besuchen, mit denen er sich am Vortag angefreundet hatte. Dann polierte und ölte Nefut sein Schwert und nahm sich später die Schriften hervor um zu lesen, während Hamarem und Derhan die ganze Zeit spielten, ein zerschlissenes, mit Tinte bemaltes Untergewand als Spielplan zwischen sich.
 

*
 

Hamarem war mit der Frühstücksvorbereitung beschäftigt, und Derhan hatte sich längst zur Ruhe begeben, als Amemna schließlich zurückkam, kurz am Eingang des Mawatizeltes stehenblieb und Nefut schweigend herauswinkte. Ungeduldig ließ Nefut die Schriftrolle, in der er unkonzentriert gelesen hatte, zu Boden fallen und folgte Amemna mit langen Schritten in das Wanackzelt. Kaum hatte er den Eingang geschlossen, griff Nefut um Amemnas Mitte, zog sie an sich und küßte sie stürmisch. Etwas zögernd erwiderte Amemna den Kuß, drückte Nefut dann mit erstaunlicher Kraft von sich weg und sagte: "Morrgen sollen wirr mit derr Mellim eine verrsteckte Stellung der Tetrraosi überrfallen."
 

"'Mellim' ist doch etwas übertrieben, das sind doch keine hundert Mann mehr in unserer Einheit", fiel Nefut dazu nur ein, enttäuscht, daß Amemna ihre Pflichterfüllung als Wanack vor die Befriedigung der Leidenschaft ihres Zweiten stellte.
 

"Nefut, vorr Sonnenaufgang sollen wirr berreit sein", fügte Amemna ernst hinzu.
 

"Und wir werden vor Sonnenaufgang bereit sein, Geliebte", das letzte Wort war in Amemnas Ohr gehaucht und sie lächelte sehr ermutigend. Und dann küßte sie ihn und zog ihn mit sich hinter die als Sichtschutz um ihr Lager aufgehängten Decken.
 

Also war sie doch noch immer an Nefut interessiert. Bereits sehr erhitzt von der zurückgehaltenen Begierde zogen sie einander die Kleidung vom Leib, umarmten sich nackt, küßten sich wieder
 

...
 

Amemna sah ihn verträumt an, schien nichts von seinem momentanen Ekel vor ihrer Männlichkeit gemerkt zu haben. "Mein Keliebterr", flüsterte sie, streichelte Nefuts Brusthaar, küßte ihn erneut. Aber Nefut war die Lust fürs erste vergangen. "Du hast gesagt, daß wir morgen vor Tagesanbruch bereit sein müssen. Laß uns jetzt schlafen."
 

Amemna nickte verständnisvoll, griff im Sitzen nach ihrem Untergewand, um es sich wieder überzustreifen, während Nefut sich erhob um sich wieder anzuziehen. Er küßte Amemna zum Abschied auf die Wange, dann ging er jedoch am Zelt der Mawati vorbei zum Badezelt im Zentrum des Lagers, um sich im warmen Wasser zu entspannen, bevor er sich endgültig zur Ruhe begab.
 

* * *
 

20. Erb-Lasten

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

20. Erb-Lasten (jugendfrei)

Amemna hatte bei seinem plötzlichen Aufbruch zum Melack sein Ma'ouwati-Tuch liegen gelassen. Als Amemna nach seiner späten Rückkehr seinen Zweiten zur Besprechung des nächsten Tages herauswinkte, wollte Hamarem Nefut das Tuch in die Hand drücken, aber der war schon aus dem Zelt gelaufen, bevor Hamarem von seiner Arbeit aufgesprungen war. Also nahm Hamarem das Tuch selbst und folgte Amemna und Nefut. Der Zelteingang war verschlossen, aber noch in Bewegung, als Hamarem das Wanackzelt erreichte, den festen Stoff ein Stück beiseite zog und bei dem Anblick, der sich ihm bot, erstarrte. Gerade in diesem Moment küßten Amemna und Nefut sich leidenschaftlich und hatten glücklicherweise für nichts anderes Augen als für den jeweils anderen. Betroffen ließ Hamarem die Zeltklappe wieder sinken, Amemnas Kopftuch noch in den Händen. Aber er hörte, wie beide Männer begehrlich stöhnten und schließlich ganz offensichtlich sogar begannen, sich zu begatten. Da erwachte Hamarem aus seiner Erstarrung und ging langsam in das Mawatizelt zurück.
 

Irgendwann wurde ihm bewußt, daß er neben dem bereits schlafenden Derhan auf seinem eigenen Lager saß, noch immer voll bekleidet, noch immer Amemnas zusammengelegtes Kopftuch in den Händen. Er konnte nicht einschätzen, wie lange er schon so dasaß, ohne jeden Gedanken, noch immer viel zu erschüttert von dem Gesehenen, das ihm wie eingebrannt vor den Augen stand: Amemna und Nefut, einer in den Armen des anderen, die Gesichter durch den Kuß wie miteinander verschmolzen, als wüchse Amemna Nefuts schwarzer Bart im eigenen Gesicht. Wie hatte er so blind sein können zu glauben, daß Nefuts offensichtliche Zuneigung zu Amemna darauf zurückzuführen war, daß Nefut in seinem Wanack eine Art jüngeren Bruder sah, den er anleiten und dem er mit seiner Erfahrung zur Seite stehen konnte?
 

Mechanisch legte Hamarem schließlich Mantel und Gürtel ab und legte sich zwischen seine Decken. Dann griff er nach dem Kopftuch seines Wanack, das noch neben seinem Lager lag. Amemnas zarter Duft entströmte ihm und Hamarem legte es unter seinen Kopf, senkte seine Nase in den weichen Stoff und stellte sich vor, er wäre an Nefuts Stelle im Wanackzelt. Und plötzlich schossen ihm die Tränen in die Augen. Wieso blieb ihm die Erfüllung durch die Vereinigung zweier Körper versagt? Nun war es also zu spät, sich Amemna zu offenbaren. Sein Wanack hatte sich für Hamarems Herrn Nefut entschieden, einen Mann, bei dem zumindest Hamarem überzeugt gewesen war, er würde in geschlechtlichen Dingen niemals vom Wahren Weg abweichen. Und Hamarem blieb nun nicht einmal mehr die vage Hoffnung, eines Tages die wahrhaftige Erfüllung seiner geheimen Wünsche zu erleben. Ihm blieb nur, seinen unirdischen Wanack heimlich zu verehren und weiterhin von der Erfüllung seiner Liebe zu träumen.
 

*
 

Hamarem wachte auf, als ihm eine Hand sanft über die Stirn und den Bart strich. Er brauchte gar nicht die Augen zu öffnen, um zu wissen, daß es Amemna war, denn der Duft des Unirdischen hing wie ein schweres Parfum in der Luft. Trotzdem öffnete Hamarem die Augen und sah dem weißhaarigen Jüngling ins Gesicht, der neben seinem Lager saß. "Hamarrem, schenkst du mirr deine Lust?" fragte Amemna flüsternd, strich dabei über Hamarems Ohrmuschel, den Hals entlang und in den Ausschnitt des Untergewandes.
 

Hamarem erschauderte vor Erwartung. Er war zu keinem Wort fähig, aber er nickte, denn er war nur zu bereit, seinem Wanack in jeder Hinsicht zu dienen.
 

Amemna beugte sich tiefer über Hamarem, küßte ihn auf den Mund, zupfte mit den Lippen an Hamarems Kinnbart und erreichte schließlich die Kehle, so daß Hamarem die Augen schloß und vor Lust aufstöhnte. Doch das eigene Stöhnen zu hören erinnerte ihn plötzlich an die Geräusche, die aus dem Wanackzelt zu ihm gedrungen waren: das tierhafte, rhythmische Stöhnen aus zwei Männerkehlen, das nun erneut in seinem Schädel widerhallte. "Wie könnt ihr zu mir kommen, Herr, wenn ihr doch Nefut erwählt habt?" fragte Hamarem leise.
 

Amemna hielt inne mit seinen Liebkosungen und als Hamarem die Augen wieder öffnete, um seinem Wanack bei der Antwort auf die Frage in die Augen zu sehen, war dort nichts, nur das vom Mondlicht leicht erhellte Zeltdach.
 

Hamarem hatte wieder geträumt. Ein weiterer dieser unheimlich wirklichen Träume, die seine Gefühle kontrollierten, mehr als das Hamarem Kontrolle darüber gehabt hätte. Doch wie konnte das sein? Bisher waren diese Träume nur aufgetreten, wenn es zu einer Berührung zwischen Amemna und ihm gekommen war. Das Ma'ouwati-Tuch des Wanack Darashy lag zerknautscht neben Hamarems Kopf, Amemnas Duft entstöhmte ihm noch immer. Ob es allein dieser normalerweise wohl nur unterschwellig wirkender Duft war, der die Träume hervorrief? Der verführerische Duft der Unirdischen, der Amemnas ganzem Körper anhaftete und der mit einer Berührung wohl auch für kurze Zeit auf den Berührten überging? War Nefut Amemnas unirdischen Zauber erlegen? Wie anders war zu erklären, daß er gegen die Gebote der Weisen und Heiligen mit einem Mann das Lager teilte? Und was war mit Derhan? Oremar zumindest würde dagegen gefeit sein, da er ja beständig einen Bogen um den Wanack machte. Bisher hatte Hamarem angenommen, daß kein anderer der Mawati ähnlich wie er selbst auf Amemnas Gegenwart reagierten. Und wie konnte er sie dazu befragen? Das war kein Thema, über das ein Mann mit einem anderen sprach. Richtiger: es war kein Thema, über das Nefut sprechen würde, Derhan vielleicht schon.
 

Wie sehr Hamarem sich nach einer tatsächlichen Berührung Amemnas sehnte! Wieso hatte er Amemna im Traum nur abgewiesen? Aber ganz bewußt für eine Fortsetzung des Traumes zu sorgen, indem er Amemnas Kopftuch erneut als Kopfkissen nahm, brachte Hamarem nicht über sich. Das wäre wie ein Verrat an Nefut gewesen. Also nahm Hamarem das Kopftuch, schüttelte es aus, legte es wieder zusammen und brachte es dann nahe an den Zeltausgang, so weit weg von den Schlafstätten der Mawati, wie es eben ging. Bei einem Blick hinaus stellte er fest, daß die Nacht schon fast vorbei war. Es würde bald anfangen zu dämmern. Nefut atmete tief und ruhig, auch von Oremar war nur ein leises Schnarchen zu hören, aber Derhan wälzte sich unruhig auf seinem Lager. Hamarem legte sich wieder hin, sah hinauf zum Zeltdach. Wie konnte er nur die Zerrissenheit überwinden, die durch seine Sehnsucht nach Amemna und seinen unbedingten Gehorsam gegenüber Nefut sein Herz schmerzen ließ?
 

*
 

Hamarem erwachte von dem Morgenruf aus dem Melack-Zelt. Er beeilte sich, ein Frühstück für die anderen zu kochen, nachdem Nefut erklärt hatte, daß sie vor Tagesanbruch zu einem Angriff aufbrechen würden. Wenig später waren Amemna und die drei Mawati verschwunden, und Hamarem blieb allein zurück, ohne auch nur seiner Hoffnung Ausdruck gegeben zu haben, alle mögen gesund zurückkehren. Vielleicht fand er beim Bohnenspiel mit Nefut dem Kind Vergessen von dem Gefühl der Verzweiflung, das bei jedem Gedanken an Amemna und Nefut in ihm aufstieg.
 

Doch bevor er zum Lagerplatz des Trosses aufbrechen konnte, kam ein Bote des Feldherrn zum Zelt der Mawati. "Ist dein Herr der Wanack Darashy?" fragte der Mann knapp.
 

Hamarem nickte. "Mein Herr ist der Wanack Amemna Darashy", bestätigte er mit einer Verbeugung.
 

"Dann habe ich eine Nachricht für Deinen Herrn. Händige sie aus, sobald er wieder im Lager ist", befahl der Bote, reichte ein Holztäfelchen an Hamarem und ging wieder davon.
 

Das aus zwei Teilen verbundene Holztäfelchen war nicht versiegelt und so hatte Hamarem auch kein schlechtes Gewissen, als er es aufklappte, um die mit Kohle geschriebene Botschaft zu lesen: "An den Wanack Amemna Darashy. Die Nachforschungen aufgrund Eurer Nachfrage nach dem Mawar Adarach um-Anasku haben ergeben, daß er nicht zu den Hilfstruppen der Hannaiim gehörte oder gehört. Im Auftrag des Oberschreibers seiner Exzellenz Prinz Nesfat von Berresh, Heerführer Hannais."
 

Adarach um-Anasku klang nach einem Ostlernamen. Wieso suchte Amemna einen Mawar, einen Befehlshaber von hundert Mann zu Fuß? War er vielleicht ein Verwandter? Die riesig gewordene geflügelte Schlange aus seinem Traum vor drei Nächten fiel Hamarem wieder ein. Sie hatte bis in den Osten gereicht. Hatte das etwas mit Amemnas Nachfrage zu tun? War es wirklich ein nahezu weltumspannender Heerzug, den Hamarem in dem Traum von der geflügelten Schlange vorhersah? Das war kein angenehmer Gedanke, nicht einmal, wenn Hamarem vergönnt sein sollte, Amemna und Nefut weiterhin als Wirtschafter folgen zu können. Ursprünglich war das Söldnerdasein doch als ein vorübergehender Zustand gedacht gewesen, für die Dauer des Feldzuges des Königs von Hannai, also bis zur Einnahme der zur Zeit belagerten Stadt Tetraos. Nach der Auszahlung ihres Lohns würden sie in eine der großen Städte ziehen können, um dort friedlich zu leben - das zumindest hatte Hamarem bisher gehofft, auch wenn sich angesichts Amemnas Interesse an Hannai abzeichnete, daß es eben Hannai sein würde, wo sie sich niederließen. Und mit Hannai verband Hamarem viele unschöne Erinnerungen.
 

Hamarem war in das Wanackzelt gegangen und legte den Brief aus der Schreibstube des Feldherrn zusammengeklappt auf das niedrige Tischchen das zwischen den Sitzkissen stand. Er verharrte angesichts des Sichtschutzes um Amemnas Lager einen Moment. Er war tatsächlich in Versuchung, sich hinter diesen Vorhang zu begeben, sich auf Amemnas Schlafstatt zu legen, Amemnas in den Decken gefangenen Duft einzuatmen. Amemnas Duft, der aber wohl mit dem von Nefut gemischt sein würde, nach dem, was er am Vorabend gehört hatte. Bevor er der Versuchung nachgeben konnte, verließ Hamarem das Zelt schnell wieder und machte sich nun endlich auf zu dem prächtigen Zelt, in dem er so glückliche Stunden beim Bohnenspiel verbracht hatte.
 

*
 

Als Hamarem das Zelt erreichte, war Nefut das Kind tatsächlich zugegen. Er saß im Schatten des Zeltes und würfelte lustlos mit zwei Würfeln. Er sah müde und etwas traurig aus, das änderte sich jedoch schlagartig, als er Hamarem erblickte. "Spielen wir wieder?" fragte er hoffnungsvoll und Hamarem konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Junge am Vortag aus eigener Erfahrung gesprochen hatte, als er sagte, daß Bohnenspiel vertreibe düstere Gedanken.
 

"Ich würde mich freuen, wenn du Zeit für mich hättest", entgegnete Hamarem.
 

In Windeseile holte Nefut die Bohnen und den Spielplan und sie begannen das Spiel. Und schon nach wenigen Zügen kreisten Hamarems Gedanken allein um die Übernahme der Stellungen seines Gegners und die Verteidigung seiner eigenen Bohnen, und auch Nefut war sichtlich aufgemuntert. Doch die Partie wurde unterbrochen, weil ein Junge, der wohl etwa in Nefuts Alter war, das Zelt betrat. Er war wie ein vornehmer städischer Erwachsener in ein besticktes Untergewand und einen mittelblauen, gegürteten Mantel gekleidet. Er trug einen edelsteingeschmückten Turban und hatte sogar Sandalen an den Füßen.
 

Nefut erhob sich sofort und verneigte sich tief, und sein zuvor entspanntes, fröhliches Gesicht war auffällig ausdruckslos geworden. "Guten Morgen, mein Prinz", begrüßte er den Jungen.
 

Der Prinz nickte nur gnädig und befahl mit einem Blick auf das Bohnenspiel zu seinen Füßen: "Pack das weg, du mußt mir beim Umkleiden helfen."
 

Nefut warf Hamarem einen bedauernden Blick zu. Hamarem verstand, erhob sich und verneigte sich ebenfalls vor dem Prinzen. Wie Hamarem wußte Nefut, wo sein Platz war und würde seinem Herrn gehorchen, wie Hamarem den seinen. Und natürlich mußte Hamarem jetzt gehen. Er verabschiedete sich und machte sich langsam auf den Weg zurück zum Mawatizelt, dessen Wirtschafter er nun war, weil seine Herren es so beschlossen hatten - seine Herren, die eine Verbindung miteinander eingegangen waren, über die Hamarem lieber nicht weiter nachdachte.
 

Plötzlich wurde Hamarem bewußt, daß ihm Frauen mit großen Körben entgegenkamen. Richtig, die Händlerkarren sollten heute wieder im Lager sein. Über die ganze Aufregung in seinem Gefühlsleben, hatte Hamarem versäumt, beim Frühstück von Nefut oder Amemna Geld für die dringend notwendigen Lebensmittel einzufordern. Nein, er hatte nur an sich und an seine enttäuschten Hoffnungen gedacht, anstatt an seine Aufgaben als Wirtschafter. Ob der Rest seines eigenen Anteils am Banditenschatz und das Handgeld der Hannaiim ausreichte, um Lebensmittel für die nächsten fünf oder sechs Tage zu kaufen, bis wieder ein Markt abgehalten wurde? Und was wäre, wenn nicht? Wie würden seine Herren reagieren, wenn sie in ihm nicht nur einen Feigling sahen, sondern er außerdem bereits am zweiten Tag als Wirtschafter offensichtlich versagte? Hamarem hatte den Eindruck, auf unsicheren Boden geraten zu sein und wie in Treibsand zu versinken. Er brauchte Halt, Hilfe, eine Stütze... Er beschleunigte seinen Schritt, schlug nicht den Weg zu den Marktständen ein, sondern lief weiter bis zur Mitte des Heerlagers, dorthin, wo die den Göttern geweihten Zelte standen.
 

Als Hamarem sein Ziel erreichte, lief sofort einer der unbewaffneten Tempelwächter Orems auf ihn zu. "Was habt ihr hier zu suchen?" blaffte der breit gebaute Mann ihn an, die Fäuste herausfordernd in die Seiten gestemmt.
 

Damit hatte Hamarem nicht gerechnet. Und bis ihm bewußt wurde, daß er aus alter Gewohnheit in den Orem geweihten Bereich getreten war, anstatt, wie jeder andere Mann, davor zu warten, bis ihn einer der Priester bemerkte und zu ihm kam, vergingen ein paar Augenblicke, die den Tempelwächter nur ungehaltener werden ließen. Endlich neigte Hamarem demütig den Kopf, trat die drei Schritte aus dem der Priesterschaft und ihren Wächtern vorbehaltenen Bereich zurück und murmelte: "Ich bitte um Vergebung, Herr."
 

Der Wächter zog sich brummend zurück und Hamarem glaubte, etwas wie 'ungebildeter Kameltreiber' in dem Wortbrei zu hören.
 

Aber was wollte er tatsächlich hier? Wollte er wirklich seine geheimsten Gedanken vor einem fremden Menschen - und sei es ein Priester Orems - ausbreiten, um dann zu hören, daß dies aber nicht im Einklang mit den Geboten der Weisen und Heiligen sei? Das diese Art von Träumen sicher nicht von Orem, dem Nächtlichen Träumer, gesandt sondern wahrscheinlich dämonischen Ursprungs wären? Es war, wie das Betreten des heiligen Bezirkes, Gewohnheit gewesen, sich bei einem unlösbar scheinenden Problem dorthin zu wenden, wo er stets Halt und Unterstützung gefunden hatte - als er selbst noch Priester im Oremheiligtum gewesen war. Vielleicht sollte er sich eher an Derhan wenden, der in seiner unbequemen Art dennoch immer ein echtes Interesse am Wohlbefinden seiner Gefährten gezeigt hatte. Hamarem wollte sich schon zum Gehen wenden, als ein sehr alter Priester, auf einen Stock gestützt und mit einem langen, weißen Bart, auf ihn zu kam. Die Aufmerksamkeit eines so ehrwürdigen Vaters auszuschlagen konnte Hamarem nicht über sich bringen. Also verneigte er sich tief. "Vater, ich brauche Euren Rat", begann er langsam, während er fieberhaft überlegte, was er vorbringen konnte, ohne sich ganz zu entblößen.
 

"Laß uns in den Schatten gehen, mein Sohn", antwortete der alte Priester aber nur und ging voran zu einem Unterstand am Rande des heiligen Bezirkes. Er ließ sich mithilfe seines Stocks langsam auf den Teppich nieder, bat einen der müßig herumstehenden Wächter, Tee zu bringen und lud Hamarem freundlich ein, sich ebenfalls zu setzen.
 

Sie tranken die ersten paar Schluck schweigend, bis der Priester fragte: "Worin kann ich dir raten, mein Sohn?" Er sah Hamarem aufmerksam an und seine dunklen Augen wirkten viel lebendiger, als der Rest von ihm.
 

Hamarem seufzte, weil er noch immer keine gute Idee hatte, wie er um sein Problem herumreden konnte. Der alte Mann wirkte vertrauenswürdig, die Kräfte um ihn waren in einer Weise verflochten, wie Hamarem es nur von den Meistern des Heiligtums und dem Orakelpriester selbst kannte. Dieser Mann hatte offensichtlich die Fähigkeit, die Kräfte zu verstehen. Und vielleicht konnte er Hamarem wirklich helfen.
 

"Dein Herz ist in Aufruhr", stellte der alte Priester leise fest. "Ist das der Grund für dein Hiersein?" Über den Rand seiner Teetasse musterte er Hamarem während des Trinkens. "Du willst mir nicht sagen, was diesen Aufruhr verursacht. Und du hast Träume... hast du jemals mit einem Orempriester über deine Vorhersichten gesprochen?"
 

Da sich das Gespräch unverhofft in eine weniger verfängliche Richtung entwickelte, nickte Hamarem erleichtert. Obwohl er Schweigen gelobt hatte, sagte er: "Ich war sogar ein paar Jahre in der Orakelstätte von Harna."
 

"Oh!", entwich es dem alten Mann und er hob wissend die Augenbrauen. "Du bist wohl der junge Priester, der sich weigerte, seine Ausbildung abzuschließen und statt dessen das Heiligtum verließ." Der alte Mann sprach im Flüsterton.
 

Hamarem nickte, aber fragte nicht, woher der Priester das wußte. Vermutlich sprach sich solche jugendliche Unverschämtheit, trotz der Aussicht auf einen Meisterposten das Heiligtum zu verlassen, unter den Orempriestern herum.
 

"Darf ich fragen, warum du die Orakelstätte verlassen hast?" wollte der Priester nun wissen.
 

"Meine Träume haben mich dazu getrieben", antwortete Hamarem knapp.
 

"Unheilvolle Vorahnungen über deine spätere Zeit im Heiligtum oder weniger persönliche Träume?"
 

"Weniger persönliche Träume, obwohl ich mich durch sie immer direkt angesprochen fühlte."
 

Der Alte nickte verstehend.
 

Es fiel Hamarem nicht leicht, die Empfindungen, die mit den Träumen von der geflügelten Schlange verbunden waren, auch nur gedanklich in Worte zu fassen. Es war nie mehr als ein Gefühl gewesen, daß er sich im Heiligtum am falschen Ort befand. Aber deswegen hatte er es verlassen. Und ein ebensolches Gefühl verband die Träume nun mit Amemna. Der Gedanke an Amemna schnürte ihm erneut das Herz zusammen. "Vielleicht hätte ich dort bleiben sollen und versuchen, die Träume genauer zu verstehen, anstatt ihnen zu folgen", sagte Hamarem leise.
 

"Vielleicht hättest du das tun sollen. Mit deiner Gabe wärst du wohl einer der herausragendsten Orakelpriester dieser Zeit geworden. Das sagten jedenfalls deine Lehrer, nachdem du die Orakelstätte verlassen hattest."
 

Hamarem war verwirrt. Wieso hatten seine Lehrer mit diesem alten Priester über ihn gesprochen? "Sie haben mir immer gesagt, ich müsse noch viel lernen, aber meine Anlagen seien ordentlich, und ich hätte die Möglichkeit, in den Kreis der Meister aufzusteigen."
 

"Wenn er nicht selbst um sein Erbteil weiß, ist es auch nicht üblich, es einem jungen Priester auf die Nase zu binden, um seinen Eifer wach zu halten", sagte der Alte dozierend.
 

Genau diese Art von kryptischen Bemerkungen verband Hamarem mit fast allen Erinnerungen an seine Studienzeit in der Orakelstätte. Niemand hatte ihm gegenüber je erwähnt, er sei auch nur im entferntesten dazu geeignet, in die Fußstapfen des Orakelpriesters zu treten. Gewöhnlich hatten nur Männer mit unirdischem Blut die Fähigkeit und... dann wurde Hamarem plötzlich klar, was der alte Priester da gesagt hatte. Er hatte unterstellt, Hamarem hätte unirdisches Blut in den Adern, ohne davon zu wissen. Hamarem schluckte trocken und stellte vorsichtig die noch halb gefüllte Teeschale auf dem niedrigen Tischchen ab.
 

"Deine Augen verraten es", erklärte der alte Priester nun mit einem sanften Lächeln, das sich durch sein ganzes runzliges Gesicht ausbreitete.
 

"Ihre fleckige Farbe?" vergewisserte Hamarem sich.
 

"Die gelben Sprenkel darin. Die kannst du nur einem unirdischen Ahn verdanken."
 

Für einen Moment fühlte sich Hamarem um seine Zukunft betrogen, dann jedoch eher um seine Vergangenheit. Sein Vater und dessen Eltern hatten ihn aufgezogen, seine Mutter war früh gestorben - so hatte es jedenfalls geheißen. Und die Familie seines Vaters hatte nicht einen Hauch des Unirdischen an sich gehabt. Hätte Hamarem irgendeinen Verdacht gehabt, als der Orempriester so darauf drängte, daß er nach Harna in die Schule ging, hätte er mit den richtigen Fragen an seinen Vater vielleicht auch einige Antworten erhalten.
 

"Sei froh, daß du die Zeichen so versteckt trägst, denn ein unirdisches Erbe ist eine wahrhaftige Bürde."
 

"Woher wollt ihr das wissen, Herr?" fragte Hamarem herausfordernd. Amemna hätte soetwas sagen dürfen, der seinen erwachenden Fähigkeiten selbst mit Verwirrung und einem gewissen Unbehagen gegenüberstand.
 

"Zieh den Sonnenschutz beiseite", verlangte der Alte, und gehorsam stand Hamarem auf und zog den dichten Zeltstoff des Unterstandes beiseite. Als das Sonnenlicht in das Gesicht des alten Mannes schien, sah man, daß seine Augen keinesweg so einheitlich schwarz waren, wie Hamarem vermutet hatte, sondern das auch sie gelbe Tupfen aufwiesen. Hamarem legte die Plane zurück an ihren Platz und setzte sich schweigend wieder.
 

"Manche unserer Sinne sind empfänglicher, als die anderer Menschen. Gelegentlich meinen wir sogar, die Gedanken und Gefühle unseres Gegenüber zu teilen." Der alte Priester lächelte wieder, als Hamarem bei diesen Worten selbstvergessen nickte. "Die Worte auszusprechen, die einem anderen auf der Zunge liegen, ist noch unverdächtig. Aber wie du bestimmt selbst weißt, sind mit dem Teilen der Gefühle eines anderen eine Menge weiterer Probleme verbunden."
 

"Oh ja", flüsterte Hamarem aus tiefstem Herzen. Er würde nie den Todeskampf des Mannes vergessen, den er vor so langer Zeit als stolzer Temhalykrieger erschlagen hatte. Hamarem hatte den Todeskampf am eigenen Leibe miterlebt und Wochen gebraucht, sich davon zu überzeugen, das er nicht tatsächlich selbst gestorben war.
 

"Aber dafür gibt es auch Stunden, in denen du gerade dank deines unirdischen Erbteils hochstes Entzücken genießen und schenken kannst."
 

Hamarem brauchte einen Moment um zu verstehen, das der Alte wohl auf die Vereinigung mit einem anderen Menschen anspielte. Seine Unwissenheit mußte sich auf seinem Gesicht wohl deutlich abgezeichnet haben, denn der alte Priester ergänzte freundlich: "Du wirst es erleben", und trieb Hamarem damit die Schamesröte ins Gesicht.
 

"Bisher hat sich nie die Gelegenheit ergeben", nuschelte Hamarem.
 

"Die Gelegenheit wird sicher noch kommen", versprach der Priester.
 

Hamarem dachte an das Ziel seiner Begierden und bezweifelte, daß sich die Gelegenheit in nächster Zeit ergeben würde. "Kanntet ihr euer unirdisches Elternteil?" fragte Hamarem um sich abzulenken.
 

"Mein Vater hatte das Blut der Unirdischen in sich. Er war kein Unirdischer, mein Sohn." Nachsichtig lächelte der alte Mann. "Ja, ich wußte von Anfang an um mein unirdisches Erbe."
 

"Seid ihr je einem Menschen begegnet, der tatsächlich ein unirdisches Elternteil hatte - oder gar einem Unirdischen in Person?" wollte Hamarem nun mutiger geworden wissen.
 

Der Alte schüttelte den Kopf. "Nein, das bin ich niemals. Und ich denke auch, daß ein wahrhafter Unirdischer wahrhaft fürchterlich ist. Sie mögen vielleicht aussehen wie Menschen, aber es sind keine. Nach allem, was ich aus Erzählungen und den Schriften weiß, denke ich, daß sie keinen menschlichen Regungen folgen."
 

"Auch nicht, wenn sie sich einem Menschen in Liebe nähern?"
 

"Es ist wohl eher so etwas wie Begierde oder Lust, die die Unirdischen zu den Menschen hinzieht, also Eigenschaften, die wir eher einem Dämon zuschreiben würden, als einem freundlichen Wesen. Kennst du auch nur eine Erzählung von Begegnungen zwischen Menschen und Unirdischen, bei denen es nicht zu einer Vereinigung kam? Tatsächlich scheint es so zu sein, daß die Unirdischen die Sterblichen mit ihrem unwiderstehlichen Duft verführen und sich während der Begattung an den Lustgefühlen der Sterblichen berauschen."
 

Erschüttert hörte Hamarem diesen ernsthaft vorgetragenen Überlegungen zu. Wieso hatte er gedacht, hier Hilfe zu bekommen? Die Worte des alten Priesters bestätigten nur seine eigenen Überlegungen zum Duft der Unsterblichen, deren Wirkung er am eigenen Leibe erfahren hatte, genauso wie wohl auch Nefut. Und die Verzweiflung über die Verbindung seiner Herren schlug plötzlich wieder über Hamarem zusammen.
 

Der alte Priester berührte mitfühlend Hamarems Hand. "Entschuldige, daß ich Schmerz in dir geweckt habe."
 

Vor aufsteigenden Tränen zu keinem Wort fähig, entzog Hamarem dem Alten seine Hand, verneigte sich stumm und eilte zum Mawatizelt zurück.
 

* * *
 

21. Verdachtsmomente

Es war, als hätte Nefut alle Eifersucht und alle üblen Gedanken im Bad abgewaschen. Er bedauerte zwar, daß auch Amemnas Duft, der zuvor noch an ihm haftet, verschwunden war, aber bei nächster Gelegenheit würde er ihr wieder beiwohnen können und so wich das Bedauern rasch der angenehmen Mattigkeit nach befriedigender körperlicher Ertüchtigung.
 

Als Nefut das Mawatizelt betrat, schliefen die Männer schon, Derhan jedoch wälzte sich ungewöhnlich unruhig hin und her. Nefut legte sich leise auf sein Lager. Jetzt bereute er seinen Ausbruch auf dem Heimritt, aber die Worte ließen sich nicht wieder zurücknehmen. Er war voller Eifersucht und Zorn gewesen und hatte dadurch das Wohlergehen der Männer aus den Augen verloren. Das durfte nie wieder passieren. Mit diesem Gedanken schlief Nefut ein.
 

*
 

Vor Sonnenaufgang sammelte sich die Mellim, die vielleicht noch sechzig Reiter umfaßte, leise vor den Toren des Lagers. Wie alle anderen kontrollierte Nefut noch einmal den Sitz des Sattels und des Zaumzeugs, seiner Waffen, der zur Schalldämpfung um die Metallteile gewickelten Stofffetzen, dann saß er auf. "Alles bereit?" fragte er in gedämpftem Ton die Männer neben sich.
 

"Alles bereit", kam von Oremar.
 

"Ja", sagte Derhan knapp und wich Nefuts fragendem Blick aus. Mit Derhan würde Nefut noch einmal reden müssen, aber erst nach dem heutigen Kampf. Als Amemna sich zu ihrer Wannim umdrehte, nickte Nefut nur.
 

Per Handsignal befahl der Melack den Aufbruch. In mittlerem Tempo machten sie sich durch die Dämmerung auf zum Fluß, um in einem Bogen von Westen her auf Tetraos zu stoßen. Das Sonnenlicht kroch schon über die Berge, als sie sich der kleinen Siedlung am westlichen Fuße des steil aufsteigenden Berges näherten, auf dem Tetraos errichtet war. In diesem Dorf sollte ein geheimer Stützpunkt der Tetraosi untergebracht sein. Da waren Wachen, aber als die berittenen Hilfstruppen der Hannaiim näher kamen, blieben die Wachen unbewegt, kein Alarm wurde gegeben. Irgendetwas stimmte hier nicht. Tatsächlich roch es so deutlich nach einer Falle, daß Nefut sich wunderte, daß der Melack den Angriff nicht abbrach.
 

"Das ist eine Falle", zischte Amemna durch die Zähne.
 

"Seid auf der Hut", warnte Nefut seine Waffengefährten, die nickten. Derhan und Oremar hatten genügend Überfälle auf Karawanen und feste Siedlungen dieser Größe mitgemacht, um ebenfalls zu merken, daß etwas nicht stimmte. Das Dorf war zu ruhig, um tatsächlich das Quartier einer größeren Anzahl von Soldaten zu sein. Und beim Näherkommen merkten sie: die scheinbaren Wächter am Dorfeingang waren Strohpuppen in Kleidungsstücken. Als sie den Dorfplatz erreichten, rechneten sie mit einem Hinterhalt, aber den gab es anscheinend auch nicht. Das Dorf schien einfach völlig verlassen. Die Reiter wurden unruhig.
 

"Wozu ist das gut?" fragte Oremar aufbrausend. "Wenn sie uns schon herlocken, warum machen sie uns nicht auch gleich fertig?"
 

"Sie wollen Zeit gewinnen", mutmaßte Nefut.
 

Einzelne Männer waren schon abgestiegen und liefen zu den Häusern, um zu plündern, aber der Melack, dem die ganze Sache auch nicht geheuer zu sein schien, befahl, im Freien zu bleiben. Er schickte einige seiner Leibwächter, die Gebäude, die zum Teil an die Felswand gebaut waren, zu untersuchen.
 

"Wieso sind wir hier?" fragte Nefut seinen Wanack flüsternd.
 

"Weil ein Überrläuferr und unserre Späherr berrichtet haben, ein Teil des Heeres der Tetrraosi lagerre hierr, und unserr Feldherrr entschied, das sei leichte Beute fürr unserre Rreiterrei", erklärte Amemna und sah sich noch einmal um. Außer den aufsteigenden Felsen und den nahen Hügeln konnte man vom Dorf aus nicht viel sehen. "Sie wollen uns genau hierr haben und nicht woanderrs."
 

Nefut gab ihr mit einem Nicken recht. Irgendwo anders sollte die schnellste und beweglichste Einheit der Hannaiim nicht sein.
 

Gerade kehrte die Leibwache des Melack zu ihrem Herrn zurück. Dieses Dorf war offenbar nicht plötzlich, sondern geordnet verlassen worden, die Menschen hatten all ihr bewegliches Hab und Gut mitgenommen.
 

"Herrr, wirr verrgeuden hierr nurr unserre Zeit", rief Amemna zum Melack hinüber, der sehr nachdenklich aussah.
 

Nefut hatte zunächst das Gefühl, der Melack wolle Amemna recht geben. "Unser Feldherr hat befohlen, dieses Dorf einzunehmen", entgegnete er jedoch steif. "Sucht nach einem Geheimtunnel in der Felswand, durch den die Tetraosi einen Ausfall machen könnten."
 

Wie konnte der Melack in dieser Situation nur so blind dem Befehl gehorchen? Doch als die Männer schon ausschwärmten, um mit bloßen Händen und Stöcken gegen die Felswand zu schlagen, die sich über dem Dorf erhob, rief der Melack Amemna zu: "Darashy! Reite mit deiner Wannim um Tetraos herum bis ihr in Sichtweite des Heerlagers der Tetraosi seid. Schicke einen Boten, wenn ihr Unterstützung braucht, ansonsten mache dir ein Bild von der Lage und berichte mir dann."
 

"Ja, Herrr", nickte Amemna gehorsam, riß ihr Pferd herum und gallopierte aus dem Dorf. Nefut, Oremar und Derhan hatten Mühe, ihr zu folgen.
 

Der Weg um den felsigen Sockel der Stadtmauer herum war steinig, so daß Amemna das vorgelegte Tempo weit zurücknehmen mußte. Sie schlichen schließlich an den Totenstätten der Tetraosi vorbei, den in den Fels gebohrten Löchern, die nur über steile Pfade, die einer Ziege Probleme gemacht hätten, zu erreichen waren. Hier war kein Hinterhalt einer größeren Gruppe zu befürchten, allenfalls einzelne Bogenschützen konnten sich im Schatten der Felsüberhänge und Grabeingänge verstecken. Aber nichts passierte. Schließlich kamen sie in Sichtweite des Stadttores, das sich am oberen Ende der steil bergauf führenden Straße zwischen den auf den Felsen gebauten Türmen der Stadtmauer erhob. Das Tor war geschlossen. Östlich der Stadt lag das Lager der Tetraosi so ruhig wie am Vortag in der Sonne. Die Wachen dort und am Stadttor waren zweifellos echte Menschen und aus dem Heerlager drangen auch die einem Heerlager angemessenen Geräusche. Das Heer der Hannaiim hatte gerade bei den Kriegsmaschinen Stellung bezogen, um die Gegner zum Kampf herauszufordern. Am südöstlichen Rand der Ebene war eine kleine Staubwolke zu sehen, zu klein für eine Reitermellim oder gar ein Heer. Im Süden lag das Lager der Hannaiim, auch dort keine Spur von feindlichen Einheiten.
 

Amemna warf Nefut einen fragenden Blick zu. Nefut zuckte mit den Schultern. "Laß uns zurückkehren und Bericht erstatten", schlug er vor und Amemna nickte. "Laßt uns zurrückkehrren", befahl sie.
 

*
 

Als sie das Dorf wieder erreichten, waren inzwischen die Ställe und die Teile von Häusern niedergerissen worden, die an die Felswand gebaut waren. Aber ein Geheimgang war bisher nicht entdeckt worden, alles schien massiver Fels zu sein.
 

Der Melack schwieg nach Amemnas Bericht zunächst verblüfft, aber auch er kam zu dem Schluß: "Irgend etwas ist hier faul."
 

Nefut kam ein unangenehmer Verdacht. "Ob die Reiterei der Tetraosi in kleinen Gruppen ausgesandt wurde, Entsatz zu besorgen, Herr?" fragte er den Melack langsam. "Und wir wurden abgelenkt, um die vereinzelten Reiter nicht abzufangen?" Das würde auch die kleine Staubwolke am südöstlichen Ebenenrand erklären. Wenn die Entsatztruppen schnell genug anrückten, konnte das Lager der Hannaiim leicht selbst belagert werden. Verbündete gegen Hannai fand Tetraos vermutlich genug, da die Expansionspolitik des Königs unbeliebt war. So viel hatten sogar die Stammeslosen in der Wüste von der aktuellen Politik mitbekommen.
 

Der Melack grübelte und Nefut vermutete, daß er ähnliche Gedanken wälzte.
 

"Das hieße aberr doch, daß die Hannaiim in derr Falle sitzen, wenn sie nicht rrechtzeitig nach Süden abziehen können", ließ sich Amemna leise vernehmen. "Im Westen das sumpfige Delta, im Norrden und Osten das Gebirrge und aus dem Süden neue Feinde..."
 

"Richtig", bestätigte Nefut und auch der Melack nickte sorgenvoll. "Das hieße, daß die Hannaiim und ihre Hilfstruppen in der Falle sitzen."
 

Der Melack rief unverzüglich seinen Zweiten, befahl ihm, mit den Resten zweier Wannimin das Dorf zu bewachen und ließ zum Aufbruch blasen. Diesmal ritten sie quer über die Ebene, um die Truppen der Hannaiim schnell zu erreichen und dem Feldherrn zu berichten.
 

*
 

Das Heer der Hannaiim stand trotz der beginnenden Mittagshitze noch immer kampfbereit vor Tetraos, und noch immer ließen sich die Truppen der Tetraosi nicht hervorlocken, obwohl die Leichtbewaffneten anscheinend schon einige Male mit Schleudern und Bögen auf das Heerlager und die Stadtmauer der Tetraosi geschossen hatten. Als sie die Stellung erreicht hatten, betrachtete der Melack kurz den Wanack und seinen Zweiten, forderte dann Amemna auf, ihn zu begleiten und ging mit ihr zum Feldherrn der Hannaiim.
 

Nefut und die beiden Mawati brachten die Pferde zu einem schattigen Unterstand nahe den Kriegsmaschinen. Dann versuchte Nefut zu erkennen, was unter dem in einiger Entfernung für den Feldherrn und seine Berater aufgespannten Baldachin vorging. Der Schwarze Wanack stand plötzlich neben ihm und grüßte mit "Nane'Hawat", das Nefut mit einem "Den Segen Tyrimas für dich", erwiderte.
 

Der schwarzhäutige Mann lachte, zeigte seine weißen Zähne und hob den Blick kurz zur Sonne. "Die Himmelskönigin seigt kerrade ihrre Krrallen", sagte er mit schwerem Akzent.
 

Nefut mußte daraufhin lächeln. Die Südländer stellten Tyrima in der Gestalt einer Löwin dar. Der Mann hatte anscheinend wirklich Humor.
 

"Ich bin Adí W'schad", sagte der schwarze Wanack nun und verneigte sich nach der Art der Südländer. "Du hast dirr kesterrn Sorrgen um deinen Wanack kemacht", stellte er dann fest.
 

Nefut biß die Zähne aufeinander. Wieso mußte er sich vor einem Fremden für sein Verhalten am Vortag rechtfertigen? Aber er verneigte sich nach Osheysitte und erwiderte mit neutraler Stimme: "Ich bin Nefut von Bussir, Prinz W'schad."
 

"Dein Wanack ist noch sehr jung, aber err hat kute Ideen." Der Blick des schwarzen Prinzen hatte etwas Taxierendes.
 

"Ja, das hat s..er." Nefut bemühte sich, sich den Versprecher nicht anmerken zu lassen. Glücklicherweise waren Oremar und Derhan außer Hörweite. Sein Blick schweifte wieder zum Baldachin, aber darunter konnte Nefut auf die Entfernung nur Schatten erkennen.
 

Auch der Schwarze Wanack sah jetzt hinüber zum Baldachin, kniff die Augen zusammen und sagte: "Sie strreiten. Das ist kein kutes Seichen."
 

Nefut mußte ihm recht geben.
 

"Anscheinend bewunderrt err dich sehrr, Wüstenmann."
 

Natürlich meinte er Amemna. "Wie kommt ihr darauf, Prinz?"
 

"Es ist die Arrt, wie err kesterrn von dirr sprrach. Solche Worrte habe ich bisherr nurr von Söhnen und Enkeln über einen anderren Mann kehörrt."
 

"Nie von Geliebten über ihren Liebhaber?" fragte Nefut neugierig zurück.
 

Der schwarze Mann lachte herzlich. "Ich habe noch nicht viel mit Ostmännerrn kerredet." Offenbar verstand er Nefuts Frage als Scherz und das war wohl auch besser so.
 

"Vermutlich hat er einfach Heimweh", überlegte Nefut laut. "Er hat sich wohl gefreut, wieder einmal die Sprache seiner Kindheit sprechen zu können." Wie hatte er angesichts der Unterhaltung zwischen Amemna und diesem Mann nur so eifersüchtig werden können?
 

"Err hat mirr kesagt, daß err eurre Wüstensprrache nicht kerrn benutzt."
 

"Man merkt bisweilen, daß er nicht als Oshey aufgewachsen ist", gab Nefut diplomatisch zurück.
 

"Du benimmst dich nicht nurr wie sein Lehrrerr, du klingst auch so." Und wieder lachte Prinz W'schad, aber dann verschwanden die strahlendweißen Zahnreihen plötzlich und er zog ernst die Augenbrauen zusammen. "Derr Melack und Tk'awla kommen wiederr." Der Schwarze Wanack kannte also den Südländernamen von Amemna.
 

Der Melack machte ein finsteres Gesicht, als er zu seiner wartenden Mellim zurückkehrte, Amemna sah eher nachdenklich aus. Die Wunakim und einige der Zweiten scharten sich um den Melack, als er bei den Kriegsmaschinen angekommen war. "Der angebliche Überläufer ist natürlich unauffindbar, aber unseren Feldherrn stört das nicht", grollte der Melack. "Er sagt, er stünde in Verhandlungen mit Gegnern des Königs und die Übergabe der Stadt an ihn sei nur noch eine Frage von Stunden. Von einem Entsatzheer hätten die Hannaiim nichts zu befürchten. Und uns hat er zurück ins Lager geschickt."
 

"Die berittenen Hilfstruppen?" vergewisserte Nefut sich.
 

"Alle Söldner und einen Teil des Heeres", präzisierte der Melack. "Nur die Kriegsmaschinen und ihre Bedeckung bleiben hier. Wenn er sie benutzen würde, könnte er die Verhandungen mit den Gegnern des Königs sicher beschleunigen. Wozu hat er die Ingenieure und das ganze Holz hierher mitgenommen, wenn er die Maschinen, nun, da sie endlich fertig sind, gar nicht einsetzen will?"
 

Ein Raunen ging durch die Runde der Wunakim und ihrer Zweiten. Viele der Männer, die zum größten Teil in Nefuts Alter waren, fanden recht abschätzige Bezeichungen für den Feldherrn, der Kriegsmaschinen anscheinend nur zur Dekoration seines Feldzuges einsetzte und sein Amt wohl allein der Tatsache verdankte, daß er der älteste Sohn des Königs von Hannai war. Nefut schloß sich dieser Einschätzung im Stillen an. Da allerdings die Soldaten, die seit dem Morgen wieder einmal vergeblich darauf warteten, daß der Kampf gegen die Tetraosi begann, sich offensichtlich langweilten und inzwischen unter der Mittagshitze litten, war es andererseits wohl eine vernünftige Entscheidung des Feldherrn gewesen, sie für heute zurück ins Lager zu schicken.
 

*
 

Noch bevor die Mawati die Unterstände für ihre Pferde erreicht hatten, entschuldigte Oremar sich bei Nefut. Er wollte den freien Nachmittag bei den Männern der benachbart lagernden Wannim verbringen. Nefut hatte gehofft, daß sich Oremars Unbehagen in Amemnas Nähe bald wieder legen würde, aber Oremar hielt weiterhin auffällig Abstand von seinem Wanack und inzwischen sogar zunehmend von seiner Wannim.
 

Als Oremar verschwunden und auch Amemna bereits zu den Zelten gegangen war, versorgten Derhan und Nefut gemeinsam die Pferde. "Derhan", versuchte Nefut ein Gespräch zu beginnen, aber Derhan hatte für ihnnicht mehr als einen finsteren Blick übrig. Nefut war es nicht gewohnt, Entschuldigungen vorbringen zu müssen. Gewöhnlich handelte er ausschließlich so, wie er es vor sich und den Göttern verantworten konnte. Gestern allerdings war er ein anderer Mensch gewesen, als hätte er unter dem Einfluß eines Fluches gestanden. Er stellte sich Derhan in den Weg, als dieser Amemnas Stute zu trinken gegeben hatte und hielt ihn an den Schultern fest, als Derhan ausweichen wollte. "Derhan... ich möchte mich bei dir entschuldigen", sagte er dann leise.
 

Derhan sah sehr überrascht zu ihm hoch. "Wie komme ich zu der Ehre einer Entschuldigung, Herr?"
 

Die ehrerbietige Anrede, die Derhan für gewöhnlich nicht benutzte, klang wie Hohn in Nefuts Ohren. Aber Nefut schluckte die zornige Erwiderung darauf mühsam herunter. "Derhan, ich war gestern außer mir vor Zorn, und dummerweise bist du mir zum falschen Zeitpunkt in den Weg geraten." Das war nicht sehr glücklich formuliert, fiel Nefut dann auf. Er ließ Derhan los. "Durch eine beiläufige Bemerkung, die ich vor einigen Jahren aufgeschnappt habe, hatte ich ein Mittel an der Hand, dich zu kränken", setzte er neu an. "Es ist unverzeihlich, daß ich davon Gebrauch gemacht habe, aber ich kann meine Worte leider nicht ungesagt machen."
 

Derhan schwieg dazu, sah zu Nefuts linker Schulter.
 

Nefut wurde bewußt, daß er Mantel und Untergewand ein Stück zur Seite geschoben hatte, um eine juckende Stelle an seiner Schulter zu reiben. Im Badezelt hatte er gestern festgestellt, daß man Amemnas Zahnabdrücke an der Schulter deutlich erkennen konnte. Bemüht, die Stelle nicht zu hastig zu verdecken, schob Nefut Untergewand und Mantel wieder darüber. Dann fragte er noch einmal: "Derhan, ist es dir möglich, meine Entschuldigung anzunehmen?"
 

"Nefut, ist es dir möglich, die Auswirkungen deiner Eifersucht auf denjenigen zu beschränken, den sie betreffen?" fragte Derhan ernst zurück.
 

Nefut atmete tief durch, um sich zurückzuhalten, Derhan an die Kehle zu gehen. Anscheinend wußte Derhan über Nefuts Affäre mit Amemna Bescheid, auch wenn er nicht wissen konnte, daß sie eine Frau, nun ja, ein zweigeschlechtliches Wesen war. Wenn Derhan weiterhin Grund zu einem Konflikt mit Nefut hatte, verbreitete er vielleicht, daß Nefut Liebhaber eines Mannes war. Das würde Nefuts Ansehen bei den beiden Mawati, die davon noch nichts wußten, zunichte machen. Insbesondere für seinen treuen Hamarem würde eine Welt zusammenbrechen, wenn er erfuhr, daß Nefut so weit von den Geboten der Weisen und Heiligen abgewichen war. "Derhan, ich verspreche dir, mein Liebesleben wieder so strikt von meinem Umgang mit Dir zu trennen, wie das in der Vergangenheit der Fall war."
 

"Damit muß ich vorerst wohl zufrieden sein", gab Derhan zurück. Ohne das für ihn sonst übliche schelmische Lächeln verneigte er sich vor Nefut und ging, um den Wassereimer für Amemnas Stute erneut zu füllen.
 

* * *
 

22. Unerfahrenheit

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

22. Unerfahrenheit (jugendfrei)

Hamarem wurde durch heftiges Rütteln an seiner Schulter geweckt. Er drehte sich um und sah in Derhans besorgtes Gesicht. "Was ist los mit dir, Hamarem?" fragte Derhan, beugte sich etwas tiefer über ihn, zog die Lider von Hamarems linkem Auge auseinander und musterte es kritisch. "Immerhin kein Stechapfelsud", murmelte der Kahlrasierte dann, so daß es wohl nur Hamarem hören konnte.
 

"Was ist mit ihm, Derhan?" fragte Nefut aus einiger Entfernung. Er stand neben dem Herdfeuer.
 

Hamarem rappelte sich auf. "Entschuldigt, Herr. Ich habe mich nur für einen Moment zur Ruhe gelegt und muß wohl eingeschlafen sein", antwortet er für sich selbst, erschrocken darüber, daß die anderen bereits zurückgekehrt waren. Es mußte also schon Abend sein. Und er fühlte sich kein bißchen erholt, obwohl er sich doch schon zur Mittagsstunde wieder in das Mawatizelt begeben hatte. Dann sah er Nefuts prüfenden Blick zu den Vorräten und ihm fiel ein, daß er weder das Nachtessen vorbereitet, noch die Einkäufe gemacht hatte. Nun würde der Markt bereits leergekauft sein. Er hatte als Wirtschafter vollständig versagt, und das nur, weil die Verzweiflung über das Verhältnis seiner Herren wie ein Steinschlag auf ihn niedergegangen war und er einfach nicht mehr die Kraft gehabt hatte, etwas anderes zu tun, als sich zu seinem Lager zu schleppen.
 

"Er ist krank", sagte Derhan zu Nefut und erhob sich. "Er ist ganz blaß und sein Puls ist sehr flach." Aber Hamarem hätte doch bemerken müssen, wenn Derhan ihn zum Pulsmessen berührt hätte.
 

"Dann kümmere dich um ihn, Derhan", befahl Nefut. "Soweit ich weiß, findet heute der Markt statt. Ich werde Vorräte kaufen gehen, denn ich denke nicht, daß wir mit den Resten hier weit kommen werden."
 

"Aber...", begann Hamarem leise, doch Derhan sah auf ihn herunter und schüttelte den Kopf.
 

"Du brauchst Entspannung... Ablenkung vielleicht auch", sagte er mit gedämpfter Stimme zu Hamarem und laut zu Nefut, der sein Geld noch zählte: "Ich werde mit ihm in das Zelt des Ungenannten gehen, die haben fähige Ärzte und Apotheker."
 

"Mach, was du für richtig hältst, Derhan. Ich vertraue voll und ganz auf deine Einschätzung der Lage." Nefut warf Derhan einen seltsamen Blick zu und verließ dann das Mawatizelt.
 

Hamarem stützte den Kopf in die Hände. Ihm war ganz schwindelig. "Laß mich einfach allein und weiterschlafen", bat er Derhan.
 

Derhan grinste ihn an. "Die Mittagsstunde ist gerade erst verstrichen. Schlafen kannst du später noch, zuerst die Medizin." Er nahm das Ma'ouwati-Tuch und den Mantel vom Boden auf und reichte sie Hamarem. Die Kräfte um Derhan zeigten, daß er viel gelassener war, als am Vorabend, ja, ihn umgab eine Art freudiger Erregung, die keinerlei Gefahr für Hamarem beinhaltete. Er sollte Derhan wohl einfach vertrauen und ihn machen lassen. Also zog Hamarem sich an und begab sich mit Derhan wieder in das Zentrum des Lagers, zu den Zelten der Priester.
 

Sie erreichten das Zelt, in dem die Priester des Ungenannten untergebracht waren – und sie gingen daran vorbei. Bevor Hamarem protestieren konnte, erklärte Derhan: "Ich mußte doch Nefut irgendetwas erzählen. Tatsächlich sind wir auf dem Weg in ein anderes Zelt."
 

Hamarem kam ein Verdacht und er blieb stehen. "Du meinst nicht das Zelt der Ama, oder?"
 

"Doch, genau das meine ich. Aber wir gehen nicht sofort dort hin, sondern erst einmal ins Badezelt." Derhan griff nach Hamarems Ärmel und zog ihn weiter. "Und komm nur nicht auf die Idee, dagegen zu protestieren. Ich bin es leid, jede Nacht zu sehen, wie du deine Hand die Arbeit einer Frau tun läßt. Ich bin es leid, deine sehnsüchtigen Seufzer zu hören, wenn du..." Derhan unterbrach sich plötzlich. "Und ich bin der Überzeugung, jeder gesunde, erwachsene Mann sollte einmal das Lager mit einer Frau geteilt haben."
 

Hamarem fiel die Bemerkung des Orempriesters wieder ein. Vielleicht war das die Gelegenheit, von der er gesprochen hatte, und nicht die spätestens seit der vergangenen Nacht in unendlich weite Ferne gerückte Aussicht, einmal mit Amemna die Zweisamkeit zu pflegen. Vielleicht hatte Derhan wirklich recht, und im Amazelt fand er das Heilmittel für seine Sehnsüchte. Die Göttin mochte einem verzweifelt Begehrenden tatsächlich helfen können. Und Hamarem ließ sich von Derhan bereitwillig zum Badezelt führen.
 

*
 

Das warme Wasser hatte Hamarem angenehm entspannt und nun war er neugierig auf jenes höchste Entzücken, von dem der alte Priester gesprochen hatte. Das Zelt der Ama war fürstlich geschmückt, der Boden des schattigen Eingangsbereichs war mit dicken Teppichen bedeckt und an der rechten Seite stand eine blumengeschmückte Amastatue. Eine quergespannte Zeltbahn verwehrte den Blick in die hinteren Bereiche. Das Zelt sah fast aus wie jenes, in dem Hamarem Nefut den Jungen bereits zwei mal zum Spielen aufgesucht hatte, nur war es bedeutend größer. Trotz aller Neugierde auf das 'höchste Entzücken', zögerte Hamarem, das Zelt zu betreten, blieb einen Schritt hinter Derhan zurück und sandte ein stummes Gebet an Orem. Derhan drehte sich alarmiert zu ihm um, war aber sogleich beruhigt, als Hamarem nach einem tiefen Atemzug das Zelt der Ama doch betrat. "Was wird nun von uns erwartet?" fragte Hamarem seinen Begleiter flüsternd.
 

"Warte einfach ab", riet Derhan ihm, zog die Sandalen aus und ließ sich entspannt auf den weichen Teppich nieder.
 

Hamarem setzte sich etwas zögernd neben ihn. Er bemerkte, wie sich ein schmaler Schlitz in der quergespannten Zeltwand öffnete und wieder schloß. Mädchenhaftes Kichern war zu hören, das Klingeln von Schmuck, dann eine leise, ermahnende Frauenstimme, deren Worte man nicht verstand. Leises Vogelgezwitscher und der Hauch von Weihrauch zogen aus dem Inneren des Zeltes zu ihm.
 

"Seid gegrüßt im Zelt der Ama", begrüßte sie plötzlich eine Frau, wie eine vornehme Städterin in ein golddurchwirktes Kleid gewickelt, aber ohne einen Schleier auf den glänzenden, schwarzgelockten Haaren.
 

Derhan erhob und verneigte sich und reichte der Frau dann zwei Silbermünzen. "Mein Freund und ich wollen der Göttin opfern."
 

Die Frau musterte ihn und Hamarem für einen Moment. "Ihr meint ein vierfaches Opfer?" vergewisserte sie sich dann.
 

Hamarem vermutete, daß damit wohl gemeint war, daß er und Derhan gemeinsam zwei der Frauen, die hier im Amazelt dienten, beiwohnen sollten. Er schluckte, denn der tatsächliche Weg zum höchsten Entzücken wich immer mehr von Hamarems eigenen Vorstellungen dahin ab. Derhan bemerkte Hamarems Unbehagen ganz offensichtlich, grinste ihn an und sagte der Frau dann: "Ich denke, es werden eher zwei zweifache Opfer."
 

Die Frau nickte, schnipste mit den Fingern und eine weitere Frau trat hinter dem Sichtschutz hervor, einige Jahre jünger, mit sehr heller Haut und einen einfach geschnittenen Kleid aus hellblauem Stoff. Ihre Arm- und Fußreifen klingelten leise, als sie auf bloßen Füßen über den Teppich schritt. "Seid gegrüßt im Zelt der Ama", begrüßte auch sie Hamarem und Derhan. Ihrem Blick war kein Wiedererkennen zu entnehmen, als sie Hamarem ansah, aber es war ohne Zweifel die Frau, die bei ihrer ersten Partie Bohnenspiel Nefut den Jungen im Auftrag seiner Mutter abgeholt hatte.
 

Die beiden Frauen führten Hamarem und Derhan hinter den Sichtschutz. Dahinter war eine weitere Stoffbahn gespannt, so daß es nur ein schmaler Gang war, den die jüngere Frau mit Derhan nach rechts, die ältere mit Hamarem nach links ging. Noch weitere, teilweise an Zeltstützen befestigte übermannshohe Stoffbahnen machten das Innere des Zeltes zu einer Art Labyrinth. Mit dem hohen Zeltdach war es jedoch trotzdem hell genug im Zelt, um sogar das Muster der Teppiche erkennen zu können. Und nach einer weiteren Biege standen sie neben einem mit Kissen und kostbaren Decken verschwenderisch ausgestattetes Lager, das rund herum von Stoffbahnen umspannt war. Weihrauchduft steckte in den Kissen und Decken, und eine kleine Räucherschale hing von einer der Querstreben des Zeltes. Die Frau zog aus einer Falte ihres Kleides ein kleines Stück Weihrauch, daß sie in die glimmende Holzkohle legte.
 

Hamarem entspannte sich etwas, auch im Oremheiligtum hatte man zum Lobe des Gottes diese Art von Weihrauch verbrannt. Trotzdem war ihm ganz flau, als es nun drohte, ernst zu werden. "Was machen wir jetzt?" fragte er flüsternd.
 

Die Frau lächelte und Hamarem meinte, eine deutliche Ähnlichkeit mit Nefut dem Jungen feststellen zu können. Auch die Linien der Kräfte um sie waren ähnlich ruhig, wie die Nefuts. Sie mochte so alt sein wie Hamarem, also alt genug, um einen zehnjährgen Sohn zu haben. "WIR machen gar nichts, Herr", sagte die Frau kopfschüttelnd. "Ich schicke euch eine der jungen Frauen, die heute den Dienst an der Göttin verrichten." Die Frau bat ihn, sich auf einem der Sitzkissen niederzulassen und ging hinaus in das Labyrinth.
 

Hamarem blieb stehen, rieb nervös seine Hände, trat von einem Fuß auf den anderen, ging auf dem sehr weichen Teppich hin und her. Er sah zu der Weihrauchschale, aus der sich der weißliche Rauch kringelte, wedelte ihn mit der Hand heran und sog den Duft ein, um wieder zur Ruhe zu kommen. Doch schon nach kurzer Zeit kam eine junge, sehr hübsche Oshey in traditioneller Kleidung zu ihm. Ob das die Frau war, die mit ihm der Göttin ein Opfer bringen wollte? Auch sie trug keinen Schleier, offenbar war das üblich für die Dienerinnen Amas. Sie hatte eine metallene Kanne und einen Becher in der Hand, verneigte sich vor Hamarem und sagte leise. "Es ist üblich, einen Willkommenstrunk entgegenzunehmen, Herr." Und sie reichte Hamarem den Becher, füllte ihn zur Hälfte aus der Kanne und verharrte dann erwartungsvoll.
 

Hamarem roch das Kräuteraroma des Willkommentrunkes und vermutete, daß er einige aphrodisierende Drogen enthielt. Es mußte ja irgendwie sichergestellt werden, daß die Opfer an Ama auch tatsächlich erfolgten, selbst wenn die Männer so nervös waren wie Hamarem im Moment. Nach einem Moment des Zögerns führte Hamarem den Becher zum Mund und trank das angenehm aromatisierte Wasser. Er reichte der jungen Frau den leeren Becher zurück, sie trank nun ebenfalls und stellte die Kanne und den Becher dann hinaus in das Labyrinth. "Bitte setzt euch, Herr", sagte sie dann freundlich und kniete sich neben das Lager. Ihre Wangen waren gerötet und die Kräfte um sie zeigten ihre eigene Nervosität. Das beruhigte Hamarem seltsamerweise sehr. Er kniete sich der jungen Frau gegenüber. "Darf ich euren Namen wissen, Herrin?" fragte erleise.
 

Die junge Frau errötete noch mehr, senkte den Blick ihrer dunkel geschminkten Augen und flüsterte: "Nennt mich Karit, Herr."
 

"Mein Name ist Hamarem", gab Hamarem zurück.
 

"'Diener der Ama'? Das ist ein gutes Vorzeichen", sagte Karit bestimmt, lächelte Hamarem überaus herzlich an und senkte gleich darauf wieder scheu den Kopf.
 

"Bist du eine Priesterin der Göttin, Karit?" wollte Hamarem neugierig wissen.
 

Karit sah wieder auf, schüttelte den Kopf. "Nein, ich diene ihr nur für ein paar Jahre. Die Frau, die dich hierherbrachte ist die Priesterin... sie sagte... stimmt es..." Karit senkte wieder den Kopf, aber ihre Augen ruhten weiterhin auf Hamarems Gesicht. "Bist du wirklich noch unerfahren?"
 

Nun errötete Hamarem. Aber er hätte sich denken können, daß ihn eine Priesterin der Ama schnell durchschauen würde. "Ja, die Priesterin hat recht. Ich bin noch unerfahren. Aber du weißt, was wir tun müssen, um der Göttin zu opfern, nicht wahr?"
 

Nun schaute Karit wieder auf, strahlte Hamarem an. "Natürlich weiß ich es, Hamarem." Sie löste seinen Gürtel, griff nach seinen Schultern und streifte ihm den Mantel ab, und begann dann, ihr langärmeliges, bunt gemustertes Kleid aufzuknöpfen. Die Knopfreihe war lang, sie reichte von ihrem Hals bis zu ihrem Schoß, und sie knöpfte jeden einzelnen der dicht an dicht sitzenden Knöpfe mit großer Sorgfalt auf. Langsam enthüllte sie die kleine Grube unterhalb ihrer Kehle, dann wurden die Rundungen ihrer Brüste sichtbar, ihr Leib und endlich ihr Bauchnabel. Neben den Weihrauchgeruch nahm Hamarem einen zarten Duft wahr, der Karit selbst entströmen mußte. Er beugte sich vor, um festzustellen, ob es ihr Haar war oder die Haut, die so verführerisch duftete.
 

Karit neigte sich ihm entgegen, zog ihr geöffnetes Kleid auseinander, damit er an ihren Brüsten und ihrem Bauch riechen konnte, aber der Duft schien vor allem von einer noch verborgenen Stelle auszugehen. Er erregte Hamarem über alle Maßen. Dann zog Karit die Arme aus ihrem Kleid und ließ den Stoff auf ihre Hüften rutschen.
 

Voller Bewunderung betrachtete Hamarem ihren schönen Leib, die beiden Brüste. Zögernd streckte er eine Hand aus, um sie zu berühren und Karit ergriff seine Hand und führte sie über ihren Körper. Karits weiche Nachgiebigkeit faszinierte Hamarem. Karit seufzte leise, und das schien der erregendste Laut zu sein, den Hamarem je gehört hatte.
 

Karit stand auf, ließ ihr Kleid über ihr Gesäß und an ihren Beinen entlang zu Boden rutschen. So hatte Hamarem nun ihren Bauchnabel vor Augen, darunter war, mit roter Tinte, ein Gebet an Ama auf die Haut geschrieben. Karits Schoß entströmte der zauberhafte Geruch, der Hamarem so entflammte. Er neigte den Kopf, sog Karits Duft tief ein, dann streichelte er ehrfürchtig die zarte, haarlose Rundung, drückte einen Kuß darauf.
 

"Steh auf", forderte Karit Hamarem auf, hob den Saum seines Untergewandes, als er auf den Füßen stand, und drückte sich eng an ihn, als sie es ihm über den Kopf zog. Die Wärme ihrer Haut zu spüren, war ungeheuer aufregend. Er löste seine Arme aus dem Untergewand und umarmte Karits weiche Schultern, fühlte ihren Herzschlag an seiner Brust. Ihr feines, schwarzes Haar kitzelte ihn an der Nase. Karits Hände strichen über seinen Rücken, hinab zu seinem Gesäß. "Du bist ein schöner Mann", flüsterte sie neben seinem Hals, küßte ihn auf die Schulter.
 

Hamarem ergab sich den wohligen Schauern, die ihn durchflossen.

...

Karit schlang ihre Beine um Hamarem und lächelte ihn an. "Laß uns der Göttin unser Opfer bringen, Hamarem."
 

Die Ströme der Kräfte um Karit schienen zu glühen und begannen, auch Hamarem zu umspinnen.

...

bis Karit sich plötzlich entspannte, einen langen, befriedigten Seufzer ausstieß und Hamarem ein rauschhaftes Kribbeln im ganzen Körper spürte, daß er noch nicht kannte. Erst dann löste Karit sich zögernd von Hamarem, legte sich auf das Lager und zog Hamarem neben sich.
 

Hamarem fühlte sich erschöpft, aber so unendlich befriedigt, daß er den Verdacht hatte, das höchste Entzücken gerade kennengelernt zu haben. Was war dagegen ein Traum oder die Vorstellung, mit dem begehrten Menschen die Lust zu teilen, wenn es dann doch nur das eigene Gefühl war, das man wahrnahm. Nun jedoch teilte er auch Karits Gefühle, ein doppelter Lohn für das gemeinsame Werk. In einer spontanen Eingebung drehte er sich zu Karit und küßte sie sanft auf die Lippen. Und auf ihren überraschten Blick hin fiel ihm nichts anderes ein, als leise die Worte aus einem beliebten Liebeslied der Stämme zu singen: "Und allein dich anzusehen, entflammt mein Herz und dich zu küssen bringt mich um den Verstand."
 

Ein wohliges Gefühl, wie das Schnurren einer Katze, ging von Karit aus. "Sing es ganz, ich bitte dich. Du hast eine so wunderbare Stimme."
 

Und Hamarem sang das Lied, fast flüsternd, nur für Karit, die ihren Kopf auf seine Brust bettete und ihn so verliebt ansah, daß Hamarem für einen Moment dachte, die Göttin selbst hätte hier die Hand im Spiel.
 

* * *
 

23. Der Verrat

Als Nefut mit den Einkäufen zum Mawatizelt zurückkehrte, sah er, daß Amemna in ihrem Zelt saß und in ihre Schriftrolle schrieb. Er verstaute die Lebensmittel und ging zu ihr.
 

Amemna sah nur kurz auf. "Ich bin gleich ferrtig", versprach sie.
 

Nefut sah ihr neugierig über die Schulter und sah erstmals die Schriftzeichen, die sie in der Papyrusrolle verwendete: es waren die heiligen Zeichen der Hawatpriesterinnen, mit denen Schelschér vor dem Akt ihren Körper zu bemalen pflegte. Nefut erkannte einige der Zeichen zweifelsfrei wieder. Hamarem hatte erzählt, daß Amemna Ama unter dem Namen Hawat verehrte, aber die heiligen Zeichen waren auch im Süden kein Allgemeingut, soweit Nefut wußte. "Woher kennst du die heiligen Zeichen der Hawatpriesterinnen?" fragte er neugierig.
 

Amemna drehte sich zu Nefut um. "Woherr kennst denn du die heiligen Zeichen derr Hawatprriesterrinnen, Oshey?" fragte sie mit einem provozierenden Lächeln auf den Lippen zurück.
 

"Ich habe eine Priesterin der Hawat kennengelernt", antwortete Nefut also, um Amemnas Antwort zu hören.
 

Amemna lehnte sich nach hinten, an Nefut, bewegte sich hin und her und rieb so an Nefuts Geschlecht. "Meine Kindheit verrbrrachte ich in einem Heiligtum derr Göttin auf 'Trrittstein derr Himmelskönigin'. Und auch wenn die Insel durrch ihrren Namen mit Tyrrima verrbunden ist, dorrt gibt es ein Heiligtum derr Grroßen Mutterr, die in Ma'ouwat Hawat heißt. Dorrt lerrnte ich die Schrriftzeichen und studierrte die Fünfhunderrt Künste."
 

Nefut konnte sich nicht gut auf ihre Worte konzentrieren, als sie ihr Reiben verstärkte und seine Genitalien darauf bereitwillig antworteten. Sie mußte seine Erregung spüren, aber nun schrieb sie wieder in ihrer Schriftrolle. Nefut ließ sich auf die Knie nieder, vergrub das Gesicht in ihrem duftenden Haar, griff um sie herum nach ihren Brüsten und wenig später nahm er sie von hinten.
 

*
 

Als Nefut sich von Amemna löste und auf ihren Lager niederließ, drehte auch sie sich um und setzte sich ihm gegenüber. Diesmal bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck, als sein Blick auf ihr noch aufgerichtetes Glied fiel. Nefut verfluchte im Stillen sein Unvermögen, in solchen Dingen seine Gefühle zu verbergen - und immer wieder zu vergessen, daß er nach dem Akt eben nicht den Blick zu Amemnas Schoß schweifen lassen sollte, wollte er nicht daran erinnern werden, daß sie dort ebenso aussah, wie er selbst. Aber Amemna lächelte nur und bedeckte ihre anstößige Blöße, indem sie ihr Untergewand darüber legte. Sie rückte näher an Nefut, umarmte ihn sanft und legte ihr Kinn auf seine Schulter.
 

"Wir sollten uns wieder anziehen, Wanack", sagte Nefut entschieden. "Ich habe Hunger und notfalls werde ich selbst ein Nachtessen bereiten, wenn Derhan und Hamarem noch nicht zurückgekehrt sind."
 

Amemna schloß die Arme fester um Nefut, küßte ihn auf den fast verheilten Biß, den sie ihm zwei Nächte zuvor im Badehaus zugefügt hatte. Dieser Biß hatte offenbar Derhans bloßen Verdacht über Nefuts Affäre mit seinem Wanack bestätigt. "Wie es ihm wohl keht?" murmelte Amemna.
 

Nefut, der gerade feststellte, wie der Duft von Amemnas unglaublich weichen, weißen Haaren wieder begann, seine Sinne zu verwirren, fragte: "Wie es wem geht?" Er merkte, wie Amemna sich förmlich zusammenriß, um deutlich zu sprechen. "Ich meine Hamarrem. Du hast gesagt, err wärre krrank und Derrhan sei mit ihm in das Zelt des Ungenannten gegangen."
 

"Hm", brummte Nefut nur, sog Amemnas Duft ein und verdrängte ohne Mühe die einen Augenblick lang aufflammende Eifersucht auf Hamarem, denn dieser Gedanke war einfach absurd.
 

*
 

Als Nefut und Amemna schließlich das Mawatizelt betraten, war es trotz der späten Stunde verlassen. Oremar befand sich anscheinend noch immer bei der benachbarten Wannim und auch Derhan und Hamarem waren bisher nicht zurückgekommen. Oremar zog sich in letzter Zeit auffällig zurück. Daß seine Furcht vor Amemna, die auf dem Schlachtfeld vor drei Tagen begonnen hatte, zu einer Auflösung der 'Mawati' führte, war beunruhigend. Nefut würde sich darum kümmern müssen. Nun kümmerte Nefut sich jedoch erst einmal um das Nachtessen, bereitete den Teig für das Brot vor und zerteilte das vor wenigen Stunden gekaufte frische Obst für sich selbst und Amemna. Dann buk er ein paar Brotfladen und auch nachdem Amemna und er sie verzehrt hatten waren die anderen Mawati noch nicht zurückgekehrt.
 

"Es ist schon dunkel", bemerkte Amemna, die neben dem Zelteingang stand, während Nefut das Kochgeschirr säuberte und beiseite stellte. "Und im Norrden brrennt es!" rief sie dann alarmiert.
 

Nefut eilte neben sie. Die Außenmauern der an den Berg geschmiegten Stadt die sie belagerten, wurden von einem flackernden, rötlichen Schimmer beleuchtet. Was konnte da brennen? "Die Kriegsmaschinen!" fiel Nefut ein. Da erklang auch schon der Alarm und Amemna und Nefut eilten zu den Pferdepferchen. Erst als sie bereits ihre Tiere gesattelt hatten, traf auch Oremar und die Wannim, mit der er den Nachmittag verbracht hatte, ein. Fast gleichzeitig führten die Südmänner ihre Pferde in der Nähe vorbei. Amemna lief auf einen kurzen Wink des Schwarzen Wanack hinüber und wechselte ein paar Worte mit ihm.
 

Nefut zog es das Herz zusammen, die beiden im Gespräch zu sehen. Er hatte das Gefühl, sich dazwischen werfen zu müssen, aber da kehrte Amemna zurück und der Schwarze Wanack setzte seinen Weg fort. "Was ist los?" fragte sie Nefut. Nefuts Gesicht fühlte sich heiß vor Zorn an und sicher zeichneten sich seine finsteren Gedanken deutlich darauf an. Er antwortete nicht, zog den Turban herunter, griff sich einen der Eimer, die für die Versorgung der Pferde gedacht waren und goß sich etwas von dem lauwarmen Wasser aus den bereitstehenden Bottichen zur Abkühlung über den Kopf. Er rieb seinen Bart und kämmte die nassen Strähnen seiner Haare mit den Fingern nach hinten, wickelte den Knoten neu. Jetzt war es besser! Was war nur in ihn gefahren? Wie konnte er nur auf ein kurzes Gespräch in der Öffentlichkeit, auf das Gespräch zwischen zwei Wunakim, so reagieren? Sein Kopf war wieder klar, aber der Duft von Amemna, der noch an seinem Bart gehaftet hatte, war leider verschwunden.
 

"Was ist mit dirr los, Nefut?" fragte Amemna noch einmal, diesmal schon ungehaltener.
 

"Wenn ich es nur wüßte", sagte er leise und band den Turban wieder um den Kopf. Dann griff Nefut nach den Zügeln seines Pferdes. Es war wie ein Fluch, wie die Strafe für die Wonnen, die Amemnas Duft verhieß... war das etwa der Duft der Unirdischen, der die Sterblichen verrückt machte? Dann war das Rätsel, warum seine Gedanken stets nur um Amemna kreisten, obwohl er ihr gerade beigewohnt hatte, gelöst. Er mußte an sie denken, gerade weil er eben noch bei ihr gelegen hatte und ihr Duft noch an ihm haftete und ihn benebelte. Zufrieden, in der Zukunft seine Begierden wieder kontrollieren zu können, stieg Nefut auf sein Pferd.
 

Derhan holte die Mawati ein, bevor sie auf dem Sammelplatz der berittenen Hilfstruppen vor dem Lager ihren Platz eingenommen hatten. Dort drüben waren die Söldner zu Fuß und ihre Befehlshaber, daneben stand der Melack der berittenen Söldner, alle mit besorgt in Falten gezogenen Stirnen. Aber wo waren die städischen Einheiten der Hannaiim? Und es gab keine Spur vom Feldherrn oder seinem Gefolge. Hier stank etwas gewaltig.
 

"Adí W'schad sagte mirr, daß auf seinerr Seite derr Pferrche alle Unterrstände leerr sind, in denen Pferrde derr städtischen Rreiterr Hannais standen", raunte Amemna ihrem Zweiten zu.
 

"Und wo sind sie dann? Oder meinst du mit 'leer' 'verlassen'?" vergewisserte Nefut sich.
 

Amemna nickte. "Die Pferrde, die heute morrgen noch in ihrren Unterrständen warren, als wirr uns aufmachten zu dem angeblichen Geheimverrsteck derr Tetrraosi, die Ausrrüstungen und sogarr die Decken zum Abrreiben derr Tierre sind weg, sagte err." Amemna verstummte, als der Melack sich zu seiner Mellim begab.
 

"Männer", begann der Melack seine Ansprache, "unsere Kriegsmaschinen wurden von den Tetraosi oder ihren neuen Verbündeten angezündet. Wir..."
 

"Was für neue Verbündete?" riefen einige Männer aus den Reihen.
 

"Wo ist der Feldherr?" riefen andere, und diese Frage entfachte ein beunruhigtes Raunen, das durch die Reihen ging. Anscheinend hatten die Hannaiim ihre Söldner einfach zurückgelassen, als die Lage durch das Entsatzheer bedrohlich zu werden schien.
 

"Hört zu!" befahl der Melack, und tatsächlich sank der Lärmpegel ein wenig. "Wir sind umschlossen. Nach den Berichten einiger Späher liegt im Süden das Entsatzheer für Tetraos, im Norden die Tetraosi und ihre alten Verbündeten. Wir müssen uns im Lager verschanzen und morgen versuchen, mit den Tetraosi zu verhandeln." Die Männer bombadierten ihren Melack mit Fragen, so daß Nefut reichlich Zeit für eigene Überlegungen hatte, während er den Blick über die von den Feuerschalen und dem rötlichen Schein der fernen, brennenden Kriegsmaschinen erhellten Sammelplatz vor dem Lager schweifen ließ. Die Hilfstruppen der Hannaiim waren vielleicht noch fünfhundert Mann, von ihrem Feldherrn verraten. Das Entsatzheer für die Tetraosi konnte nicht erst heute morgen angefordert worden sein, wenn es nun schon kampfbereit im Süden ihres Lagers stand. Der einzige Schluß war, daß die Ablenkung der berittenen Söldner am Morgen nicht den Tetraosi, sondern den Hannaiim Zeit verschaffen sollte. Anscheinend hatten sich die adligen Reiter Hannais in kleinen Gruppen davongeschlichen. Für das Entkommen der viel zahlreicheren Fußtruppen hatte der Feldherr der Hannaiim vielleicht tatsächlich Verhandlungen mit den Tetraosi geführt.
 

"Sie haben uns betrrogen", stieß Amemna leise hervor, so daß es wohl nur Nefut hören konnte. Nefut gab ihr Recht. "Immerhin haben wir wenigstens das Handgeld richtig erhalten", flüsterte er zurück. Vielleicht hatten die Hannaiim ursprünglich sogar vorgehabt, ihren Söldnern am kommenden Tag den Lohn für die ersten sieben Tage zu zahlen, allerdings war fraglich, ob das Geld überhaupt noch im Lager war.
 

Schließlich befahl der Melack seinen Männern, in das Lager zurückzukehren. Ihre Stimmung war eher verwirrt als zornig und das ließ Nefut hoffen, daß es diese Nacht ruhig blieb. Aber ein winziger Anlaß konnte wie ein Funken in einer Zunderbüchse wirken.
 

*
 

Als die Mawati ihr Zelt erreichten, war auch Hamarem zurückgekehrt. Er wirkte ein wenig benommen und abwesend, aber er lächelte den Hereinkommenden freundlich entgegen. Da Nefut nicht einschätzen konnte, ob er schon wieder ganz hergestellt war, sah er davon ab, Hamarem nach der Zukunft zu befragen und schließlich setzten sich Hamarem und Derhan an das Bohnenspiel. Nefut dagegen nahm angesichts des Ernstes der Lage sein Schwert hervor, um die Klinge zu polieren und zu ölen, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, das Schwert seit dem letzten Einölen im Kampf gezogen zu haben. Amemna setzte sich Nefut gegenüber, weit genug entfernt, daß Nefut der Duft der Unirdischen nicht erreichte, wie er beruhigt feststellte. Dann legte sie die Schlangenklinge auf ihren Schoß, zog die Scheide ab und begann ebenfalls, ihr Schwert zu pflegen.
 

"Wie bist du zu dieser wunderbaren Klinge gekommen, Wanack?" fragte Nefut und versuchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen und den Blick nicht zu begehrlich auf das Schwert zu richten. Eigentlich hätte es sein Erbe sein müssen... wenn Murhan ihn nicht verstoßen hätte.
 

Amemna hielt in ihrer Bewegung inne, ihre große Hand umklammerte das Schwertheft so heftig, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Dann lockerte sie ihren Griff langsam, fuhr mit dem Tuch einige Male über die Klinge. Ihre Bewegungen, konzentriert, kraftvoll, in einem Zug vom Heft bis zur Spitze der Klinge und zurück, erinnerten Nefut an seinen Vater. "Ich bekam es von meinem Ziehvaterr", sagte sie dann endlich. "Es warr sein Schwerrt und err hat es wohl auch einige Jahrre im Kampf benutzt."
 

Nefut senkte den Blick auf sein eigenes Schwert. Er erinnerte sich noch an die Jahre, in denen Murhan Darashy sich als Melack einer Söldnereinheit in verschiedenen Heeren der Städte nördlich der Wüste verdingt hatte. Bis Murhan einer Frau zu Gefallen zurückkehrte in seine Schmiede, einer Frau zuliebe, die auch nach der Geburt ihres ersten Kindes noch wahrhaft verführerisch gewesen war. "Ist Murhan Darashy tot?" fragte Nefut leise.
 

"Nein", hauchte Amemna und schüttelte den Kopf. Ein Tropfen fiel auf ihre polierende Hand. Sie weinte lautlos und Nefut ließ das Thema ruhen. Das einzige Mal, daß Nefut Amemna bisher hatte weinen sehen, war, als er des Nachts ein Gespräch zwischen ihr und Hamarem belauscht hatte und sie von dem Tod ihrer Ziehmutter, von Murhans dritter Frau, gesprochen hatte. Ob ihre Gedanken wieder zu diesem Vorfall zurückgewandert waren? Im Mawatizelt wagte Nefut es ohnehin nicht, sie tröstend in den Arm zu nehmen, doch er konnte sich auch nicht überwinden, Amemna aufzufordern, sich mit ihm in das Wanackzelt zurückzuziehen, denn wie sollte er verhindern, wieder ihrem unirdischen Duft zu erliegen?
 

* * *
 

24. Die fliegende Schlange

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

24. Die fliegende Schlange (jugendfrei)

Hamarem fühlte sich in eigenartiger Weise belebt. Er befand sich in Hochstimmung und hätte am liebsten allen im Zelt von seinen Erlebnissen mit Karit erzählt, aber natürlich konnte er nur mit Derhan darüber sprechen. Derhan jedoch gab Hamarem zunächst keine Gelegenheit, bis er plötzlich den Blick vom Spielplan hob, Hamarem eine Weile musterte und dann sehr zufrieden lächelte. "Es sieht aus, als ob es dir gefallen hat, Hamarem", sagte er leise.
 

Hamarem seufzte in Erinnerung an die genossenen Wonnen. "Auch wenn es nur an den Drogen im Willkommenstrunk gelegen haben mag, es war wirklich wunderbar."
 

Nun verzog Derhan das Gesicht zu einem breiten Grinsen. "So, du bist also auf den Geschmack gekommen. Aber ich kann dich beruhigen, meiner Erfahrung nach ist der Willkommenstrunk nicht unentbehrlich, um eine Frau zu beglücken."
 

"Wenn ich nur geahnt hätte, was ich verpasse, hätte ich...", doch dann brach Hamarem ab. Was hätte er dann getan? Bei den Stämmen gab es kein 'Zelt der Ama'. Wäre er nicht nach Harna gegangen, sondern hätte er versucht, mit einer der Dienerinnen der Temhalyprinzessin die Wonnen der Ama zu erkunden? Oder wäre er in Harna über eine der Traumdeutung suchenden jungen Frauen oder deren Dienerinnen hergefallen? Das waren absurde Vorstellungen. Er hatte sein Leben zwar bisher ohne die Freuden der Zweisamkeit gelebt, nun aber würde er nicht mehr darauf verzichten.
 

Derhan und er setzten das Spiel schweigend fort, beendeten es schließlich mit einem klaren Sieg Hamarems. Amemna hatte das Zelt schon verlassen, als Hamarem die Bohnen und den Spielplan wegpackte, Nefut las in den Schriften und Oremar schlief bereits. Hamarem und Derhan legten sich ebenfalls auf ihre Lager. "Meinst du, es ist das höchste Entzücken, das man in den Armen einer Frau erfährt?" flüsterte Hamarem, als ihm plötzlich die Worte des alten Priesters durch den Kopf gingen. Er selbst konnte sich zumindest an keinen Moment in seinem Leben erinnern, in dem er größeres Entzücken erlebt hatte, als gemeinsam mit Karit.
 

Derhan seufzte leise. "Für manche mag es das sein. Für mich war das höchste Entzücken, das Kind, das ich gezeugt hatte, in den Armen zu halten." Dann drehte er Hamarem den Rücken zu. Offensichtlich wollte er allein mit seiner Erinnerung sein. Also schwieg auch Hamarem.
 

Diese unglaubliche Haut von Karit, nachgiebig, anschmiegsam und so weich, daß es Hamarem schon glücklich gemacht hatte, sie nur zu streicheln. Und erst ihr Duft! Er mußte der Quelle dieses Duftes noch näher kommen, als es ihm heute gelungen war. Der Duft schien noch in der Luft zu liegen, zusammen mit dem Weihrauchduft, der Hamarems Untergewand entströmte. Er hob den Halsausschnitt an, um zu prüfen, ob sich unter seinem Gewand noch etwas von Karits Duft an ihm gehalten hatte. Es war tatsächlich noch eine feine Spur zurückgeblieben, die reichte, ihn zu erregen. Hamarem dachte an den Duft aus Amemnas Kopftuch, den geradezu überwältigenden Duft eines Unirdischen, ganz anders als der Duft Karits, aber genauso erregend. War der Geruchssinn einer der Sinne, die bei Hamarem empfänglicher waren als bei den Menschen, die keine unirdischen Ahnen hatten? Bisher war ihm das nicht so vorgekommen. Rochen die Frauen vielleicht auch für Derhan so verlockend? Aber er konnte Derhan jetzt nicht weiter belästigen. Vielleicht ergab sich am nächsten Tag eine Gelegenheit, ihn zu befragen. Als erstes würde er morgen jedoch das Zelt der Ama aufsuchen, um erneut der Göttin zu opfern - zusammen mit Karit. Hamarem genoß die Erregung, die dieser Gedanke hervorrief und schlief darüber ein.
 

*
 

Hamarem erwachte ungewöhnlich früh und voller Energie, aber er stand leise auf, um niemanden zu wecken. Draußen dämmerte es gerade erst, Hamarem zog seinen Mantel und sein Ma'ouwati-Tuch an und ging zum Ausgang. Natürlich, Nefut machte bereits seine Waffenübungen. Im Schatten des Zelteinganges verborgen sah Hamarem ihm zu, bewunderte die kraftvollen Bewegungen des bereits in Schweiß geratenen, athletischen Mannes. Auch als Stammesloser hatte er sich stets wie ein wahrhaftiger Fürst benommen, hatte für seine Männer gesorgt wie ein strenger, aber liebender Vater. Und Hamarem hatte damals gewußt, wo sein Platz war, war seinem Herrn gefolgt, hatte ihm bereitwillig gedient und wäre niemals auf die Idee gekommen, sich von ihm abzuwenden, schon allein, um der geflügelten Schlange nahe zu sein. Doch nun hatte sich alles verändert. Nefut war nicht die geflügelte Schlange, Hamarem war kein einfacher Oshey, und außer Karits Schoß war alles bedeutungslos. Hamarem mußte seinen Platz im Leben neu finden.
 

Amemna geriet in Hamarems Sicht, er leistete seinem Zweiten bei den morgendlichen Waffenübungen Gesellschaft. Sie bewegten sich auffällig synchron, als würden sie schon jahrelang gemeinsam üben. Ein Schlag, eine Parade, ein Stoß... Aber während Nefut sein braunes Untergewand geöffnet und bis zu den Hüften heruntergezogen hatte, mit den Ärmeln um seinen Leib geknotet, war Amemnas weißes Untergewand bis zum Hals verschlossen. Die weißen Haare Amemnas und die schwarzen Nefuts verstärkten noch den Eindruck, daß hier die Söhne von Tag und Nacht nebeneinander den Staub zwischen den Zelten aufwirbelten, gleich groß, gleich aufrecht und doch so unterschiedlich in Alter und Statur. Seinem unirdischen Wanack würde er weiterhin bedingungslos folgen wurde Hamarem in diesem Moment klar, ihn verehren und ihm dienen wie einem Gott. Aber nicht jetzt.
 

Hamarem drückte sich hinter dem Rücken seiner Herren am Zelt entlang aus ihrer Sichtweite, dann nahm er mit langen Schritten den Weg zum Zentrum des Lagers.
 

*
 

Während er neben der Amastatue wartete, drehte Hamarem ungeduldig die Silbermünze für das Opfer an Ama in den Fingern seiner Rechten. Der Geruch des Weihrauchs lag schwer in der Luft, als würde in diesem Moment in zahlreichen Räuchergefäßen das edle Harz brennen. Und da näherte sich das Klingeln von Schmuck, die Dienerin der Amapriesterin näherte sich. Ob seinem Wunsch, mit Karit die Göttin zu feiern, nachgekommen wurde?
 

"Seid gegrüßt im Zelt der Ama", sagte die hellhäutige Frau mit unbewegtem Gesicht.
 

Hamarem reichte ihr die Silbermünze. "Ich möchte der Göttin opfern", sagte er seinen Spruch auf.
 

Die Frau nickte, führte ihn hinter den Sichtschutz und durch das Labyrinth zu einem der sicher zahlreichen Ruhelager im Zelt. Das Vogelgezwitscher war hier lauter, die Käfige mit den Tieren mußten sich ganz in der Nähe befinden. Die Frau legte ein Bröckchen Weihrauch in die hängende Räucherschale und sagte: "Wartet einen Moment." Und sie war verschwunden, bevor Hamarem seine Bitte nach Karit äußern konnte. Die Nervosität stieg in Hamarem auf. Was war, wenn eine weniger hübsche Frau oder eine Frau aus einer ihm fremden Kultur kam, um mit ihm der Ama zu opfern? Der Willkommenstrunk mochte helfen, aber es würde wohl kaum das gleiche sein, sich mit einer Fremden zu vereinigen. Allerdings war ihm eigentlich doch auch Karit fremd, abgesehen davon, daß sie eine kurze Zeit der Lust miteinander geteilt hatten.
 

Erneut näherte sich das Klingeln von Schmuck. Die Dienerin der Amapriesterin kam mit dem Willkommenstrunk an das Lager. Sie also würde mit Hamarem der Ama opfern. Hamarem seufzte lautlos, nahm den von der Frau schweigend entgegengestreckten Becher und lehrte ihn mit großen Schlucken. Auch sie trank, brachte Kanne und Becher hinaus und stellte sich Hamarem gegenüber. Sie war so groß, daß sie Hamarem gerade in die Augen sehen konnte. Dunkelblau waren sie, wie der Himmel über der Wüste. Ihr Gesicht war ansehnlich, eigentlich sogar hübsch zu nennen und so nahe stellte Hamarem fest, daß ihre im Nacken zusammengebundenen Haare nicht von dem gewöhnlichen Schwarz waren, sondern eher dunkelbraun. "Ihr seid enttäuscht, daß nicht eine andere kam, mit euch zu opfern, nicht wahr, Herr?" In ihrem zuvor so ausdruckslosen Gesicht blitzten die Augen herausfordernd.
 

Ertappt ließ Hamarem den Blick sinken. Ihre Füße wirkten auf dem dunklen Teppich unglaublich weiß. Hamarem ließ sich auf die Knie sinken, streichelte mit der Hand langsam über die Oberseite ihres linken Fußes. Auch ihre Haut war wunderbar weich, vielleicht einfach, weil es die Haut einer Frau war. Die Silberreifen an ihren Knöcheln klingelten leise, als Hamarem mit der Hand darüberfuhr, um auch das Gefühl ihrer Beine zu kosten, mit der Hand unter ihrem Kleid über ihren Unterschenkel, ihr Knie und zu ihrem Oberschenkel hinaufstrich. Den Kopf auf der Höhe ihres Schoßes nahm er neben dem Weihrauchgeruch, der in ihrem Kleid haftete, bald jenen zarten Duft wahr, anders und doch ähnlich dem Duft von Karit und da sich genau in diesem Moment das Leuchten der Kräfte um sie verstärkte, mußte es wohl ihre Erregung sein, die Hamarem roch. Auch bei ihm begannen die Drogen des Willkommenstrunks nun zu wirken.
 

Ein verhaltenes Zittern durchfuhr die Frau, als Hamarem seine Hand noch ein Stück ihren Oberschenkel hinaufschob, sie an die Innenseite des Schenkels führte, mit der Oberseite seiner Finger die Haut des zweiten Schenkels streifte. Sehr warm war ihre Haut dort. Hamarem hielt inne, sah hinauf in ihr helles, an den Wangen etwas gerötetes Gesicht. Sie lächelte ihn an. "Wollen wir uns nicht entkleiden, Herr?" fragte sie leise.
 

Hamarem schüttelte unwillig seinen Mantel von den Schultern. Zuvor gab es noch Wichtigeres. Er hob den Saum von ihrem Kleid, hinauf bis zu ihrer nackten Scham. Darüber konnte man im Schatten des Kleides die roten Buchstaben des Gebetes an Ama erahnen. Und Hamarem sog den Geruch ihrer Erregung in sich auf, küßte die Lippen, die den Ort verbargen, der so erregt war, daß der Geruch ihn schwindelig machte. Die Frau keuchte und hielt sich an Hamarems Schultern fest. ... "Ihr habt recht, wir sollten uns entkleiden", sagte er leise. Er band seinen Gürtel auf und streifte sein Untergewand rasch über den Kopf, während sie sich genauso schnell ihres Kleides  und ihres Brustbandes entledigte, begleitet von dem zarten Klingeln ihrer Arm- und Fußreifen.
 

Hamarem setzte sich in Positur und sie setzte sich ohne Umschweife auf ihn, ... Ihre Brüste waren so groß, daß sie zwischen Hamarem und der Frau festgeklemmt wurden, weiche, warme Polster, die nun ebenfalls leicht nach ihrer Erregung dufteten. ... rissen die glühenden Kräfte Hamarem hinweg und es schwanden ihm fast die Sinne. Er hatte das Gefühl, zu schweben, als die Frau sich an ihn schmiegte. Er wollte sich von der Frau lösen, aber sie schüttelte den Kopf und verharrte noch eine Weile ruhig in der Umarmung, streichelte Hamarems Nacken, erst dann stieg sie langsam von Hamarems Schoß und zog ihn auf das Lager. Nackt kniete sie neben ihm und Hamarem war von der Ekstase so benommen, daß die roten Buchstaben des Amagebetes auf dem Bauch der Frau vor seinen Augen verschwammen, zu Zeichen, die aussahen wie diejenigen, mit denen sein Wanack seine Schriftrolle füllte. Unwillkürlich mußte Hamarem den Kopf über diesen Gedanken schütteln, aber das veränderte das Aussehen der fremdartigen Schriftzeichen nicht.
 

Die Frau lächelte Hamarem an, drehte ihn sanft auf den Bauch, hatte von irgendwoher warmes Öl, das sie auf ihn träufelte, und dann massierte sie ihn mit sicheren, kraftvollen Bewegungen von den Schultern über den Rücken. Hamarem schloss die Augen und genoß die entspannende Massage. Schließlich erreichten die Hände der Frau sein Gesäß, kneteten es durch und dann drehte sie ihn wieder auf den Rücken. Nun massierte sie seine Arme, seine Brust, den Bauch, ließ ihre Hände dann zu seinen Oberschenkeln und die Beine hinabgleiten, massierte die Füße, die Unterschenkel und schließlich seine Oberschenkel. Dann hockte sie sich über seine Beine, beugte sich hinunter zu Hamarems Mitte und küßte ihn. Sie begann, unaussprechliche Dinge mit ihren Lippen, ihrer Zunge, ihrem ganzen Mund zu machen, die zunächst nur ein höchst angenehmes Gefühl erzeugten, Hamarem dann jedoch in den Wahnsinn zu treiben schienen. Er wand sich unter ihr, genoß andererseits auch den Zustand, ihr ausgeliefert zu sein, die Frau über seine Lust gebieten zu lassen. Als er meinte, es keinen Lidschlag länger aushalten zu können, hielt sie plötzlich inne. "So wird sich die Schlange also noch einmal zum Flug erheben", sagte sie in äußerst befriedigtem Tonfall.
 

Hamarem registrierte überrascht ihre Erregung, als sie wieder den Mundsenkte. Dann wurde er erschüttert von den glühenden Wellen der Kräfte, die seine Lust entzündet hatte. Aber mühevoll kämpfte er sich aus der nahezu überwältigenden Flut, denn in Hamarems Kopf hallte ihre Bemerkung über die 'fliegende Schlange' wider, und das ließ ihm keine Ruhe. Das morgendliche Sonnenlicht schien so weit in das Zelt hinein, daß es das Räuchergefäß über ihren Köpfen erleuchtete, aus dem sich noch immer zarte Rauchfäden wanden. Ein Weilchen verlor Hamarem sich in der Betrachtung dieser Rauchfäden, dann flüsterte er mit trockenem Mund: "Was für eine Schlange?" Er hatte das Bild der geflügelten Schlange aus seinem Traum vor Augen, doch diese Schlange konnte die Frau nicht kennen.
 

Die Frau beugte sich nach vorne, leckte leicht über seine Lippen. "Die Schlange, die eurem Schoß entwächst, Herr", hauchte sie in sein Ohr. "Einst sandte Hawat aus ihrem Schoß eine Schlange mit Fittichen in die Welt, ihre Lehre in der Welt zu verbreiten. Die Schlange warf ihre Flügel ab und verwuchs mit dem Mann, doch strebt sie stets zurück an den Ort von dem sie kam, dem Schoß der Frau." Die Frau stand auf, holte die Kanne und den Becher aus dem Labyrinth. "Möchtet ihr davon trinken, oder soll ich euch klares Wasser bringen, Herr?"
 

Hamarem lächelte erschöpft, setzte sich auf und streckte die Hand nach dem Becher aus. "Ich glaube nicht, daß der Willkommenstrunk der Schlange so bald noch einmal zu einem Flug verhilft", sagte er etwas heiser und trank langsam, um seinen Mund wieder zu befeuchten.
 

"Wer weiß? Ihr seid jung und kräftig, Herr."
 

Wieder war ihre verlockend duftende Scham gerade auf der Höhe von Hamarems Gesicht, darüber waren die fremdartigen Schriftzeichen mit roter Tinte auf den Bauch der Frau geschrieben. "Was heißt das?" fragte Hamarem neugierig.
 

"Ich habe es euch eben zitiert, Herr: 'Einst sandte Hawat aus ihrem Schoß eine Schlange mit Fittichen in die Welt, ihre Lehre in der Welt zu verbreiten. Die Schlange warf ihre Flügel ab und verwuchs mit dem Mann, doch strebt sie stets zurück an den Ort von dem sie kam, dem Schoß der Frau.' Es ist Auftakt des Buches der Fünfhundert Künste." Die Frau setzte sich und leerte selbst einen vollen Becher Willkommenstrunk.
 

"Und was für Schriftzeichen sind das? Ich habe während meines Studiums viele Schriften kennengelernt, aber diese nicht." Es mußte für Hamarem bedeutsam sein, wenn in den Schriftzeichen, die Amemna benutzte, etwas über eine geflügelte Schlange geschrieben war. Und außerdem war sein wissenschaftlicher Ehrgeiz geweckt.
 

Die Frau lächelte dazu. "Das wundert mich nicht, daß ihr diese Schrift nicht kennengelernt habt, Herr. Was immer ihr auch studiert habt, ihr seid ein Mann. Und die heiligen Schriftzeichen der Hawatpriesterinnen sind allein Frauen vorbehalten."
 

"Ich bin... war ein Priester Orems", sagte Hamarem in Gedanken. Wie konnte Amemna Schriftzeichen lernen, die Frauen vorbehalten waren?
 

Die Frau ließ sich auf die Knie nieder. "Soweit ich weiß, müssen doch die Priester des Nächtlichen Träumers nicht enthaltsam leben. Wie kommt es dann, daß ihr so viel nachholen müßt, Herr?" fragte sie neugierig und sah Hamarem forschend in die Augen.
 

"Es ergab sich nie die Gelegenheit", antwortete Hamarem knapp. Diese dunkelblauen Augen schienen ihm erneut die Wonnen der Ama zu verheißen.
 

"Ich sah niemals zuvor goldgesprenkelte Augen, Herr. Sie sind wunderschön", seufzte die Frau. Dieser Seufzer veranlaßte Hamarem, seinen Kopf auf ihren Schoß zu senken. Er vergrub die Nase zwischen ihren Schenkeln, ... hörte sie seufzen, immer wenn er die bereits glühenden Wellen der Kräfte, die wie ein Netz um sie herum lagen, berührte. Ja, er schien das Gespinst der Kräfte sogar mit geschlossenen Augen wahrnehmen zu können, und so folgte er den Wellen mit der Zungenspitze, merkte plötzlich, daß er an den Kräften selbst zupfte. Die Frau belohnte dies mit einem kehligen Seufzen, doch Hamarem hielt erschüttert inne. Verdankte er es seinen neuen Erkenntnissen über sein unirdisches Erbteil, daß er nun zuvor Undenkbares vollbrachte? Noch einmal zupfte Hamarem an den Kräften, und der Duft und die Laute der Frau entzündeten auch Hamarem erneut. Doch vorerst trieb er das Spiel weiter, manipulierte ihre Kräfte immer gezielter und quälte die Frau, wie sie zuvor ihn gequält hatte. Und offensichtlich genoß sie es ebenso, wie Hamarem es zuvor genossen hatte. Als Hamarem merkte, daß die glühenden Wellen um die Frau auch zunehmend ihn umsponnen, hielt er inne und ohne sein Zutun entflammte sie plötzlich. Die Frau schloß die Augen, verzog ihr Gesicht wie im Schmerz und Hamarem spürte ihre Ekstase, wie die Muskeln des Körpers sich zusammenzogen und endlich zur vollkommenen Befriedigung wieder entspannten, als ströhme ein magisches Licht durch seine Glieder.
 

Sie hatte ihre Finger in sein Haar geklammert, seinen Kopf an sich gepreßt, nun ruhte sie leicht an Hamarem und löste sich endlich von ihm. "Wie habt ihr das gemacht?" fragte sie erstaunt.
 

Hamarem glaubte, Bewunderung und so etwas wie professionelles Interesse in ihren Worten mitschwingen zu hören. Das konnte er nicht ignorieren. "Ich fühle, was ihr fühlt, wenn ihr die Göttin erkennt", sagte er flüsternd. "Es ist eine Fähigkeit, die bei vielen anderen starken Gefühlen in meiner Nähe ein Fluch ist. Beim Dienst an Ama jedoch ist sie ein Segen."
 

"Das erklärt aber nicht, wieso ihr mich ohne Erfahrungen so rasch zum Erkennen der Göttin bringen konntet", gab die Frau zu bedenken.
 

"Ich sehe die Kräfte", antwortete Hamarem einfach, denn anderes konnte er die gewöhnlich sanft glimmenden Lichterscheinungen, die er überall um sich sah seit er ein Mann geworden war, nicht beschreiben. Während seiner Ausbildung in Harna hatte er gelernt, diese Lichterscheinungen zu interpretieren. Nun hatte er erstmals wissentlich sein unirdisches Erbe benutzt, um die Kräfte gezielt in Schwingungen zu versetzen. Anscheinend war es ihm recht gut gelungen.
 

Die Frau bedachte Hamarems Antwort mit einem sehr skeptischen Gesichtsausdruck, aber sie fragte nicht noch einmal nach. Statt dessen legten sie sich gemeinsam auf das Lager, die Frau schmiegte sich an Hamarem und ihre weiche Haut schmeichelte seinem Körper. Der Duft ihres Begehrens war vergangen, nur den Weihrauchgeruch, der ihrem Haar entströmte, nahm Hamarem noch war. Dann schloß er die Augen. Einen Moment wollte er ruhen, bevor er diesen weichen, warmen Körper weiter erforschte. Die Atemzüge der Frau waren sehr lang, als wäre sie bereits eingeschlafen. Doch in Hamarems Gedanken spukte noch ein Rätsel: Wenn Amemna die geflügelte Schlange war, lag es doch nahe, daß er der Phallos war, den Hawat entsandt hatte. Da Amemna Hawat verehrte, war eine andere Interpretation unwahrscheinlich. Doch wie konnte Amemna zugleich die Frauen vorbehaltenen Schriftzeichen der Hawatpriesterinnen gelernt haben?
 

* * *
 

25. Der Zusammenbruch

Früh am Morgen, als Nefut und sein Wanack gerade ihre Schwertübungen abhielten, wurde Amemna zum Melack gerufen. Nefut holte für sie ihren Mantel und ihr Ma'ouwati-Tuch aus dem Wanackzelt, dabei fiel ihm ein amtlich aussehendes Holztäfelchen vor die Füße. Er schob es in seinen Gürtel, um die Hände frei zu haben. Doch erst als sein Wanack schon außer Sichtweite war, erinnerte Nefut sich wieder daran, also ging er noch einmal in Amemnas Zelt, um es wieder zurück zu bringen. Bevor er das Täfelchen zulegte, klappte er es jedoch neugierig auf, denn vielleicht enthielt es Informationen, die für das Wohlbefinden der Mawati wichtig waren: "An den Wanack Amemna Darashy. Die Nachforschungen aufgrund Eurer Nachfrage nach dem Mawar Adarach um-Anasku haben ergeben, daß er nicht zu den Hilfstruppen der Hannaiim gehörte oder gehört", las er.
 

Warum suchte Amemna nach einem Söldnerführer aus dem Osten? Und hatte nicht der Verwandte, dem sie aus der Gefangenschaft nach Ma'ouwat geschrieben hatte, ähnlich geheißen? Genau konnte Nefut sich nicht mehr an den Namen, den Farhan ihm genannt hatte, erinnern. Aber noch sehr genau im Ohr hatte er Amemnas inbrünstiges 'Darrach' im Badehaus. Hatte sie das 'A' im Schlaf verschluckt? War es also ihr Geliebter aus Ma'ouwat, den sie suchte? Sie war Jungfrau gewesen, als sie im Badehaus ihre erste gemeinsame Nacht mit Nefut verbracht hatte, und sie hatte gesagt, daß sie bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich als Mann gelebt habe. Es lag also nahe anzunehmen, daß dieser Adarach ein Liebhaber von Männern war - wie viele Ostler. Doch Nefut blieb seine Entrüstung über den sündhaften Lebenswandel im Halse stecken. Wenn sein Verhältnis zu Amemna bekannt würde, wäre Nefut dem äußeren Anschein nach ebenfalls Liebhaber eines Mannes, in Derhans Augen war er es ja schon. Nachdenklich legte Nefut das Holztäfelchen beiseite. Wahrscheinlich gab es für Amemnas Nachforschungen eine ganz harmlose Erklärung. Und als neuer Wirtschafter der Mawati würde Hamarem dann ja wohl darüber Bescheid wissen.
 

Als Nefut das Mawatizelt betrat, stellte er jedoch sehr erstaunt fest, daß Hamarem dort nicht war. Am Kochfeuer saß Derhan und war mit der Bereitung des Frühstücks beschäftigt. Die Decken von Hamarems Lagers waren ausgelüftet, er mußte schon vor einer ganzen Weile aufgestanden sein. Hamarem hätte sich bei ihm, dem Zweiten des Wanack, zumindest abmelden können, wenn er unpäßlich gewesen wäre und noch einmal das Zelt des Ungenannten aufsuchen wollte. Aber gestern Abend hatte er vollkommen gesundet gewirkt. "Wo ist Hamarem?" fragte Nefut unwirsch.
 

Derhan sah auf. "Ich weiß es nicht, aber ich vermute, er ist dort, wo wir gestern waren."
 

Nefut nahm zur Kenntnis, daß Derhan den Ort, den er mit Hamarem gemeinsam besucht hatte, nicht nannte. Scheu vor dem Göttlichen konnte es in Derhans Falle nicht sein. Was verbarg der Mann vor ihm? Die Bewegung neben Nefut kam von Oremar, der zuvor schweigend auf seinem Lager gesessen hatte und sich nun erhob. "Wo willst du hin?" fuhr Nefut ihn an.
 

Oremar schrak zusammen. "Ich will nur austreten, Herr", antwortete er dann verblüfft und warf Derhan einen fragenden Blick zu.
 

Als Oremar das Zelt verlassen hatte, nahm Nefut sich noch einmal Derhan vor. "Wo warst du gestern mit Hamarem, Derhan?"
 

"Und was passiert, wenn ich es nicht sage? Werde ich dann auch wie... wie eine Fotze gefickt?" Diese Worte aus Derhans Mund zu hören, verstörte Nefut. Er versuchte, seinen Ärger herunterzuschlucken: seinen Ärger über Amemnas Festhalten an alten Liebhabern und an ihrem Mannsein, seinen Ärger über Hamarems ungewohnte Unzuverlässigkeit, seinen Ärger über Derhans Frechheiten, und nicht zuletzt der Ärger über seine eigene Unausgeglichenheit. Bis gestern hätte Nefut für Hamarems Treue und Folgsamkeit jederzeit bedenkenlos beide Hände ins Feuer gelegt, und nun vernachlässigte Hamarem seine Aufgaben und machte sich einfach ohne ein Wort aus dem Staub. Wenn Hamarem dahinter gekommen wäre, daß Nefut und Amemna das Lager teilten, hätte er wohl kaum heftiger darauf reagiert. Und eine fürchterliche Erkenntnis dämmerte Nefut, schien sich in seinem Gesicht auch deutlich abzuzeichnen, denn Derhan sagte leise: "Ich denke, daß Hamarem Bescheid weiß über die besondere Beziehung zwischen euch und unserem Wanack."
 

"Wie...", aber Nefut verstummte. Das 'wie' war gleichgültig, wenn es tatsächlich stimmte. Er ließ sich auf die Knie fallen und schlug mit beiden Fäusten auf den Boden, daß es schmerzte. Er hatte gedacht, nun, da er wußte, wie Amemnas Zauber wirkte, wie er ihn bannen konnte, wäre alles wieder in Ordnung. Aber weil er im Netz der Gelüste verfangen gewesen war, das Amemna um ihn gesponnen hatte, war Nefut die Kontrolle über die Männer der Wannim anscheinend schon längst entglitten. Hamarem war als treuer Gefolgsmann verloren, Derhan würde Nefut nie wieder vertrauen und Oremar gehörte kaum noch zu den Mawati, eher zu der nebenan lagernden Wannim, bei der er sich fast ständig aufhielt. Und das alles angesichts eines drohenden Aufstandes um ausbleibende Soldzahlungen und einen geflohenen Feldherrn. "Es darf nicht wahr sein, es darf einfach nicht wahr sein!" brach es aus Nefut hervor und zu jedem Wort hämmerte er mit seinen Fäusten auf den nackten, steinigen Boden nahe der Feuerstelle, bis seine Knöchel bluteten. Voller Verzweiflung ließ er den Kopf bis zum Boden sinken.
 

Endlich hob Nefut wieder den Kopf, begegnete Derhans mitleidlosem Blick, bevor dieser sich wieder der Frühstücksbereitung zuwandte. Und als Nefut sich aufraffte und aufstand, sah er Oremar im Zelteingang stehen, sein Gesicht eine einzige Frage. Er hatte also den Ausbruch des Zweiten miterlebt. Jetzt fehlte nur noch, daß Amemna hinterbracht wurde, wie Nefut die Fassung verloren hatte. Nefut verließ das Zelt, hockte sich in den Schatten und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Aber seine Gedanken kreisten nur panisch um Hamarems offensichtliche Abkehr von ihm und die möglichen Gründe dafür, und dazwischen irrlichterte die Erwartung des drohenden Zusammenbruchs der Ordnung im ganzen Lager. Obwohl seine Hände schmerzten, holte Nefut schließlich sein Schwert und betrieb seine Übungen, wiederholte jede der Übungen ein zweites Mal und ein drittes Mal, bis er endlich so erschöpft war, daß er einfach keine Kraft mehr zur Panik hatte. Er wusch sich, setzte sich wieder vor dem Zelt in den Schatten und begann, systematisch über die momentanen Probleme der Wannim nachzudenken.
 

Hamarem wußte also Bescheid. Nicht darüber, daß Amemna eine Frau war, dann wäre alles wohl einfacher gewesen, nein, er wußte wohl gerade genug, um in Nefut einen heimlichen Liebhaber von Männern zu sehen. Ein Abgrund mußte sich für den herzensguten, gottesfürchtigen und sehr weltfremden Mann aufgetan haben, der gedacht hatte, sein Herr achte die Gebote so streng wie er selbst und sei wie ein Fels gegen fremde Unsitten gefeit. Er konnte nichts an Hamarems erschüttertem Glauben reparieren, ohne an anderer Stelle neue Abgründe aufzureißen. Sollte er ihm sagen: 'Der Wanack ist eine Frau' oder lieber: 'Der Wanack ist ein zweigeschlechtliches Wesen'? Das mußte selbst Hamarem für Dämonenwerk halten. 'Der Wanack ist ein Unirdischer und hat mich mit seinem Duft bezaubert', das war die Wahrheit, aber war es für Hamarem nachvollziehbar? Immerhin war Hamarem selbst von der unirdischen Natur Amemnas überzeugt und kannte außerdem sicher die zahllosen Geschichten von den verführerischen Traumerscheinungen aus alter Zeit. Jetzt mußte Nefut nur noch die Gelegenheit bekommen, mit Hamarem in aller Ruhe zu sprechen. Dafür mußte er allerdings erst einmal wissen, wo Hamarem sich eigentlich aufhielt.
 

Derhan wußte, wo Hamarem war, da war Nefut sicher. Aber er war genauso sicher, daß Derhan sich unter Zwang eher die Zunge herausschneiden würde, als zu sagen, wo Hamarem sich verkrochen hatte. Wie konnte er Derhan wieder umgänglicher stimmen? Seine Kränkung durch Nefuts Giftmischerbemerkung war noch frisch, außer Abwarten half hier wohl nicht viel.
 

Oremars Furcht vor Amemna mußte auch irgendwie behoben werden. Zwar war Nefut für Oremar einfach der Zweite des Wanack und nichts weiter, den Wanack hielt er jedoch anscheinend noch immer für einen Dämon aus Chelems Reich. Tatsächlich waren die unirdischen Verführungskünste furchterregend genug, um auch Nefut zu verstören, der immerhin daran glaubte, es in Amemna mit dem Abkömmling eines Unirdischen zu tun zu haben. Hier würde Hamarem vielleicht helfen können eine Lösung zu finden, da er sich in den Schriften der Weisen und Heiligen gut genug auskannte. Und damit war er wieder an dem Punkt, zunächst Hamarems Versteck finden zu müssen. Wo mochte sich ein von seinem Herrn zutiefst enttäuschter ehemaliger Einsiedler oder Mönch aufhalten? Vielleicht doch im Zelt des Ungenannten? Was würde die Wahrheit eher verbergen, als diese Wahrheit offen auszusprechen? Wenn Hamarem nicht bis zum Abend wieder aufgetaucht war, würde Nefut ihn dort suchen gehen.
 

Und es blieb noch ein weiteres Problem der Mawati: Nefuts eigene Unausgeglichenheit. Diese Nacht hatte er sich Amemna nicht genähert und er war noch einmal im Badezelt gewesen. Nichts von ihrem Duft konnte noch an ihm haften, was ihm die Sinne verwirrte. Und trotzdem war er leicht zu erzürnen, ungerecht gegen Unbeteiligte und allgemein ein schlechter Zweiter der Wannim. Nefut hatte Sehnsucht nach der Vereinigung ihrer Körper, auch wenn er nicht von Amemnas unirdischem Zauber dazu verführt wurde. Dagegen half wohl nur, sie regelmäßig zu nehmen, danach mußte er nur ihren Geruch abwaschen - dann war er befriedigt und klar im Kopf, etwa einen halben Tag lang, so wie es jetzt stand. Aber wo blieb Amemna? Was wurde im Zelt des Melack so lange besprochen? Auch dem Melack mußte klar sein, daß ein Aufstand drohte, würden er und die Befehlshaber der Fußsoldaten nicht Geld herbeischaffen. Und die Söldner mußten versorgt werden. Die meisten Männer hatten wohl wie die Mawati für die nächsten drei bis vier Tage ausreichend Vorräte, aber solange das Lager belagert wurde, konnten die Kaufleute keine neuen Waren besorgen und keinen Markt für die Männer abhalten. Spätestens, wenn die Vorräte verbraucht waren und die Anführer keine Lösung parat hatten, würde der Aufruhr ausbrechen. Vielleicht sogar schon früher, wenn genügend Männer ihren eigenen Anführern die Schuld am momentanen Zustand gaben.
 

Um die etwa sechzig Reiter der Mellim machte Nefut sich keine großen Sorgen. Die Wannimin waren zum größten Teil Adlige und Fürsten mit ihren Leibwachen, die Abenteuer in der Fremde suchten. Es handelte sich um vernünftige, gebildete Männer, die wie Nefut verstanden, daß der Melack der berittenen Hilfstruppen selbst betrogen worden war. Aber der Mob, die Söldner zu Fuß, die aus den Gossen der Städte stammten und deren einziger Antrieb gewesen war, als Söldner reich zu werden, war eine Gefahr für alle. Würde es deren Anführern gelingen, sie ruhig zu halten? Und was konnte ein einzelner Mawar denn einhundert Mann, die ihm ans Leben wollten, entgegensetzen? Eine zwanzig Mann starke Leibwache? Doch die mußte ebenfalls bezahlt und versorgt werden.
 

*
 

Erst kurz vor der Mittagsstunde kam Amemna aus dem Zelt des Melack zurück. Und sie sah nicht aus, als brächte sie gute Nachrichten. Sie nahm Nefut beiseite, aber fragte zunächst: "Was ist mit deinen Händen passierrt, Nefut?"
 

Nefut würdigte die aufgeschlagenen Knöchel keines Blickes. Vielleicht erinnerte ihn ihre Wundheit eine Weile daran, den Mawati und auch seinem Wanack wie ein verantwortungsbewußter Zweiter zu begegnen. "Das war nur ein kleiner Unfall", log er Amemna an.
 

Amemna akzeptierte die Antwort schweigend. Dann gingen sie in das Wanackzelt und Amemna bestätigte in ihrem Bericht, was Nefut schon befürchtet hatte. Die Geldtruhe war mit dem Feldherrn und seinen Beamten verschwunden, die Warenlager der Kaufleute waren leer und die Fußsoldaten wurden bereits ungeduldig. Außerdem war abzusehen, daß das Wasser knapp wurde, weil einer der Brunnen im Lager trocken gefallen war. Die Befehlshaber der Fußtruppen hatten den Melack zum Befehlshaber aller Söldner gewählt und ihm den Titel Birh-Melack verliehen, was zwar eigentlich einen Anführer von Fünfhundert Reitern bezeichnete, aber vielleicht auch dazu angetan war, bei den Tetraosi Eindruck zu machen. Mit denen sollte nämlich nun über eine Übernahme der Söldner oder zumindest ihren unbehelligten Abzug verhandelt werden. Ein Bote des frisch ernannten Birh-Melack war bereits in das Lager der Feinde geschickt worden, nun mußte man auf die Antwort warten. "Wirr können nurr hoffen, daß die Tetrraosi geneigt sind, einen derr Vorrschläge anzunehmen, sonst wirrd die Lage hierr sehrr gefährrlich", beendete Amemna ihren Bericht und Nefut nickte sorgenvoll dazu.
 

Er war auf Abstand zu seinem Wanack bedacht, um seinen mühsam erarbeiteten klaren Verstand nicht wieder mit ihrem Duft zu vernebeln. Aber allein der Blick auf den Sichtschutz um ihr Lager sorgte dafür, daß in Nefut das Begehren erneut erwachte. Er versuchte, sich angesichts der ernsten Lage zusammenzureißen. "Wurde der versiegte Brunnen zugeschüttet?" fragte er nach, denn auch das war einem Feldherrn, der sich heimlich davon machte, durchaus zuzutrauen.
 

Amemna schüttelte den Kopf. "Err scheint wohl im Sommerr rregelmäßig trrocken zu fallen. Und auch in den anderren Brrunnen ist derr Wasserrspiegel starrk gesunken, vielleicht stehen wirr in ein paar Tagen ganz ohne Wasserr da."
 

Nefut fiel es zunehmend schwerer, seine Begierde im Zaum zu halten, und dabei wirkte Amemna gerade in diesem Moment kein bißchen wie eine Frau. Das schmale, etwas kantige, wenn auch bartlose Gesicht, die während des Berichtes ernst zusammengezogenen, fremdartig weißen Brauen, die schlanken, großen Hände, die mit knappen Gesten die Worte unterstrichen hatten, natürlich die recht kurzen weißen Haare, als hätte Murhan selbst vor einiger Zeit für die Frisur eines Schwertkämpfers gesorgt, Amemnas dunkle Stimme, allein die Körpergröße, alles sprach dafür, daß hier ein junger Mann saß, der sich inzwischen ganz gut in seinem Amt als Wanack zurechtfand. Doch Nefut sah auch die zarten Rundungen ihrer Brüste, die sich bei manchen Bewegungen durch das Untergewand abzeichneten, er wußte von ihrem weiß beflaumten, jugendlichen Schoß, der ihn so kenntnisreich verschlingen konnte. Sie war das Weib, das er in diesem Moment begehrte. "Warten wir also auf die Antwort der Tetraosi", schloß Nefut aus dem Bericht seines Wanack und zog sie in Gedanken schon aus.
 

Und Amemna nickte und lächelte ihn an. Mit einem Handgriff verschloß sie den Zelteingang und sie fielen einander in die Arme.
 

*
 

"Wanack, ihr sollt in das Zelt des Me.. des Birh-Melack kommen", hörte man von draußen Derhans Stimme.
 

"Ich komme", antwortete Amemna, dann gab sie Nefut einen langen Kuß zum Abschied, zog sich rasch an und ging hinaus.
 

Nefut genoß für einen Moment den Duft seiner unirdischen Geliebten, der ihn noch umfing, dann wusch er sich gründlich, bevor auch er sich anzog und das Zelt verließ. Nefut war bereit, seinem Wanack ein guter Zweiter zu sein und die Männer der Wannim gerecht zu behandeln. Es war bereits Nachmittag, Derhan bereitete das Nachtessen vor und Oremar saß tatsächlich im Mawatizelt und flickte eine Sandale. "Ist Hamarem schon wieder aufgetaucht?" wagte Nefut in höflichem Ton zu fragen.
 

Wie ein Mann schüttelten Oremar und Derhan den Kopf. "Nein, Herr", ergänzte Oremar überflüssigerweise.
 

Falls tatsächlich ein Aufstand ausbrach, sollte Hamarem sich lieber bei seinen Waffengefährten aufhalten, ging Nefut durch den Kopf. Allein hatte er keine Chance - schon gar nicht ohne sein Schwert, das neben seinen Decken lag. Noch ein Indiz dafür, daß er sich in einem der Zelte aufhielt, die den Göttern geweiht waren.
 

"Hört zu!" schlug Nefut seinen Kommandoton aus seiner Zeit als Ashans Unterführer an, und Derhan und Oremar sahen ihn tatsächlich alarmiert an. "Die Lage ist sehr ernst. Wir werden nicht nur belagert, das Wasser geht auch zur Neige, von den Lebensmitteln ganz zu schweigen. Rechnet damit, daß es nur das gibt, was wir hier im Zelt haben."
 

"Was ist mit den Tieren?" fragte Oremar.
 

"Warst du heute morgen bei den Pferchen und hast sie versorgt?" fragte Nefut zurück.
 

Oremar nickte.
 

"Dann geh jetzt gleich noch einmal zu ihnen, am besten geht ihr beide. Bringt die Pferde und Kamele her, ich stelle das zweite Mawatizelt als Unterstand für sie auf. Hier können wir vielleicht verhindern, daß ein wütender Mob sie abschlachtet." Nefut versuchte, die widerstreitenden Gefühlsregungen in den Gesichtern der beiden Mawati zu interpretieren: sie wirkten besorgt, aber andererseits schien sie sein entschiedenes Auftreten auch zu beruhigen. Hoffentlich verstanden sie wirklich den Ernst der Lage. "Unser neuer Birh-Melack versucht, Verhandlungen mit den Tetraosi über eine Weiterbeschäftigung oder zumindest freien Abzug zu führen", fuhr Nefut fort. "Falls die Tetraosi die Verhandlungen ablehnen, sucht ihr beide Hamarem und bringt ihn unverzüglich hierher."
 

Derhan nickte sofort. Er hatte wohl eingesehen, daß die Zeit für Spielchen vorbei war.
 

"Und dann haltet Ruhe, egal was an anderer Stelle im Lager passiert. Falls ein Aufstand ausbricht und bis hierher vordringt, schützt ihr vor allem den Wanack. Wir handeln nur gemeinsam, ist das klar?"
 

"Ja, das ist klar", antwortete Oremar, schnürte die nur halb reparierte Sandale behelfsmäßig um den Fuß und stand auf, und auch Derhan erhob sich. Die beiden Mawati steckten die Schwerter in die Gürtel und eilten zu den Pferdepferchen.
 

*
 

Diesmal kam Amemna schneller zurück von der Besprechung mit dem Birh-Melack. Nefut hatte gerade begonnen, die Streben für den Unterstand in den Boden zu rammen, als sie heraneilte. "Läßt du die Tierre hierrherr holen?" fragte sie.
 

Nefut nickte.
 

Amemna half bei der Befestigung der Zeltbahnen und berichtete kurz: "Die Tetrraosi haben geantworrtet. Sie lassen die Prriesterr, Kaufleute und anderren Zivilisten ziehen, die Söldnerr dagegen sollen im Lagerr bleiben."
 

"Gibt es irgendwelche Zusagen über eine Übernahme in den Dienst der Tetraosi?" fragte Nefut hoffnungsvoll.
 

"Nein. Derr Brrief des Königs schloß die Söldnerr nurr ausdrrücklich vom frreien Abzug aus", erklärte Amemna.
 

So mußte es zwangsläufig zu einem Aufstand kommen, spätestens wenn sich die Entscheidung der Tetraosi herumsprach. "Wie war die Stimmung unter den Anführern?"
 

Amemna verzog das Gesicht. "Sehrr schlecht. Der Birrh-Melack hat mit unserrerr drrei Wannimin mit derr Bewachung des Lagerrzentrrums beauftrragt. Err hofft, so Ausschrreitungen gegen die Prriesterrschaft zu verrhinderrn. Und wenn err die Rruhe halten kann, nehmen uns die Tetrraosi vielleicht doch in Dienst."
 

"Was ist mit dem Troß? Wird der auch bewacht?" fragte Nefut weiter. Dort waren die Kaufleute, die zwar keine Waren mehr hatten, aber das Geld der Söldner in ihren Kassen.
 

"Ja natürrlich, schon um Plünderrungen zu verrhinderrn", antwortete sie. Dann sah sie plötzlich an Nefut vorbei. "Ah, da kommen sie ja." Tatsächlich führten Derhan und Oremar gerade die acht Pferde und zwei Kamele heran, die mit Sätteln, Zaumzeug und allem anderen, sowie reichlich Heu und Wasserschläuchen beladen waren.
 

"Wo ist eigentlich Hamarrem?" fragte Amemna, als die nicht benötigten Tiere untergebracht waren. Vier Pferde wurden gesattelt, denn die Patrouille im Lager sollten sie zu Pferd machen.
 

Nefut betrachtete seine verschorften Knöchel. "Frag Derhan", antwortete er resignierend.
 

Amemna schaute mit hochgezogenen Augenbrauen zu Derhan hinüber. "Wieso weißt du nicht, wo Hamarrem ist, Zweiter?" fragte sie Nefut dann streng.
 

Seufztend stellte Nefut sich dieser berechtigten Frage seines Wanack: "Weil..."
 

"Weil ich Nefut belogen habe", fiel Derhan ihm ins Wort. Wieso kam Derhan ihm zur Hilfe? Aber seinem Blick wich er aus.
 

Amemna sah von einem zum anderen. "Wirr müssen los", befahl sie dann. "Aberr diese Sache wird noch geklärt werden." Sie saß auf und befahl ihrer Wannim, ihr zu folgen. Inzwischen war sie offensichtlich ein wahrhafter Wanack geworden.
 

* * *
 

26. Das Opfer

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

26. Das Opfer (jugendfrei)

Der Geruch von Essen weckte Hamarem. Wer mochte gekocht haben? Es roch nicht nach den Speisen, die die Mawati für gewöhnlich zubereiteten. Dann wurde ihm bewußt, daß er nackt auf seinen Decken lag. Hamarem riß die Augen auf und sah über sich ein Räuchergefäß hängen. Er befand sich noch immer im Zelt der Ama.
 

"Habt ihr nicht Hunger?" fragte eine Frauenstimme. Es war die Amapriesterin, die mit einem runden Metalltablett voller Messingschüsseln in den Händen neben dem Lager kniete. Die andere Frau war verschwunden.
 

"Wo ist...", begann Hamarem.
 

"Ramilla? Sie hat noch andere Verpflichtungen." Die Priesterin stellte das Tablett ab.
 

Hamarem sah neugierig in die Schalen und Schüsselchen. Sie enthielten Gemüse, Fleisch und Reis und einige Fruchtsaucen. Der Geruch war halbvertraut und doch fremdartig, offensichtlich waren viele Gewürze verwendet worden, die bei den Oshey nicht bekannt waren. Und er merkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. "Ja, ich habe Hunger", sagte er also, griff nach einem Bröckchen aus einer Schüssel und kostete das Gemüse. Fremdartig, in der Tat, aber sehr schmackhaft.
 

"Mir wurden Wunderdinge von euch berichtet", sagte die Priesterin, während Hamarem von jeder Speise etwas probierte.
 

Hamarem schaute erstaunt auf, sah sich einem kritisch musternden Blick ausgesetzt, und er wurde sich seiner Nacktheit unangenehm bewußt. Hamarem war drauf und dran nach einem seiner Kleidungsstücke zu greifen und es über seine Blöße zu decken, aber dann verzichtete er darauf. Die Priesterin der Ama hatte sicherlich schon so manchen nackten Mann gesehen. "Was für Wunderdinge?" fragte er statt dessen zurück.
 

Jetzt lächelte die Priesterin. "Eure überragende Fähigkeit, einer Frau Befriedigung zu schenken. Ihr müßt von Ama gesegnet sein."
 

Hamarem dachte an Karits Übersetzung seines auf einen altertümlichen Dialekt zurückgehenden Namens - Diener der Ama. Als Kind hatte er sich seines für Oshey unüblichen Namens geschämt. Neben Orem war Tyrima die Göttin, die die Oshey verehrten, die Himmelskönigin mit der Krone aus Sonnenstrahlen. Ama wurde hauptsächlich von Schwangeren und Müttern kleiner Kinder angebetet. Hamarem hatte sich oft bei seinem Vater und seinen Großeltern über seinen Namen beklagt, doch sein Vater hatte immer wieder geantwortet, daß dieser Name der Wunsch seiner verstorbenen Mutter gewesen sei. Und er erinnerte sich auch an eine kleine Amastatue, die neben der Schlafstätte seines Vaters gestanden hatte. Es sei eine Erinnerung an Hamarems Mutter, hatte sein Vater gesagt. Bis jetzt hatte Hamarem stets gedacht, seine Mutter habe Ama während ihrer Schwangerschaft verehrt. Nun aber, mit dem neuen Wissen über sein unirdisches Erbe und angesichts der Erkenntnis, daß dieses unirdische Erbe anscheinend vor allem bei der Vereinigung zwischen Mann und Frau hilfreich und genußfördernd war, vermutete Hamarem, daß seine Mutter zumindest ihr ganzes erwachsenes Leben lang der Ama angehangen hatte.
 

"Seid ihr gesättigt?" fragte die Priesterin.
 

Während seiner Überlegungen hatte Hamarem, ohne es recht zu merken, eines der Schüsselchen mit einer Reis-Fleisch-Mischung geleert. "Ja, ich bin gesättigt", antwortete er und stellte das Gefäß zurück auf das Tablett.
 

"Soll ich euch etwas zu trinken bringen?" fragte die Priesterin wieder.
 

Hamarem nickte. "Das wäre sehr freundlich von euch."
 

Die Priesterin verließ das Lager mit dem Tablett und kam gleich darauf mit einer Kanne und einem Becher zurück. Diese Kanne enthielt jedoch nur klares Wasser. "Ich würde gerne eine Probe eurer Kunst erleben", sagte die Priesterin dann, während Hamarem trank.
 

Hamarem erschrak und verschluckte sich prompt. Das Husten gab ihm Zeit, sich eine Antwort zu überlegen. "Ich fühle mich geehrt", brachte er dann mühsam hervor. Die Frau mit den langen lockigen Haaren war begehrenwert, aber Hamarem fürchtete, ihren Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Sie war in den Dingen der Ama mindestens so erfahren, wie er in den Dingen Orems. Er würde nicht einfach ihren Körper erforschen und ihre gemeinsame Lust genießen können. Stets würde er sich fragen, wie sie ihn beurteilte. Vielleicht konnte er sich irgendwie Zeit verschaffen.
 

Die Amapriesterin schien zu ahnen, wie er sich fühlte. "Soll ich euch etwas von dem Willkommenstrunk bringen?" fragte sie freundlich.
 

Hamarem überlegte. Einerseits hätte er durch den Willkommenstrunk natürlich die Sicherheit, nicht gerade vor der Amapriesterin zu versagen, andererseits litt sein Selbstbewußtsein in dieser Angelegenheit vielleicht gerade daran, daß er bisher keiner Frau ohne die erregenden Drogen beigewohnt hatte. Auf die Frage der Priesterin schüttelte Hamarem schließlich den Kopf. "Nein", sagte er, obwohl es ihm in diesem Moment schwer fiel, in die richtige Stimmung zu kommen. Die ruhigen Linien der Kräfte um die Amapriesterin erinnerten ihn so sehr an Nefut das Kind, daß Hamarem für einen Augenblick meinte, den Knaben vor sich zu haben. Allerdings sollte es einer Priesterin der Ama auch unter widrigen Umständen gelingen, die Begierde in einem Mann zu wecken.
 

Die Amapriesterin verstand offensichtlich, daß sie aktiv werden mußte. Sie streifte ihre langen, offenen Haare nach hinten und wickelte langsam ihr Kleid auf, entblößte ihre vollen Brüste, ihre runden Hüften und den mit roter Tinte beschriebenen Bauch, hielt jedoch ihre Scham unter einer Lage des durchscheinenden Stoffes ihres Kleides verborgen. Ihre Hüftbewegungen hatten Hamarems Blick magisch zu ihrem Schoß gezogen und hinter dem blaugrünen Gewebe war Amas Wunder zu erahnen. Dieser Anblick war außergewöhnlich stimulierend, stellte Hamarem fest. Allein das Wissen darum, an dieser Stelle Erregung erzeugen zu können und durch den Duft, der sich dann entfalten würde, selbst erregt zu werden, brachte ihn wieder in Stimmung. Er kniete sich vor die Priesterin, schob den Stoff langsam beiseite und nahm den Duft ihrer Lust bereits wahr. Ihr Aroma war mit dem Karits und der anderen Frau, die wohl eher ihre Schülerin als ihre Dienerin war, vergleichbar, doch auch wiederum ganz anders. Hamarem berührte sie mit der Zungenspitze und ließ zugleich die Kräfte an dieser Stelle erzittern.
 

Ein zarter Seufzer entwich der Priesterin, die Kräfte um sie flackerten auf, was wiederum Hamarem entzündete. Hamarem versuchte, die Priesterin in ähnlicher Weise zu befriedigen, wie die andere Frau - Ramilla - aber während die Priesterin stand, erreichte er kaum die Opferstätte Amas. "Bitte... setzt euch", flüsterte er, erschrak über den heiseren, keuchenden Klang seiner Stimme.
 

In einer anmutigen Bewegung ließ sich die Priesterin auf den Kissen des Lagers nieder, öffnete ihren Schoß für ihn, wie Ramilla es getan hatte, ähnlich und doch so anders. Einen Moment mußte Hamarem verweilen, dieses Wunder der Göttin zu bestaunen, ... Auch sie reagierte auf das Berühren der Kräfte mit verstärkter Erregung, seufzte.
 

Hamarem ließ sich von den Linien der Kräfte leiten aber versuchte außerdem, die Gleichartigkeit und die Verschiedenheit zwischen der Priesterin und ihrer Schülerin zu erforschen. Dort wo die Kräfte sich bündelten setzte er gezielt die von seiner Mutter ererbten unirdischen Fähigkeiten ein, um die Kräfte um die Priesterin in Schwingungen zu halten, sie zum Entflammen zu bringen. Er konnte ihre zunehmende Lust auf eine Vereinigung fühlen, als wäre es seine eigene und er machte sie zu seiner eigenen, merkte, daß er so bereit war wie sie.
 

Die Priesterin faßte seinen Kopf zärtlich mit beiden Händen, zwang Hamarem so sanft, wieder den Blick zu ihr zu erheben, zu ihrem Gesicht, das aus dieser Perspektive zwischen ihren schönen Brüsten lag. Und sie lächelte ihn in bezaubernder Weise an. "Laßt uns der Göttin opfern", sagte sie leise, mit so glockenklarer Stimme, daß Hamarem allein dieser Klang einen Schauder über den Rücken jagte. ... Und viel zu plötzlich trugen ihn die Kräfte davon, er hatte wahrhaftig das Gefühl zu fliegen und fiel dann in die Arme der Amapriesterin.
 

Die Frau lächelte ihn glücklich an, ihr Herz pochte noch heftig, aber die Kräfte um sie wurden langsam wieder etwa dunkler, ohne wirklich entflammt worden zu sein. Hamarem strich ihr die feuchten Locken aus dem erhitzten Gesicht, bemerkte, daß er selbst in Schweiß geraten war und wischte sich mit der Hand die Stirn trocken. Dann versuchte er, sich an das Muster der Kräfte zu erinnern, das Ramilla umgeben hatte, als sie die Göttin erkannte und es auf die Priesterin zu übertragen. Anscheinend gelang es ihm, denn die Priesterin stöhnte plötzlich auf,... "Karit und Ramilla hatten recht", sagte die Priesterin. "Ihr seid ein wahrhaftes Geschenk der Ama."
 

Hamarem ging plötzlich der Gedanke durch den Kopf, daß er vielleicht selbst die geflügelte Schlange sein könnte. Aber wieso war der Traum dann mit Amemna verbunden? Sollte Amemna eine Frau sein? Das würde aber erklären, wie er die heiligen Zeichen der Hawatpriesterinnen hatte lernen können, und warum er mit siebzehn Jahren noch bartlos war. Aber er hatte die Stimme und die Statur eines Mannes, außerdem - wie er erzählte - eine Frau bei den Darashy und ein Kind mit ihr. Und was war mit der Verbindung zu Nefut? Nefut als Liebhaber eines Mannes war für Hamarem trotz seines Wissens darum noch immer schwer vorstellbar, so sehr wie Nefut ansonsten darauf achtete, sein Leben nach dem Wahren Weg auszurichten. Wenn Amemna jedoch eine Frau war, erklärte das Nefuts anscheinend bereitwilliges Eingehen auf die unirdischen Verführungskünste Amemnas.
 

"Was quält euch?" fragte die Amapriesterin plötzlich.
 

Hamarem seufzte. "Sowohl Mann als auch Frau, kann es das geben?" stellte er der Priesterin sein Rätsel.
 

Die Priesterin schüttelte lächelnd den Kopf. "Kennt ihr Darstellungen der Hawat?"
 

"Ich kenne die Amastatuen", warf Hamarem ein.
 

"Ama hat unbekleidete Brüste, aber einen bekleideten Unterleib. Hawat dagegen hat ihr Gewand geöffnet. Man sieht ihre Brüste und die Schlange, die aus ihrem Schoß kriecht. Hawat ist zweigeschlechtlich, sowohl Frau als auch Mann", erklärte die Priesterin. Hawat war allerdings kein Mensch. Konnte es sein, daß Hamarem gespürt, daß er gerochen hatte, daß Amemna eigentlich eine Frau war? Hatte er sich deshalb so zu ihm hingezogen gefühlt? Er mußte irgendwie herausbekommen, wie es sich mit Amemnas Geschlecht verhielt.
 

Das Klingeln von Ramillas Schmuck näherte sich. "Herrin, die Tetraosi haben geantwortet", sagte sie zur Amapriesterin, dann entdeckte sie Hamarem und bedachte ihn mit einem zärtlichen Lächeln, das er aus vollem Herzen erwiderte.
 

"Wir besprechen das woanders", antwortete die Amapriesterin Ramilla und wandte sich dann wieder an Hamarem. "Wollt ihr hier bleiben oder für die Nacht zu euren eigenen Leuten zurückkehren?"
 

War es schon so spät? "Laßt mich überlegen", begann Hamarem langsam.
 

"Überlegt in Ruhe. Um durch die Gänge zu finden, folgt dem weißen Band unter dem Dach", erklärte die Priesterin und wies nach oben. Sie wickelte ihr Kleid wieder um die Hüften, Bauch und Bürste und ließ den Rest über die Schulter auf den Rücken hängen, dann folgte sie Ramilla in das Labyrinth.
 

Die Vorstellung, hier inmitten der Frauen zu übernachten, war verlockend. Vielleicht durfte er der einen oder anderen noch beweisen, daß ihre Priesterin der Meinung war, er sei ein Geschenk der Ama. Andererseits merkte Hamarem nun, daß er erschöpft war. Es war wohl zu viel der ungewohnten Betätigung gewesen. Ruhe über Nacht würde ihm gut tun. Also kleidete er sich an und folgte dem weißen Band, das unter dem Zeltdach von Strebe zu Strebe gespannt war, bis er endlich am Hinterausgang des nun von einer gewissen Unruhe erfüllten Zeltes stand. Tatsächlich waren die Schatten schon lang geworden. Er hatte den ganzen Tag bei den Frauen verbracht. Nun wäre noch ein abschließender Besuch im Badezelt angenehm, und Hamarem drehte sich in die betreffende Richtung, während einige Frauen aus dem Amazelt an ihm vorbeieilten. Tatsächlich war überall zwischen den Zelten, die den Göttern geweiht waren, plötzlich eine ungewöhnlich hektische Betriebsamkeit zu bemerken: Priester und Priesterinnen, ihre Bediensteten und Sklaven, eilten durch die Lagergänge, trugen Bündel und Kästen mit sich, tatsächlich nahmen sie anscheinend fast alle den Weg zum Lagerausgang.
 

Karit lief dicht an ihm vorbei und Hamarem versuchte, mit ihr zu sprechen. Offensichtlich unwillig, aufgehalten zu werden, schnappte sie: "Die Tetraosi lassen uns gehen, aber ihr Söldner müßt im Lager bleiben. Ich werde nicht bleiben, bis sich euer Unwillen über diese Ungleichbehandlung entläd."
 

Hamarem ließ sie verblüfft los, sah ihr nach, wie sie davonlief. Inmitten der fliehenden Priesterschaft entdeckte er Berittene, schwarze Südmänner wie die, die Hamarem während der Schlacht das Leben gerettet hatten. Sie schienen zu kontrollieren, ob die Zelte alle verlassen wurden, oder sie suchten jemanden. Ob auch die Mawati hier irgendwo waren?
 

"Oh, Göttin hilf! Mein Sohn, mein Augenstern!" hörte Hamarem da plötzlich eine Frau rufen. Es klang nach der Stimme der Amapriesterin. Er eilte zur Quelle des klagenden Schreis, zurück zum Hinterausgang des Amazeltes. Die Amapriesterin war in Tränen aufgelöst, als er sie erreichte, eine andere Frau hielt sie umarmt.
 

"Was ist passiert?" fragte Hamarem, aber die Amapriesterin konnte vor Tränen nicht sprechen, hielt die Hände vor den Mund und schluchzte.
 

Die andere Frau sah ebenfalls zutiefst erschrocken aus, war aber noch des Sprechens mächtig: "Ihr Sohn ist allein im Schlafzelt, dort wo der Troß auch lagert", sagte sie. "Aber sie suchen dort nach dem Sohn des Feldherrn, weil allgemein bekannt ist, daß er sich oft beim Sohn meiner Herrin aufgehalten hat."
 

"Priesterin, euer Sohn heißt Nefut, nicht wahr?" fragte Hamarem, um seine Vermutung bestätigen zu lassen.
 

Die Amapriesterin nickte. "Ich hatte schon Ramilla zu ihm geschickt, bevor ich hörte, wo sie den jungen Prinzen vermuten", sagte sie mit halberstickter Stimme.
 

"Ich werde hinlaufen, und sie beide herholen", versprach Hamarem und lief los, bevor er sich fragte, wer denn den Prinzen suchte. Es konnten doch nur die von dem Vater des Prinzen verratenen Söldner sein. Wie sollte Hamarem anders als durch List eine Chance gegen eine kampferprobte Meute haben? Trotzdem lief er weiter. Er hatte es der Amapriesterin versprochen und er würde alles tun, sein Versprechen wahr zu machen. Er lief zwischen den Rückseiten der Zelte hindurch, anstatt die Wege zu nehmen. Immer wieder sah er durch die Gänge zwischen den Zelten Reiter der berittenen Hilfstruppen, die Zivilisten aufforderten, das Lager zu verlassen. Doch je näher er dem Bereich kam, in dem der Troß lagerte, desto mehr Unruhe lag in der Luft. Er hörte sogar Schwerter klirren.
 

Das dort auf dem Pferd war der Melack, neben ihm zwei seiner Leibwächter, und sie kämpften gegen fünf oder sechs Söldner zu Fuß, schützten anscheinend einen Händler und seine Familie. Einer der Kämpfer zu Fuß wurde niedergestreckt, die anderen zogen sich ein Stück zurück. Hamarem verbarg sich in den Schatten und wartete darauf, daß der Kampfeslärm sich von ihm entfernte. Nach einer Weile riskierte er wieder einen Blick, der Weg war frei, er eilte weiter und sah schon das Schlafzelt der Amapriesterin und ihres Sohnes vor sich. Als Hamarem es erreichte, war alles totenstill. Der Sichtschutz vor dem inneren Bereich des Zeltes war zerfetzt, unter der herabgefallenen Zeltbahn ragten zwei Kinderbeine mit nackten Füßen heraus. Hamarems Herz setzte einen Schlag aus, dann lief er, ohne an mögliche Gefahren zu denken, in das Zelt hinein, raffte die Zeltbahn beiseite. Es war ein Kind in einem einfachen Untergewand das hier lag, anscheinend von einem Schwert durchbohrt. Das Gesicht des toten Jungen kam Hamarem zwar bekannt vor, aber es war nicht Nefut. Ramilla lag ebenfalls am Boden, über dem linken Auge hatte sie eine Wunde, die anscheinend stark geblutet hatte. Hamarem stellte fest, daß sie noch atmete, aber bewußtlos war. Auf seine Berührung, ein leichtes Schütteln ihrer Schulter, reagierte sie nicht und Hamarem sah sich um. Ein Wasserkrug lag zerschlagen auf dem Boden, in einer größeren Scherbe hatte sich noch etwas Wasser gehalten. Hamarem wickelte seinen Turban auf, benetzte eine Ecke mit Wasser und reinigte Ramillas Gesicht von dem Blut. Davon erwachte sie tatsächlich. "Wo ist Nefut?" fragte sie und sah sich hektisch um.
 

"Ich habe ihn nicht gefunden. Hier liegt nur ein anderer Junge", antwortete Hamarem.
 

Ramilla sprang auf, schwankte und ließ sich zu Boden plumpsen. Langsamer und mit Hamarems Hilfe stand sie erneut auf. Als sie den Jungen mit dem blutgetränkten Untergewand sah, schrie sie auf: "Oh ihr Götter, das ist der Spielgefährte Nefuts! Und Nefut trug die Kleider des Prinzen! Schnell, wir müssen zum Zelt des Ungenannten. Die Männer sagten, sie wollten den Prinz als Opfer darbringen."
 

Der Lagerplatz des Trosses war nun menschenleer und auch auf dem Weg zurück ins Zentrum des Lagers war niemand mehr zu sehen. Aber auf dem Platz vor dem Zelt des Ungenannten standen dicht an dicht die Männer, dazwischen und an den Rändern der Menge Reiter der berittenen Hilfstruppen. Einer der Reiter erblickte Ramilla. "Frau, verlaß das Lager!" rief er.
 

Hilfesuchend sah Ramilla zu Hamarem, der nun selbst von einem dichter stehenden Reiter mit dem stumpfen Ende der Lanze angestoßen wurde. "Ich gehöre zu Wanack Darashy", empörte Hamarem sich und legte das Ma'ouwati-Tuch, das er in der Eile nur in die Hand genommen hatte, auf seinen Scheitel. Ramilla flüsterte er zu. "Ich kümmere mich um Nefut."
 

"Dort drüben ist dein Wanack, Mawati", sagte der Reiter, zeigte zur Mitte des Platzes, und stieß nun Ramilla weg in Richtung Lagerausgang. Sie ließ es mit sich geschehen, sah sich noch einmal um, dann lief sie den Weg hinunter und war bald zwischen den Zelten verschwunden.
 

Hamarem bahnte sich seinen Weg in die angegebene Richtung durch die Menge. In der Nähe waren tatsächlich zwei Reiter mit Osheymänteln und bunten Turbanen zu sehen, einer war Amemna. Am Ende des Platzes war der Podest, auf dem die Priester des Ungenannten jeden Morgen opferten, und auf dem Podest stand ein Mann in dem weißen Gewand eines Priesters des Ungenannten, neben sich eine kleine, prinzlich gekleidete Gestalt. Allein der Wille verlieh Hamarem ungeahnte Kräfte. Er erreichte in wenigen Augenblicken Amemnas Pferd. "Herr!" versuchte Hamarem die Aufmerksamkeit seines Wanack zu erregen.
 

"Was ist?" fragte der Wanack ungeduldig, sah nach unten und erkannte Hamarem. "Wo warrst du? Ich hatte Derrhan geschickt, dich zu suchen, aberr..."
 

"Herr, wir haben keine Zeit. Bitte, rettet den kleinen Jungen dort, den sie dem Ungenannten opfern wollen." Hamarem umklammerte Amemnas Bein und küßte seinen Fuß um der Bitte Nachdruck zu verleihen. Vor den Träumen hatte er nun keine Angst mehr, er würde sein Begehren von nun an selbst lenken können.
 

"Wie soll ich das machen, Hamarrem? Wie denkst du..."
 

"Ihr seid ein Unirdischer, Herr. Ihr werdet einen Weg finden. Aber bitte beeilt euch!" Flehend sah Hamarem Amemna in die fremdartig hellgrauen Augen.
 

Amemna sah zu Hamarem hinunter. "Ich werrde es versuchen, Hamarrem. Fürr dich werrde ich es verrsuchen." Dann trieb er sein Pferd an, ritt durch die Menge, die sich zögernd vor ihm teilte.
 

"Komm hoch zu mir", bot Derhan an, der Mawati, der neben Amemna gestanden hatte. Er reichte Hamarem die Hand und zog ihn hinauf aufs Pferd, hinter seinen Sattel. Und Hamarem sah, daß Amemna den Podest errreicht hatte. Er sprach mit einem anderen Reiter, stieg hinauf auf den Podest.
 

"Was liegt dir an dem Jungen?" fragte Derhan flüsternd. "Die Fußtruppen haben darauf bestanden, daß er dem Ungenannten geopfert wird, weil er der Sohn des Feldherrn sei. Unser Birh-Melack hat eingewilligt, um die Lage zu beruhigen."
 

"Er ist nicht der Sohn des Feldherrn", entgegnete Hamarem ebenso leise. Wie gebannt sah er hinüber zum Podest, wo Amemna inzwischen neben dem Priester stand und seinen Turban abnahm. Die weißen Haare strahlten in der beginnenden Dämmerung weithin. Sofort ging ein Raunen durch die Menge. "Ein Unirdischer", konnte Hamarem in Wellen über den Platz flüstern hören. "Das ist der Wanack der Mawati", lief in einer anderen Richtung durch die Reihen. Während dessen wurden auf dem Podest die Lampen an den hohen Ständern entzündet und Amemna ließ sich von dem Priester das Opfermesser geben. Dann ging er zu Nefut dem Jungen, der gefesselt und am Opferaltar angebunden dastand, vor Schreck oder Drogen erstarrt.
 

"Ihrr werrdet sehen, daß mein Grroßvaterr dieses Opferr nicht annimmt!" rief Amemna über das Flüstern auf dem Platz. Als Sohn eines Unirdischen war er wohl der Enkel des Ungenannten. Zu dieser Erkenntnis kamen auch die Söldner, denn die meisten von ihnen stammten aus den Städten am Nordrand der Wüste und waren wohlvertraut mit den Erzählungen über die Kinder des Ungenannten, die dem Nächtlichen Träumer dienten. Amemna ergriff den Schopf des Jungen, bog den schlanken Hals des Kindes zur Seite und schnitt kurz unter seinem Ohr tief in das Fleisch.
 

Hamarem zuckte zusammen, als das Blut des Knaben die weißen Ärmel Amemnas und das Gewand des Priesters besudelte. "Orem hilf!" entfuhr ihm. Er mochte sich nicht vorstellen, daß Amemna die Heilung des Jungen nicht gelang.
 

"Das Kind verliert viel zu viel Blut", ließ Derhan sich vernehmen, als spräche er zu sich selbst. "Das wird nicht einmal unser unirdischer Wanack schaffen."
 

Aber Amemna bündelte die entweichenden Kräfte um Nefut, stoppte den Blutstrom und heilte die Wunde. Der Junge schwankte nur einen Moment, dann starrte er seinen Retter an. Wellen zogen sich durch die gewöhnlich ruhigen Kräfte um Nefut, flachten wieder ab. Kein Wunder, daß die Erlebnisse der letzten Augenblicke ihn erschütterten. "Seht ihrr, derr Junge lebt noch! Derr Ungenannte will dieses Opferr nicht!" rief Amemna nun. Er durchschnitt mit dem Opfermesser die Fesseln des Jungen und winkte einen der Mawati heran, den Jungen in seine Obhut zu nehmen. Das Messer gab er dem Priester zurück, der sich beeilte, den Podest ebenfalls zu verlassen. "Belästigt die Götterr nicht mit eurren kleinlichen Rrachegelüsten!" mahnte Amemna die Menge. In Hamarems Nähe wurden Amemnas Worte anscheinend in die Südlersprache übersetzt.
 

"Sei du unser Birh-Melack, Amemna Darashy!" schrie einer der Männer nahe des Podestes und sofort wurde der Ruf von den Söldnern aufgenommen. Hamarems Ohren klingelten, als die knapp sechshundert Männer auf dem Platz mit zunehmender Lautstärke skandierten: "Sei unser Birh-Melack!"
 

Mit Zeichen versuchte Amemna, die Menge zum Verstummen zu bringen. Als das nicht gelang, bedeutete er durch eine Verbeugung, daß er die Akklamation annahm. Ein Mann, anscheinend der Melack der berittenen Hilfstruppen, reichte ihm einen Helm mit gelbem Federbusch hinauf und Amemna setzte ihn auf und nun gab die Menge endlich Ruhe. "Ja, ich werrde euerr Birrh-Melack sein. Alle Befehlshaberr und meine Mawati kommen soforrt in das Zelt des Ungenannten, um sich mit mirr zu berraten." Dann sprang Amemna vom Podest und verschwand in der Menge.
 

* * *
 

27. Muttergefühle

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

27. Muttergefühle (jugendfrei)

Barida verfolgte durch eine Schießscharte im zweitobersten Stockwerk des Königsturms den Abzug der Zivilisten aus dem Heerlager der Hannaiim. Ihre Berater hatten damit gerechnet, daß es zu einem Aufstand kommen werde, der die Söldner der Hannaiim so weit dezimierte, daß sie kein Problem mehr für Tetraos darstellten. Aber das Lager blieb erstaunlich ruhig. Jetzt flammten Fackeln in der Dämmerung auf, aber Zelte wurden nicht entzündet, und mit dem Geruch der verbrannten Kriegsmaschinen trug der Abendwind Stimmen über die Stadtmauern. "Virh-Melack", hörte Barida die Söldner der Hannaiim brüllen. 'Geflügelter Anführer', aber sie schrien sicher 'Birh-Melack'. Was hatte ihr Anführer ihnen versprochen, daß sie so jubelten? Sollten sie ihren Sold oder eine Anstellung in Tetraos' Diensten bekommen? Ihre Spione würden es ihr sicher bald mitteilen.
 

"Majestät, der König verlangt nach euch", erklang eine piepsige Stimme von der Tür. Barida nickte, ohne sich umzudrehen. Sie wußte, wo sie ihren Sohn finden würde. Und die trippelnden Schritte des Zwerges entfernten sich.
 

Barida warf noch einen Blick auf das Heerlager ihrer eigenen Verbündeten. Das Licht aus den Feuerschalen flackerte etwas im stärker werdenden Wind, aber ansonsten schien sich nichts zu bewegen. Alles war ruhig. Aber Barida war unruhig, denn der Krieg gegen Hannai war wohl noch nicht vorbei. Bisher hatten sie erst eine Schlacht geschlagen gegen den Agressor aus dem Süden, und in der hatten die Tetraosi schwere Verluste hinnehmen müssen. Auch wenn der Feldherr der Hannaiim geflohen war und seine Söldner zurückgelassen hatte, Nisan der Prächtige, der Eroberer, wie sich dieser Emporkömmling aus Berresh nennen ließ, der nun auf dem Goldenen Thron Hannais saß und meinte, den ganzen Norden beherrschen zu müssen, würde es nicht dabei belassen. Nisan der Blutige wäre eine passendere Bezeichnung, denn die Spuren, die er in den feindlichen wie in den befreundeten Landstrichen nördlich der Wüste hinterließ, ließen sich nur mit den verheerenden Vernichtungsfeldzügen jenes anderen Schlächters aus Berresh vergleichen, mit denen Murhans des Städtezerstörers, der ein Söldnerführer der übelsten Sorte gewesen war. Vor siebzehn Jahren war er nach einem Feldzug gegen Tetraos plötzlich verschwunden, verschlungen von seiner dämonischen Schlangenklinge, wie es hieß, und die Städte des Nordens hatten aufgeatmet. Damals war Barida noch kein Jahr mit den König von Tetraos verheiratet gewesen, trug den Thronfolger noch unter dem Herzen. Und Tetraos stolzer König war von Murhan in dessen letzten Schlacht mit der Schlangenklinge getötet worden.
 

Barida sah ein, daß es in manchen Fällen sinnvoll war, Söldner anstelle eigener Soldaten in den Kampf zu schicken, aber noch nicht einmal den eigenen, gut bezahlten Söldnertruppen vertraute sie. Auf allen Befehlshaberposten waren verdiente Tetraosi und sie ließ peinlich darauf achten, daß niemals mehr Söldner als einheimische Truppenteile an einem Ort stationiert waren. Und nun hatte der feige Sohn des Emporkömmlings Nisan ihr ein ganzes Heerlager voller unbezahlter Söldner vor der Tür abgestellt. Und diese Söldner hatten noch nicht einmal den Anstand, sich gegenseitig an den Hals zu gehen, um Baridas Problem damit zu lösen. Was mußte sie tun? Vielleicht allen speerbewaffneten Söldnern den Abzug erlauben, damit so der Rest aufgebracht genug war, die Speerträger zu ermorden? Aber vielleicht reichte es ja auch schon, die Verhandlungen ein paar Tage herauszuzögern, ein paar Versprechungen zu machen, damit die Söldner der Hannaiim ruhig blieben. Dann würde der Wassermangel sie töten. Die Brunnen am Südrand der Ebene würden für diesen Sommer bald versiegt sein.
 

Schließlich wandte sie sich zur Tür, ging gemessenen Schrittes einen der Gänge in der Stadtmauer entlang, vorbei an den Soldaten der Stadtwache, bis sie die große steinerne Brücke erreichte, deren Bogen sich über die Gärten spannte und von der Stadtmauer direkt zum Königspalast führte. Wie sie erwartet hatte, stand ihr Sohn am Rande eines der Brunnenbecken im vorderen Innenhof des Palastes, in das er Zierfische hatte setzen lassen. Er warf Brotkrumen in das Wasser und beobachtete mit ernstem Gesichtsausdruck, wie die Tiere nach ihrem Futter schnappten. "Ihr habt mich zu euch rufen lassen, mein König", sagte sie mit sanfter Stimme und neigte den Kopf ein wenig.
 

"Endlich bist du hier. Sieh her, Mutter", und der junge König winkte seine Mutter an das Becken. "Dieser weißrote Fisch ist der Schnellste von allen. Sieh her." Der Jüngling nahm erneut einen Brotkrumen aus der von einem der Zwergenpagen gehaltenen Schale und ließ ihn genau in die Mitte des Beckens fallen. Obwohl der weißrote Fisch einen längeren Weg als einige andere zurücklegen mußte, um an das Futter zu gelangen, war doch er derjenige, der als erster nach dem Brotkrumen schnappte, und der junge König strahlte seine Mutter an.
 

Barida strich mit einem wehmütigen Seufzer über die vom ersten Bartflaum bewachsene Wange ihres Sohnes. Er hatte den Verstand eines kleinen Kindes, dieser schon fast erwachsene junge Mann. Er war nicht ein bißchen der König, der sein Vater gewesen war. War er zufällig bei strategischen Planungen anwesend, schnappte er sich eines der aus Holz geschnitzten Pferde, die eine Reitereinheit darstellten oder einen der ebenfalls aus Holz geschnitzten Soldaten vom Sandtisch und spielte mit ihnen wie ein kleiner Junge. Er brauchte endlich eine Frau, die sich um die Staatsangelegenheiten kümmern konnte, ihm weiterhin ein würdiges Leben ermöglichte und dafür sorgte, daß das Geschlecht der Könige von Tetraos nicht ausstarb, denn Barida merkte, daß sie müde wurde, sich um alles kümmern zu müssen. Sie wollte ihr Leben wieder genießen können, ohne mitten in der Nacht von Nachrichten über anrückende Heere oder rebellierende Dorfbewohner geweckt zu werden. Immerhin versprach diese Nacht ruhig zu werden - viel ruhiger, als zunächst zu erwarten gewesen war.
 

"Ich begebe mich in meine Gemächer, mein König", sagte sie, auch wenn ihr Sohn nicht auf sie achtete. Ihre Worte waren ohnehin nicht wirklich an ihn sondern an den neben ihm stehenden Pagen gerichtet gewesen, der leicht nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Wenn ihr Sohn doch nur halb so viel Verstand wie einer dieser Zwerge in seinem Schädel gehabt hätte, hätte sie die Staatsgeschäfte schon bei der Krönung vor zwei Jahren beruhigt in seine Hände übergeben.
 

*
 

Die Zofen bereiteten Barida ihr Bad und ihr Bett, kleideten sie aus, kämmten ihr Haar und wuschen sie. Daß der Page Barida wirklich verstanden hatte, zeigte sich, als kurze Zeit nach Barida auch ihr Lieblingseunuch das Schlafgemach betrat. Der rotgelockte Ostländer war erst als Erwachsener kastriert worden, dadurch hatte er einen breitschultrigen Körperbau und eine tiefe, rauchige Stimme, auch wenn seine Körperbehaarung eher spärlich war. Aber vor allem war sein Glied, mit dem er seiner Herrin gekonnt lustvolle Erlebnisse bescherte, erhalten worden. Er hatte ein mittleres Vermögen gekostet und selbst dem Haushofmeister war nicht gestattet, ihn zu züchtigen, das war allein Barida vorbehalten. Und da sie die Kosten ihres 'Zoos' aus ihren eigenen Einkünften trug, ignorierte der Thronrat ihn, denn auch die Berater wußten, was sie an einer regelmäßig befriedigten Regentin hatten.
 

Die Zofen zogen sich endlich zurück, und die Zwergin brachte Barida ihren Abendtrunk, ein berauschendes Getränk aus Trauben, das die Ostländer herstellten und angeblich nur zu religiösen Zwecken zu sich nahmen. Ihr rothaariger Eunuch liebte den Geschmack, und wenn ihr danach war, erlaubte sie ihm, ein wenig aus ihrem Becher zu nippen, oder von ihren Lippen zu kosten. Aber heute leerte sie den Becher allein, genoß die leichte Benebelung ihrer Sinne, das Schwindelgefühl, das immer auftrat, wenn sie die rote Flüssigkeit schnell trank. Sie wollte um nichts in der Welt heute nacht an die Söldnerarmee da draußen vor den Toren Tetraos denken. Es hätte sie nur um den Schlaf gebracht. Sie klingelte nach einem zweiten Becher, den die Zwergin sofort brachte.
 

"Gebieterin, laßt mich euch helfen, euch zu entspannen", ließ sich die Stimme des Eunuchen von ihrem Bett her leise vernehmen. Barida sah über den Becherrand zu ihm hinüber, leerte auch den zweiten Becher bis zur Neige. "Massier mich", befahl sie und legte sich bäuchlings auf ihr Bett. Ihr Eunuch streifte vorsichtig das offene Nachtgewand von ihren Schultern, um den edlen Stoff nicht zu beschädigen, ölte seine kräftigen Hände ein und begann dann, ihren Nacken und ihre Schultern zu massieren. Doch trotz des Abendtrunks fiel es ihr schwer, sich zu entspannen. Die von kundigen Händen ausgeführte Massage schmerzte und das dumme Söldnerheer wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. 'Virh-Melack', hatte man sowas schon gehört! Barida winkte kurz mit der Hand um zu signalisieren, daß die Massage beendet war und drehte sich um, betrachtete den Eunuchen. Die langen, roten Locken, die im Licht der Öllampen zu glühen schienen, waren so dicht und kräftig, wie sie kein Mann in seinem Alter haben konnte. Dafür waren sein Kinn und seine Brust fast haarlos, nur eine schmale Spur an rötlichblonden Haaren zog sich von seinem Nabel zu dem Rest seiner verschnittenen Genitalien, den er unter einem knielangen Rock versteckte.
 

Barida seufzte. Wie hatte sie die kräftige Behaarung ihres Königs geliebt.
 

Der Eunuch rückte näher und begann sie zu streicheln, als Barida sich zurücklehnte und entschied, sich den anregenden Berührungen ganz hinzugeben. Vielleicht half das, die drohende Gefahr für eine Nacht zu vergessen. Ihr Eunuch wußte genau, was Barida mochte und wie er ihre jeweilige Stimmung einzuschätzen hatte. ... Barida schloß die Augen, um ganz zu genießen und sich nicht durch den Anblick des Eunuchen abzulenken. ... Ihr König hatte das nicht nötig gehabt. Ein Blick auf ihren halbbekleideten Körper hatte oft ausgereicht ihn so zu erregen, daß er kaum an sich halten konnte, bevor sie dazu bereit war. Aber vielleicht lag es gar nicht daran, daß hier ein Eunuch versuchte, sie zu befriedigen, sondern einfach daran, daß sie zu alt geworden war, um allein durch ihren Anblick Wirkung zu entfalten.
 

Nun war der Eunuch so weit, sie hörte, wie sein Atem schneller ging. Ein Seufzer der Erleichterung über diesen ersten Schritt zu ihrer wahrhaften Befriedigung entwich Barida und ihr Eunuch begann mit seiner Arbeit.
 

*
 

Nachdem der Eunuch ... erlaubte sie ihm, ihren Kopf auf seiner breiten Brust ruhen zu lassen und den Arm um sie zu legen. Barida genoß die Schwere ihrer Glieder, den warmen Körper neben sich, spielte gedankenverloren mit einer der roten Haarsträhnen ihres Eunuchen, sah hinauf zu dem Gesicht ihres kostbarsten Besitzes. Schon lange hatte sie keinen ihrer anderen Eunuchen mehr zu sich bestellt. Dieser Ostländer war wirklich fast wie ein Mann, auch wenn eine rot gezackte Narbe anstelle seiner Hoden zeigte, daß er eben kein Mann mehr war. Was mochte in diesem Kopf vor sich gehen? Der Eunuch sprach nur von sich, wenn Barida ihn dazu aufforderte, und das tat sie selten. Sie wußte, daß er bereits im Osten als Kriegsgefangener seine Männlichkeit verloren hatte. Er war ausgebildet worden, einer Frau in allem dienen zu können, wußte, wie er sein ansprechendes Äußeres beibehielt, und dabei konnte er nicht viel jünger sein als Barida selbst. "Hältst du mich für alt?" fragte Barida flüsternd, als sie sich an ihren früheren Gedanken erinnerte.
 

"Meine Gebieterin", antwortete der Eunuch. War das Empörung, ihm schlechte Gedanken über seine Herrin zu unterstellen, oder wollte er sie nur daran erinnern, daß sie eine ehrliche Antwort von ihrem Eigentum lieber nicht verlangen sollte?
 

"Ich fühle mich alt", sagte Barida. "Ich habe das Gefühl, daß mich die Verpflichtungen der Regentschaft zu Boden drücken. Und ich weiß, daß sie mir graue Haare verschaffen." Ebenso wie die Sorge um ihren Sohn. Nun lag sie endlich einmal entspannt und ohne die Verpflichtung, sich sofort um irgendwelche Staatsangelegenheiten kümmern zu müssen, in starken Armen, die sie an ihren König erinnerten. Aber gerade in solchen Momenten kam üblicherweise der König zu Barida, um seinerseits in den Armen seiner Mutter einzuschlafen, weil er irgendwelche Ängste hegte, wie sie ein Vierjähriger vielleicht haben mochte. Als er vor einigen Tagen zuletzt das königliche Haupt an ihren Busen gelegt hatte, sie umarmte, sich an sie schmiegte und verlangte, sie solle ihn in den Arm nehmen, damit er einschlafen könne, war es nicht anderes gewesen, als die viele tausend Male zuvor in den letzten gut sechzehn Jahren. Aber inzwischen war er, wenn schon nicht geistig, so doch körperlich ein Mann geworden, viel mehr Mann, als der Eunuch neben Barida. Als ihr Kopf an den Locken des Königs gelehnt hatte, war ihre Sehnsucht nach ihrem König so stark geworden, und sie war sich des Mannseins ihres Sohnes so bewußt geworden, daß es Barida wirklich beunruhigt hatte. Der König brauchte dringend eine Frau, die ihn an ihrem Busen ruhen lassen konnte, damit er nicht zu guter Letzt noch unbeabsichtigt seine Mutter verführte.
 

Da öffnete sich schon die Tür, aber es war nur die Zwergin. Sie trat zu Barida ans Bett und sagte in gedämpftem Ton. "Herrin, einer eurer Boten ist eingetroffen und verlangt dringend, mit euch zu sprechen."
 

Resignierend schloß Barida für einen Moment die Augen. Wie hatte sie hoffen können, selbst einmal einfach in den Armen eines anderen einschlafen zu können? Dann löste sie sich aus den Armen ihres Eunuchen, ließ sich von ihm in ihr Nachtgewand helfen, noch einen Mantel umlegen, und befahl, den Boten zu ihr zu bringen. Der Eunuch begab sich wieder in ihr Bett und zog hektisch die Decke ihres Bettes über seine Blöße.
 

Der Bote war natürlich einer ihrer Spione, die das Feldlager der Hannaiim beobachteten. Einen Moment überlegte sie, wie sensibel die Informationen sein mochten, die er ihr hinterbrachte, aber entschied sich dann doch dafür, den Eunuchen bei sich zu behalten. In den Monaten, die sie ihn besaß, hatte er nichts von dem, was er in ihrem Schlafgemach gehört oder erlebt hatte, ausgeplaudert. Und sie hoffte, daß sie sich nach dem Bericht wieder in seine Arme schmiegen konnte.
 

"Majestät", begann der Spion und verneigte sich, "die Söldner der Hannaiim haben sich einen neuen Anführer gewählt."
 

"Gab es eine Unruhe?" fragte Barida hoffnungsvoll, aber der Spion schüttelte den Kopf. "Sie haben ihn nur einfach zum Birh-Melack ausgerufen und der bisherige Anführer war damit anscheinend einverstanden. Zwischenzeitlich sah es nach einem Aufstand aus, es gab wohl auch einige Verletzte, aber der alte Anführer hat die Masse mit dem Versprechen, den Sohn des Feldherrn der Hannaiim dem Ungenannten zu opfern, beruhigt."
 

Barida schluckte schwer. Dieser Enkel des Königs von Hannai mußte noch ein Kind gewesen sein. Die barbarische Sitte, einem Gott Menschen zu opfern, fand sie widerwärtig. "Und wenn dieser alte Anführer die Masse so gut beherrscht hat, wieso hat er sich dann ablösen lassen?" fragte sie dennoch.
 

Der Spion schüttelte den Kopf. "Der Junge wurde nicht geopfert. Ein Wanack hat es anscheinend mit einem Trick verhindert und wurde daraufhin als Halbgott und neuer Birh-Melack verehrt."
 

"Und jetzt ist das Heerlager der Hannaiim ruhig?"
 

Der Spion nickte. "Der neue Birh-Melack hat auch einen Boten ausgeschickt, um neue Verhandlungen aufzunehmen."
 

Dieser Bote war natürlich zum Feldherrn der Tetraosi geschickt worden, der erst nach einer Beratung mit seinen Befehlshabern der Regentin und den Ratgebern des Thronrates berichten würde. Bis dahin mochte es Tag sein. Was konnte sich dieser neue Birh-Melack von neuen Verhandlungen erhoffen? Die Situation hatte sich ja nicht grundlegend geändert. "Weißt du den Namen des neuen Birh-Melack?" fragte Barida neugierig.
 

Der Spion nickte. "Er heißt Amemna Darashy und ist ein Osheyprinz, wenn ich richtig informiert bin."
 

Barida zog die Augenbrauen hoch. Die Osheykrieger galten als überaus unbeherrscht und brutal. Und einer dieser Wüstenmänner sollte nun tatsächlich der neue Birh-Melack dieser herrenlosen Söldner sein? Das konnte verheerende Folgen für Tetraos haben. Der alte Birh-Melack hatte seinem Bittschreiben nach einen vernünftigen, gebildeten Eindruck gemacht, vielleicht war das der Grund, warum er nicht mehr im Amt war. Der neue Anführer hatte allerdings das Menschenopfer verhindert. Barida mußte sich wohl selbst ein Bild von diesem neuen Birh-Melack machen und den Verhandlungen insgeheim beiwohnen.
 

* * *
 

28. Bekenntnisse

Nefut räumte mit Oremars Hilfe in aller Eile den großen Zeltraum frei, der sonst wohl der Priesterschaft des Ungenannten als Versammlungsraum diente, dann stellte er auf Amemnas Befehl einen Klappstuhl als Thron für ihren unirdischen Birh-Melack auf. Er war mit wunderbaren Schnitzereien verziert, die zum Teil vergoldete Szenen aus den Gärten der Freude darstellten, und stand nun an der Stirnseite des Zeltes vor einem prächtig bestickten Tuch, das sehr passend die Kinder des Ungenannten in Lebensgröße zeigte, die mit ihren Flügeln den Ungenannten abschirmten, damit die Sterblichen hier im Zelt des Ungenannten nicht von seinem Anblick geblendet wurden. Während dessen hatte Derhan den Jungen in den kostbaren Gewändern untersucht. Anscheinend war er unverletzt, wenn auch nicht ganz bei sich. Hamarem hatte ihn gesäubert und in der linken Zeltecke hinter dem Thron zwischen Decken gebettet.
 

Auf Nefuts Wink nahmen die Mawati schließlich als Amemnas Leibwache Aufstellung neben dem Thron, während Amemna sich darauf niederließ. Sie hatte den Helm des ehemaligen Melack neben sich auf den Boden gestellt, vermutlich, damit ihre weißen Haare zu sehen waren. Und nun nahm sie huldvoll die Treueschwüre der Befehlshaber von Reitern und Fußtruppen der Söldnerschar entgegen. Nefut bezweifelte, daß sie die Tragweite ihres Amtes voll erfaßte, da sie so bereitwillig die Akklamation, die von dem bisherigen Birh-Melack angestiftet worden war, angenommen hatte. Falls es ihr nicht gelang, die Lage der Söldner zu verbessern, würde der Mob als nächstes sicher versuchen, sie dem Ungenannten zu opfern. "Ich danke euch allen fürr euerr Vertrrauen in meine Führrung", sagte sie schließlich und erhob sich von ihrem Thron. "Setzt euch, damit wirr überr das weiterre Vorrgehen berraten können." Sie selbst wandte sich zu Nefut um: "Besorrge Tee fürr meine Rratgeberr", befahl sie Nefut und setzte sich dann vor ihrem Thron auf den Teppich. "Laßt uns berraten."
 

Nefut gab den Befehl an die Mawati weiter, blieb selbst neben dem Thron stehen, eine Hand mit verschorften Knöcheln auf dem Schwertheft. Die Mawarim und Wunakim des Söldnerheeres setzten sich, ausgehend von ihrem Birh-Melack, zögernd in einem annähernd ovalen Rund auf den Boden und Hamarem und Oremar beeilten sich, den Städtern, die nicht an die Lebensart der Oshey gewöhnt waren, Kissen zur Bequemlichkeit zu bringen. Dann verteilten sie Teeschalen und Derhan kam endlich mit zwei Kannen, deren Inhalt er und Hamarem verteilten.
 

Der ehemalige Birh-Melack hatte sich rechts neben Amemna gesetzt und begann: "Wir müssen versuchen, die Verhandlungen mit den Tetraosi fortzuführen. Noch steht unser Leben hier auf Messers Schneide." Die anderen Männer nickten dazu. Die Situation für die Söldner hatte sich durch den Wechsel in der Führerschaft nicht im Geringsten geändert. Nur waren die Erwartungen an den Birh-Melack wohl gestiegen, da es sich bei Amemna ja um einen Unirdischen mit Zauberkräften handelte. "Und wir müssen dafür sorgen, daß die Ruhe im Lager erhalten bleibt", warf ein Mawar der Fußtruppen ein. "Dafür sollte man wieder Lagerwachen einsetzen." Auch dazu nickten die Befehlshaber wieder. "Die Männer wollen ihr Geld. Wir sollten versuchen, bei den Tetraosi eine Anstellung zu erhalten und uns nicht mit freiem Abzug abspeisen lassen", ließ sich ein Wanack schließlich vernehmen.
 

*
 

Nach kurzer Zeit waren die Lagerregeln der Hannaiim ausdrücklich wieder in Kraft gesetzt und eine Lagerwache, die zur Hälfte aus Fußtruppen und zur Hälfte aus Reitern bestand, aufgestellt worden. Und Amemna diktierte dem ehemaligen Melack ein von den Befehlshabern gemeinsam verfasstes Schreiben an den König von Tetraos, in dem um weitere Verhandlungen gebeten wurde, da insbesondere angesichts des drohenden Wassermangels die Lage im Heerlager nicht als dauerhaft stabil anzusehen sei und um die zurückgelassenen Besitztümer der Priester und Kaufleute gefürchtet werden müsse. Viele der Männer verabschiedeten sich mit einem Handkuß bei ihrem unirdischen Birh-Melack, die sich geweigert hatte, das Untergewand mit den blutbespritzten Ärmeln gegen ein sauberes zu tauschen, wohl um alle daran zu erinnern, welchem Umstand sie ihr Amt verdankte. Und endlich waren die Mawati und der schlafende Junge allein im Zelt des Ungenannten.
 

"Herr, laßt euch zum Zeichen meiner Treue auch von mir die Hand küssen", ließ Oremar sich plötzlich vernehmen und kniete sich vor Amemna auf den Boden, senkte die Stirn bis auf die Teppiche.
 

"Ist deine Furrcht vorr mirr verrgangen, Orremarr?" fragte Amemna sanft.
 

Oremar hob den Kopf und nickte. "Ihr habt das dem Ungenannten geweihte Opfermesser in der Hand gehalten, und ihr habt auf dem Stuhl des Hohepriesters des Ungenannten gesessen. Da ihr das alles unbeschadet getan habt, könnt ihr kein Dämon sein." Amemna reichte Oremar ihre Rechte, und vor Ehrfurcht ein wenig zitternd nahm Oremar die Finger Amemnas zwischen seine Finger und senkte die Lippen auf ihren Handrücken. "Was auch immer ihr befehlt, Birh-Melack, ich werde euch folgen, bis in den Tod", wiederholte er dann den Treueschwur, den die Anführer früher am Abend geleistet hatten.
 

Amemna lächelte ihn fast zärtlich an. "Ich danke dirr, Orremarr", erwiderte sie.
 

Nefut spürte einen leichten Stich der Eifersucht, als Oremar Amemnas Hand länger hielt, als es Nefut nötig erschien, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.
 

"Laßt uns in unserre Zelte zurrückkehrren", befahl Amemna dann. "Hamarrem, kümmerrst du dich weiterr um den Jungen, bis wirr ihn seinem Vaterr nach Hannai zurrückschicken können?"
 

"Herr, dieser Junge ist nicht der Sohn unseres ehemaligen Feldherrn", warf Hamarem leise ein.
 

Amemna zog die Augenbrauen zusammen. "Und wen habe ich da fürr dich gerrettet, Hamarrem? Fürr wen habe ich mirr dieses undankbarre Amt aufbürrden lassen, das unserr ehemaliger Melack nurr zu gerrn wiederr losgeworrden ist?" Was hatte das Ganze mit Hamarem zu tun? Hatte wirklich Hamarem Amemna zu dieser folgenschweren Rettungsaktion veranlaßt? Und nach ihren Worten war Amemna sich der möglichen Folgen wohl doch bewußt gewesen.
 

Hamarem hatte den Blick schuldbewußt gesenkt. Wahrscheinlich wurde ihm selbst gerade erst klar, was er wirklich von seinem Wanack verlangt hatte, als er sich um das Leben dieses Jungen Sorgen machte. Wenn es nicht der Sohn des Feldherrn war, sondern irgend ein Junge aus dem Troß, wie es wohl Dutzende gegeben hatte, war der Preis, den Amemna dafür gezahlt hatte, bei weitem zu hoch.
 

"Sprrich, Hamarrem", verlangte Amemna mit einer ungewohnten Strenge in der Stimme.
 

Hamarem sah auf und schaute Amemna gerade ins Gesicht. "Herr, der Junge ist der Sohn der Amapriesterin, die hier im Heerlager diente", antwortete er mit fester Stimme.
 

"Das Kind einerr Dienerrin derr Göttin, sagst du?" fragte Amemna erstaunt. Sie sah hinüber zu dem schlafenden Knaben, machte mit den Fingern ein Zeichen vor ihrer Brust und flüsterte eine Art kurzes Gebet in der Südländersprache, von dem Nefut nur 'Hawat' verstand. "Hamarrem, kümmerre dich um ihn, solange err bei uns ist. Und schweigt alle überr seine Herrkunft."
 

*
 

Hamarem ließ nicht zu, daß Amemna ihn auf eines der Pferde hob. "Davon wird er aufwachen, Herr", wandte Hamarem ein. Er ließ Derhan sein Pferd führen, während er die Arme des Kindes um seinen Hals legte und die eigenen Arme um die Oberschenkel des Knaben schlang. Der Junge murmelte etwas Unverständliches und schlief, die Nase in den Stoff von Hamarems Mantel vergraben, weiter, während sie durch das Lager zurück zu den Mawati-Zelten gingen. Dort angekommen kümmerte Oremar sich um die Pferde, Derhan bereitete neben Hamarems Lager eine Bettstatt aus den vielen überzähligen Decken der in die Gärten der Freude eingezogenen Mawati, und Hamarem legte den schlafenden Jungen nieder, kniete sich neben ihn, deckte ihn zu und strich ihm die wirren Haare aus dem Gesicht. Dann drehte er sich zu Amemna um, die mit einem rätselhaften Ausdruck im Gesicht ebenfalls zu dem Kind herabblickte. "Herr, kann ich seiner Mutter mitteilen, daß er noch lebt?"
 

Amemna schüttelte nach einem Moment des Schweigens den Kopf. "Wirr können heute nacht keine Boten losschicken, die nicht eine Nachrricht für die Tetrraosi trragen. Du mußt warrten. Zunächst brrauchen wirr eine Zusage fürr Verrhandlungen."
 

"Ich werde warten", versicherte Hamarem und hockte sich neben das Lager des Knaben.
 

Amemna bedeutete Nefut und Derhan, ihr aus dem Mawatizelt nach draußen zu folgen und führte sie in das Wanackzelt. Dann schloß sie den Zelteingang, entzündete eine Lampe und befahl den beiden Männern, sich zu setzen. Sie nahm das Täfelchen von dem niedrigen Tisch, das aus der Schreibstube des geflohenen Feldherrn stammte, aber sie hielt sich nicht damit auf, den Inhalt zu lesen, anscheinend war er ihr bekannt. Sie wischte nur die Schrift aus und schrieb mit einem Zweiglein Holzkohle langsam eine neue Nachricht. Da ihre Schreibbewegungen nicht so flüssig waren, wie bei ihren Einträgen in ihre Schriftrolle, verwendete sie anscheinend andere Schriftzeichen, vermutlich die der Oshey und der Nordstädte. Aber Nefut konnte aus seiner sitzenden Position keinen Blick auf das Täfelchen erhaschen. Und dann bemerkte er schließlich, daß Derhan ihn betont ausdruckslos ansah.
 

Es war zu erwarten, daß ihr Wanack - nein, ihr Birh-Melack - nun die Erklärung für ihr Verhalten am Nachmittag verlangte, wie sie ja bereits angekündigt hatte. Nefut würde zugeben, daß ihm die Kontrolle entglitten war, weil er Derhan gegenüber unbeherrscht gewesen war. Wenn er begann, sein unverantwortliches Verhalten zu rechtfertigen, konnte er die Situation nur verschlimmern. Und wenn es nach ihm ging, mußte Derhans Verhangenheit oder sein Ungehorrsam gegen den Zweiten nicht zur Sprache kommen, falls es das war, was Derhan fürchtete. "Ich werde die Verantwortung für meine Verfehlungen übernehmen", raunte Nefut Derhan daher zu.
 

Amemna sah auf. "Ja, das wirrst du tun, Nefut", bestätigte sie kalt. Wie hatte sie Nefut während ihrer offensichtlichen Konzentration auf das Schreiben nur hören und verstehen können? "Derrhan", befahl Amemna dann, klappte das Täfelchen zusammen, "brring meine Nachrricht zu Wanack Narrif Perrdinim." Und auf Derhans ratlosen Blick lächelte sie. "Das ist unserr ehemaligerr Melack. Und danach kommst du mit seinerr Antworrt wiederr hierrherr." Derhan nickte, nahm das Täfelchen und drückte sich zwischen den geschlossenen Zeltbahnen nach draußen. "Und nun zu dirr, Nefut. Was hast du mirr zu sagen?"
 

Nefut war plötzlich ratlos. Wie sollte er seiner Geliebten nur sagen, daß er unter ihrer männlichen Natur litt? Wie konnte er es sagen, ohne den Zugang zu ihrer weiblichen Natur zu verlieren?
 

Amemna ließ ihrem Zweiten Zeit, obwohl sie offensichtlich ungeduldig wurde. Aber schließlich fragte sie: "Was ist los mit dirr, Nefut? Du hast dich so verränderrt in den letzten Tagen. Wo ist deine Entscheidungsfrreudigkeit geblieben, deine unbedingte Ehrrlichkeit? Und vorr allem, wo ist deine starrke Hand gegenüberr derr Wannim geblieben?"
 

Nefut seufzte. Das Licht der Lampe ließ Amemnas Gesichtszüge plötzlich so weich, so weiblich aussehen. Die Begierde stieg in Nefut auf und begann, seinen Verstand zu verdrängen. Er sah zu Boden. "Amemna, ich habe nichts zu meiner Entschuldigung vorzubringen. Ich habe die Kontrolle über die Wannim verloren. Derhan und Hamarem machen, was sie wollen, und Oremar war ohnehin fast ständig abwesend... Vielleicht brauchst du einfach einen anderen Zweiten, oder einen anderen Liebhaber." Jetzt war es heraus. Und wie immer Amemna sich wegen der Wannim entschied, Nefut hoffte, daß sie Verstand genug besaß, für die Birh-Mellim den ehemaligen Melack als Zweiten einzusetzen.
 

Amemna schwieg, so daß Nefut endlich wieder aufsah, ihrem forschenden Blick begegnete. Sie hob die Hand, als wollte sie nach Nefut greifen, doch dann ließ sie sie wieder sinken. "Nefut, ich brrauche Leibwächterr, fähige Berrater und wenigstens einen verrtrrauenswürrdigen Schrreiberr an meinerr Seite. Und fürr jedes dieserr Ämterr fällt meine erste Wahl auf dich. Aberr nach deinen Worrten wage ich nicht dich zu frragen, ob du alle Ämter übernehmen würdest. Welcherr Posten also würde dirr am besten gefallen?"
 

'Der als Liebhaber', lag Nefut auf der Zunge, aber er konnte die Worte gerade noch zurückhalten. Und stimmte das denn überhaupt? Sie war so wunderschön, er begehrte sie so sehr, aber tatsächlich war Amemna ebenso ein Mann wie eine Frau. Und jedes Mal, wenn er während ihrer Intimitäten daran erinnert wurde, versetzte es ihm einen Schlag. Und auch ihr unirdischer Zauber änderte daran nichts. Nefuts Ekel davor, mit einem Mann das Lager zu teilen, war einfach stärker als alles andere. Amemna sah ihn fragend an, und veranlaßte Nefut damit, nun endlich doch eine Antwort zu geben. "Amemna, ich will dir ein guter Zweiter sein und bin es nicht. Ich will dich beschützen und weiß nicht, ob ich es kann. Vielleicht solltest du mich als Schreiber in Erwägung ziehen, dann wäre wenigstens meine kalligraphische Ausbildung von Nutzen für dich."
 

"Nefut, du klingst nicht wie derr Mann, derr du gewöhnlich bist", antwortete Amemna nun leise. "Was ist mit dirr passierrt?"
 

Nefut schluckte. "Du vermißt meine unbedingte Ehrlichkeit, Birh-Melack? Deine unirdische Magie macht mich ganz verrückt. Ich will dich - und ich will dich nicht. Wenn du mit einem anderen Mann sprichst, werde ich eifersüchtig bis zum Wahnsinn. Und wenn deine Männlichkeit erregt ist, möchte ich sie am liebsten abschlagen. Es hat sicher seinen Grund, warum sich in den Geschichten die Unirdischen jedem Sterblichen nur ein einziges Mal nähern."
 

Amemna schluckte. "Also ist es meine Schuld, weil ich meine Begierrden nicht surrückkehalten habe", flüsterte sie so traurig, daß Nefut es kaum aushalten konnte.
 

"Es ist meine Schuld, weil ich meinen Begierden nachgegeben habe", flüsterte er zurück.
 

"Nefut, ohne dich werrde ich keinen Tag als Birrh-Melack überrleben. Ich brrauche dich", und sie senkte den Blick auf den Teppich, "und ich liebe dich."
 

Nefut zog es das Herz zusammen. Wie konnte sie ihm sagen, daß sie ihn liebte, nach dem, was er ihr an den Kopf geworfen hatte?
 

"Ich bin wieder da", erklang es von außen, dann schob Derhan die Zeltplane vor dem Eingang beiseite und trat ein. Als Amemna bei Derhans Eintreten den Kopf hob, sah Nefut Tränen in ihren Augen glitzern. Warum mußte Derhan gerade jetzt zurückkommen? Nefut hätte Amemna noch in den Arm nehmen können, sie trösten, ihr gestehen, daß auch er sie liebte, denn nur die Liebe konnte seine Verzweiflung über die Situation erklären. Und gerade jetzt brauchten sie einen zuversichtlichen Birh-Melack, keinen in Tränen aufgelösten. "Die Antwort des Wanack lautet 'Ja'", sagte Derhan, ohne auf Amemnas offensichtlich aufgewühlte Gefühle Rücksicht zu nehmen.
 

Amemna riß sich sichtlich zusammen. "Das ist gut. Werr von euch Mawati kann schrreiben?"
 

Derhan sah zu Nefut. "Nefut natürlich, Hamarem vermutlich und ich."
 

Amemna nickte. "Ihr Mawati werrdet meine Leibwache und im Bedarrfsfall meine Schrreiberr sein. Nefut, ich weiß nicht, ob du dein Amt als Zweiterr derr Mawati fortführren willst. Du hast bis morrgen frrüh Zeit, es dirr zu überrlegen oder mirr einen anderren Vorrschlag zu machen. Und jetzt geht und schickt mirr Hamarrem."
 

Derhan nickte, schlug den Zelteingang ganz auf und ging. Nefut folgte ihm ohne ein weiteres Wort. Ja, er liebte Amemna wohl, doch konnte er das offen bekennen, ohne sich Hamarem noch mehr zu entfremden?
 

* * *
 

29. Schuldgefühle

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

29. Schuldgefühle (jugendfrei)

Hamarem sah besorgt auf das friedliche Gesicht des schlafenden Jungen. Derhan hatte Hamarems Vermutung, daß Nefut der Junge unter Drogen stand, bestätigt. Falls er aufwachen sollte, ohne ein bekanntes Gesicht zu sehen, mochte er panisch werden, und nach dem, was die Befehlshaber im Zelt des Ungenannten besprochen hatten, war es wohl sehr ungewiß, wann der Junge zu seiner Mutter zurückkehren konnte. Als Derhan und Nefut in das Mawatizelt zurückkehrten verrieten die Kräfte um sie, wie aufgewühlt sie waren. Nefuts Blick zu Hamarem und dem Lager des Jungen wirkte ausgesprochen schuldbewußt, aber als Hamarem den Mund öffnete, um zu fragen, was Amemna mit ihnen besprochen hatte, schüttelte Derhan hinter Nefuts Rücken den Kopf und Hamarem schwieg. "Du sollst zu unserem Birh-Melack kommen", sagte Derhan dann.
 

Hamarem erhob sich also gehorsam und ging hinüber zum ehemaligen Wanackzelt, daß nun ein Birh-Melack-Zelt war. Was mochte Amemna ihm zu sagen haben? Nefut der Junge würde doch wohl bei ihnen bleiben können, bis Hamarem mit seiner Mutter Kontakt aufnehmen konnte, oder? Das hatte Amemna ja praktisch versprochen.
 

Amemna saß zwischen den Kissen und sah Hamarem entgegen, als er das Zelt betrat. "Verrschließe den Eingang", sagte der frisch gebackene Birh-Melack müde, doch die Kräfte um Amemna waren eher stärker als sonst in Bewegung.
 

Hamarem gehorchte, blieb in einigem Abstand von Amemna stehen und wartete darauf, daß sein Birh-Melack sagte, was er wünschte. Doch Amemna schwieg und Hamarem betrachtete den jungen Mann, der ihn seinerseits musterte. Amemnas Augen, dunkler als gewöhnlich im schwachen Licht der Lampe, schienen plötzlich so uralt, als zeigten sich in ihnen die niederdrückenden Verpflichtungen, die die letzten Stunden für Amemna mit sich gebracht hatten. Es war, als sei Amemnas unbeschwerte Jugend mit dem Stich in die Kehle des Jungen aus ihnen verschwunden. Wenn Hamarem auch nur geahnt hätte, wie Amemna seine Bitte umsetzen würde, hätte er es niemals von ihm verlangt. Er warf sich auf die Knie und drückte die Stirn auf die weichen Teppiche. "Bitte verzeiht mir, Herr."
 

"Was soll ich dirr verzeihen, Hamarrem? Daß du Nefuts Autorrität unterrgrraben hast? Daß du zu einem sehr ungünstigen Moment meine Schulden eingeforrderrt hast? Oder daß du einfach verrschwunden bist, und mich fürrchten ließest, du wärrst getötet worrden?"
 

"Was soll ich denn sagen?" flüsterte Hamarem ratlos in den dicken Teppich. "Wie kann ich für all das Verzeihung erlangen, Herr?"
 

"Wie wärre es, wenn du damit anfängst, mirr zu errklären, was es mit diesem Jungen auf sich hat", ließ Amemna sich fast ebenso leise vernehmen.
 

Hamarem sah zögernd auf, verharrte aber kniend auf dem Boden.
 

"Komm doch bitte hierrherr, damit wirr wenigstens bequem miteinanderr rreden können", forderte Amemna Hamarem auf.
 

Gehorsam nickte Hamarem." Ja, Herr", und erhob sich, um zu den Kissen in Amemnas Nähe zu gehen. Von nahem sah sein Birh-Melack nicht alt sondern eher traurig aus, als hätte sich ein schwerer Kummer in sein Herz gegraben. Auch seine Augen waren etwas gerötet, als habe er vor kurzem noch Tränen vergossen.
 

"Was ist also mit diesem Jungen, den ich unbedingt rretten mußte?" erinnerte Amemna an seine Frage.
 

"Ich sagte euch schon, Herr, er ist der Sohn der Amapriesterin. Er war ein Gesellschafter des Prinzen. Anscheinend hat der Prinz seine Kleider bei ihm gelassen, um sich unerkannt zu verbergen. Und der Junge hat mit den Kleidern zur Unzeit Prinz gespielt. Daher wurde er als Sohn des Feldherrn zum Opferpodest gebracht", erzählte Hamarem.
 

"Und wieso wußtest du von dieserr Verrwechselung?" fragte Amemna nach.
 

Hamarem seufzte schicksalergeben. "Weil seine Mutter und deren Schülerin es mir offenbarten, Herr."
 

"Du bist also auf verrtrrautem Fuße mit derr Amaprriesterin und ihrrerr Schülerrin", folgerte Amemna. Ein anzügliches Lächeln schien um seine schönen Lippen zu spielen.
 

Hamarem spürte, wie er erötete. Er erinnerte sich so lebhaft an die Augenblicke der Ekstase, die er mit Ramilla und der Amapriesterin und natürlich mit der hübschen Karit erlebt hatte. Und er meinte, daß ihm der Geruch des Verlangens dieser drei Frauen in die Nase stieg, vermischt mit dem noch immer in seinem Gewand haftenden Weihrauchgeruch. Hamarem schloß die Augen, um diese Erinnerungen zu verdrängen, aber es gelang nicht. Statt dessen spürte er jetzt auch noch die sinnlichen Berührungen aus seinen Träumen von Amemna. Erschrocken schlug er die Augen auf, aber Amemna berührte ihn nicht. Er saß weiterhin zwei Armlängen von ihm entfernt, die Kräfte um ihn glühten regelrecht, seine Wangen waren etwas gerötet und sein Atem ging schnell und stoßweise. Wie Hamarems eigener, dem seine Erregung zu schaffen machte.
 

"Entschuldige Hamarem", stieß Amemna hervor. "Es ist nurr..., ich wollte nicht...", stammelte er. "Bitte geh. Wirr rreden späterr..., vielleicht..., geh!" Hilflos, flehend klang sein Birh-Melack, aber Hamarem beeilte sich, seinen Wünschen nachzukommen. Und als er aufstand, um sich zum Zeltausgang zu begeben, bemüht, den Mantel über seine Erregung zu decken, sah er in Amemnas Schoß ein ebensolches verräterisches Zeichen der Lust.
 

Draußen, in der durch eine leichte Brise etwas abgekühlten Abendluft, fragte Hamarem sich, was im Zelt seines Birh-Melack gerade passiert war. Hatte sein unirdischer Birh-Melack seine Gedanken und Gefühle geteilt, so wie Hamarem wiederum die des Birh-Melack? Der Gedanke lag nahe, das sie beide das selbe empfunden hatten. Aber wie konnte das passieren? Hamarem floh vor zufälligen Blicken anderer zu den Tieren, die in einem halb aufgebauten Zelt provisorisch untergebracht waren, streichelte seine Stute, vergewisserte sich, daß ihre schon mehrere Tage zurückliegende Verletzung gut verheilt war. Und langsam fand er seine Ruhe wieder. "Oh Orem, wie konnte soetwas nur passieren?" fragte er seinen Gott, obwohl er wußte, daß er die gerade erlebte gemeinschaftliche Erhitzung Amemnas und seinem eigenen unirdischen Erbteil verdankte.
 

*
 

Nach einer ganzen Weile ging Hamarem zurück ins Mawatizelt, fand Nefut den Jungen noch immer schlafend vor, Derhan und Oremar spielten das Bohnenspiel und Nefut las in den Schriften. Bei Hamarems Eintreten wandten sich ihm alle Blicke zu. "Bist du nun noch Wirtschafter oder inzwischen ebenfalls Leibwächter?" fragte Derhan neugierig.
 

Das hatte Amemna nicht mit ihm besprochen. Aber Hamarem war ein schlechter Wirtschafter gewesen, und als Leibwächter würde er gar nichts taugen. Zudem wäre er dadurch in der Nähe seines unirdischen Herrn, und das war keine gute Idee, denn es mochte wieder zu einem solchen gegenseitigen Erregungszustand kommen.
 

"Was sollst du denn nun machen, Hamarem?" fragte Oremar nach.
 

"Der Birh-Melack war vorhin sehr deutlich. Die Mawati sind seine Leibwächter, also doch wohl alle Mawati, nicht wahr?" warf Nefut ein. Hamarem war jedoch im Zweifel, ob er überhaupt noch als Mawati zählte, da er ja eigentlich nur der Wirtschafter der Wannim war.
 

"Und du bist noch immer der Zweite der Mawati?" fragte Derhan Nefut herausfordernd.
 

Nefut ballte die Fäuste, so daß der Schorf auf seinen Knöcheln an einigen Stellen aufplatzte. "Noch bin ich es. Willst du es vielleicht werden, Derhan?" fragte er dann mit einem gefährlichen Unterton. Wie war Nefut nur zu diesen Verletzungen gekommen? Es sah aus, als hätte er mit bloßen Fäusten eine Mauer eingeschlagen. Dann wurde Hamarem durch die Nennung seines Namen aus seinen Gedanken gerissen. "Was ist?" fragte er etwas verwirrt.
 

"Willst du ab morgen Zweiter der Mawati sein, Hamarem?" wiederholte Derhan geduldig, trotz der vernichtenden Blicke Nefuts. Die Kräfte um Nefut waren wie durch einen Sturm aufgewirbelt, aber Derhan schien zu genießen, ihn noch mehr in Rage zu bringen.
 

"Nefut ist doch der Zweite", wandte Hamarem ein. Und wieso sollte Amemna gerade seinem Liebhaber den Posten als Zweiter der Wannim entziehen? "Laß es gut sein, Derhan", bat Hamarem darum. "Nefut ist ein guter Zweiter, das weißt du."
 

"Er ist ein bißchen unbeherrscht in letzter Zeit", wandte ausgerechnet Oremar nun ein.
 

Und Derhan sagte: "Sei mir nicht böse, Hamarem, aber du hast so einiges verpaßt, während du deinem... Gottesdienst nachgekommen bist."
 

Wahrscheinlich machte Amemna auch Nefut verrückt. Hamarem hatte tiefstes Mitgefühl mit seinem ehemaligen Befehlshaber. Er war ihrem unirdischen Birh-Melack viel näher gekommen, als Hamarem es jemals wagen würde. Und da Amemna ja offenbar doch ein Mann war, mußte es Nefut wahrhaftig krank machen, ihn trotzdem zu begehren. Nefut war in seinem Verständnis vom Wahren Weg viel weniger flexibel, als Hamarem es war, und dabei hatten allein Träume von der Vereinigung mit einem Mann Hamarem schon schwer zugesetzt. "Laßt ihn doch in Ruhe, ihr beide", verlangte Hamarem daher zum Erstaunen aller. "Er hat es schwer genug als Zweiter eines unirdischen Befehlshabers." Und Derhan und Oremar verstummten tatsächlich.
 

Hamarem setzte sich neben das Lager von Nefut dem Kind und sah ihm beim Schlafen zu. Nicht einmal der recht laut geführte Streit hatte den Jungen geweckt, und die Kräfte um ihn flossen in ruhigen Wellen. "Du bist nicht wiederzuerkennen, Hamarem. Du hast mich einfach Nefut genannt, nicht Herr", flüsterte Nefut plötzlich hinter ihm.
 

"Entschuldigt, Herr, aber ich würde euch niemals unehrerbietig ansprechen. Ich habe euren Namen nur benutzt, als ich über euch geredet habe", wandte Hamarem ein, ohne sich umzudrehen. Ob er selbst jemals einen Sohn haben würde? Und wer würde die Mutter dieses Sohnes sein? Fast war Hamarem versucht, Traumkraut deswegen zu kauen.
 

"Ich danke dir, daß du für mich eingetreten bist, Hamarem", ließ Nefut sich wiederum leise vernehmen.
 

Hamarem drehte sich um. Er konnte Nefut nicht sagen, wie gut er seine Probleme nachvollziehen konnte, denn Nefut war noch immer sein Herr, dem er Respekt erweisen würde und dessen Mut und Fähigkeiten er bewunderte. Wie konnte er sich anmaßen, sich mit seinem Herrn auf eine Stufe zu stellen, indem er ihm sagte, daß auch er unter dem Zauber des Unirdischen litt, den Amemna wirkte, einfach weil es seine Natur war.
 

Nefut wartete jedoch anscheinend darauf, daß Hamarem etwas sagte, und dann knurrte Nefuts Magen vernehmlich. Hamarem sprang auf, "Ich werde das Nachtessen bereiten, Herr", und eilte zur Feuerstelle. Nefut setzte sich neben die Feuerstelle, sah Hamarem beim Kochen zu. "Wärst du denn bereit, den Posten als Zweiter der Wannim zu übernehmen?" fragte Nefut plötzlich leise und Hamarem fiel vor Schreck fast das halb gegarte Essen ins Feuer.
 

"Das kann nicht euer Ernst sein, Herr", protestierte Hamarem, doch Nefut nickte bestätigend. "Ich, von allen ausgerechnet ich, soll der Zweite der Mawati werden, mit anderen Worten also der Befehlshaber der Leibwache unseres Birh-Melack?"
 

"Dich respektieren die anderen wenigstens", gab Nefut mit ausdruckslosem Gesicht zurück und brachte Hamarems Protest damit zum Verstummen. Respektvoll hatten sich Oremar und Derhan in der Tat nicht benommen. "Du befielst, wir kämpfen", brachte Nefut es auf eine kurze Formel, "und wir alle wären damit zufrieden."
 

Hamarem mußte an Nefuts Argumentation in Bussir denken, als er Amemna dazu überredet hatte, Wanack einer Räuberbande zu werden. Jetzt war die Zeit, energisch den Kopf zu schütteln. "Das kann niemals funktionieren. Ich bin kein Befehlshaber, Herr."
 

"Aber du warst ein sehr fähiger Zweiter, Hamarem. Denk nicht, daß ich das nicht registriert hätte, auch wenn du die Waffenübungen gerne vernachlässigt hast." Und Nefut nahm für Hamarem das Brot aus der Glut, das schon begann anzukokeln. "Alles hat sich verändert, wie du es voraussagtest in jener Nacht."
 

In 'jener Nacht', als sie Amemna das erste Mal gesehen hatten, vor etwa einem Mond. Ja, es hatte sich alles verändert, gedankenverloren nickte Hamarem. Aber er war nicht sicher, ob er guten Gewissens das Amt als Zweiter der Wannim annehmen konnte. Es mochte verheerende Folgen haben. "Oremar kommt nicht in Frage, er kann nicht einmal lesen", zählte Nefut an den Fingern ab. "Und Derhan, nun, dem würde ich nicht folgen", gab Nefut geradeheraus zu. "Also bleibst nur du. Keiner ist mit dir in Konflikt und dein einziges Argument dagegen ist deine mangelnde Fertigkeit mit dem Schwert. Dann sieh deine Aufgabe doch darin, die Gefahren für unseren Birh-Melack mit deinen Zauberkräutern vorherzusehen um sie von ihm abzuwenden. Welche effektivere Leibwache könnte es geben als eine, die die Gefahren gar nicht erst an ihren Herrn herankommen läßt?"
 

Das Problem das blieb, war, daß eine Leibwache sich stets in der Nähe ihres Herrn aufhalten mußte. Das mochte sich für Hamarem und seinen Herrn als sehr ablenkend erweisen. Aber dieses Argument konnte Hamarem leider nicht vorbringen.
 

"Ja, koch' ihn weich, Nefut", ließ Derhan sich vernehmen. "Meine Stimme hast du, Hamarem." Und auch Oremar nickte.
 

*
 

Ihr Birh-Melack wollte nichts essen, Nefut das Kind schlief weiterhin, und die Mawati aßen in brütendem Schweigen. Hamarem protestierte nicht weiter gegen Nefuts Plan, ihn zum neuen Zweiten der Wannim zu machen sondern nahm es hin und hoffte, daß die anderen bald einsahen, daß die Wahl falsch war, und zwar bevor es zu einer Katastrophe kam. Dann legte er sich auf sein Lager, betrachtete den friedlich schlafenden Jungen, fand die Schönheit seiner Mutter in dem Kindergesicht, die gleichen Locken um die Stirn, den Schwung der Lippen und er wünschte sich zurück in das Zelt der Ama, zu jenen unbeschwerten Stunden, in denen seine Gedanken nicht einen Augenblick zu einem seiner Herren oder der Wannim abgeschweift waren. Und nun sollte er die Verantwortung für die Wannim übernehmen, er sollte Nefut Befehle erteilen.
 

Nefut lag unruhig auf seinem Lager, Derhan dagegen schnarchte schon leise und auch Oremar hatte sich in seine Decken gewickelt und schlief. Hamarem strich dem Jungen noch einmal sanft über das Haar und schloß dann selbst die Augen. So viel konnte er ja eigentlich nicht falsch machen bei einem unirdischen Herrn, der sich notfalls auch von einer tödlichen Verwundung wieder erholte.
 

So weiche Lippen, die ihn küssten, sanfte Hände, die über seinen nackten Körper strichen. Hamarem ließ die Augen geschlossen, genoß die lustvollen Gefühle, die erweckt wurden, gab die Küsse inbrünstig zurück, erkundete mit seinen Fingerspitzen einen Nacken, Schultern, Rücken, ein festes, aber nachgiebiges, wohlgeformtes Gesäß.
 

Eine kundige Hand steigerte seine Erregung, ihr Besitzer schmiegte den eigenen, männlichen Schoß gegen Hamarems Beine. Hamarem öffnete die Augen und sah den jungen Unirdischen, um den die glühenden Kräfte geradezu pulsierten. Was mochte jetzt kommen fragte er sich. Furcht und Begierde mischten sich und sorgten dafür, daß Hamarem das Herz bis in den Hals pochte.
 

...
 

Sie trennten sich und Amemna drückte Hamarem ganz zurück auf die Decken, liebkoste seinen Körper mit seinen Lippen, und Hamarem schloß zum vollen Genießen der lustvollen Gefühle wieder die Augen. Als sich erneut ein Seufzer der Erregung von seinen Lippen löste, erwachte er.
 

Es dämmerte bereits, natürlich lag Amemna nicht neben ihm auf den Decken, natürlich war Hamarem noch in sein Untergewand gekleidet und selbstverständlich hatte er sich während dieses Traums ergossen. Ein wunderbarer Traum, der aber wohl niemals Wirklichkeit werden konnte. Nicht wenn Nefut nicht auch seine Position als Liebhaber ihres Birh-Melack an ihn abtrat. Und Hamarem schämte sich für diesen Gedanken.
 

Gerade griff Nefut nach seinem Schwert, wohl um seine morgendlichen Übungen durchzuführen. Da Nefut das Kind noch selig schlief, beeilte Hamarem sich, Nefut dem Mawati hinaus vor das Zelt zu folgen, das eigene Schwert in der Hand. Er hatte es geschafft, gezielt die Gefühle seiner Geliebten in sich aufzunehmen und er würde es schaffen, unerwünschte Gefühle gezielt von sich abprallen zu lassen. Welchen Schrecken konnte das Schwert also noch für ihn haben, wenn er den Umgang damit beherrschte?
 

Nefut war ganz offensichtlich sehr erstaunt, als er sah, wer sich ihm bei den Schwertübungen anschloß. "Du nimmst deine neue Aufgabe also ernst", schloß er aus Hamarems Verhalten.
 

"Ja, Herr", antwortete Hamarem.
 

"Jetzt bist du der Zweite der Wannim. Du solltest mich nicht mehr so ehrerbietig ansprechen."
 

Hamarem mußte lächeln, als er an seine eigenen Worte während eines ähnlichen Gespräches mit Amemna dachte.
 

"Was ist so lustig?" fragte Nefut neugierig.
 

"Das mir dieser Wandel gefällt, Herr. Und ich bin erst der Zweite der Wannim, wenn ihr es unserem Birh-Melack gesagt habt, Herr." Völlig grundlos war Hamarem das Herz so leicht, war ihm so übermütig zumute, daß er lachen mußte, aber bemühte sich gleich darauf, diese Energie in die Übungen fließen zu lassen.
 

Amemna schloß sich den Übungen diesen Morgen nicht an und nachdem Nefut und Hamarem sich gewaschen hatten, als Oremar und Derhan das Frühstück bereiteten und der Junge noch immer schlief, gingen der ehemalige und der zukünftige Zweite der Wannim zu ihrem Birh-Melack, um ihn über Nefuts Entscheidung zu informieren. "Birh-Melack, seid ihr wach?" fragte Nefut höflich vor dem verschlossenen Zelt.
 

Amemna öffnete den Eingang, sah Nefut an. "Also hast du deine Entscheidung getrroffen", sagte er. Hamarem fiel es schwer, bei dem Blick auf Amemnas wunderschöne Lippen zu verdrängen, wie sie in seinem Traum über seinen Körper geglitten waren.
 

"Ja, ich habe meine Entscheidung getroffen", sagte Nefut. "An meiner Stelle wird Hamarem Zweiter der Wannim."
 

Amemna sah zu Hamarem, als hätte er ihn erst in diesem Moment wahrgenommen. Ihre Augen trafen sich einen kurzen Moment, dann überflog eine leichte Röte Amemnas Wangen und er schaute zu Boden.
 

Hatte Hamarem sich den zärtliche Ausdruck in Amemnas Augen nur eingebildet? Er erinnerte ihn an den Blick Karits, nachdem sie die Göttin gefeiert hatten. Er mußte noch aus Hamarems Traum übriggeblieben sein, denn so hatte Amemna ihn noch niemals in Wirklichkeit angesehen. Und Hamarem kam plötzlich der Verdacht, daß Amemna und er, während ihrer beider Geist im Schlaf gewandert war, den Traum dieser Nacht geteilt hatten. War das vielleicht sogar der Ursprung aller seiner Träume von Amemna gewesen? Hatte er die Begierden seines Herrn geteilt? Denn von allein wäre er wohl kaum auf solche Ideen gekommen. Doch hatte Amemna von Hamarem geträumt, oder hatte Hamarem in seinem Teil des Traums nur einen anderen Mann durch sich selbst ersetzt?
 

Amemna räusperte sich, sah wieder auf. "Eine unerrwarrtete Entscheidung hat Nefut da getrroffen, aber ich denke, sie ist durrchaus akzeptabel." Und Amemna lächelte den Zweiten seiner Wannim in einer Weise an, die Hamarem die Knie wieder einmal weich werden ließ. Dann ging der Birh-Melack zum Mawatizelt hinüber. "Verranlasse, daß die Birrh-Mellim sich in derr zweiten Stunde vorr dem Zelt des Ungenannten sammelt", sagte er im Weggehen ohne sich umzudrehen.
 

Hamarem riß sich zusammen, eilte seinem Birh-Melack hinterher. "Herr, habt ihr einen Zweiten für die Birh-Mellim eingesetzt?"
 

Amemna war schon im Eingang des Zeltes. "Derr ehemalige Melack ist derr Zweite derr Birrh-Mellim." Dann verschwand er im Mawatizelt.
 

"Ich veranlasse alles sofort", versicherte Hamarem und lief los zum Zelt des ehemaligen Melack, um dem Zweiten der Birh-Mellim seine Befehle zu überbringen.
 

*
 

Als Hamarem in das Mawatizelt zurückkehrte, war Nefut das Kind endlich erwacht. Derhan kümmerte sich um ihn und hatte ihm anscheinend etwas zu essen gegeben. Der Junge wirkte müde, erstaunlich ruhig, nur die Kräfte um ihn waren etwas in Unordnung. Als er Hamarem erblickte, war er sichtlich erleichtert. Hamarem ging zu ihm und der Junge warf sich ihm an den Hals, vergrub seine Nase wieder in Hamarems Mantel. "Ich will zu meiner Mutter", sagte er so leise, daß nur Hamarem es hören konnte.
 

"Das wird noch ein paar Tage dauern, fürchte ich", antwortete Hamarem ebenso leise. "Aber ich und die anderen Mawati werden bis dahin auf dich aufpassen."

"Hat mich euer Wanack wirklich dem Ungenannten geopfert und ins Leben zurückgeholt?" fragte der Junge dann nach einer Weile. Angesichts des Aufruhr in den Kräften schien ihm die Antwort auf diese Frage überaus wichtig zu sein.
 

"Hat Derhan es dir so erzählt?" fragte Hamarem nach und der Junge nickte.
 

"Eigentlich hat unser ehemaliger Wanack nur deutlich gemacht, daß der Ungenannte das Opfer nicht wünscht", versuchte Hamarem richtig zu stellen.
 

"Nefut, Hamarrem, begleitet mich zurr Verrsammlung derr Birrh-Mellim", ließ sich in dem Moment Amemna vom Zelteingang her vernehmen. "Ihrr anderren bleibt in derr Menge."
 

Vorsichtig löste Hamarem die Arme des Jungen von seinem Hals. "Ich muß meinen Herrn begleiten. Bleib bei Oremar und Derhan, dann kann dir nichts passieren."
 

Der Junge nickte etwas verschüchtert, und als Hamarem vom Zelteingang noch einmal zurückschaute stand er noch genau dort, wo Hamarem ihn wieder auf den Boden gestellt hatte.
 

Hamarem kam außer Atem, als er Amemna und Nefut durch die Zeltgassen in das Zentrum des Lagers zum Zelt des Ungenannten folgte. Und als der Birh-Melack sich vor der fast vollständig versammelten Birh-Mellim auf das Podest begab, Nefut sich breitbeinig ein Stück hinter Amemna aufstellte, die linke Hand am Schwertgriff, fühlte Hamarem sich sehr lächerlich, als er versuchte, die Pose Nefuts nachzuahmen. Immerhin war er einen guten Kopf kleiner als Nefut und um einiges schmaler.
 

Durch die Menge ging ein erwartungsvolles Raunen, als Amemna den ehemaligen Melack zu sich winkte, der ein wichtig aussehendes Schreiben in den Händen hielt, komplett mit zwei Bändern und daran baumelnden Siegeln. Das mochte ein Schreiben der Tetraosi sein. "Männerr", begann Amemna seine Ansprache, und hatte sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit der knapp sechshundert Männer, "ich habe den Wanack Narrif Perrdinim zum Zweiten derr Birrh-Mellim gemacht. Err warr ein guterr Melack und err wirrd fürr euch alle ein guterr Zweiterr sein. Und als glücksverrheißendes Zeichen seinerr Amtseinsetzung kam wenig späterr dieses Schrreiben derr Tetrraosi", Amemna streckte die Hand danach aus und Narif Perdinim gab es ihm, "in dem sie perrsönlichen Verrhandlungen zustimmen, die heute vorrmittag stattfinden sollen. Es werrden derr Feldherrr derr Tetrraosi, Verrtrreterr ihrrerr Verrbündeten und Abgesandte des Königs an den Verrhandlungen teilnehmen. Von unserrerr Seite werrden außerr mirr ein Verrtrreterr derr Befehlshaberr derr Rreiterrei und einerr derr Fußtrruppen teilnehmen. Ich werrde verrsuchen, eine neue Anstellung fürr uns alle zu errhalten, damit endlich derr ausstehende Sold bezahlt wirrd. Und ich errwarrte, daß ihrr euch alle rruhig verrhaltet." Mit einer schwungvollen Bewegung steckte Amemna das Schreiben der Tetraosi in seinen Gürtel, nickte seinem Zweiten der Birh-Mellim kurz zu und ging zur Treppe, die von dem Podest herunterführte.
 

Nefut und Hamarem beeilten sich, den Anschluß nicht zu verlieren.
 

Inzwischen schickte der Zweite der Birh-Mellim die Söldner wieder in ihre Zelte und Amemna sagte zu Nefut. "Hol unserre Pferrde, wirr trreffen uns mit den Verrtrreterrn derr Söldnerr auf dem Musterrungsplatz vorr dem Lagerr."
 

Nefut nickte und eilte davon durch die Menge, die sich langsam auflöste, während Amemna eher gemessenen Schrittes in Richtung Ausgang ging, Hamarem immer einen Schritt hinter ihm. Kurz vor der Palisade, die das Heerlager umgab, blieb Amemna auf einmal stehen, so daß Hamarem plötzlich neben ihm war, bevor auch er zum Stillstand kam. "Hamarrem, ich möchte mich bei dirr entschuldigen", sagte der Birh-Melack leise.
 

"Wofür?" fragte Hamarem überrascht, als Amemna längere Zeit schwieg.
 

"Daß ich dich gesterrn so bedrrängt habe. Ich weiß nicht, wie es passierren konnte, aberr ich habe wohl irrgendwie die Kontrrolle verrloren und..." Die Scham, die in Amemna aufstieg, traf Hamarem wie ein Hammerschlag.
 

"Es war euch unangenehm, Herr", folgerte Hamarem schnell und drehte sein Gesicht weg, so daß sein Birh-Melack die Enttäuschung nicht sehen konnte. Wieso war er gar nicht auf die Idee gekommen, daß Amemna die gegenseitige Erhitzung peinlich und unangenehm gewesen sein könnte? Aber das er einen Mann als Liebhaber hatte hieß ja nicht, daß er jedem Mann in dieser Weise begegnen wollte. Von wem habt ihr in der Nacht geträumt, Herr? wollte Hamarem fragen, aber dazu fehlte ihm der Mut. Vielleicht ahnte Amemna gar nichts von den geteilten Träumen, und das war wohl auch besser so. "Ihr seid Abkömmling eines Unirdischen", stellte Hamarem also fest, denn in seinen Augen war das Erklärung und Entschuldigung genug.
 

Und Amemna ließ es dabei bewenden.
 

* * *
 

30. Verhandlungen

Der Feldherr der Tetraosi und die beiden Oberbefehlshaber der Verbündeten warteten bereits vor einem der beiden Zelte, die man zwischen dem Lager der Hannaiim und der Stadtmauer von Tetraos aufgestellt hatte. Zwei Ratgeber des Throns waren bestimmt worden, im Namen der Tetraosi zu sprechen und Barida hatte sich deren Gefolge aus Schreibern und Boten angeschlossen, um sich selbst ein Bild von dem neuen Birh-Melack machen zu können. Es war nicht einfach gewesen, den Kriegsrat dazu zu überreden, persönlichen Verhandlungen zuzustimmen. Auch mit dem vorherigen Birh-Melack habe man nur schriftlich verkehrt, die Zusage persönlicher Verhandlungen würde nur unnötige Kosten mit sich bringen. Also hatte Barida schließlich die Opferpriester des Upar-Tempels bestochen, um günstige Vorzeichen für Verhandlungen zu erhalten, denn sie war äußerst neugierig auf den neuen Birh-Melack. Sie wollte den Mann sehen, dem es gelang, eine wilde Söldnermeute, die auf ihren überfälligen Sold wartete, zu zähmen.
 

Sie hatte schon gelegentlich Oshey zu Audienzen empfangen. Sie waren meist wortkarg und recht steif gewesen, wenn auch eigenartig attraktiv mit ihren dunkel geschminkten Augen und der meist schwarzen Kleidung. Einen Osheyprinzen hatte Barida jedoch noch nie gesehen, denn die meisten Oshey, die bis nach Tetraos gelangten, waren Handwerker, Karawanenführer und dergleichen, gelegentlich auch Leibwächter, die dann die langen lackierten Schwertscheiden im Gürtel trugen für ihre ebenso langen Schwerter.
 

Über die Ebene ritten fünf Männer heran, einer von ihnen mit einem auffälligen gelben Helmbusch, der metallene Teil des Helms war jedoch zum größten Teil mit einem bunten Tuch umwickelt. Zwei weitere Reiter trugen ähnlich bunte Turbane und wie bei dem offensichtlichen Anführer flatterten schwarze Mäntel über den langen, weiten Untergewändern. Außerdem war da noch ein Südländer mit einem Raubtierfell über der schwarzhäutigen Schulter und ein Mann mit braunem Turban und braunem Mantel. Sie alle trugen Schwerter an den Seiten aber bis auf den Helm des Birh-Melack waren keine Rüstungsteile zu erkennen. Auf die Entfernung sah zunächst keiner dieser Männer wie ein Oshey aus, doch beim Näherkommen erkannte Barida, daß der Anführer mit dem Helmbusch und die beiden Männer mit bunten Turbanen die Augen schwarz umrandet hatten. Auch die Schwerter dieser drei waren viel länger als die der beiden anderen. Und der Anführer war bartlos, offenbar noch ein Jüngling, anscheinend jünger als ihr eigener Sohn, mit weißen Augenbrauen und außergewöhnlich hellen Augen. Bevor die Männer das Zelt erreicht hatten und abstiegen, ging Barida mit den Schreibern hinein und überließ es ihrem Feldherrn, den Birh-Melack und seine Männer zu begrüßen.
 

Anscheinend war einer der älteren Männer der Wortführer, wohl der Südländer mit dem roten Turban, denn der Sprecher hatte einen hörbaren Südlerakzent und eine tiefe Stimme, die keinem vielleicht vierzehnjährigen Jüngling gehören konnte. Dieser Oshey-Prinz war also nur eine Marionette, die vielleicht von dem vorherigen Birh-Melack bewegt wurde. Etwas enttäuscht setzte Barida sich zwischen die Schreiber, die Kapuze ihres Umgangs so weit über ihr Gesicht gezogen, daß es sicher im Schatten lag, und beobachtete, wie die beiden Verhandlungsparteien am Tisch Platz nahmen. Ein Diener reichte Becher mit aromatisiertem Wasser, die Ankömmlinge tranken schweigend.
 

Und endlich neigte der trotz seiner Jugend schon sehr hochgewachsene Birh-Melack kurz den Kopf vor dem Feldherrn der Tetraosi und sagte: "Herrren, ich heiße Amemna Darrashy und bin derr Birrh-Melack des Söldnerrheerres. Ich möchte euch mich und meine Männerr als Kämpferr für Tetrraos anbieten." Ohne Zweifel hatte er vorhin vor dem Zelt gesprochen. Seine von dem leichten Südlerakzent gefärbte aber sehr angenehme Stimme klang wie die eines erwachsenen Mannes. Das hübsche, völlig bartlose Gesicht paßte aber gar nicht dazu. Bei einem Osheyprinz war es undenkbar, daß er verschnitten war, doch sein Aussehen ließ nur diesen Schluß zu. Barida betrachtete den Birh-Melack mit neuem Interesse. Auch seine Haare, deren Spitzen unter dem tuchumwickelten Helm hervorlugten, waren so weiß wie seine Augenbrauen, aber die Farbe seiner Haut unterschied sich nicht von der seiner Osheybegleiter. Verglichen mit den anderen Männern seiner Delegation, die bis auf einen der Oshey die breiten Schultern von Schwertkämpfern hatten, war der Birh-Melack eher hochgewachsen und schmal, seine Hände sehr schlank. Wie es wohl wäre, von diesen anscheinend kräftigen aber feingliedrigen Händen massiert zu werden, zu spüren, wie sie über den Körper strichen?
 

Der Birh-Melack pries derweil die Tugenden seiner überaus gehorsamen Birh-Mellim, ihre Kampferfahrung und Schlagkraft und verwies auf die intimen Einsichten in den Heeresapparat der Hannaiim, den sie durch ihren früheren Dienst gewonnen hätten und der sich im Kampf gegen Hannai als sehr dienlich erweisen könnte. Gelegentlich wurden seine Angaben durch Zahlen oder knappe Bemerkungen des älteren Oshey neben ihm ergänzt, der sehr kultiviert sprach. Vielleicht war das der vorherige Birh-Melack der Söldner. Er wirkte wie ein Ratgeber oder Lehrer des Jüngeren und hatte die Haltung und Statur eines wahrhaften Kriegers.
 

Auch der Südländer und der fünfte Mann, der offenbar ein Nordstädler war, machten auf Nachfrage Angaben zu den Truppenstärken der Reiter und Fußsoldaten, der dritte Oshey dagegen, ein magerer, neben seinem großgewachsenen Birh-Melack klein wirkender Mann, schwieg, auch wenn er dem Gespräch aufmerksam folgte. Was mochte seine Funktion sein? Der Südländer war offenbar ein Anführer der Reiterei, der Nordstädler ein Anführer der Infantrie, dieser schmächtige Mann aber schien noch nicht einmal ein Kämpfer zu sein, trotz des Schwertes, daß er an seiner Seite trug. Er wirkte eher wie ein vergeistigter Gelehrter.
 

"Wieviel Geld blieben die Hannaiim euren Truppen schuldig?" wollte Baridas Finanzminister wissen, nachdem der Birh-Melack darauf hingewiesen hatte, daß noch Gelder ausstünden, die die Männer natürlich erwarteten, und mit deren Bezahlung man sich ihre Treue sichern könne.
 

Der Berater des Birh-Melack beantwortet die Frage ohne zu zögern. Es war eine stattliche Summe und dazu würde der weitere Unterhalt der 579 Mann starken Truppe kommen. Aber Barida wollte mehr über diesen Birh-Melack wissen, den seine Männer als Halbgott verehrten, nach dem was ihr Spion gesagt hatte; der aussah wie ein hübscher Jüngling aber die Stimme und den Verstand eines erwachsenen Mannes hatte; dessen Wangen mit zarteren Härchen bewachsen waren, als die ihres sechzehnjährigen Sohnes, der aber größer war als die meisten anderen Männer, die nun mit ihm am Tisch saßen. Außerdem wirken die hellgrauen Augen und die weißen Augenbrauen in dem dunklen Gesicht so wunderbar exotisch. Um diesen Birh-Melack zu besitzen, würde Barida das ganze Söldnerheer kaufen müssen, aber das würde sie, grob geschätzt, kaum mehr kosten als der rothaarige Ostler seinerzeit.
 

Es wurden erneut Getränke gereicht, dann wurde die Delegation der Söldner gebeten, in einem benachbarten Zelt zu warten, damit sich die Tetraosi beraten konnten. Die Söldner erhoben sich. Wie sein Lehrer hatte auch der Birh-Melack die auffällig aufrechte Haltung eines Oshey-Schwertkämpfers. Dabei bewegte er sich mit einer geschmeidigen Kraft, die Barida an ein großes, hungriges Raubtier denken ließ. Wonach ihn wohl hungerte? Sie freute sich schon darauf, das herauszufinden.
 

Als die Söldner das Zelt verlassen hatten, begannen der Feldherr und die anderen Männer das Für und Wider der Beschäftigung dieser Söldnertruppe für den Krieg gegen Hannai zu diskutieren. Barida hatte ihre Entscheidung getroffen, aber sie ließ die Männer reden, denn angesichts des überzeugenden Vortrags des Birh-Melack schien sich abzuzeichnen, daß zumindest der Feldherr vom Wert dieser Söldner überzeugt war, aber fürchtete, bei Barida deswegen gegen Mauern zu rennen, da ihre söldnerfeindliche Haltung allgemein bekannt war. Sollten die Männer sich also Argumente zurechtlegen, sie zu überzeugen, dann konnte Barida eine Menge Geld sparen und den Unterhalt der Söldner der reich gefüllten Staatskasse auferlegen, ohne ein schlechtes Gewissen deswegen haben zu müssen.
 

"Majestät", begann da schon der Kriegsminister, "diese Söldner würden uns mit ihrer Erfahrung eine unschätzbare Hilfe sein, wenn wir den Krieg Hannai vor die Haustür tragen wollen."
 

Barida versuchte, all ihr Mißfallen an bewaffneten Auseinandersetzungen in ihre Worte zu legen: "Müssen wir denn diesen Krieg wirklich fortsetzen? Sollten wir nicht damit zufrieden sein, daß wir so glimpflich davongekommen sind?"
 

"Nein, das sollten wir nicht, Majestät", widersprach der Feldherr energisch.
 

Der Kriegsminister brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. "Wir müssen die jetzige Situation ausnutzen", erklärte er der Regentin dann. "Der Feldherr der Hannaiim ist mit seinen städischen Truppen geflohen, deren Selbstbewustsein ist also gründlich untergraben. Dagegen sind unsere Truppen und Verbündeten so stark wie nie, dazu kommt das Söldnerheer, das sicherlich keine freundschaftlichen Gefühle für die Hannaiim hegt. Wir haben also alle Vorteile auf unserer Seite. Laßt uns gegen Hannai ziehen. Die Voraussetzungen sind so günstig wie nie."
 

Barida wiegte zögernd den Kopf. "Ich verstehe eure Argumente. Auch muß der König natürlich eine feste Hand zeigen gegen diesen feigen Angriff. Aber können wir uns den Kriegszug, noch dazu mit einem Söldnerheer, überhaupt leisten?"
 

Nun nickte der Finanzminister eifrig. "Aber ja, Majestät. Gerade wenn wir noch vor der Regenzeit in den Krieg ziehen, kommt uns dieses neue Söldnerheer gar nicht so teuer. Wenn der Kampf gegen Hannai vorbei ist, werden die Söldner entlassen und sie suchen sich woanders eine neue Anstellung. Allein die Einnahmen aus den Fischerdörfern reichen, um diesen Kriegszug zu tragen."
 

"Aber ihr plant doch nicht, Hannai zu belagern, nicht wahr?" vergewisserte Barida sich.
 

Da konnten ihre Berater sie beruhigen. Eine vernichtende Schlacht wolle man schlagen, den Hannaiim zeigen, daß die Tetraosi nicht mit sich spielen ließen, damit die Hannaiim auf Jahrzehnte nicht wieder wagten, sich mit ihnen anzulegen, aber es sollte kein langer Feldzug werden.
 

"Und sollen wir etwa eine Garnision für die Söldnertruppe bauen? Wir können sie unmöglich innerhalb der Mauern von Tetraos unterbringen, egal wie diszipliniert sie sein mögen", sprach Barida den nächsten Punkt an, der ihr am Herzen lag.
 

Die Minister und der Feldherr nickten dazu, ebenso die Vertreter der Bundesgenossen. Einer der beiden meinte dann: "Wieso bleiben sie nicht in ihrem Lager? Wenn der Feldzug nach Hannai ohnehin bald unternommen werden soll, wäre es das einfachste."
 

"Und damit sie nicht brüskiert sind, können wir ihren Birh-Melack mit seinem Gefolge ja in den Palast einladen", meinte der Kriegsminister ergänzend.
 

Barida lächelte wohldosiert. Alles nahm den gewünschten Verlauf. "Das klingt akzeptabel. Dennoch werdet ihr verstehen, daß mir eine Entscheidung in dieser Sache nicht leicht fällt." Barida verstummte und keiner der Ratgeber wagte, auch nur laut zu atmen, während sie vorgeblich das Wohl Tetraos gegen ihre persönlichen Befürchtungen abwog. Als sie entschied, genug geschwiegen zu haben, seufzte sie ein "In Ordnung", und: "Wollt ihr die Söldner dann bitte von ihrer Anstellung in Kenntnis setzen?"
 

Die Delegation der Tetraosi war sichtlich erleichtert über diese Entscheidung ihrer Regentin. Ein Bote wurde zum anderen Zelt geschickt, kam kurz darauf jedoch allein zurück. "Der Birh-Melack sagte, er wolle einen offiziellen Vertrag mit dem König schließen. Über die Dauer des Dienstes, die Besoldung und Unterbringung nebst Verpflegung und Wasserversorgung möchte er eine schriftliche Erklärung", erklärte der Bote.
 

Nun gestattete Barida sich ein breiteres Lächeln. Offensichtlich war der Birh-Melack nicht dumm. Doch wenn er auf einen Vertrag bestand, würde er sich ebenfalls schriftlich zu seinen Leistungen verpflichten müssen. Die beiden Minister berieten sich über den Wortlaut des Vertrages und diktierten ihn dann einem der anwesenden Schreiber. Auf Baridas Wunsch wurde neben den üblichen Bedingungen auch die Verpflichtung zu unbedingtem Gehorsam gegenüber dem König und seinen Vertretern ausdrücklich in den Vertrag aufgenommen. Eine genauere schriftliche Fixierung ihrer persönlichen Wünsche vermied sie jedoch. Die würde sie dem hübschen Birh-Melack lieber persönlich in ihren Gemächern offenbaren.
 

* * *
 

31. Der Vertrag

Nefut hatte bei den Vertragsverhandlungen ein gutes Gefühl gehabt. Amemna hatte ihre Sache vortrefflich gemacht und trotz ihrer Jugend die drei Feldherrn und die beiden Ratgeber des Königs von Tetraos mit ihrer Kompetenz sichtlich beeindruckt. Während der Wartezeit wurden der Söldnerdelegation Früchte und Getränke serviert und binnen kurzem wurde ihnen dann auch der Vertragsentwurf vorgelegt. Amemna befahl Nefut, ihn vorzulesen.
 

"Wir, Parsan Faretim, König von Tetraos, nehmen hiermit den Birh-Melack Amemna Darashy mit seiner Birh-Mellim aus 62 Reitern und 517 Fußsoldaten für einen Kriegszug gegen Hannai in Dienst.
 

Wir verpflichten uns, die aus der Vorbeschäftigung der Männer ausstehenden Gelder in Höhe von 4606 Tar binnen einem Tag zu zahlen und garantieren als Sold vom Tag des Vertragsabschlusses an je Mann und Tag 1 Tar für Fußsoldaten und je Mann und Tag 2 Tar für Reiter. Dazu erhalten die Wunakim und Mawarim der Einheiten je Mann und Tag 1 Tar zusätzlich. Die Zahlungen erfolgen nach jeweils sieben Tagen oder bei Beendigung des Kriegszuges. Als weitere Einnahmequelle wird den Männern hiermit das im Einzelfall zu bestätigende Recht der Plünderung eroberter Siedlungen und Lager zugestanden.
 

Während der Vertragsdauer haben der Birh-Melack und seine Birh-Mellim die gleichen Rechte und Pflichten, wie die Bundesgenossen der Tetraosi. Zusätzlich zur Wasserversorgung garantieren wir die Verpflegung der Reit- und Lasttiere durch Futterlieferungen und die der Männer durch die regelmäßige Einrichtung von Märkten. Die Unterbringung erfolgt für die Mannschaften im noch bestehenden ehemaligen Heerlager der Hannaiim und während des Feldzuges als ordentlicher Teil der Truppen der Tetraosi im Heerlager der Tetraosi. Der Birh-Melack und sein Gefolge sind eingeladen, bis zum Feldzug im Palast des Königs zu wohnen.
 

Der Birh-Melack Amemna Darashy und seine Befehlsempfänger verpflichten sich dafür im Gegenzug, den Befehlen des Königs, der Regentin und ihrer Vertreter unbedingt zu gehorchen. Sie sind angehalten, dem Kriegsrat all ihr Wissen über die Hannaiim zur Kenntnis zu geben und auch sonst mit Wort und Tat zu einem Gelingen des Kriegszuges beizutragen. Als Teil des Heeres der Tetraosi sind sie verpflichtet, den Lagerregeln der Tetraosi zu folgen.
 

Eine vorzeitige Auflösung des Vertrages ist nur im gegenseitigen Einverständnis möglich, er endet ansonsten nach Beendigung des Kriegszuges gegen Hannai."
 

"Das klingt verrnünftig", ließ der Schwarze Wanack sich vernehmen und Nefut konnte ihm nur Recht geben.
 

"Was ist mit den Zivilisten, also dem Badezeltpersonal, der Priesterschaft und so weiter, die bereit sind, in unser Lager zurückzukehren? Es wurde nur über die Herausgabe der Besitztümer der Zivilisten gesprochen, aber ich glaube, unsere Leute würden es schätzen, wieder über ein halbwegs angenehmes Lagerleben zu verfügen", ließ Hamarem sich plötzlich mit leiser Stimme vernehmen. Als das Thema während der Beratungen besprochen wurde, hatte er dazu kein Wort gesagt. Anscheinend hatte er sich zwischen den ganzen Befehlshabern unwohl gefühlt. Nefut hoffte für ihn, daß er sich bald an den Gedanken gewöhnte, als Zweiter der Mawati jetzt auch zu den Befehlshabern zu gehören, im Rang einem Wanack vergleichbar.
 

"Ich denke auch, daß es gut wäre", stimmte der Mawar Hamarem zu, der Amemna als Vertreter der Fußtruppen begleitet hatte, und die anderen nickten ebenfalls.
 

"Dann sollten wirr die Tetrraosi darrum bitten, die bei ihnen unterrgebrrachten Leute darrüberr zu inforrmierren", entschied Amemna. "Mawarr Tarrim, kümmerrt euch darrum." Und der Mawar verneigte sich und verließ das Zelt.
 

Dann sah Amemna Hamarem an. "Mirr wurrde gesagt, daß du die Zukunft vorrherrsagen kannst, Zweiterr." Nefut hatte es beim Frühstück beiläufig erwähnt. Anscheinend war das der Grund für Amemna gewesen, zu den Verhandlungen nun gerade Hamarem als zweiten Leibwächter mitzunehmen.
 

Hamarem nickte zögernd. "Ich kann vorhersagen, ob sich eine Entscheidung günstig oder ungünstig auswirkt. Exakte Vorhersagen kann ich jedoch nicht machen."
 

"Dann sag mirr, ob sich die Zustimmung zu diesem Verrtrrag günstig oderr ungünstig auf meine Leute und mich auswirrkt, Hamarrem", befahl Amemna.
 

Hamarem griff in eine Tasche an der Innenseite seines Mantels und zog zwei Blätter von seinem Zauberkraut heraus. Unter den neugierigen Blicken der Anwesenden zerkaute er sie, dann goß er langsam, und ohne den Blick davon zu wenden, klares Wasser in einen der bereitstehenden Becher. Endlich sah er Amemna wieder an, atmete auffällig schwer. Er atmete drei oder vier mal tief durch und begann dann: "Die Tetraosi werden sich genau an den Vertrag halten, wenn auch ihr es tut, Herr." Seine Stimme schien etwas zu zittern und wieder atmete er mehrfach durch und fuhr endlich fort: "Es scheint wichtig zu sein, daß ihr dem Herrscher unbedingt und in allem gehorcht, damit sich der Vertrag günstig auf die Birh-Mellim auswirkt."
 

"Du hast interressante Männerr in deinerr Leibwache, Birrh-Melack", bemerkte der Schwarze Wanack.
 

Amemna hatte Hamarem angesehen. Nun sah sie dem Schwarzen Wanack in die Augen, ihr Atem beschleunigte sich. "Du hast keine Ahnung, wie interressant, Adí W'schad", antwortete sie und griff nach dem Wasserbecher, den Hamarem zu seiner Vorhersage verwendet hatte, um den Inhalt mit einem Schluck herunterzustürzen.
 

Waren ihre Wangen gerötet? Nefut zwang sich, nicht über den Schwarzen Wanack und seinen Birh-Melack nachzudenken. Er verschränkte die Finger und musterte den Schorf auf seinen Knöcheln. Er war nun ja nicht mehr der Zweite der Mawati, Hamarem mußte sich in Zukunft mit Derhan herumärgern. Nefut konnte sich dagegen ganz darauf konzentrieren, den Leib seines Birh-Melack zu schützen. Ein verhängnisvoller Gedanke, denn sofort stieg aus seiner Erinnerung der Anblick ihres wunderschönen Busens auf, ihrer erst von wenigen flaumigen, weißen Härchen bewachsenen Vulva. Nefut drehte sich weg, damit die anderen nicht sein vor Erregung errötetes Gesicht sahen. Er wünschte sich so sehr, mit Amemna allein zu sein, aber trotz ihrer Worte am Vorabend fürchtete er, daß ihm nicht mehr gestattet werden würde, ihr beizuwohnen. Vielleicht hätte er ihr ebenfalls seine Liebe gestehen sollen. Aber in diesem Moment war er nicht einmal sicher, ob es nicht nur wildes Verlangen nach ihrem jungen, schönen Körper war, das ihn umtrieb.
 

"Die Tetraosi werden mit den Priestern und den anderen Zivilisten sprechen", sagte der Mawar plötzlich. Nefut hatte nicht mitbekommen, daß er das Zelt wieder betreten hatte. "Und sie sagten auch, daß der Vertrag heute nachmittag hier von allen Befehlshabern und dem König unterzeichnet werden kann, wenn ihr ihm zustimmt, Birh-Melack."
 

"Gibt es irrgendwelche Einwände gegen den Verrtrragsentwurrf?" fragte Amemna in die Runde.
 

"Ihr wollt doch nicht wirklich mit eurem ganzen Gefolge in den Palast des Königs ziehen, Birh-Melack?" Hamarem klang auffallend beunruhigt.
 

Amemna sah ihn nicht an. "Ich werrde mit einerr Auswahl meinerr Leibwächterr in den Palast ziehen. Als Zweiterr wirrd Hamarrem in jedem Fall bei den Mawati im Lagerr bleiben. Außerrdem wirrd er verrantworrtlich fürr die Zivilisten sein, die ihrre Besitztümerr zurrückverrlangen, oderr in das Lagerr zurrückkehrren wollen."
 

Hamarem nickte gehorsam.
 

"Wen werdet ihr denn mitnehmen in den Palast, Birh-Melack?" verlangte Nefut zu wissen.
 

"Das entscheide ich nach derr Mittagsrruhe", antwortete Amemna knapp. "Also keine Einwände mehr gegen den Verrtrrag, wie es scheint." Sie setzte den Helm auf, den sie erst abgesetzt hatte, als die Söldner unter sich gewesen waren. Die anderen verstanden das als Zeichen zum Aufbruch und folgten ihr. Vor dem zweiten Zelt standen die Feldherren mit einigen Boten. Sie sahen Amemna erwartungsvoll entgegen, als sie auf sie zukam. "Ihrr Herrren, wirr sind mit dem Verrtrragsentwurrf einverrstanden. Sollen alle Mawarrim und Wunakim zusammen mit mirr und meinem Zweiten unterrschrreiben?" Amemna reichte dem Feldherr der Tetraosi den Vertragsentwurf zurück.
 

Der Feldherr nahm das Stück Papyrus entgegen. "Das würden wir in der Tat begrüßen, Birh-Melack Darashy. Dann fühlen sie sich auch alle zur Einhaltung des Vertrages verpflichtet."
 

"Ich danke den Götterrn, daß ich euch unserre Bitte perrsönlich vorrtrragen durrfte. Ich werrde alles darran setzen, daß derr Verrtrrag eingehalten wirrd", sagte Amemna mit einer Verbeugung.
 

Der Feldherr lächelte abfällig. "Dankt nicht den Göttern sondern lieber der Regentin, Birh-Melack. Wenn sie nicht darauf bestanden hätte, die Opferpriester nach dem Ausgang etwaiger Verhandlungen zu befragen, hättet ihr heute hier nichts vortragen können."
 

Die Söldner kehrten zur Mittagsruhe ins Lager zurück. Hamarem wurde damit beauftragt, den Zweiten der Birh-Mellim sowie die Mawarim und Wunakim von dem bevorstehenden Vertragsabschluß zu unterrichten. Und dann wurde Nefut von Amemna in ihr Zelt gebeten. Sie schloß den Eingang, stand vor ihm. "Nefut, du hattest gesterrn gesagt, ich brräuchte einen anderren Zweiten oderr einen anderren Liebhaberr. Du hast dich heute morrgen gegen den Posten als Zweiterr entschieden. Heißt das, du bleibst wenigstens mein Liebhaberr?" Leicht errötend senkte sie ihren Blick. Ihre Stimme klang so hoffnungsvoll, daß es Nefut schmerzte.
 

Seine Befürchtung, sie nie wieder berühren zu dürfen, war also unbegründet gewesen. Er sank vor Amemna auf die Knie, faßte zärtlich nach ihren Händen, hauchte einen Kuß auf ihre Finger. "Verfüge über mich, meine Geliebte." Doch Amemna zuliebe mußte er ehrlich sein. "Gerade im Moment begehre ich dich mehr als alles andere. Aber ich weiß nicht, wie lange das anhält. Und ich werde mich nicht öffentlich als dein Liebhaber bekennen."
 

Amemna nickte. "Das ist viel mehrr, als ich nach deinen Worrten gesterrn auch nurr errhoffen konnte." Sie kniete sich ebenfalls auf die Teppiche, küßte ihn zärtlich, dann wilder, und endlich fielen sie wie ausgehungert nach den Berührungen des anderen übereinander her.
 

*
 

Amemna war es gelungen, für Nefut ganz Frau zu sein. Vielleicht würde Nefut sie nach dem Feldzug gegen Hannai überreden können, als Frau mit ihm zusammen zu leben. Ob Amemna fähig war, Kinder zu bekommen? Hamarems liebevoller Umgang mit dem Sohn der Amapriesterin hatte in Nefut den niemals zuvor so stark wahrgenommenen Wunsch, Vater zu werden, erweckt. Wenn er erst einmal Amemna zur Frau hatte, fehlte zu seinem vollkommenen Glück nur noch ein Erstgeborener, dem er die Liebe und Zuneigung schenken würde, die sein eigener Vater ihm vorenthalten hatte. "Derr Verrtrrag muß unterrschrrieben werrden, mein Liebsterr", erinnerte Amemna ihn leise, als Nefut noch auf dem Lager sitzend zusah, wie sein geliebtes Weib mit den Gewändern wieder zum Birh-Melack wurde. "Und ich möchte, daß du und Derrhan mich dorrthin und dann in den Palast begleitet."
 

Nefut seufzte. Warum nur ausgerechnet Derhan?
 

Amemna hob mit einem Finger Nefuts Kinn an, sah ihm mit einem kritischen Blick in die Augen. "Hast du Prrobleme mit Derrhan?"
 

Nefut wich Amemnas Blick aus. "Nur mit seinem Spott", antwortete er resignierend. Aber Derhan wußte ohnehin von Nefuts und Amemnas Liebschaft, also war er eine bessere Wahl als Oremar, der wohl noch nichts ahnte. Dann wusch Nefut sich gründlich, um nicht durch den Duft seiner unirdischen Geliebten vor den Tetraosi den Verstand zu verlieren, dann folgte er seinem Birh-Melack in das Mawatizelt.
 

Amemna hatte Hamarem und Oremar ihre letzten Anweisungen anscheinend schon gegeben. Sie verabschiedete sich von beiden und dem Jungen mit einem Kopfnicken und winkte Derhan und Nefut dann, ihr zu folgen. Derhans hämisches Grinsen zeigte, daß er ahnte, was Nefut über Amemnas Auswahl der Leibwächter gerade empfand. Aber Nefut zwang sich zur Ruhe, griff nach seiner Satteltasche und beschloß, sich der Herausforderung in einer für einen besonnenen Mann angemessenen Form zu stellen, denn er gönnte Derhan nicht den Triumpf, ein weiteres Mal mitzuerleben, wie er erneut die Fassung verlor.
 

*
 

Als sie bei den Zelten der Tetraosi eintrafen, war unter dem freien Himmel einschließlich des Opferfeuers alles zur Unterzeichnung des Vertrages vorbereitet. Der Feldherr der Tetraosi empfing Amemnas Delegation und übergab ihr dann ein Exemplar des unterzeichungsbereiten Vertrages, damit sie kontrollieren konnte, ob der Wortlaut dem des Entwurfes entsprach.
 

Amemna reichte das Dokument an Nefut weiter, Nefut las es und bestätigte seinem Birh-Melack, daß alles seine Richtigkeit hatte. Dann warteten sie auf die Delegation des Königs. In der Zeit las Nefut vorsichtshalber auch noch das zweite Exemplar des Vertrages, das für die Tetraosi gedacht war und unter einem Bleigewicht in Form der Sonnenkrone Tyrimas auf dem Tisch lag, um zu prüfen, ob die beiden Exemplare identisch waren. Aber die Tetraosi hatten offenbar nicht vor, ihre neuen Söldner zu täuschen.
 

Endlich ritt der König in strahlend weißer Kleidung auf einem ebenfalls weißen Pferd von der Stadt her zu den Zelten, gefolgt von einer wohlgerundeten Frau in prächtigen städtischen Gewändern, seinen Beratern, die den Vertrag entworfen hatten und zehn Soldaten, die vermutlich seine Leibwache darstellten. Als er die Zelte erreicht hatte, stellte Nefut erstaunt fest, daß der König von Tetraos etwa so alt wie Amemna sein mußte, denn es lockte sich erster Bartflaum an seinen Wangen. Wieso konnte dieser beinahe zum Mann gereifte Jüngling nicht in seinem eigenen Namen herrschen, sondern bedurfte einer Regentin? Die ältere Frau neben ihm, die mit grimmig zusammengezogenen Brauen und verächtlichen Blick die Söldner kritisch aus teichgrünen Augen musterte stellte der Feldherr der Tetraosi erwartungsgemäß als die Regentin und Mutter des Königs vor.
 

Amemna überließ es dem Zweiten der Birh-Mellim, den Birh-Melack, sich selbst, sowie die zehn Wunakim und sieben Mawarim mit Namen vorzustellen. Als Leibwächter des Birh-Melack standen Nefut und Derhan etwas abseits und wurden folglich auch nicht vorgestellt. "Ich hoffe, ihr nehmt die Einladung des Königs an, im Palast zu wohnen, Birh-Melack", bemerkte die Regentin nach der Vorstellung auffällig beiläufig. "Nach der Vertragsunterzeichnung wird es außerdem einFestmahl geben." Nefut fragte sich, was sie im Schilde führen mochte.
 

Amemna aber nickte und verneigte sich vor der Regentin. "Ich werrde derr Einladung des Königs gerrne nachkommen." Die Regentin schien damit zufrieden zu sein. Vielleicht wollte sie nur sichergehen, daß der höflich formulierten Einladung in den Palast, die wohl eigentlich eine Verpflichtung war, auch nachgekommen wurde.
 

Der König lächelte nur, aber sagte nichts, und das änderte sich auch während der Vertragsunterzeichnung nicht. Und das Opfer an Tyrima brachte anstelle des Königs schließlich der Feldherr der Tetraosi zusammen mit Amemna dar. Nefut beobachtete, wie Amemna ihrem Zweiten danach noch Anweisungen für die Birh-Mellim gab. Daher fuhr er tatsächlich etwas zusammen, als ihn plötzlich eine jugendliche Männerstimme fragte: "Wieso habt ihr aufgeschlagene Knöchel?"
 

Es war der König von Tetraos, der sich daraufhin neugierig Nefuts Hand besah, sie sogar in die eigenen Hände nahm, um sie näher zu betrachten. Das war ein ungewöhnliches Verhalten für einen fast erwachsenen Jüngling. Tatsächlich benahm er sich eher wie ein neugieriges Kind. Vielleicht war das der Grund, warum seine Mutter noch immer als Regentin die Zügel in der Hand hielt. Nefut wurde vom König aus seinen großen grünen Augen gemustert, die wirkten wie die eines unschuldigen Kindes. Offenbar erwartete er eine Antwort. "Majestät, ich habe mich an Steinen verletzt", erklärte Nefut also.
 

"Hat euch das Schmerzen bereitet?" wollte der König wissen und strich mit einem Finger über den rauhen Schorf.
 

Nefut entzog dem König langsam seine Hand. "Ja, es hat mir Schmerzen bereitet. Aber nun sind sie vergangen." Wenn er das nächste Mal Wut auf irgend etwas oder jemanden verspürte, sollte er sich bemühen, keine bleibenden Spuren zu hinterlassen, um nicht alle Tage wieder daran erinnert zu werden.
 

"Ist das ein Offi-Schwert?" fragte der König dann und griff nach dem Heft, das an Nefuts linker Seite aus seinem Gürtel ragte.
 

Nefut schob die Hand des Königs sanft aber unnachgiebig von dem Schwertgriff und legte die eigene Linke darauf. "Ihr meint ein Oshey-Schwert, Majestät?" vergewisserte Nefut sich.
 

"Heißt es so?" fragte der König neugierig nach. "Oschei-Schwert", und er grinste, als habe er ein unanständiges Wort gesagt.
 

"Ja, so heißt es, Majestät, Oshey-Schwert. Die einschneidige Klinge ist vier taribische Fuß lang und auf voller Länge geschärft." Der König schien noch weitere Fragen zu haben, aber da wurde er von der Regentin fortgewunken, und mit einem freundlichen Lächeln verabschiedete er sich von Nefut. Die Tetraosi folgten ihrem König und seiner Mutter zu den Pferden und auch Amemna machte sich bereit, mit der Delegation der Tetraosi in die Stadt zu reiten. Also saßen Nefut und Derhan auf, um ihr zu folgen.
 

* * *
 

32. Begehren

Der hübsche Birh-Melack begleitete Barida, ihren Sohn und die beiden Minister zurück nach Tetraos. Sein Gefolge bestand nur aus den beiden Leibwächtern, die er zur Vertragsunterzeichnung mitgebracht hatte. Einer von ihnen war der Lehrer des Birh-Melack, den Barida schon am Vormittag bei den Verhandlungen gesehen hatte, der andere war ein kleinerer, aber stämmig gebauter Mann, dessen schwarzer Bart bereits grau wurde und dem man den Kämpfer eher abnahm, als dem Mann, der den Birh-Melack am Vormittag begleitet hatte. Was mochte die Funktion des schmächtigen Gelehrten gewesen sein, daß seine Anwesenheit bei den Vertragsverhandlungen für seinen Herrn so wichtig gewesen war? Auf Baridas Frage, ob das sein ganzes Gefolge sei, wo seine Diener wären, lächelte der Birh-Melack nur. "Meine beiden Leibwächterr sorrgen auch fürr meine sonstigen Bedürrfnisse. Mein Zweiterr und meine übrrigen Leibwächterr sind im Lagerr unentbehrrlich. Zurr Zeit dürrften sie gerrade euerr grroßzügiges Geschenk an die Birrh-Mellim unterr den Männerrn verrteilen."
 

Bei Baridas großzügigem Geschenk handelte es sich um eine Wagenladung Obst, Gemüse und Getreide, sowie zweihundert Hühner, damit auch das Söldnerheer in den Genuß eines Festmahles kam. Barida fragte sich, wie dieser merkwürdige Oshey mit dem Südlerakzent wohl ihren Namen aussprechen würde. Ihr gefiel, wie er das 'r' in seiner Kehle rollte.
 

Auf dem Weg durch die Stadt schien der Birh-Melack interessiert, aber wenig beeindruckt. Die Oshey hatten keine Städte, das wußte Barida. Allerdings mochte er Hannai kennen. Und seine Leibwächter schien die Architektur der Stadt nur insoweit zu interessieren, als sich in jedem dunklen Winkel Attentäter verborgen halten konnten. Sie registrierten sichtlich jeden Bewaffneten, dem sie begegneten.
 

"Derr König ist sehrr still", bemerkte der Birh-Melack, nachdem der König sich nach Erreichen des Palastes mit einem kurzen Kopfnicken zurückzog, um sich vor dem Festmahl umkleiden zu lassen.
 

"Er ist kein Freund großer Worte", erklärte Barida. Sie hatte ihrem Sohn schon vor Jahren eingeschärft, während offizieller Anlässe zu schweigen und allein sie oder andere Mitglieder des Thronrates in seinem Namen sprechen zu lassen. Und der König hielt sich zumeist daran, auch wenn er nach der Vertragsunterzeichnung anscheinend ein paar Worte mit dem Lehrer des Birh-Melack gewechselt hatte.
 

Barida winkte einen der Zwergenpagen heran, damit er dem Birh-Melack und seiner Leibwache die Gemächer zeigte, in denen sie im Palast wohnen sollten. Nur dem kleineren der beiden Leibwächter entlockte der Anblick des Zwerges ein erstauntes Heben der Augenbrauen, der Birh-Melack und sein Lehrer hatten anscheinend schon einmal einen dieser kleinwüchsigen, zartgliedrigen Menschen gesehen, die Barida als exotischen Blickfang in ihrem Hofstaat hielt.
 

*
 

Zum Festmahl erschien der Osheyprinz ohne Helm oder Turban auf seinen vollen, schlohweißen Haaren und auch sein Schwert hatte er abgelegt. Seine beiden Leibwächter dagegen trugen weiterhin ihre langen Schwerter im Gürtel, hatten allerdings ebenfalls ihre bunten Tücher abgelegt. Der Lehrer des Birh-Melack hatte seine zuvor unter dem Turban versteckten langen Haare hinter die Ohren gestrichen und die Enden lockten sich auf seinen Schultern, der Graubart dagegen hatte einen blank rasierten Schädel. Der Birh-Melack begrüßte die Anwesenden mit einem hoheitsvollen Neigen seines Kopfes und wandte sich dann an Barida: "Ich hörrte, es wärre allein euch zu verrdanken, daß ich perrsönlich vorr eurren Verrtrreterrn sprrechen durrfte. Ich möchte euch dafürr danken."
 

Barida nahm den Dank mit einem Nicken zur Kenntnis. Der Birh-Melack hatte seine Sache am Vormittag so gut gemacht, daß eine weitere Manipulation des Kriegsrates durch Barida überflüssig geworden war. "Nach dem, was ich hörte, wart ihr sehr überzeugend", antwortete sie endlich lächelnd. "Mein Kompliment an euch, Birh-Melack." Nun mußte er nur noch beweisen, daß er auch andere Talente hatte.
 

Der Birh-Melack lächelte auf ganz bezaubernde Weise zurück, und ließ sich dann nach einem weiteren Blick in die Runde entspannt auf eines der Speisesofas sinken, seine Leibwächter blieben jedoch hinter ihm stehen. Sie waren so diszipliniert, daß sie sich nicht einmal durch das Auftragen der Speisen von ihrer Aufmerksamkeit für ihren Herrn ablenken ließen, die angesichts des Aufwandes, der für das Festmahl getrieben worden war, von den anderen Anwesenden mit bewunderndem 'Ah's' und 'Oh's' gewürdigt wurden. Ja, sie lehnten zunächst sogar die Häppchen und Getränke ab, die ihr Herr ihnen anbot.
 

Barida genoß schweigend, den Osheyprinzen zu beobachten, und sagte deshalb kaum mehr als der König, doch der Feldherr der Tetraosi war ein charmanter und amüsanter Plauderer und so verlief das Festmahl in entspannter Atmosphäre. Der Birh-Melack trug ebenfalls nichts zu dem Gespräch bei, auch wenn er ihm anscheinend aufmerksam folgte. Hin und wieder raunte er seinen Leibwächtern die eine oder andere Bemerkung zu, die jedoch nur die beiden Männer hinter ihm verstanden. Bei diesen Bewegungen nach hinten spannte die Kopfleiste seines Untergewandes, doch wo bei seinen Leibwächtern das schwarze Brusthaar erkennbar wurde, war bei ihm nur makellos scheinende, palisanderfarbige Haut zu sehen, ebenso wie an seinen Unterarmen. So unwahrscheinlich es auch sein mochte, er konnte nur ein Eunuch sein, mit dieser tiefen Stimme, ohne dabei maskulinen Haarwuchs aufzuweisen.
 

Es gab keine verschnittenen Oshey. Barida hatte sich vor einigen Jahren einmal bemüht, einen zu erwerben, doch ein kriegsgefangener Oshey brachte sich anscheinend eher um, als einen Teil seiner Männlichkeit abschneiden zu lassen. Wie also konnte es sein, daß ausgerechnet ein Osheyprinz, der kein ganzer Mann war, hier an ihrem Tisch lag? Oder war er nur hier, weil er in seinem Stamm nicht geduldet wurde? Barida nahm sich vor, das herauszufinden, bevor der Feldzug nach Hannai den Birh-Melack wieder aus ihrer Reichweite brachte. Ein weiteres Rätsel war seine Verehrung als Halbgott. Angeblich hatte seinen Leuten als Beweis dafür schon sein weißes Haar gereicht, das an Osheylegenden von Engelswesen erinnern sollte. Sie würde ihre Augen und Ohren überall im Palast mit Nachforschungen beauftragen, vielleicht konnten sie für weitere Informationen dazu ihre Fühler auch in anderer Weise ausstrecken. Die Leibwächter des Birh-Melack mochten sich interessiert an den Verlockungen ihrer Dienerinnen zeigen.
 

*
 

Endlich war es so spät, daß Barida sich und den König für die Nacht entschuldigen konnte. Sie ließ sich von ihren Zofen baden und neu frisieren, dann ließ sie sich in ein leicht abzustreifendes Kleid hüllen und schickte ihre Zwergin, den Birh-Melack allein in ihre Gemächer zu befehlen. Wollte er nicht gleich am ersten Tag vertragsbrüchig werden, mußte er ihr gehorchen. Barida stand am Fenster, als die Zwergin ihn zu ihr brachte. Das Mondlicht hatte die Dächer der Stadt in ein geometrisches schwarz-weiß Muster verwandelt, dahinter erstreckte sich die nun grau erscheinende Ebene bis zum Horizont. Irgendwo hinter der Ebene begann das Meer, darüber wölbte sich der Nachthimmel. "Schön, daß ihr meinem Befehl so rasch gefolgt seid, Birh-Melack", begann Barida. Sie bedeutete der Zwergin, zwei Becher des berauschenden Traubensaftes zu bringen und winkte den Osheyprinzen zu sich. Die Vorfreude, seinen schönen Körper bald in Besitz nehmen zu können, erregte sie.
 

"Welchen Wunsch habt ihrr, Majestät?" fragte der Birh-Melack mit einer Verbeugung.
 

Barida winkte ihn näher. Von Ferne hatte er schmal gewirkt, aber durch seine Größe war er tatsächlich recht breitschultrig. Er war tadelos gekleidet, nur die weißen Haare waren etwas zerzaust, als hätte er schon im Bett gelegen, als ihn ihr Befehl erreichte. Und ein Barida unbekannter, sehr angenehmer Duft ging von ihm aus. Ahnte er, was sie von ihm wollte und hatte sich für sie parfümiert? Das nur vom Licht des vollen Mondes erleuchtete Gemach ließ seine ansonsten hellen Augen fast schwarz wirken, wie einen Abgrund, in den ein Unvorsichtiger stürzen konnte. "Ich wünsche euren unbedingten Gehorsam, Birh-Melack", antwortete Barida. Sie konnte nicht verhindern, daß die Erregung in ihrer Stimme mitklang. Glücklicherweise kam in diesem Moment die Zwergin mit den zwei Bechern des Ostlergetränkes. Barida nahm sie entgegen und reichte einen an den Birh-Melack. "Trinkt", befahl sie und nahm selber einen Schluck.
 

* * *
 



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Salix
2012-03-07T21:18:41+00:00 07.03.2012 22:18
Hui, spannend,

wie die letzten Kapitel auch.

Ich bin froh, dass es eine Regentin in Tetraos gibt, so wie es historisch ja auch immer wieder der Fall gewesen ist. Sie scheint eine fähige und gewitzte Frau zu sein. Ich hoffe du hast für sie mehr als die Rolle als Intrigantin und Verführerin vorgesehen. Bis jetzt scheintes jedenfalls der Fall zu sein, schließlich wird sie auch als liebende Mutter dargestellt.

LG
Von:  Salix
2012-03-02T11:59:05+00:00 02.03.2012 12:59
Ein sehr schönes Kapitel, besonders dass der Tross, der auch zu einem Heer gehört eingebaut und dargestellt wurde.

Eine Klitzekleine Sache, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube es wird erwähnt das Hamarem das Nachtmahl vorbereitet, bevor er die Händler sucht. Also müsste er es am Ende das Kapitels nur noch zubereiten und fertig machen zum Servieren. (Kann aber auch sein, dass ich nicht genau genug gelesen habe.)

LG
Von:  Salix
2012-03-02T11:45:42+00:00 02.03.2012 12:45
Hi,

ich war über das Geheimnis verblüfft. Ich habe auch Flügel erwartet. Sähen sicher schick aus. Aber na ja, ich habe eh ein Faibel für Fabelwesen aller Art.

Andereseits war mein Eindruck, dass es zwischen den Beiden erstaunlich schnell zur Sache geht, gerade wegen der verblüffenden Enthüllung. Selbst, wenn die erotische Ausstrahlung da mit reinspielt, finde ich es Angesichts der Enthüllung ziemlich plötzlich. Aber das kann auch nur mein Eindruck sein.

LG
Von:  Salix
2012-02-29T09:58:28+00:00 29.02.2012 10:58
Hallo, nun melde ich mich mal.
Das Nichtverstehen der magischen Fähigkeiten von den verschiedenen Personen und die Trauer um die Toten sind so beschrieben, dass es nachvollziehbar ist.
Und brr, was für ein gruseliger Albtraum!

LG
Von:  alateya
2012-02-24T18:00:59+00:00 24.02.2012 19:00
Damit ein Anfang gemacht ist ;)
Weiter so, ich hoffe du nimmst es mir nich übel dass ich die jugendfreien Kapitel nicht durchlese.

Liebe Grüße
Alateya


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