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Die Geflügelte Schlange - Aufstieg

* * make love, not war * * - Teil 1
von

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2. Auf Abwegen

Hamarem brachte den gefangenen weißhaarigen Oshey zum Gefangenenlager, das sich außerhalb der Sichtweite der Oase und des Banditenlagers in der Wüste befand. Auf dem Weg sprach der Gefangene kein einziges Wort, aber die Art wie er sich bewegte, seine hinter seinem Rücken gefesselten Hände und das, was trotz der Augenbinde im Mondlicht von seinem Gesicht zu sehen war, machten deutlich, daß es sich bei ihm keineswegs um einen alten Mann handelte, sondern eher um einen großgewachsenen Jüngling von vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahren. Der Gefangene war sogar sehr groß, denn obwohl er beim Gehen den Kopf hängen ließ war er größer als Hamarem und schien tatsächlich mindestens ebenso groß zu sein wie Nefut, der die meisten anderen der Banditen überragte.
 

Und die Wirbel der Kräfte um den Gefangenen, der bevorstehende Wandel in ihnen fast greifbar und fremdartig wie ein nordländischer Mantel, paßten nicht zu seiner Stammeskleidung. Hamarem würde dringend mit Nefut über diesen Jungen sprechen müssen.
 

*
 

Von dem Gefangenenlager war bisher erst ein Zelt errichtet. Es war hell erleuchtet und schließlich saßen alle neunundzwanzig Gefangenen entwaffnet, barfuß und nur mit ihren Untergewändern bekleidet dicht beieinander und beklagten flüsternd ihr Geschick. Hamarem stand mit seinen eigenen drei Zeltgenossen sowie sechs anderen Wächtern im Kreis um die Gefangenen, während weitere Männer außen um das Zelt herum postiert waren, um jeden Fluchtversuch zu vereiteln.
 

Kurz nachdem der letzte Gefangene in das Zelt geführt und ihm die Augenbinde abgenommen worden war, kam Ashan mit zwei seiner Leibwächter, ließ seinen Blick mit unverkennbarem Besitzerstolz über die Gefangenen schweifen, baute sich dann vor dem Zelteingang auf und sagte: "Ich bin Ashan, der Anführer eurer Wächter. Wir haben euch gefangen genommen, um Lösegeld für euch zu erhalten. Keiner meiner Männer wird euch auch nur ein Haar krümmen, wenn ihr nicht versucht, zu fliehen. Morgen könnt ihr Briefe an eure Familien schreiben, und sobald das Lösegeld hier eingetroffen ist, seid ihr frei." Dann winkte Ashan seine Leibwächter mit sich hinaus und verschwand wieder.
 

Die fünf Frauen, die mit der Karawane gereist waren, hatten ihre Schleier behalten dürfen, so weit immerhin wahrten die Banditen die Form, aber weder das, noch Ashans Ansprache hatte einen der Gefangenen beruhigt. Nur die vier kleinen Kinder schliefen in den Armen ihrer Mütter oder Großmütter schnell ein.
 

Die Nacht schritt fort und als Hamarems Neugierde über seine Vernunft siegte, kaute er ein paar Blätter des Traumkrautes und versuchte, durch Versenken in das Flackern der Lampenflamme neben sich einen Hinweis auf die kommenden Geschehnisse zu erhalten. Aber alles was er wahrnahm, nachdem sich das leicht bittere Aroma des Traumkrautes verflüchtigt hatte, war der Geschmack von Blut auf der Zunge.
 

Als der Morgen schon dämmerte wagte Hamarem schließlich, den Jungen genauer zu betrachten. Er hatte am Rand der Gefangenengruppe gesessen und sich zum Schlafen auf den Teppichen zusammengerollt. Sein weißes Haar war etwas kürzer als in den meisten Stämmen bei einem Jüngling üblich, sein hübsches, nach Stammesart bemaltes Gesicht noch bartlos. Wie die anderen Gefangenen war er von der Gestalt her unzweifelhaft Oshey, mit einer Hautfarbe wie dunkler Honig. Aber die weißen Augenbrauen und seine hinter den nun geschlossenen Lidern liegenden hellgrauen Augen paßten ebensowenig in das Bild eines Stammesabkömmlings, wie die weißen Haare zu seiner Jugend. Die Unirdischen, die Kinder des Ungenannten, die geflügelten Boten des Nächtlichen Träumers hatten so weiße Haare, waren von so vollkommener Schönheit. Und natürlich die Kinder, die sie mit Sterblichen zeugten. Allerdings hieß es, ihre Augen wären gelb wie die der Falken, nicht steingrau wie die des Gefangenen. Weiße oder hellgraue Augen sollten den Schriften nach die Dämonen Chelems haben.
 

In der Bemalung des Nasenrückens erkannte Hamarem plötzlich die Schlangenlinie der Darashy. War der Jüngling vielleicht die geflügelte Schlange, von der Hamarem seit langem in der vorletzten Nacht nun erstmals wieder geträumt hatte? Bisher hatte Hamarem die geflügelte Schlange stets mit Nefut in Verbindung gebracht, da die Träume aufgehört hatten, als er zu Ashans Bande gestoßen war. Aber eine geflügelte Schlange paßte wohl besser zu einem Darashy unirdischer Herkunft, als zu dem verstoßenen Sohn eines Darashy-Prinzen.
 

*
 

Als die Nacht schließlich vorüber war, kamen die fünf Unterführer, die von Ashan bei diesem Überfall als Schreiber eingesetzt worden waren, in das Gefangenenlager. Unter ihnen war auch Nefut, aber Hamarem bekam zunächst keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Auch war es nicht Nefut, der den jungen Weißhaarigen befragte, sondern der Unterführer Farhan. Immerhin hörte Hamarem den Namen des Jungen: Amemna Darashy. Er war also wirklich ein Angehöriger des Schlangenstammes!
 

Nachdem die Gefangenen die Briefe an ihre Familien diktiert oder selbst geschrieben hatten, organisierte Hamarem als einer der Befehlshaber des Gefangenenlagers die Versorgung der Gefangenen mit Wasser und ihre Verteilung nach Stammeszugehörigkeit in kleinere Zelte. Und er richtete es ein, daß seine Zeltgenossen mit der Bewachung des Darashy-Zeltes beauftragt wurden, um mehr über den jungen Amemna Darashy herauszufinden. Außerdem gelang es ihm, doch noch ungestört mit Nefut zu sprechen. "Ich nehme an, der Weißhaarige hat unirdisches Blut in sich, Herr", begann er vorsichtig. Hamarem kannte Nefut inzwischen zwar recht gut und wußte, daß der ehemalige Prinz sein Leben nach den Geboten der Schriften ausrichtete, aber er hatte keine Vorstellung, wie Nefut auf eine solche Nachricht reagieren würde, denn Unirdische waren in den vergangenen zwei Jahren nie ein Thema gewesen.
 

"Was willst du damit sagen?" Nefut klang eher neugierig als ablehnend.
 

Nefut kannte doch die Schriften! Trotzdem erklärte Hamarem geduldig: "Er ist wahrscheinlich der Abkömmling eines Unirdischen, vielleicht verfügt er auch über einige ihrer besonderen Fähigkeiten. Zumindest ist dieser Amemna Darashy in keinem Falle ein gewöhnlicher Oshey, Herr."
 

"So heißt er also", Nefuts Stimme klang seltsam tonlos, vielleicht weil er selbst einmal zu den Darashy gehört hatte, bevor er von seinem Vater verstoßen worden war.
 

Und wieder hatte Hamarem den leicht salzigen Geschmack von Blut auf der Zunge. "Ihr solltet Ashan zureden, ihn schnellstens freizulassen, Herr", drängte er Nefut.
 

"Das wird er nicht tun."
 

"Aber er sollte es tun, Herr", drängte Hamarem. "Bleibt der Junge hier wird es Mord und Totschlag unter uns geben."
 

*
 

Bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, waren Nefut, Farhan und Tarhan bereits zur Kameloase aufgebrochen, um von dort die Lösegeldforderungen zu den Familien der Gefangenen zu schicken. Soweit Hamarem wußte, hatte Nefut vor seiner Abreise nicht noch einmal mit Ashan über den mutmaßlich unirdischen Gefangenen gesprochen. Mit ungutem Gefühl sah er daher der Entwicklung der nächsten Tage entgegen, auch wenn er noch keine Vorstellung hatte, was passieren würde und nicht wagte, ein drittes Mal Traumkraut zu kauen, bevor er nicht völlig ausgeruht war. Die Kräfte der Unirdischen und ihrer sterblichen Abkömmlinge durfte man jedenfalls nicht unterschätzen.
 

Der erste Tag verging immerhin ruhig. Die insgesamt sieben Darashy waren friedlich und hatten sich anscheinend mit ihrer Gefangennahme abgefunden. Und da der Platz des Gefangenenlagers so gewählt worden war, daß man die nahe Schädeloase nicht sehen konnte, wagte sich auch keiner der Gefangenen hinaus in die Wüste.
 

Hamarem übergab am Nachmittag den Befehl über das Gefangenenlager an Enwar, Doshans Zweiten, dann sah er noch einmal nach seinem Zeltgenossen Mutar, dessen gebrochene Nase und die beginnende Schwellung zwar schon am Vorabend behandelt worden war, dessen Gesicht jedoch jetzt ein ausgedehnter Bluterguß zierte. Der dritte Befehlshaber des Gefangenenlagers, Farhans kahlrasierter Zweiter Derhan, betupfte Mutars Verletztung gerade wieder mit einer Tinktur und versicherte, daß Mutars Augen nicht weiter zuschwellen würden, so daß dieser seine Aufgaben im Gefangenenlager wohl erfüllen konnte.
 

Dann zog sich Hamarem zum Essen in das Befehlshaberzelt zurück, legte sich bald zur Ruhe und schlief nach der durchwachten letzten Nacht schnell ein. So schnell, daß es ihm nicht einmal mehr gelang, seine wirren Gedanken zu menschlichen Abkömmlingen von Unirdischen mit dämonischen Augen zu ordnen.
 

*
 

Hamarem spürte plötzlich, wie eine warme Hand sein Gewand hochschob und sanft aber bestimmt nach seinen Genitalien faßte. Die Hand begann sie zu streicheln und leicht zu kneten und weckte damit erfolgreich Hamarems Begierde. Trotz der Dunkelheit konnte Hamarem einen hellen Haarschopf neben sich erkennen, der dem Besitzer der Hand gehörte, die ihn liebkoste: dort saß der junge Unirdische, Amemna Darashy.
 

Hamarem schlug die Hand des jungen Mannes weg, sprang von seinem Lager auf und stellte fest, daß er, wenn auch äußerst lebhaft, geträumt hatte. Außer dem schlafenden Enwar befand sich niemand in dem Zelt, das den Befehlshabern des Gefangenenlagers als Quartier diente. Enwar drehte sich von einer auf die andere Seite, aber er schlief leise schnarchend weiter.
 

Es war nur ein Traum gewesen, Orem sei Dank, wenn auch ein sehr beunruhigender. Vielleicht hätte er in der vergangenen durchwachten Nacht nicht zwei Mal das Traumkraut zur Versenkung kauen dürften. Seine Lehrer hatten immer davor gewarnt, daß Traumkraut im übermüdeten Zustand leicht unerwünschte Visionen hervorrufen konnte.
 

Hamarem legte sich wieder auf seine Decken und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Vor lauter Erschöpfung schlief er schnell wieder ein.
 

*
 

Ein leises Geräusch neben seinem Ohr ließ Hamarem die Augen wieder öffnen. Neben ihm lag der junge Unirdische, hatte mit einer Hand das eigenen Gewand hochgeschoben und war dabei, sich selbst zu befriedigen, während seine andere Hand wieder nach Hamarems Geschlechtsteil tastete und es mit leichtem Druck zu reiben begann.
 

Schnell rückte Hamarem von ihm weg. "Weg mit dir!" rief er und erwachte von seinem eigenen Schrei - ebenso wie Enwar.
 

"Hamarem, schlaf", ermahnte Enwar ihn flüsternd. "Oder laß mich zumindest schlafen."
 

"Entschuldige bitte", gab Hamarem leise zurück und drehte sich mit dem Gesicht zur Zeltwand. Noch so ein Traum! Wortlos betete er zu Orem, diesen den Wahren Weg verlassenden Traum von ihm zu nehmen und stumm schloß er noch die Rezitation der Lobgesänge für den Nächtlichen Träumer an. Noch bevor er die Hälfte der zwölf Gesänge vollendet hatte, war er wieder eingeschlafen.
 

*
 

Nur noch wenige Stöße, und das verzückende und erleichternde Ende seiner Bemühungen würde erreicht sein. Hamarem schwamm auf einer Welle der Lust, die ihn höher und immer höher trug, bis er plötzlich merkte, daß er beide Hände vor Anspannung in seine Decken gekrallt hatte. Eine dritte, eine fremde Hand führte ihn kundig zum Höhepunkt.
 

Hamarem schlug erschrocken die Augen auf, sah den jungen Unirdischen nackt neben sich, ein schlanker junger Mann, der nun nach Erreichen seines Zieles die Hand von Hamarems Schoß nahm und ihn anlächelte. Der Schock darüber, in dieser Weise von einem anderen Menschen, noch dazu von einem Mann berührt worden zu sein, ließ Hamarem zittern und dieses Zittern ließ ihn tatsächlich erwachen.
 

Niemand saß neben Hamarems Lager, aber sein Samen hatte sich wirklich in sein Untergewand ergossen. Das Zittern wurde stärker und Hamarem zog die Decken fest um sich, um Halt zu haben und wieder zur Ruhe zu kommen.
 

So ging es nicht weiter. Am kommenden Morgen wurde von ihm erwartet, die Oberaufsicht im Gefangenenlager zu führen. Er mußte schlafen, ohne weitere Unterbrechungen durch beunruhigende Träume. Hamarem wollte auch gar nicht weiter über die Ursache oder die Quelle dieser Träume nachdenken, er dachte nur an das einzige ihm bekannte Heilmittel gegen unerwünschte Träume, das einen festen Schlaf garantierte: den Sud aus den Kernen des gelbblühenden Stechapfels. Hamarem verschwendete keinen Gedanken an die Warnungen, die ihm seine Lehrer wie bei jedem pflanzlichen Hilfsmittel der Mantik mit auf den Weg gegeben hatten. Er hatte noch eine kleine, mit einem Bodensatz der bräunlich-roten Flüssigkeit gefüllte Phiole bei seinem Vorrat an Traumkraut, den er mit in das Gefangenenlager genommen hatte. Es war genug, um diese Nacht zu überstehen und nicht so viel, daß er versehentlich eine gefährliche Menge zu sich nahm. Also suchte er leise in seiner Ledertasche nach dem Gefäß, entkorkte es und trank den süßlich-bitteren Inhalt mit einem Schluck.
 

Hamarem hatte gerade noch genug Zeit, es sich wieder auf seinem Lager bequem zu machen, als der Extrakt aus Stechapfelkernen bereits zu wirken begann, das Gefühl der Schwerelosigkeit sich einstellte und schließlich sein Bewußtsein schwand.
 

*
 

Derhan weckte ihn etwas unsanft und nur mühsam konnte Hamarem sich von der Wolle, mit der sein Kopf gestopft zu sein schien, befreien. 'Der Stechapfelsud', erinnerte Hamarem sich. Das Gefühl der Taubheit und der staubtrockene Mund war eine Nachwirkung, die zu erwarten gewesen war, ebenso wie die irritierend matten Erscheinungen der Kräfte. Für einen Moment flackerte die Erinnerung an den Grund für die Einnahme der Droge durch seine Gedanken, aber er konnte sie erfolgreich verdrängen, als Derhan begann: "Hamarem, ich denke, wir haben ein Problem. Du solltest dich darum kümmern."
 

Hamarem trank eine halbe Handvoll Wasser und warf sich den Rest in das Gesicht, um wieder zu Sinnen zu kommen, dann folgte er dem stämmigen Derhan aus dem Zelt, Mantel und Kopftuch noch in der Hand.
 

Auf dem Weg durch das Gefangenenlager erläuterte Derhan kurz die Hintergründe. "Nefut - unser Nefut - bat mich heute, mit deinem Mann Lehan tauschen zu dürfen. Da Lehan einverstanden war, sah ich keinen Grund, Einwände zu erheben. Nefut brachte also das Frühstück in das Zelt der Darashy und hat sich, den Berichten nach, vor dem weißhaarigen Darashy auf die Erde geworfen, die Stirn in den Staub gedrückt und ihm auch sonst in jeder Weise den Göttern vorbehaltene Ehren erwiesen."
 

Der Kleine Nefut, der jüngere Bruder von Derhans Befehlshaber Farhan, war also anscheinend davon überzeugt, es in Amemna Darashy mit einem Unirdischen zu tun zu haben. Das klang allerdings noch nicht nach einem ernsten Problem. Und das sagte Hamarem auch.
 

"Nein, das ist auch nicht das Problem. Aber zwei von Terhans Leuten haben gesehen, wie Nefut auf Knien und rückwärts das Zelt der Darashy verließ und spotteten über seine religiöse Scheu. Tyrimar sprang gleich dazu und schlug einen der Spötter zu Boden. Er hätte wohl auch den anderen verprügelt, wenn ich ihn nicht zur Ordnung gerufen hätte. Aber noch sind die Gemüter aufgewühlt und wir müssen dringend verhindern, daß der Vorfall Ashan berichtet wird. Ansonsten wird Tyrimar seines Lebens nicht mehr froh."
 

Hamarem nickte und versuchte, seinen Verstand zusammenzusammeln. Die Taubheit war einer anderen unerfreulichen Nachwirkung des Stechapfelsuds gewichen - dumpf pochenden Kopfschmerzen.
 

*
 

Im Schatten des Küchenzeltes saßen Tyrimar und der Kleine Nefut mit düsteren Gesichtern den beiden ebenfalls grollenden Männern von Terhan gegenüber. Da Hamarem für das Darashy-Zelt zuständig war, nahm er den Kleinen Nefut und Tyrimar beiseite, während Derhan die beiden anderen wieder zur Vernunft bringen wollte. Zumindest hatte der Vorfall unter den Gefangenen noch nicht die Runde gemacht.
 

Die jungen Männer blickten stumm zu Boden, als Hamarem sie zur Rede stellte. Der Kleine Nefut war kaum dem Kindesalter entwachsen und Tyrimar war nur wenig älter. Soweit Hamarem wußte, sah sich Tyrimar seit der Zeit, als Farhan mit seinem damals noch sehr jungen Bruder zu Ashan gestoßen war, als Beschützer des Jüngeren, so war sein Eingreifen nachvollziehbar, ja eigentlich sogar ehrenwert zu nennen, aber den Umständen natürlich nicht angemessen gewesen. Beide waren schon lang genug in Ashans Bande um zu wissen, daß sie sich bei der Bewachung von Gefangenen keine Prügeleien leisten konnten.
 

Hamarem ließ sich noch einmal den Hergang der Dinge erzählen, der sich aber auch in der Version der Beteiligten nicht von dem unterschied, was Derhan bereits erzählt hatte. "Tyrimar, versuche dich zu beherrschen", redete Hamarem dem älteren Jüngling dann ins Gewissen. "Wenn die Gefangenen den Eindruck bekommen, wir wären uns uneins, wird es schwer für uns, sie noch zu beherrschen. Wir sind nur zwanzig, sie sind fast dreißig." Auch wenn die Kinder und alten Frauen wohl nicht als Bedrohung anzusehen waren.
 

Tyrimar nickte mit zusammengepressten Lippen und zornig zusammengezogenen Brauen. Aber seine aufgewühlten Kräfte zeigten, daß da offenbar noch etwas im argen lag.
 

"Was hast du auf dem Herzen, Tyrimar?" fragte Hamarem darum.
 

"Es ist unrecht, daß wir einen Unirdischen gefangen halten", brach es aus Tyrimar heraus und der Kleine Nefut nickte eifrig.
 

"Ich dachte, du hättest Terhans Mann nur niedergeschlagen, weil er Nefut verspottet hat", erinnerte Hamarem ihn an seine vorherigen Worte.
 

"Das hab ich auch", gab Tyrimar patzig zurück. "Und trotzdem ist es unrecht, den Unirdischen gefangen zu halten. Die Götter werden uns strafen!"
 

"Terhans Männer sind wohl nicht der Ansicht, daß der weißhaarige Oshey unirdisches Blut hat", schlußfolgerte Hamarem aus dem Gehörten.
 

"Das sind Ketzer, Ungläubige..."
 

Der Schreck ließ Hamarems seine Kopfschmerzen vergessen, aber er versuchte, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. "Hüte deine Zunge, Tyrimar", warnte Hamarem den jungen Mann und korrigierte dann die Richtung, die das Gespräch genommen hatte. "Wenn Ashan hinterbracht wird, was hier vorgefallen ist, werden deine Gründe nicht erwogen. Du wirst dafür bestraft werden, daß du einen anderen Wächter angegriffen hast, egal aus welchem Grund das geschah. Wir dürfen den Gefangenen gegenüber nicht uneins erscheinen. Das ist hier und jetzt das allererste Gesetz. Ob Amemna Darashy ein Unirdischer ist oder nicht, ist zweitrangig. Haltet euch bedeckt mit eurer Meinung und geht den Konflikten mit anderen Wächtern aus dem Weg. Habt ihr beide das verstanden?"
 

"Darf ich dem Unirdischen weiterhin seine Mahlzeiten bringen?" fragte der Kleine Nefut leise.
 

Hamarem war hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Kleinen Nefut kräftig durchzuschütteln, um seinen Verstand in Gang zu bringen oder das Gespräch einfach an dieser Stelle abzubrechen, da er offenbar bisher gar nicht richtig zugehört hatte.
 

Tyrimar stieß dem Kleinen Nefut in die Seite. "Hast du's nicht verstanden? Du darfst ihm seine Mahlzeiten nicht wie eine Opfergabe darbringen. Und geh den Leuten von Terhan aus dem Weg, dann ist alles in Ordnung."
 

"Und du achtest ein bißchen auf Nefut", riet Hamarem Tyrimar, der eifrig nickte, dann entließ er die beiden jungen Männer.
 

Wenig später berichtete Derhan, daß das Gespräch mit Terhans Männern zufriedenstellend verlaufen war. So konnte Hamarem hoffen, daß der Vorfall nicht weitergetragen wurde und weitere Vorkommnisse dieser Art unterblieben. Aber da sich das Unheil, das Hamarem unter dem Einfluß des Traumkrautes gespürt hatte, anscheinend an der mutmaßlich unirdischen Natur Amemna Darashys entzünden würde, war es dringend geboten, sich darüber Klarheit zu verschaffen, ob der weißhaarige Junge denn nun Abkömmling eines Unirdischer oder etwas anderes war.
 

*
 

Als Enwar am Nachmittag den Befehl über das Gefangenenlager von Hamarem übernommen hatte, begab Hamarem sich in das Darashy-Zelt, um mit Amemna Darashy zu sprechen.
 

Die beiden gefangenen Frauen der Darashy war gestattet worden, sich einen Teil des Zeltes mit quergespannten Stoffbahnen abzuteilen. Amemna Darashy hatte sein Lager in einer durch diese Abteilung entstandene Ecke eingerichtet und sie vom Rest des Zeltes durch eine aufgehängte Decke abgetrennt.
 

Als Hamarem den provisorischen Vorhang teilte, um an das Lager des Gefangenen zu treten, saß der junge Mann wie ein geprügelter Hund auf seinen Decken, die Schultern hatte er nach vorne sacken lassen und sein Blick war so abwesend, als habe er gerade Traumkraut zu sich genommen, auch wenn der typische beißende Geruch der zerkauten Blätter fehlte. Die Kräfte konnte Hamarem noch immer nicht wieder richtig erkennen, sie wirkten wie fast verflogener Rauch einer längst erloschenen Feuerstelle, aber eine Gefahr ging von dem jungen Mann sicher nicht aus. Vielleicht hatte Hamarem den Geschmack des Blutes in der Traumkrautvision ganz falsch interpretiert.
 

"Amemna Darashy, darf ich mit euch sprechen?" fragte Hamarem höflich.
 

Nach ein paar Augenblicken sah der Gefangene zu Hamarem hoch und der traurige Blick aus den fremdartig hellen Augen schnürten Hamarems Kehle zusammen, als sei er persönlich für den Zustand dieses Gefangenen verantwortlich. "Geht es euch nicht gut?" fragte er leise.
 

"Bitte Herrr, könnt ihrr mirr nicht meine Schrriftrrolle brringen?" entgegnete Amemna Darashy statt einer Antwort mit eigenartig rollendem Zungenschlag. Eine Träne lief über die rechte Wange des jungen Mannes, aber er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen.
 

"Was für eine Schriftrolle?" wollte Hamarem wissen.
 

"Eine Papyrrusrrolle in dunklem Lederr mit Holzgrriffen. Sie hat bei meinem Gepäck gelegen, als ich gefangen genommen wurrde", erklärte Amemna Darashy langsam. Dann warf er sich plötzlich auf die Knie: "Ich bitte euch, Herrr, beschafft mirr die Schrriftrrolle wiederr. Ich habe mich seit meinerr Kindheit nie von ihrr ketrrennt!" Und der junge Mann ließ seinen Tränen freien Lauf, machte sogar Anstalten, sich an Hamarems Knöchel zu klammern, um seiner Bitte noch mehr Dringlichkeit zu verleihen.
 

Hamarem trat beunruhigt einige Schritte zurück, bis er an die Zeltbahnen stieß, die ein weiteres Zurückweichen unmöglich machten. Hier kniete ein verängstigter Junge vor ihm, der nicht um Freiheit, Wasser oder Lebensmittel flehte, sondern dessen einzige Sorge einer Papyrusrolle galt. Und die Bitte wurde mit solcher Inbrunst vorgetragen, daß Hamarem sein Herz nicht davor verschließen konnte. Eine Schriftrolle war kein Schwert und so war nicht zu erwarten, daß sie in den Händen des Jünglings für seine Bewacher eine Gefahr darstellte. Aber wieso war sie ihm so wichtig?
 

Die weißen, fast schulterlangen Haare flossen wie schwere Seide über das Gesicht des jungen Gefangenen, als er den Kopf weinend und anscheinend resignierend senkte, da Hamarem mit einer Antwort zögerte. Dieser Ausdruck der Hoffnungslosigkeit, als hätten die Dämonen Chelems ihm das Herz aus der Brust geschnitten um einen der ihren aus ihm zu machen, gab den Ausschlag für Hamarem. "Ich werde sehen, was ich tun kann", hörte Hamarem sich überrascht ein Versprechen geben. Was war nur in ihn gefahren? Aber nun konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Hamarem verließ das Gefangenenzelt ohne ein weiteres Wort, entschuldigte seine Abwesenheit bei Enwar und machte sich auf den Weg zur Schädeloase, um für einen Gefangenen eine Schriftrolle zu stehlen.
 

*
 

Erst als die Oase schon in Sichtweite kam, wurde Hamarem bewußt, daß das Lager der Karawane vielleicht von den damit beauftragten Männern bereits abgebaut, zumindest aber alle Besitztümer der Reisenden verzeichnet worden waren, damit dem Schatz der Banditen auch nicht der kleinste Goldring entging. Hamarem konnte nur hoffen, daß die Schriftrolle nicht so aufwendig verziert war, daß sie als Wertgegenstand angesehen werden konnte. Im Näherkommen stellte er zumindest beruhigt fest, daß die meisten Zelte noch standen und kein Wächter zu sehen war.
 

Hamarem schlich im Schutze der bereits lang werdenden Schatten näher. So gelangte er bis zu einem freien Platz um eine Palmengruppe, zu dem sich fünf Zelte öffneten. Eines davon war jenes, welches Hamarem in der vorletzten Nacht gemeinsam mit Nefut betreten hatte. Dann erst entdeckte er einen von Ashans Männern, der im Schatten der Bäume auf dem Boden saß und mit seinem Messer offensichtlich gelangweilt eine Frucht in schmale Schnitze teilte. Außer dem schmatzenden Kauen des Mannes war nur das Zirpen der Heuschrecken und das leise Rascheln der Palmblätter zu hören, und Hamarem erinnerte sich daran, daß nach den Überfällen für gewöhnlich zunächst die erbeuteten Pferde und Kamele, für die die Banditen keine Verwendung hatten, auf dem nächsten Viehmarkt verkauft wurden. So hatte er vielleicht doch einen günstigen Moment gewählt, um nach der Schriftrolle zu suchen, wenn er denn ungesehen das Zelt erreichte, in dem Amemna Darashy vor zwei Nächten geschlafen hatte.
 

Der Mann saß mit dem Rücken zum Eingang des ehemaligen Zeltes von Amemna Darashy und Hamarem gelang es, sich auf dem festen Sand der Oase fast lautlos zu bewegen. So konnte er das Zelt unbemerkt betreten und fand alles unverändert vor. Anscheinend war das Gepäck der Reisenden noch nicht auf Wertsachen durchsucht worden. Und wirklich, neben dem Lager auf dem der weißhaarige Jüngling genächtigt hatte, lagen zwei lederne Satteltaschen und auf ihnen eine gerade einmal spannenlange Schriftrolle, etwa eine halbe Spanne dick, wie von dem Gefangenen beschrieben in einer Hülle aus dunklem Leder und mit je zwei Holzknäufen an den beiden Stäben. Um sicher zu gehen, daß in der Schriftrolle nicht eine Waffe verborgen war und auch aus Neugierde, was an der Rolle wohl lebenswichtig sein mochte, untersuchte Hamarem sie mit so starkem Herzklopfen, daß er meinte, Ashans Mann müßte bei dem Lärm gleich ins Zelt gelaufen kommen.
 

Der untere Knauf des inneren Stabes ließ sich abschrauben und öffnen - und enthielt ganz gewöhnliche Tinte. Um den oberen Knauf war ein langes rötlich-blondes Haar geknotet, eine Haarfarbe, wie sie einige Ostler hatten. Hamarem löste die Bänder der Lederhülle. Eine gewöhnliche Schreibfeder steckte darin, und die Rolle selbst war vom Anfang bis etwa zu einem Viertel in vielen Kolumnen einer wie gemalt wirkenden Schrift sauber beschrieben. Niemals zuvor hatte Hamarem solche Schriftzeichen gesehen und die Schrift der Nordstädte und der Stämme oder die Ostlerschrift hätte er zweifelsfrei erkannt. Nachdenklich rollte Hamarem die Papyrusrolle wieder zusammen und schloß die lederne Hülle darum. Dann steckte er sie in seinen Gürtel.
 

Es begann bereits zu dämmern, aber der einsame Wächter hatte noch kein Feuer entzündet. Also schlich Hamarem ebenso leise, wie er hineingekommen war, wieder aus dem Zelt und auf die dem Gefangenenlager zugewandte Seite der Oase. Im Dunkeln machte er sich auf den Weg, die ersten Sterne als einziger Wegweiser bis zu dem Punkt, wo hinter den zahlreichen Dünen endlich die Lichter des Gefangenenlagers zu sehen sein würden.
 

Auf dem Weg versuchte Hamarem, sich an jedes Schriftsystem, das er während seiner Ausbildungszeit kennengelernt hatte, zu erinnern, aber nichts davon glich auch nur im entferntesten jenen bilderartigen Schriftzeichen, mit denen die Schriftrolle in seinem Gürtel gefüllt war. Und wieso hatte er sich nur darauf eingelassen, einen Diebstahl an der Bande zu begehen um einem Gefangenen einen Gefallen zu tun? War er durch den Stechapfelsud, dessen Nachwirkungen sich inzwischen erfreulicherweise verflüchtigt hatten, noch so benebelt gewesen? Hatten die Träume der vergangenen Nacht ihn empfänglich für Amemna Darashys Bitten gemacht? Sie fühlten sich nicht nach prophetischen Träumen an, aber sie waren auch viel zu lebhaft für gewöhnliche Träume gewesen. Konnte es tatsächlich allein das Traumkraut sein, das sie verursacht hatte?
 

War der Gefangene etwa doch ein Dämon und hatte die Träume geschickt? Das hieße aber doch auch, daß Amemna Darashys Verzweiflung nur die Verstellung eines verschlagenen Geistes gewesen war. Das konnte Hamarem nicht glauben! Auch wenn die dämonenhellen Augen des jungen Mannes beunruhigend waren, das ungewöhnlich bewegte Muster der Kräfte um den Gefangenen hatte keine Gefahr für Hamarem verheißen. Und wie hätte ihm der Junge so schnell sympathisch werden können, wenn er tatsächlich ein böser Dämon war? Vielleicht hatte Hamarem ja bei der Übergabe der Schriftrolle Gelegenheit, in Ruhe mit Amemna Darashy zu reden um sich endlich Klarheit zu verschaffen.
 

Schon kurz nachdem Hamarem das Gefangenenlager erreicht hatte, stellte sich allerdings die zu erwarten gewesene Erschöpfung ein, da die Betäubung durch Stechapfelsud nun einmal kein erholsamer Schlaf war. So verzichtete Hamarem darauf, an diesem Abend Amemna Darashy aufzusuchen, um ihn zu sprechen oder auch nur die Schriftrolle zu übergeben. Noch bevor Enwar seine Befehlsgewalt an Derhan abgab, legte Hamarem sich auf sein Lager und schlief fast sofort ein.
 

*
 

Leise Stimmen, die Nennung seines Namens, weckten Hamarem. Enwar unterhielt sich mit Tyrimar über den Vorfall am Morgen. Hamarem versuchte, einfach wieder einzuschlafen, aber er konnte nicht umhin, dem Gespräch zuzuhören.
 

"Ashan muß den Unirdischen freilassen", beharrte Tyrimar flüsternd. "Uns allen droht die Verdammnis, wenn wir ihn weiterhin gefangen halten."
 

Woher wollte dieser grüne Junge so sicher wissen, daß es sich bei Amemna Darashy um einen Unirdischen handelte, wenn sich Hamarem trotz seiner Vorbildung nicht einmal sicher war, ob der junge Mann ein Abkömmling der Unirdischen oder ein Dämon war.
 

"Aber Ashan hat kein Verhältnis zu den göttlichen Dingen. Er sieht die Welt nicht mit unseren Augen", flüsterte Enwar zurück.
 

"Dann müssen wir dafür sorgen, daß er die Welt mit unseren Augen sieht!" fuhr Tyrimar auf.
 

"Hüte deine Zunge, Tyrimar", zischte Enwar ihn an. "Du solltest soetwas noch nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen, wenn du nicht als Verräter dein Leben verlieren willst."
 

Tyrimar nuschelte etwas für Hamarem Unverständliches.
 

"Ich kann Doshan bitten, einmal mit Ashan darüber zu sprechen", antwortete Enwar nun etwas versöhnlicher.
 

"Bist du denn etwa mit der Situation zufrieden, Enwar?" fragte Tyrimar daraufhin.
 

Hamarem hörte Enwars Antwort nicht, nur das leise Rascheln von Stoff, als Enwar und Tyrimar sich erhoben und das Zelt verließen.
 

Hamarem schlief bald wieder ein und erwachte am frühen Morgen erholt und ohne von beunruhigenden Träumen heimgesucht worden zu sein. Wie es sich ergab, fand er bis zu dem Zeitpunkt, an dem Enwar ihn als Befehlshaber des Gefangenenlagers ablöste jedoch keine Gelegenheit, das Darashy-Zelt aufzusuchen.
 

Als Hamarem am Nachmittag dann gut gelaunt Amemna Darashy aufsuchte, bot sich ihm das gleiche Bild des Elends wie den Tag zuvor - bis zu dem Augenblick, als Hamarem die Schriftrolle aus dem Gürtel zog und sie dem Gefangenen zeigte.
 

Als würden zentnerschwere Lasten von seinen Schultern genommen hellte sich das schöne Gesicht des Jungen plötzlich auf, die zuvor matten Kräfte um ihn erstrahlten, und er warf sich vor Hamarem auf die Knie. "Ich danke Euch, Herrr!" rief er aus. Dann sprang er auf, und bevor es sich Hamarem versah, umarmte Amemna Darashy ihn herzlich und drückte ihm einen Kuß auf die Schläfe.
 

Hamarem stieß den groß gewachsenen Jungen weg und stolperte zurück. Sein erster Impuls war, nach dem Dolch in seinem Gürtel zu fassen, um sicherzustellen, daß der Gefangene ihn nicht an sich genommen hatte, dann erst wurde er sich der beunruhigend erregenden Wirkung der spontanen Umarmung bewußt. Erinnerungsfetzen aus den Träumen der vorvergangenen Nacht drängten sich ungefragt in sein Bewußtsein und Hamarem spürte, wie er errötete. Nie zuvor hatte er so auf die Umarmung oder den Freundschaftskuß eines Jungen oder Mannes reagiert.
 

Hamarem atmete ein paar Mal tief ein und aus, um wieder zur Ruhe zu kommen, während der Gefangene noch so wie er hingestürzt war auf seinem Lager saß und etwas verschreckt zu Hamarem hochsah, die Papyrusrolle unbeachtet vor seinen Füßen. "Entschuldigt bitte, Herrr, aberr ich konnte meine Frreude einfach nicht im Zaum halten", sagte der Junge nach einigen Augenblicken der Stille schließlich.
 

"Es ist nichts", behauptete Hamarem und wandte sich entgegen seiner Vorsätze, eine Unterredung über die mutmaßlich unirdische Natur des Gefangenen zu führen, zum Gehen.
 

Hamarems Herz pochte noch immer vor Aufregung, als er das Darashy-Zelt schon hinter sich gelassen hatte. War die Ursache der Träume weder das Traumkraut noch der junge Mann, sondern lag sie in ihm selbst? Aber wieso das? Was war an diesem Jungen so viel anders, als zum Beispiel am Kleinen Nefut, der ein ebenso bartloses und wirklich hübsches Gesicht mit einem bezauberndes Lächeln hatte.
 

Und was war, wenn die Träume in dieser Nacht wiederkamen, wo er keinen Stechapfelsud mehr hatte? Nicht das es sich empfahl, diese Droge gewohnheitsmäßig zu sich zu nehmen, aber es machte Hamarem unruhig zu wissen, daß er in dieser Nacht keine Möglichkeit hatte, die Träume zu unterbinden, falls sie ihn heimsuchen würden.
 

Es gab allerdings bei den Felsen, zwischen denen das Banditenlager lag, einige Stechapfelstauden. Da sie bereits früh im Jahr fruchteten, konnte es schon jetzt, Anfang Sommer, verwertbare Früchte des gelbblühenden Stechapfels geben. Er würde den Sud nicht so herstellen können, wie es die Kräuterkundigen des Oremheiligtums gemacht hatten, die die Kerne zerkleinerten, sie aufkochten und wochenlang stehenließen, bis das fermentierte Gebräu gefiltert und in ungefährlichen Mengen in kleine Phiolen abgefüllt wurde. Aber er konnte es versuchen.
 

Wieder entschuldigte er seine Abwesenheit bei Enwar, suchte und fand an den betäubend duftenden Stauden fünfzehn fast reife Stechapfelkapseln, und nahm nur die Kerne mit zurück ins Gefangenenlager. Er wollte sich im Küchenzelt ein tönernes Kochgefäß besorgen.
 

Die vier Männer, die im Küchenzelt für die Gefangenen die Mahlzeiten bereiteten, damit diese weder über Feuer noch Kochmesser verfügten, unterhielten sich leise, als Hamarem sich näherte. "Und er ist ein Unirdischer!" trumpfte einer hörbar auf, doch als Hamarem eintrat, erstarben die Gespräche plötzlich und alle waren mit hochwichtigen Angelegenheiten beschäftigt, um seinen fragenden Blicken auszuweichen.
 

Ohne weiteres händigte Mutar dem Zweiten seines Anführers den Topf und einen passenden Deckel aus, Hamarem nahm sie mit in das Befehlshaberzelt, zermahlte die Kerne grob zwischen zwei Steinen und kochte sie mit Wasser auf, dann verschloß er den Topf und grub ihn, noch heiß, neben seinem Lager halb in den Sand ein. Vielleicht hatte der Sud ja doch noch die Gelegenheit, in aller Ruhe zu reifen.
 

*
 

Nach der schweigend gegessenen Nachtmahlzeit fragte Enwar Hamarem: "Was hältst Du von dem weißhaarigen Darashy? Ist er wirklich ein Unirdischer?"
 

Es war immer wieder vorgekommen, daß Männer aus Ashans Bande Hamarem um Rat zu den Geboten der Weisen und Heiligen gebeten hatten, oder mit Fragen zu den Opferriten zu ihm kamen. Da er in den die Schriften und den Wahren Weg betreffenden Dingen als Autorität galt, auch wenn keiner seine Vergangenheit kannte, mußte früher oder später jemand mit der Frage nach der unirdischen Natur Amemna Darashys zu ihm kommen.
 

Hamarem versuchte, Klarheit über seine bisherigen Vermutungen zu erlangen. Das Aussehen des Jungen entsprach in den meisten Punkten dem, was über die Abkömmlinge der Unirdischen aus ihren Verbindungen mit Menschen berichtet wurde. Außerdem hatte er ein freundliches Wesen, was gegen eine Dämonennatur sprach. Die beängstigenden Träume und deren beunruhigend erregende Wirkung auf Hamarem sprachen nach einigen Überlieferungen sogar eindeutig für eine unirdische Natur. Hieß es nicht, die göttlichen Boten hätten in alter Zeit mit ihrem Duft Menschen verführt? Wie anders wäre es zur Geburt von Kindern mit einem unirdischen Erbteil gekommen? Vielleicht litt Hamarem durch seine gelegentliche Nähe zu dem Gefangenen einfach unter den Nebenwirkungen von dessen unirdischer Natur. Es hieß doch, daß ein Traum von ihnen in alter Zeit ausgereicht habe, damit ein Jahr später ein Kind geboren wurde. Allerdings hatte Hamarem keinen besondere Geruch an Amemna feststellen können. Vielleicht war die Bezeichnung 'Duft der Unirdischen' einfach ein Versuch der Alten gewesen, einen unsichtbaren Einfluß zu beschreiben.
 

"Ja, ich denke, er könnte von unirdischem Blut sein", faßte Hamarem seine Überlegungen schließlich für den geduldig schweigenden Enwar zusammen.
 

"Aha", entgegnete Enwar nun, schien zu überlegen, ob er noch weitere Fragen stellen sollte, aber verzichtete dann darauf, erhob sich, wünschte Hamarem eine gute Nacht und verließ das Zelt.
 

*
 

Kurz nachdem Hamarem eingeschlafen war, wurde er von einer wispernden Stimme geweckt: "Herrr", flüsterte Amemna Darashy dicht neben Hamarems Ohr. "Bitte entschuldigt meine Aufdrringlichkeit."
 

Hamarem wollte fragen, wie es dem Gefangenen gelungen war, aus dem bewachten Zelt durch das ganze Gefangenenlager bis in das Zelt der Befehlshaber zu schleichen, aber die Worte erstarben auf seiner Zunge, denn Amemna hatte angefangen, sich zu entkleiden.
 

"Was tut ihr da?" fragte Hamarem erschrocken.
 

Amemna lächelte nur, zog die Arme aus den langen Ärmeln, streifte elegant das Untergewand über den Kopf und setzte sich nackt auf die Seite von Hamarems Lager. Er war wirklich schön, mußte Hamarem sich eingestehen. Amemnas junger Körper war wohlgestaltet und in harmonischer Weise muskulös. Die dunkle Hautfarbe der Oshey stand in starkem aber ansprechendem Kontrast zu seinen weißen Haaren und Augenbrauen, und bei der schwachen Beleuchtung des Zeltes wirkten die Augen durch die großen Pupillen lange nicht so beunruhigend hell wie tagsüber.
 

Hamarem wartete, vor Faszination und Furcht wie gelähmt, was nun weiter geschehen würde. Enwar mußte doch bald von Derhan abgelöst werden und sich zur Ruhe begeben. Was würde passieren, wenn er den Unirdischen hier nackt neben Hamarem fand?
 

Amemna beugte sich vor und küßte Hamarem sanft auf die Lippen. Der Kuß war aufwühlend und erregend, auch wenn Hamarem versuchte, diese Erregung zurückzudrängen. Die Schriften klärten ausdrücklich, welche Beziehungen Männer nicht miteinander eingehen durften.
 

Dann schlug Amemna die Decke zurück und griff nach dem Saum von Hamarems Untergewand. Hamarem versuchte, Amemnas Hand festzuhalten, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern, aber Amemna drückte Hamarems Hand so federleicht beiseite, als hätte Hamarem gar keine Kraft in den Armen. Dann schob er das Untergewand nach oben, entblößte Hamarems Scham und streichelte seine Geschlechtsteile.
 

Der Schauer der Erregung, der Hamarem durchfuhr, raubte ihm fast die Besinnung. Willenlos ließ er seine Hände, mit denen er Amemna gerade eben noch hatte wegdrücken wollen, sinken. Und Amemna begann, Hamarems Genitalien in einer Weise zu liebkosen, die Hamarem in den Wahnsinn zu treiben schien, bis ihn plötzlich eine Welle der Übelkeit mit sich wegriß und er in seinem eigenen Erbrochenen erwachte.
 

Hamarem hatte keine Kraft, sich zu erheben, konnte nur mühsam die letzten Brocken seiner Nachtmahlzeit ausspucken und die Nase freischnauben. Er rollte sich von seinem Lager und versuchte, sich aus der neuen Position aufzurichten. Warum half Amemna ihm nicht auf die Beine? Warum schwirrten feurige Motten um das Kochfeuer, neben dem er gelandet war?
 

Jemand zog ihn hoch, setzte ihn auf, aber Hamarem nur erkennen, daß er ein bärtiges Kinn hatte. Also konnten es weder Amemna noch der Kleine Nefut sein. "Was ist passiert?" fragte eine Stimme drängend, die Hamarem bekannt vorkam, die er allerdings nicht einordnen konnte. Er wollte antworten, aber allein Atem zu holen, um zu sprechen, war fast unmöglich.
 

"Ich habe ihn so gefunden, als ich mich zur Ruhe begeben wollte", sagte eine andere Männerstimme nun.
 

"Sieht nach einer Vergiftung aus, Enwar. Was hat er gegessen?"
 

"Das selbe, wie ich auch. Hier ist noch ein Rest im Topf."
 

Irgendjemand wischte Hamarems Gesicht ab, sah ihm in die Augen. "Hamarem, was hast du zu dir genommen? Hat einer der Gefangenen dir etwas zu essen gegeben?"
 

"Nein", bekam Hamarem keuchend heraus. Seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, das Luftholen wurde von Atemzug zu Atemzug schwerer. Und da er außer Lichtblitzen nicht viel erkennen konnte, schloß er die Augen.
 

"Was ist das für ein Geruch, Hamarem? Hast du Kräuter gesammelt?"
 

"Stechapfelkerne", brachte Hamarem mühsam hervor.
 

"Tyrima hilf!" rief der andere aus. "Du solltest es besser wissen, als den Topf gerade neben deiner Schlafstatt zu lagern." Dann pustete jemand mehrfach Luft zwischen Hamarems Lippen, das Atmen fiel wieder etwas leichter, doch dann verschwamm sein Bewußtsein.
 

* * *
 



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