L'aiuto (der Beistand)
Ein markerschütternder, animalischer Schrei ließ das gesamte Varia-Anwesen erzittern. Unzählige Gläser zersprangen klirrend an der Wand, manche auch an den Köpfen einiger niederer Angestellter. Einrichtungsgegenstände flogen durch die Luft, wurden als Schutz vor anderen Wurfgeschossen genutzt. Das komplette Anwesen wurde auf den Kopf gestellt, und im Zentrum dieses Chaos befand sich ein einziger Mann.
»Ich bring euch alle um! Alle!«
»Dann müssen wir uns aber schon wieder neue Leute suchen.«
Und die meisten waren schon nach Tyrs Tod abgesprungen. Laut seufzend wich Squalo einem Glas aus, das in seine Richtung flog (ob absichtlich oder nicht konnte er bei Xanxus' momentanem Gemütszustand nicht sagen), und fuhr sich mit seiner linken Hand durch den kurzen weißen Schopf.
Xanxus hatte ihn anscheinend nicht gehört, nicht hören wollen, denn er lehnte sich nur noch mehr in seinem lächerlich großen Stuhl zurück und gab weitere aggressive Laute von sich. Beschwerte sich laufend darüber, was für untreue Angestellte er sich angelacht hatte und wie unfähig diese eigentlich waren. Irgendwo zwischen ›Hier sieht's aus wie auf einem Treffen alter Kriegsveteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung‹ und ›Von zwei Offizieren ist das Alter des einen noch nicht einmal im zweistelligen Bereich, und der andere ist ein nutzloser Haifisch‹ beschloss Squalo, einfach auf Durchzug zu schalten und ab und an zu nicken, damit Xanxus weiterhin dachte, er würde zuhören.
Als sein zukünftiger Arbeitgeber jedoch verstummte und er einen stechenden Blick im Nacken spürte, schenkte er der Gestalt in dem riesigen Ledersessel wieder seine volle Aufmerksamkeit.
»Che?«, fragte Squalo vorsichtig, nachdem er und Xanxus sich ein stummes Blickduell geliefert hatten. Letzterer bedachte ihn mit einem vernichtenden Starren, seine nächsten Worte troffen nur so vor Ekel und Anklage.
»Es ist alles deine Schuld.«
Er hatte sich wohl verhört.
»Wessen Schuld?«, hakte er nach, aber Xanxus widmete sich mittlerweile dem einzig ordentlichen Papierstapel, der noch auf seinem Tisch lag.
»Deine«, sagte er ruhig, beinahe teilnahmslos.
Squalo hingegen konnte bei dieser Anschuldigung nicht ruhig bleiben. Irritiert machte er ein paar Schritte auf Xanxus zu.
»VOOOI, spinnst du?! Im Gegensatz zu dir hab ich noch keine von den erbärmlichen Nieten mit Gläsern beworfen!«
Jetzt blieb auch sein Freund nicht mehr ruhig. Rote Augen blitzten gefährlich, als sich seine Hände so fest um die Armstütze des Sessels schlossen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Vaffanculo, Arschgesicht!«
Bevor die beiden sich allerdings gegenseitig an die Kehle springen konnten, tönte von der Tür her ein hohes Kichern. Nur ungern richteten Xanxus und Squalo ihre Aufmerksamkeit auf den Jungen, der sie an den Rahmen gelehnt ansah (zumindest vermutete sie, dass er sie ansah; bei Belphegor konnte man sich nicht sicher sein, wohin sein Blick gerade ging). Xanxus schnaubte kurz, bedeutete dem Jüngsten unter ihnen, mit seinem Anliegen herauszurücken.
»Ushishishi~ Boooss, dem Prinzen ist langweilig«, quengelte der Kleine, doch Xanxus schien das nicht im Geringsten zu stören.
»Aha.«
Gelangweilt besah er sich seine Fingernägel, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen fragte er sich, warum er den kleinen Hosenscheißer überhaupt aufgenommen hatte.
»Squalo, kümmere dich um ihn.«
»Den Teufel werd ich tun«, hob er an, doch Xanxus kalter Blick machte ihm unmissverständlich klar, dass er ihren jüngsten Offizier von nun an unter seine Fittiche nehmen musste. Genervt stöhnte Squalo auf, ergab sich jedoch seinem Schicksal, sowie er Xanxus aus dem Augenwinkel nach einem weiteren Glas greifen sah.
»Oi, Bel, irgendwo im Garten müssten noch ein paar unloyale Feiglinge rumlungern. Spiel doch mit denen.«
Belphegor lachte nur, stieß sich vom Türrahmen ab und drehte sich einmal um sich selbst.
»Benissimo~ das wird ein Spaß.«
Dann lief er davon, zog schon während des Rennens einige Messer und rief nach seinen baldigen Opfern. Bereits nach wenigen Sekunden waren Schmerzensschreie aus dem Flur zu hören; Bel hatte wohl nicht bis zum Garten warten können. Während Squalo nur verständnislos den Kopf schüttelte, räusperte Xanxus sich. Mit scheinbar großem Interesse betrachtete er das Glas in seiner Hand, dann hob er den Blick. Lange sah er seinen Freund an, bis:
»Ich werde den Flur und den Garten danach ganz bestimmt nicht aufräumen.«
Darauf konnte Squalo nur trocken lachen.
»Du hältst ja auch sonst nirgends Ordnung«, beschwerte er sich laut. Ehe er allerdings zu einer Moralpredigt anheben konnte, hatte Xanxus ihm das Glas schon mit größter Präzision an die Stirn geworfen. Als Squalo ein beleidigtes ›VOOI! Wofür war das jetzt?!‹ hören ließ, fiel es Xanxus schwer, nicht vor Lachen vom Stuhl zu fallen.
Sein belustigtes Glucksen schien Squalo zu verärgern. Nicht, dass es Xanxus interessierte. Dennoch machte er sich die Mühe, auf dessen Frage zu antworten:
»Konnte deine Fresse einfach nicht mehr ertragen.«
Dass er ihm immer so schmeicheln musste. So gerne er etwas darauf erwidern wollte, hielt Squalo sich trotzdem zurück. Dass Xanxus ihm fortlaufend Gläser (und andere Dinge) ins Gesicht warf, kratzte doch arg an seinem Stolz. Also wollte er alles tun, um einen weiteren Wutanfall zu vermeiden. Selbst wenn das hieß, den Schwanz einzuziehen und sich stillschweigend zu fügen.
Sobald es still zwischen ihnen geworden war, widmete sich Xanxus erstaunlicherweise den Dokumenten, die auf seinem Schreibtisch lagen und noch nicht im Müll gelandet waren. Eine Zeit lang beobachtete Squalo ihn dabei. Abwesend wickelte er sich eine Haarsträhne um den Finger. Er konnte sich bisher nur schwer damit abfinden, sich die Haare nicht mehr schneiden zu lassen. Wenn Xanxus sich nicht bald den Titel des Vongola Decimo sicherte, musste er mit langen Haaren kämpfen. Nicht auszudenken, was er sich von seinem Vorgesetzten würde anhören müssen, wenn er aufgrund eingeschränkter Sicht oder ähnlichem einen Auftrag verpatzte. Nachher zwang Xanxus ihn noch, einen Zopf zu tragen.
Schnell schüttelte er diesen unschönen Gedanken ab. Er und ein Zopf? Am besten noch mit zartrosafarbener Schleife? Nie im Leben.
Ein entfernter Schrei ließ sie beide aufhorchen, obwohl Xanxus schnell das Interesse verlor. Squalo lachte kurz, murmelte: »Wenigstens der Kleine hat seinen Spaß.«
Nun meldete auch Xanxus sich wieder zu Wort: »Worauf wartest du noch, du faules Stück? Der Garten räumt sich nicht von allein auf.«
»Was...?«
Für einen Moment dachte Squalo, sein Unterkiefer würde Bekanntschaft mit dem teuren Perserteppich auf dem Boden machen. Natürlich war ihm schon immer bewusst gewesen, dass Xanxus ein undankbares, egoistisches Arschloch war, aber die Ausmaße, die er allmählich annahm, machten ihm Sorgen. Gut, eigentlich machte er sich vorrangig Sorgen um sein eigenes Wohlergehen, aber immerhin war Xanxus sein Freund. Zumindest nahm er das an.
»Wie wäre es mal mit einem ›Grazie‹, du grässlicher Egomane?« Selbst Xanxus' angsteinflößender Blick ließ Squalo nicht innehalten. »Hast du eigentlich eine Vorstellung von all dem, was ich für dich getan habe?! Ich hab dir Rekruten besorgt, nachdem die alten Idioten verschwunden sind! Ich hab dir einhändig einen Weg in dieses Arbeitszimmer geschlagen! Ich hab für dich sogar quer durch Europa telefoniert, um geeignete Offiziere zu finden!«
Er hatte den Schwertkaiser getötet, ihm den Titel des Varia-Bosses gesichert und sich für ihn verstümmelt. Und dennoch wurde keine seiner Anstrengungen gewürdigt. Obgleich er alles ihm Mögliche tat, um seinem Freund das Leben zu erleichtern, wurden all seine Bemühungen mit Füßen getreten. Als Xanxus jedoch nicht einmal aufsah oder ihm sonst zu verstehen gab, dass er ihm zugehört hatte, schrie Squalo wütend auf.
»Was glaubst du eigentlich, warum ich das mache?«
Mit diesen Worten verließ er theatralisch mit den Armen fuchtelnd das Zimmer (Richtung Garten, weil er sein verdammtes Pflichtgefühl nicht abstellen konnte). Hocherhobenen Hauptes wollte er davon stürmen, doch Xanxus nächste Worte, ernst und voll Überzeugung geflüstert, ließen ihn innehalten:
»Weil du mich liebst, scemo.«
Für Xanxus mochte das lediglich ein Witz gewesen sein, doch für ihn war es schon lange Realität. So gerne er es auch geleugnet hätte, seine Worte in den Dreck gezogen und als Lüge dargestellt hätte; er konnte nicht. Denn Xanxus' Worte hatten genau ins Schwarze getroffen, und Squalo war dankbar, seinem Boss den Rücken zugekehrt zu haben. Eilig ging er weiter, sah nicht zurück und wollte schnellstmöglich entkommen.
Kurz bevor er die Tür hinter sich zuschlug, blieb er noch einmal stehen.
»Naturalmente«, schnaubte er, bemüht um einen ironischen Tonfall. Dann schloss Squalo die Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen und einen Blick auf Xanxus' zufriedenes Grinsen zu werfen.