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The Black Peter

Winter-Wichtelgeschichte für JoeyB
von

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Langsam zogen die Wolken über uns dahin. Die Sterne funkelten und eine dünne Mondsichel spendete schwaches, bleiches Licht. Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr, seine Wärme an meinem Rücken, als würde ich vor einem prasselnden Kaminfeuer liegen. Ich schloss die Augen und spürte seine schlanken Finger an meinem Ohr entlang streicheln, fühlte, wie sie weiter wanderten zu meinem Kinn. Ich musste mich wegdrehen - das kitzelte!

Und so lag ich, ehe ich es recht realisiert hatte, auf dem Rücken und sah sein Gesicht über mir schweben, die dunkelbraunen Locken verwuschelt, die Augen blitzend. Seine rechte Hand lag auf meiner rechten Schulter, verharrte dort jedoch nicht, sondern ging wieder auf Wanderschaft, glitt seitlich an meiner Brust entlang, streifte sacht meinen Bauch... „Warte, Sherlock, stop...“, flüsterte ich, uneins mit mir selbst, was ich weiter sagen sollte. „Du Blödmann. Geh weg, wir sind doch nicht...“

Er legte nachdenklich den Kopf schief, dann beugte er sich wieder herab, sein Antlitz nur eine Handbreit von meinem entfernt, die hübsch geschwungenen Lippen leicht geschürzt. Ich streckte meine Hand nach ihm aus... und erwachte.
 

Ich erwachte, aber sein Gesicht war noch immer dort, wenige Zentimeter über meinem, meine Hand an seiner Wange.

Überrascht streckte ich meinen Arm vollständig aus, drückte ihn abrupt weg.

„Au!“ Er befreite sich von meinem Fingern, die sich in seine Haut gebohrt hatten.

„Hah, du hast wohl doch noch Soldaten-Instinkte in dir, John! Hätte ich gewusst, dass du im Schlaf um dich haust, dann hätte ich eine Schutzmaske angezogen.“ Er grinste.

Verwirrt und trotz des Schrecks noch etwas schlaftrunken, starrte ich ihn an. „Was zur Hölle machst du eigentlich?“ Das war schließlich immer noch mein Bett. Eine andere unübliche Tatsache, neben seiner Anwesenheit, dämmerte mir, als ich einen flüchtigen Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch warf. „Und warum zum Teufel zu dieser Uhrzeit? Halb Sieben?! Du bist doch sonst nie freiwillig vor den Mittagsstunden munter!“ Ich gähnte und richtete mich im Bett auf. Da schob sich plötzlich ein Vergrößerungsglas in mein Sehfeld und ich beobachtete verdutzt, wie Sherlocks riesenhaft vergrößertes Auge mich durch de Lupe hindurch neugierig musterte. „Was zum...?“ Meine Geduld neigte ich so langsam ihrem Ende entgegen. Ich tolerierte ja sonst die meisten seiner Ticks und Macken, aber so früh am Morgen, noch dazu ohne eine Chance auf einen Kaffee oder etwas Ruhe zur Selbstbesinnung, war mein Geduldsfaden eher kurz bemessen. Ich schob ihn erneut und diesmal absichtlich unsanft beiseite, gähnte und rieb mir die Augen.

„Neeein!“, brach es aus ihm heraus und er schaute mich mit einem nahezu wehmütigen Ausdruck an.

Ich seufzte und gab es auf irgendeinen Sinn in seine Handlungen zu finden. „Sherlock. Erklärung. Bitte. Jetzt!“, forderte ich leicht resigniert.

Ein Blitzen in seinen Augen.

„Ich hatte gestern Nacht die Idee, dass es nützlich wäre eine Studie über die Menge der Schlafsand-Produktion pro Zeiteinheit über die Dauer des Schlafes einer Person zu ermitteln. Mit diesen Daten könnte man unter Umständen genauer bestimmen seit wann jemand tot ist und ob er mit höherer Wahrscheinlichkeit eines natürlichen Todes gestorben ist, oder lediglich in eine schlafähnliche Pose drapiert wurde - für den Fall, dass der Täter keine allzu offensichtlichen äußerlichen Indizien hinterlassen hat.

Ich nickte stumm und sparte mir jeden weiteren Kommentar. Es hätte ja doch keinen Sinn gehabt. Er war mal wieder Feuer und Flamme für eines seiner Experimente und nur Langeweile oder ein neuer Fall würden ihn davon ablenken können. Ab jetzt musste ich also für die nächsten Tage damit rechnen beim Aufwachen in sein überskaliertes Auge zu starren. Vielleicht sollte ich Mrs. Hudson warnen? Es würde mich nicht wundern, wenn er auch bis an ihr Bett vordringen sollte, in seiner Datensammelwut, und ich wollte wirklich nicht, dass die nette ältere Dame einem Herzanfall erlag.

Müde trottete ich an ihm vorbei ins Bad. In der Tür blieb ich stehen. Mein Traum fiel mir wieder ein. Ich überlegte kurz, ob ich fragen sollte wie er geruht hatte, ließ es dann aber bleiben.

Wie ich ihn kannte hatte er sich in der Nacht gar nicht erst ins Bett gelegt, er hätte ja verschlafen können.

So gefangen war er in dem neuen Projekt.
 

Im Bad verzichtete ich darauf mich im Spiegel anzublicken. Ich hatte genug Schrecken für einmal Aufwachen und platzierte mich lieber gleich unter der Dusche. Das warme, fließende Wasser entspannte mich, brachte aber auch weitere Szenen des letzten Traumes zurück in mein Bewusstsein. Ich war über mich selbst verwundert. Warum träumte ich so etwas? Wieso ausgerechnet von ihm? Weshalb nicht von einer meiner weiblichen Bekanntschaften? Wenn ich so darüber nachdachte, dann verschwommen ihre Gesichter miteinander, wurden undeutlich und vage.

„Nun“, dachte ich mir, „ist ja auch eigentlich kein Wunder, du hockst viel zu sehr mit Mr. Holmes zusammen. Da war es ja nur eine Frage der Zeit bis seine Präsenz übergroß wird. Du musst einfach mehr raus, mal wieder ernsthaft Frauen kennenlernen.“ Trotzdem... ich mochte es abstreiten oder drüber scherzen, wenn uns fremde Leute mal wieder für ein Paar gehalten hatten. Aber steckt nicht in jedem Witz ein Körnchen Wahrheit? „Reiß dich zusammen!“, rief ich mich zur Ordnung.

Die letzten Überbleibsel des schnulzig-erotischen Traumgespinnstes schwemmte die entschlossen auf kalt gedrehte Dusche davon.
 

Auf dem Weg zum Polizeirevier zog ich bibbernd meine Jacke fester. Es dämmerte, aber die Straßenlaternen waren noch an. Die Sonne quälte sich nur sehr langsam hinter den Häusern empor, durch deren Zwischenräume der eisige Wind heulte. Sherlock hatte seinen Mantelkragen hochgeschlagen – aus Nützlichkeit, nicht, wie er betonte, weil ich ihn einmal damit aufgezogen hatte, um „cool“ auszusehen. Soso.

Um uns herum blinkerte und glänzte noch immer Weihnachtsschmuck aus den Schaufenstern und von den Fassaden, doch wir eilten vorbei ohne ihn weiter zu beachten. Ein Monat Weihnachtskitsch war selbst mir mehr als genug, es wurde Zeit, dass das neue Jahr begann.

Lestrades Büro empfing uns voller Wärme. Lestrade selber war heute eher von kühler Herzlichkeit.

Wir setzten uns und dankbar nahm ich die Tasse Tee an, welche die Sekretärin freundlicherweise offerierte. Mit einem Ohr lauschte ich Holmes Dialog mit dem Inspektor. Es ging um einen kürzlich abgeschlossenen Fall, den Sherlock fast im Alleingang gelöst hatte, was Lestrade, wie ich schätze, doch manchmal mehr wurmt, als er zugeben mag. Im Allgemeinen erträgt er Sherlock aber geduldiger, als man erwarten würde - er weiß, was die Kriminologie an ihm hat, auch wenn er es dritten gegenüber nicht offen zugibt.

Mit dem anderen überhörte ich unauffällig das Telefongespräch eines jungen Beamten, der in der Nähe saß. Wie es klang hatte es einen Mord gegeben und die Kollegen hatten den Täter doch tatsächlich auf frischer Tat erwischt! Ein wenig enttäuscht dachte ich daran, dass ein neuer Fall Sherlock gut getan hätte. Er brauchte bald mal wieder etwas Herausforderung, sonst würde er, auf kurz oder lang (aber meistens leider eher kurz), unleidlich werden.

Nicht, dass ich mir mehr Verbrechen wünschte.

Ich hörte noch, dass sie den Täter jetzt aufs Revier brachten, dann legte der Polizist auf und kam zu uns ins Büro um Lestrade Meldung zu machen.

Dieser nickte und entließ den jungen Mann mit einer Handbewegung.

„Tja, Mr. Holmes, wenn alle Verbrechen so klar wären wie dieser, dann bräuchten wir ihre Hilfe nicht länger.“

Bevor der Lockenkopf neben mir sich zu einer Antwort herablassen konnte, wurde es auf den Flur unruhig. Vier Polizisten waren damit beschäftigt den dunkel gekleideten Hünen im Zaum zu halten, der es trotz Handschellen auf dem Rücken irgendwie schaffte wild zu gestikulieren und dabei Unschuldsbeteuerungen zu brüllen. Er war eine beeindruckende Gestalt, Sherlock hob interessiert eine Augenbraue. „Inspektor, sie sagen sein Fall sei eindeutig. Was ist denn passiert?“

Lestrade lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aufeinander.

„Zu einem Klischee-Oberbösewicht fehlt jetzt nur noch eine weiße Katze und eine wahnsinnige Lache“, dachte ich, doch dann riss ich mich zusammen.

„Er hat seinen eigenen Bruder ermordet und es wie einen Einbruch aussehen lassen wollen. Die Mutter hat wegen dem Lärm die Polizei gerufen. Wir haben ihn noch neben der blutigen Leiche aufgegriffen.“

„Wie kommen sie darauf, dass es so einfach ist, wie es scheint? Sollten sie es nicht inzwischen besser wissen, Inspektor?“

Holmes zweifelnder, besserwisserischer Ton reizte Lestrade nun doch und so entgegnete jener:

„Wie kommen sie darauf, dass es komplizierter ist? Nur, weil er seine Unschuld beteuert? Das machen sie doch alle anfangs.“

Sherlock sah sein Gegenüber als Antwort nur starr an.

Lestrade knirschte mit den Zähnen. „Wie sie wollen Holmes, wie sie wollen. Wie wäre es mit einer Wette: ich lasse sie in dem Fall ermitteln und sie haben den Rest dieses Jahres Zeit um den Verdächtigen zu entlasten und mir den Mörder zu präsentieren.

Ich habe in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr zu wenige Männer, selbst wenn ich glauben würde, dass mehr dahinter steckt – was es eindeutig nicht tut – könnte ich nicht genügend Leute für diese Ermittlung abstellen. Also meinetwegen: toben sie sich aus.“

Aufmerksam schaute ich von einem zum anderen. Sie starrten sich gegenseitig lauernd an.

„Abgemacht“, meinte Sherlock darauf lediglich und stand auf. Lestrade erhob sich ebenfalls. Lauernd fragte er: „Wollen sie denn nicht einmal wissen, was der Einsatz ist?“

Der Detektiv in beratender Funktion schüttelte nur den Kopf. „Nicht nötig. Stürzen sie sich meinetwegen bitte nicht in Unkosten.“

Der Inspektor registrierte die Beleidigung, so viel konnte ich erkennen, doch er fuhr ungerührt fort: „Mein lieber Holmes, sie wissen, dass ich weiß, dass ihnen Geld nicht sonderlich viel bedeutet. Nein.“ Er legte eine dramatische Kunstpause ein um seine nachfolgenden Worten mehr Bedeutung zu verleihen. „Nein, bei unserer Wette geht es einzig um die Ehre, um die Anerkennung des Anderen, darum den Fall gelöst zu haben.“ Siegessicher führte er uns auf den Flur. „Und um meinen guten Willen zu zeigen überlasse ich ihnen sogar die erste Runde mit dem Verdächtigen.“ Sprach's und öffnete uns mit einer eleganten Bewegung die Tür zum Verhörraum. „Nach ihnen!“
 

Der Mann war groß, aber nicht so muskulös, wie es von weitem den Anschein gehabt hatte.

Er war vollständig dunkel gekleidet: Schuhe, Hose, Rollkragenpullover. Alles Marineblau bis schwarz. Sein Gesicht hingegen war puterrot.

„21 Jahre alt, zwei Kinder, verheiratet. Das erste fünf Jahre, ein Mädchen, der Junge lernt gerade erst laufen, sie sind Schweißer, allerdings noch in der Ausbildung und spielen gerne Gitarre. Sie lieben ihre Frau, weihen sie jedoch nicht in alles ein, was sie tun -

Habe ich recht?“ Fragend sah Sherlock den Beamten in der Ecke des Raumes hinter uns an.

„Äh, so weit sind wir noch nicht“, murmelte dieser, „wir waren gerade dabei die Personalien aufzunehmen, aber der, hm, Gentlemen war nicht sonderlich zuvorkommend. Wir haben bisher nur den Familiennamen, Black, und die Behauptung, dass es sich bei dem Opfer um seinen Bruder, äh, Peter, handelt.“

Den Polizisten daraufhin ignorierend wandte sich Sherlock wieder dem Gefangenen zu, dem deutlich Farbe aus dem Gesicht gewichen war.

„Also habe ich recht, ja?“, fragte mein Mitbewohner ruhig.

Der große Mann schluckte trocken und nickte. „Ja, aber woher...“

Sherlock seufzte theatralisch, aber ich wusste, wie sehr er sich über diese kleinen Vorführungen freute. Sie erfolgte in dem inzwischen gewohnten Eiltempo, bei dem man das Gefühl hatte er würde jeden Moment über die eigenen Zunge stolpern: „Das deutlichste Zeichen ist der Ehering. Sie haben ihn abgelegt, aber sie fahren sich, jetzt wo sie nervös sind, dauernd mit den Fingern der rechten Hand über die Stelle. Das eine Kind hat Spuren von Glitter-Kleber am rechten, unteren Bereich ihres Pullovers hinterlassen, Höhe und Ausrichtung legen nahe, dass sie Freude daran hat, sie zu allen Entdeckungen, die man in dem Alter so macht, hinzuschleifen um sie ihnen zu zeigen und mit ihnen zu teilen. Am linken Hosenbein finden sich ebenfalls Spuren, etwa in der Höhe, die ein aufrechtstehendes Kleinkind erreichen würde, die selben Flecken finden sich jedoch auch am Hosenssaum wieder, woraus ich schließe, dass das Kind noch nicht sicher aufrecht geht. Warum ein Junge? Blaue Fusseln an der Naht. Wobei ich mich hier gerne irren würde – warum bitte stecken so viele Eltern ihre Kinder in diese zwei Standartfarben? Entsetzlich einfallslos!

Nun, sie sind jedoch äußerst konservativ eingestellt, auch wenn sie es geschafft haben ihrer Freundin sehr zeitig ein Kind zu machen. Deswegen haben sie sie auch geheiratet, sobald sie es mit Sechzehn durften. Sie haben sich sogar noch Verlobungsringe geschenkt, billige allerdings, er hat die Basis des rechten Ringfingers leicht verfärbt, dafür sieht man keine Druckstelle, dafür haben sie ihn zu kurz getragen. Ich schätze das Kind kam kurz nach der Hochzeit zur Welt, sie sind jedoch durch die Verzögerung noch nicht mit der Ausbildung als Schweißer fertig. Das verraten mir die kleinen gesprenkelten Brandnarben und der Tintenfleck an dem Finger.

Außerdem ist ihre Gesichtshaut weniger gebräunt als ihre Arme – sie arbeiten häufig im Freien, haben jedoch viel die Schweißmaske auf, daher auch die Druckstelle an ihren Haaren.

Sie haben nicht viel Geld und leben deshalb mit ihrer Frau und den Kindern bei ihrer Mutter und ihrem Bruder. Sie sind Rechtshänder und trotzdem ist ihre linke Hand ist an den Fingerspitzen verhornter als die rechte. Zudem sind die Fingernägel an der rechten kürzer und sie sitzen so da, dass ihr rechter Oberschenkel höher liegt als der andere, daher schließe ich daraus, dass sie Gitarre spielen, leidenschaftlich zwar, jedoch nicht gut genug um sich damit einen Lebensunterhalt zu verdienen. Und warum ich denke, dass sie ihre Frau nicht sofort in alles einweihen? Nun, sie sind wegen Mord verhaftet, aber sie ist noch nicht da. Sie scheinen auch nicht auf sie zu warten, also haben sie sie noch nicht angerufen.“

Selbstzufrieden genoss er die Blicke der Anwesenden, dann beugte er sich dicht zu dem Angeklagten hinüber. „Soweit mein Stück. Jetzt erzählen sie mir ihren Teil.“

„Ich... ich habe ihn nicht umgebracht. Ich habe Peter nur gefunden.“

Ein abfälliges Schnauben erklang aus der hinteren Ecke: „Und dabei hatten sie gaaanz zufällig eine Tasche voller Einbruchswerkzeug und ein Messer dabei.“ Verärgert blickte Sherlock den Polizisten an. Er mochte es nicht, wenn ihn jemand beim Denken störte, doch er drehte sich wieder um und beließ es dabei die neuen Informationen abzuspeichern.

Der Hühne stand auf und begann wie ein wildes Tier im Käfig hin und her zu tigern. Ich hörte, wie der Beamte hinter uns scharf einatmete und auch ich war unruhig, doch Sherlock ließ sich nicht stören. Sein kalter, analysierender Blick verharrte auf dem Verdächtigen bis dieser nach einer längeren Phase des Schweigens schließlich mit folgendem herausplatzte: „Mein Bruder war kein netter Mensch. Ich bin nicht wirklich traurig, dass er tot ist, aber ich habe ihn nicht umgebracht! Er hat mich eiskalt erpresst und ich sollte ihm etwas... besorgen. Er sammelt ganz viel Sci-Fi-Kram, ist total verrückt nach dem Zeug! Ich sollte bei einem anderen Sammler der Szene einbrechen und ein ganz spezielles Objekt stehlen... aber ich konnte nicht.“ Er seufzte und ballte gleichzeitig die Hände zu Fäusten. Dann fuhr er fort: „Er hatte diesen Typen für heute eingeladen um mit ihm zu verhandeln und ihn mir aus dem Weg zu schaffen. Vielleicht hat der ihn umgelegt! Ja! Er muss es gewesen sein! Als ich zurückkam, da war Peter schon tot. Er lag in seinem eigenen Blut und hat nicht mehr geatmet. Ich wollte die Polizei rufen, aber erst musste ich meine Chance nutzen. Die Gelegenheit ergreifen die Beweise, die er gegen mich hatte, zu vernichten, bevor die Computer den Bullen in die Hände fallen - und da standen sie plötzlich schon in der Tür und haben mich zu Boden gedrückt.“

„Was hatte er denn gegen sie in der Hand?“

Die Frage war nur logisch, doch ab diesem Punkt kamen wir mit dem Verhör keinen Schritt weiter. Der Verdächtige weigerte sich standhaft noch irgendetwas zu erzählen, und so überließen wir ihn schließlich wieder den Händen der Ordnungshüter.

Sherlock brannte inzwischen eh darauf den Tatort zu besichtigen.

Er zieht Tatorte den beteiligten Menschen vor – sie erzählen ihm ebenfalls ihre Geschichte, nerven dabei aber nicht mit Nebensächlichkeiten und Gefühlen.
 

Wir trafen an der genannten Adresse mit der Spurensicherung zusammen. Lestrade schien angerufen und uns angemeldet zu haben, denn wir kamen ohne Probleme durch die Absperrung und selbst Sergeant Donovan ließ uns, wenn auch äußerst unerfreut über unsere Anwesenheit, agieren.

Die Leiche wurde bereits zum Transport aufgebahrt und wurde bei unserer Ankunft gerade in den Krankenwagen verfrachtet. Sherlock bestand darauf sie noch an Ort und Stelle anzusehen.

Der Tote war bleich, etwa einen Kopf kleiner als sein Bruder, dafür mindestens doppelt so breit. Gestorben war er, dem ersten Eindruck zufolge, an Stichwunden im Halsbereich.

Wir kletterten aus der Ambulanz heraus und ließen die eiligen Sanitäter ihres Weges ziehen. Wir sollten später genügend Gelegenheit haben die Leiche in Ruhe zu begutachten.

Das Haus selbst war geräumig und bestand aus drei Etagen, einem Keller und einem Garten.

Spätere Nachforschungen ergaben, dass es zur Hälfte der Mutter und zur Hälfte ihrem verstorbenen Sohn gehörte. Die oberste Etage wurde von der Mutter bewohnt, eine kränkliche Witwe, die auf häusliche Pflege angewiesen war und das Haus so gut wie nie verließ.

Die mittlere Etage bewohnten ihr jüngerer Sohn, dessen Ehefrau und die zwei gemeinsamen Kinder.

Im Erdgeschoss befand sich die Wohnung des älteren Bruders, des Toten. Er verbrachte jedoch den Großteil seiner Zeit im Keller des Gebäudes.
 

Dieser Keller war eine Nummer für sich, da fange ich am besten am Anfang an.

Wir betraten das Haus und trafen dort auf die verheulte Frau des Verdächtigen. Sie war ein wenig älter als ihr Ehemann, hatte aber scheinbar große Probleme damit zu verstehen, was um sie herum geschehen war und geschah. Sherlock verzichtete darauf sich mit dieser Frau in ihrem hochemotionalen Zustand auseinander zu setzen und betrachtete stattdessen die Kellertür.

Nun, es war weniger eine Tür, als ein Portal. Und es war verschlossen. Ich bin bei weitem kein Spezialist auf dem Gebiet, aber ein paar alte Fernseh-Serien kenn auch ich. Und was wir hier sahen war ein übermannsgroßer, steinerner Bogen mit einzelnen Platten, auf denen fremdartige Symbole eingelassen waren. Ein Stargate. Seitlich stand ein Steuerpult. Wie wir erfuhren, war es notwendig den Keller „anzuwählen“, damit sich die Tür öffnete. Jemand drückte mir einen Zettel mit der richtigen Symbol-Reihenfolge in die Hand. Wir gaben die Folge ein und das Tor begann zu rauchen und pulsierende Geräusche von sich zu geben. Vorsichtig wich ich ein paar Schritte zurück. Ich bemerkte einenälteren Polizisten, der uns zusah. „Macht es das immer?“, fragte ich skeptisch. Er nickte und verließ dann kopfschüttelnd das Zimmer.

Das Tor verstummte und die Tür glitt, in drei Teile gespalten, in einer drehenden Bewegung in den Torbogen hinein und gab den Weg frei. Wir traten hindurch und fanden uns in einem Bereich wieder, den man anderswo wohl als „Kellertreppe“ bezeichnet hätte. Hier hingegen... nun, die Funktion blieb die Gleiche, aber optisch war es äußerst ungewohnt. Die Wände waren mit Lagen aus dunklem, schwarz-blauen Samt ausgekleidet und die einzigen Lichtquellen waren hunderte, wenn nicht tausende kleiner LED-Lämpchen, die, auch das erfuhren wir in den nächsten Stunden, zu astronomisch korrekten Grüppchen zusammengefasst waren und fast 1:1 die Sternbilder und den Rest des Nachthimmels nachbildeten, inklusive der scheinbaren Größen- und Helligkeitsunterschiede.
 

Die Tür am unteren Ende des „Tunnels“ war ebenfalls ein Sternentor, doch dieses wurde durch einen quer steckenden, länglichen Gegenstand offen gehalten. Als ich mich darunter hindurchduckte um in den Keller zu gelangen, sah ich, dass es sich um einen Besen handelte.

„Da hatte wohl jemand keine Lust mehr immer zu warten, bis die Tür sich ausgemehrt hat“, kommentierte mein großer Detektiv die Konstruktion. Interessiert blickte er sich um.

Und in der tat, es gab viel zu sehen. Wo soll ich anfangen? Der ganze Keller war eingerichtet wie ein Raumschiff. Zumindest gab es eine Brücke mit einen gigantischen Monitor und nicht viel weniger großen Bildschirmen, die den ersten seitlich flankierten, an der uns gegenüberliegenden Wand. Das Mauerwerk war mit Metallplatten verkleidet, hier und da verliefen Bündel von Kabeln und Schläuchen. Vor den Monitoren gab es als Konsolen getarnte Schränke und Tische. Im Zentrum der „Brücke“ stand ein moderner, runder Tisch, mit zwischen Glasscheiben eingelassener Sternenkarte und mehreren im Boden verankerten Drehstühlen darum herumgruppiert.

Praktisch jeder Winkel und jede freie Fläche waren mit irgendeiner Form von Merchandising vollgestopft. Da gab es Figuren, Comics, Bücher, Kostüme, Waffen, Poster, Buttons, Medaillen, Nachbildungen von x-zig Geräten und Maschinen, Stofftiere, DVDs, CDs, Videos und weiß-der-Geier was noch alles. Ein paar Sachen konnte ich zuordnen, das meiste blieb mir jedoch ein Buch mit sieben Siegeln.

Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie verwirrend die ganze Zusammenstellung auf meinen Trivia-hassenden Mitbewohner wirken musste. Wenn er etwas als Nutzlos und langweilig empfand, neben dem Wissen um Politiker und Prominenz, so waren es TV-Serien und die meisten Filme.

Umso überraschter war ich, als er auf ein geschwungenes, armlanges Messer mit drei lederumwickelten Griffen und einer gleichen Anzahl nach innen gebogener Schneiden zeigte, das neben der Blutlache am Boden lag - es war sauber mit einem Kärtchen, das die Nummer „2“ trug, gekennzeichnet - und an die anwesenden Beamten gewandt fragte: „Wissen wir bereits, was hat es mit dem Bathlet auf sich hat?“

Die zögerlichen Antworten stellten ihn sichtlich nicht zufrieden und ich hörte leise, wie er sich fragte, warum er überhaupt versuche mit ihnen zu interagieren. Es sei ja doch nur Zeitverschwendung.

„Sherlock, woher...?“ Er stoppte mich mitten im Satz und sah mich mit einem Blick an den man vielleicht einem stark lernbehinderten Kind zuwirft... man weiß, es gibt sich Mühe, und deswegen mag man ihm nicht böse sein, seine Äußerungen sind trotzdem zurückgeblieben und unzureichend. „Woher ich den Namen weiß, obwohl ich mich nicht für Sci-Fi-Serien interessiere?

Nun, du erinnerst dich offensichtlich nicht an den Vortrag, den ich dir letzten Monat über meine Versuchsreihe bezüglich Stichverletzingen gehalten habe. Ich hatte die Form und Charakteristik der Wunden aller handelsüblichen Messer, Lanzen, Speere, Pfeile, Skalpelle, Schwerter, Degen, und weiterer Schneid- und Stichinstrumente, derer ich vorübergehend habhaft werden konnte, untersucht - inklusive einiger von Gefängnisbewohnern gebastelter Waffen so wie diverser Fantasiewaffen. Ninja-Sterne sortiere ich übrigens in die letzte Kategorie, ebenso wie das Bathlet, eine „klingonische“ Waffe. Wie dem auch sei – sie wurde, in diversen Ausführungen, real produziert und war für mich daher eine weiteres Hieb- Schnitt- und Stichinstrument, dessen Wundprofile ich analysieren und katalogisieren wollte.“
 

Die weitere Suche am Tatort ergab nicht viel. Sherlock schaffte es trotzdem noch dem ein oder anderen Polizisten auf die Füße zu treten - einem wortwörtlich, den anderen im übertragenen Sinne. Ich mag mich gar nicht mehr dran erinnern. So aufmerksam er sein kann, so ignorant ist er auf der anderen Seite. Glücklicherweise verzichte Donovan darauf sich heute längere Streitereien mit Sherlock zu liefern - ich denke ihr tat die Umgebung nicht gut.

Vielleicht war ihr internes Freak-o-Meter überlastet.

Nach den Zeugenaussagen hatte es wohl einen Kampf oder ähnliches gegeben. Die Mutter hatte Schreie gehört, die ihr durch Mark und Bein gegangen waren, und, da sie sich zu dem Zeitpunkt allein im Haus befunden hatte und aufgrund ihrer körperlichen Verfassung nicht selbst nach dem Rechten schauen konnte, die Polizei alarmiert.

Eine Mordwaffe fand sich nicht – Sherlock schloss Messer und ähnliches aus, denn die Stichwunde war eher klein und tief gewesen. Sergeant Donovan beharrte darauf die vorhandenen Waffen trotzdem auf Blut zu untersuchen. Es verwunderte mich keineswegs, dass sie dergleichen nicht entdeckten.

Dafür förderte der große Detektiv schließlich doch noch etwas (zumindest ein klein wenig) blutbeflecktes an Tageslicht: es war eine kleine, blaugraue Holzkugel mit einem dünnen, ein paar Millimeter tiefen Loch. Sie hatten unglücklich verdeckt auf dem Boden gelegen. Ich war mir nicht sicher, ob uns das weiterhalf und auch in dem Gesicht meines Mitbewohners sah ich keinen plötzlichen Geistesblitz aufleuchten. Andererseits... wer konnte schon sagen, was in dem Schädel dieses Kerls vor sich ging? Ich nicht.
 

Für den Besuch bei Mr. Patrick Cairns, dem Sammler und Händler, mussten wir uns bis zum nächsten Morgen gedulden. Lestrade hatte den Herrn mittags angerufen um unser Kommen anzukündigen. Dieser war jedoch, wie er erfuhr, nicht zuhause, sondern bis Abends auf dem Land zu Besuch bei Bekannten. Es war nicht gerade um die Ecke und so vereinbarten sie einen Termin am nächsten Morgen. Muss ich erwähnen, dass Sherlock nicht erfreut gewesen war, warten zu müssen, und lieber hinterher gereist wäre?

So schauten wir stattdessen in der Leichenhalle des St. Bartholomew Krankenhauses vorbei.

Ich hatte erwartet hier Molly Hooper anzutreffen, doch, wie wir von einer Kollegin erfuhren, war sie bis zum zweiten Januar im Urlaub. Ich beobachtete Sherlock, wie er über den Leichnam des beleibten Opfers gebeugt stand, wie ein Schwamm Details einsaugend, in Gedanken vertieft, seine Umwelt komplett ignorierend. Urlaub – das war eines der Dinge, die den Lockenkopf nicht interessierten, denn es bedeute im schlimmsten Fall, dass ihm keine neuen, interessanten Fälle zugetragen wurden.

Dann würde er den ganzen Tag nur über seinem Laptop oder über Zeitungen hängen auf der Suche nach Verbrechen, die er aus der Ferne analysieren konnte. Ich hatte zwar auch frei über die Tage bis Silvester, aber alleine Urlaub machen? Das war zum einen eher langweilig, zum anderen fehlte mir dann doch das Kleingeld. Außerdem... ich war gerne mit Sherlock zusammen unterwegs. Vielleicht zu viel? Ich dachte an meinen Traum und fühlte mich unwohl. „Solche Träume hat doch jeder mal, oder? Das hat noch lange nicht zu bedeuten, dass ich...ich...“, dachte ich und schreckte plötzlich auf, als mich jemand an der Schulter berührte.

Ich schaute auf und sah in das Gesicht von Mollys Kollegin. Ich kannte ihren Namen nicht.

In leicht besorgtem Tonfall fragte sie: „Ist alles in Ordnung? Geht es ihnen nicht gut?“ und fuhr tröstend fort: „Das passiert hier vielen.“

Suchend sah ich mich um.

„Oh, ihr Partner ist schon gegangen.“

Hastig verabschiedete ich mich und rannte zum Ausgang. Auf dem Weg rückte ihre Wortwahl in mein Bewusstsein. „Partner. Sie meinte es sicher wie bei zwei Streifenpolizisten... Partner... Kollege halt. Oder?“ Leise fluchend rannte ich bis zur nächsten Kreuzung. Dort schmerzte das Bein zu sehr und ich lehnte mich ärgerlich an die nächste Ampel. Meine Gedanken schlugen Salti. Von Sherlock war nichts zu entdecken.
 

Wir fuhren am darauffolgenden Tag, erneut noch im Morgengrauen, mit dem Taxi nach Norden. Über Nacht hatte es geschneit und sie Straßen waren sehr glatt, weshalb wir nur im Schneckentempo vorankamen. Der Schnee war mehrere Zentimeter hoch und glänzte rot in dem Licht der Morgendämmerung. Das Schaukeln des Autos und die Wärme lullten mich ein und ich muss tatsächlich kurz eingenickt sein, denn als ich die Augen einen Moment später öffnete waren wir auf einmal bereits angekommen. Hinter versteckter Hand gähnend stieg ich aus dem Taxi. Sherlock konnte furchtbar sein, wenn etwas nicht nach seinem Willen ging. Manchmal wurde er regelrecht quengelig und in anderen Fällen gab er sich verschlossen und wortkarg, als wäre er beleidigt.

Ich hatte ihn nach der Stippvisite im Krankenhaus schließlich zuhause im Sessel sitzend vorgefunden, nachdem ich noch eine Zeitlang durch die Stadt gezogen war, auf der Suche nach Antworten zu den Fragen in meinem Kopf – oder Ablenkung. Was auch immer zuerst kam.

Auf meine säuerliche Nachfrage, warum er mich einfach hatte stehen lassen und gegangen war, ohne sein Sterbenswörtchen zu sagen, antwortete er nicht.

In dieser Nacht hatte er sich vollständig in sich selbst zurückgezogen und nachgedacht, während er auf seiner Violine spielte. Ich für meinen Teil hätte es vorgezogen zu schlafen – und zwar, während er nicht auf der Violine spielte.
 

Vor uns lag eine alte Stadtvilla. Der Garten war etwas verwildert und wirkte in dem glitzernden Schnee wild und verwunschen, aber das Haus selber war äußerlich ordentlich und gepflegt.

Ich hatte eine ähnlich exzentrische Bude erwartet wie Peter Blacks Keller, schließlich verkehren sie anscheinend in derselben, speziellen Szene, doch auch von Innen war die Wohnung gediegen und ordentlich.

Auf unser Klingeln hin öffnete uns ein kleinerer, untersetzter Mann mittleren Alters. Er trug eine runde Brille mit einem dickeren, dunklen Gestell, deren Bügel mit einem feinen Goldkettchen, das hinter seinem breiten Nacken verlief, verbunden waren.

„Guten Morgen. Mr. Holmes und Dr. Watson, wir ermitteln im Auftrag von Inspektor Lestrade- gehe ich recht in der Annahme, dass sie gestern mit ihm telefoniert haben?“

„Oh ja, natürlich. Kommen sie rein...“, antwortete er, an mich gewandt. Sherlock konnte er in seine Einladung nicht mehr einbeziehen, dieser war nämlich, mal wieder alle Regeln der Höflichkeit missachtend, bereits ins Haus marschiert und sah sich dort, mit schlecht verstecktem Interesse, in Foyer um.

„Wenn sie mir bitte folgen würden“, begann der Hausherr und führte uns durch einen Flur ins Wohnzimmer. Dort saß ein Junge von vielleicht sieben Jahren und spielte. „Entschuldigen sie die Unordnung, ich habe sie, um ehrlich zu sein, nicht so früh am Morgen erwartet.“

„Husch!“, machte der Vater. „Geh in dein Zimmer und spiel dort weiter.“ Das Kind trottete davon, wobei es mit vielen „wusch“-und Pfeifgeräuschen einem Space-Shuttle-Spielzeug folgte, das es mit den Armen wild durch die Gegend wirbelte.

Ich musste lächeln. Der Junge war nett.

Mein Blick viel auf die anderen Spielzeuge. Eine Handvoll Alien-Figuren, ein bewegliches Planeten-Modell (und sogar inklusive der verschiedenen Monde), ein Teddy mit rotem Hemd, schwarzer Hose und einem goldenen Abzeichen auf der Brust und ein Buch, dessen Titel verdeckt war, aber auf dessen Umschlag viele Sterne und ein Raumschiff prangten.

Mr. Cairns bemerkte meinen Blick und rief dem Jungen hinterher: „John, nimm gefälligst deinen Krempel mit!“

„Ach, lassen sie ihn doch!“, versuchte ich meinem Namensvetter zu helfen. „Ich bin Arzt, keine Supernanny.“

Ich merkte deutlich, dass der Witz ein Blindgänger war. Statt einem kurzen Lächeln oder dergleichen trafen mich nur leere, fragende Blicke. Ja, Blicke. Mehrzahl, denn bei meinen Worten hatte sich auch Sherlock umgewandt und schaute leicht verwundert zu mir herüber. Nach Mr. Cairns' nächsten Worten revidierte ich meine Meinung: er hatte die Anspielung durchaus verstanden... er hatte nur schlicht und ergreifend keinen guten Sinn für Humor.

„Sie haben“, begann er, und in seiner Stimme lag ein unangenehmes Schnarren, „wohl einen falschen Eindruck von mir. Ich bin Händler. Ich sammle wertvolle Raritäten. Ich stecke sie in Tresore und verkaufe sie an den Meistbietenden. Ich habe mich auf Sci-Fi-Merchandising spezialisiert, da es in dem Feld viel zahlende Kundschaft gibt. Verwechseln sie mich nicht mit einem – Fan.“ Er sprach das letzten Wort einen deutlich missachtenden Tonfall. „Es sind Wertanlagen für mich, nicht mehr und nicht weniger. Für meine Kunden sind es Schätze – und nicht zuletzt auch Statussymbole.“

„Statussymbole?“, fragte ich verwundert.

„Nun, es mag ihnen vielleicht seltsam vorkommen, dass man sich daran misst, ob man echte Filmrequisiten, eines der einzigen drei erhaltenen Scripte einer alternativen Endfassungen eines Filmes, die seltene erste Ausgabe eines Comicheftes oder eine streng lizenzierte Sammlerfigur etc. besitzt, doch so ist es in diesen Kreisen halt.“

„Dann ist der Tod von Peter Black wohl ein harter Schlag für sie?“, fragte ich, da Sherlock keine Anstalten machte das Gespräch zu übernehmen.

„Ja und nein. Ja, leider verliere ich einen langjährigen, zahlungskräftigen Kunden. Andererseits werden seine Besitztümer frei und ich denke ich kann sie der Familie zu einem akzeptablen Preis abkaufen. Tragischerweise haben sie mit Peter ihren Hauptverdiener verloren. Schlimm, schlimm.“

„Ich hoffe der Junge kommt mehr nach der Mutter“, dachte ich bei mir, denn der Vater wollte mir nicht sympathisch werden.

„Oh, sie halten mich sicher für kalt und berechnend“, riss er mich aus meinen Gedanken, „aber ich bin nur Realist. Man muss das Beste aus einer Situation machen, oder? Und, unter uns, Peter Black war ein eiskalter Schweinehund. Ich glaube kaum, dass ihn viele vermissen werden. Aber ich habe mich mitreißen lassen - behalten sie das bitte für sich, ich habe in dem Job einen Ruf zu verlieren.“
 

Der Rest der Befragung zog sich etwas und nur eine wichtige Erkenntnis wurde, zumindest von meiner Wenigkeit, gewonnen: Patrick Cairns war in der Mordnacht gar nicht zur fraglichen Zeit beim Opfer gewesen.

„Mr. Black, also der ältere, Peter Black, rief mich am Morgen an, meinte, ihm sei etwas dazwischen gekommen, und sagte unser Treffen ab.“

Er zeigte uns sein Handy. „7:01“ prangte hinter dem Eintrag „Black, P.“.

„Wir waren für 7:30 verabredet. Ich wollte gerade losfahren, als er anrief.“

„Hat er einen Grund angegeben?“

„Oh, den hätte ich zugerne selbst erfahren, das können sie mir glauben! Aber nein, er hielt das Telefonat kurz und legte ohne Erklärung auf. Er befand es wohl nicht für nötig. Traurigerweise hat er damit nicht wirklich Unrecht.“

Schließlich verabschiedete ich uns. Draußen vor dem Haus stellte ich fest, dass es noch mehr geschneit hatte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir ein Taxi aufgetrieben hatten. Der Fahrer muss ein Yeti gewesen sein. In den Auto war es kaum wärmer als draußen – und das nachdem ich ihn gebeten hatte die Heizung höher zu stellen.
 

Zwei Tage später waren wir noch immer nicht weiter, aber unsere Wohnung in der Baker Street glich einem Schlachtefeld. Unruhig schritt Sherlock mit großen Schritten im Wohnzimmer hin und her. Seine Arme waren voll von viereckigen Stellen, an denen die Haut gerötet war. Mitten im Zimmer blieb er stehen und kramte in seiner Hosentasche. Er schien nicht zu finden was er suchte, also stiefelte er zu einem Küchenschrank und holte eine handgroße Packung heraus. Als er in die Stube zurückkehrte klebte ein neues Nikotinpflaster auf seinem Arm. Er setzte seine Wanderung durchs Zimmer fort. Hin und her, wie ein Tiger im Käfig.

„Ich weiß, du wirst wahrscheinlich nicht auf mich hören, aber sowohl als Arzt als auch als Freund würde ich dir raten deinen Nikotinpflasterkonsum zu reduzieren.“

Es starrte mich an. Das irritierende daran war, dass er nicht mit dem Laufen aufhörte, so dass sein Kopf sich hin und her drehte. Nach kurzem Schweigen erklärte er: „Weißt du John, ich glaube diesmal hast du tatsächlich Recht und ich werde auf dich hören.“ Wütend pfefferte er die Nikotinpflaster-Packung in eine Ecke und rief: „Es bringt ja doch nichts! Das Zeug wirkt nicht vernünftig! Ich. Kann. So. Nicht. Denken!“

Wie ein Kartenhaus, das einfach in sich zusammenfällt, lief er sich in den Sessel plumpsen. Mit verzerrtem Gesicht klemmte er seinen Kopf zwischen die Hände, begann sich die Schläfen zu massieren, gab auf, raufte sich durch die Haare.

„Und die Spurensicherung, haben die noch nichts gefunden?“, fragte ich in den Versuch seine Gedanken von seinen ersehnten Zigaretten oder härteren Drogen abzulenken.

„Nah, lediglich ein paar Fingerabdrücke, gehören alle zu den Brüdern, kaum welche vom Rest er Familie und keine fremden.“ Er ließ sich quer über Kopf über die Sesselseite hängen.

„Wenn dieser Cairns im Raum gewesen war, hätte die Spurensicherung dann nicht etwas finden müssen? Haare oder so?“, fragte ich.

„Oh, selbst wenn er da gewesen war können sie nicht seine Haare finden. Er trägt ja eine Perücke.“

„Er trägt eine Perücke?“, echote ich und beobachtete, wie sein Schädel rot anlief.

„Ja, aber nicht sonderlich häufig, danach zu urteilen, wie er sie unbewusst immer wieder zurechtrücken wollte und wie er es immer wieder gemerk und seine Hand auf halben Weg gestoppt hat, die Handlung mit unsinnigen Gesten tarnend.“

Er schien zu bemerken, dass mehr Blut im Kopf nicht zwingend eine Steigerung der Denkfähigkeit zur Folge hatte und richtete sich wieder auf.

„Argh, das bringt mich kein Stück weiter!“ Er verlagerte frustriert seine Extremitäten auf diverse Stellen des Sessels. Schließlich blieb er zusammengeklappt sitzen, den Oberkörper auf den Knien, den Kopf gesenkt, die Hände immer noch an den Kopf gepresst. Er schaukelte leicht vor und zurück und murmelte dabei zu sich selbst.

Er tat mir leid und so ging ich in die Küche und setzte Wasser auf. Ich wusste nicht so recht wie ich ihm helfen konnte, aber Tee war eine Sache, die seinen Zustand zumindest nicht verschlimmerte.

Nachdenklich blickte ich aus dem Fenster. Von der Regenrinne hingen fast einen Fuß lange Eiszapfen herab und der kalte Wind heulte ununterbrochen. Laut nieste ich in mein Taschentuch und zog gedankenverloren die Nase hoch. Ich hatte eigentlich Abstand von Sherlock halten wollen. Einfach um mir selbst zu demonstrieren, dass ich auch wunderbar ohne ihn klar kam, doch dann hatte mir die Erkältung einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich war an dem vergangenen Morgen mit einem furchtbaren Brummschädel und einer laufenden Nase aufgewacht. Im Laufe des Tages hatten sich noch leichtes Fieber und ein hartnäckiger Husten hinzugesellt.

Heute stand ich unter diversen Medikamenten und war froh um meinen Beruf - ich wusste was ich womit kombinieren konnte ohne Nebenwirkungen zu riskieren, die unangenehmer waren als die Erkältung selbst. Den Schlüssel zum Medizinschränkchen hatte ich jedoch verstecken müssen. Sherlock steckte fest und war anscheinend verzweifelt auf der Suche nach etwas, das seine Gedanken „beflügeln“ würde. Letztendlich hatte ich das Medizinschränkchen selbst ebenfalls noch versteckt.

Das Wasser kochte und ich goss es in zwei bereitstehende Tassen. Die Teebeutel tanzten kurz auf und ab und das Wasser färbte sich in Schlieren rot - wie Blut, das Wasser berührt.

Ich hob die eine Tasse empor und kommentierte meine eigenen Gedanken: „Zu makaber. Zu viel Morde und Totschlag. Schau, was der Umgang mit ihm aus dir macht.“ Vielleicht war aber auch nur das Pillen-High schuld.
 

Ich reichte Sherlock die warme Teetasse. Er nahm sie wortlos entgegen und setzte sie an die Lippen.

Dann verzog er den Mund: „Ist dir die Zuckerbüchse umgefallen? Das ist ja furchtbar süß!“ Ich antwortete nicht und zu meiner Erleichterung trank er trotzdem weiter.

Ich hatte den Tee absichtlich mit viel Zucker versetzt, irgendwie musste er ja ein paar Kalorien aufnehmen. Seit über zwei Tagen weigerte er sich nun schon zu essen. Er aß ja auch sonst nie viel, aber so langsam machte ich mir Sorgen. Gestern hatte Abend hatte einen Versuch unternommen ihn zu fester Nahrung zu überreden, doch es hatte nur im Streit geendet:

„John, ich kann jetzt nichts essen, ich muss nachdenken. Ich weiß ich habe irgendetwas übersehen, aber ich komm einfach nicht drauf. Es muss aber da sein!“

„Jetzt übertreib mal nicht, Sherlock. Die fünf Minuten, die du fürs Essen brauchst werden schon nicht so schwer wiegen.“

Er schaute sich verärgert um und erklärte unwirsch: „Es geht nicht um fünf Minuten! Es geht um die verschwendete Zeit danach! Als Arzt sollte dir das doch klar sein: Alles Denken hängt vom Nervensystem ab. Sympathikus und Parasympathikus - Ist einer aktiviert wird der andere Nervenstrang unterdrückt. Ich will keine Ressourcen auf Verdauung verschwenden, weil ich in der Zeit nicht effektiv denken könnte!“

Kein „wenn“ und „aber“ hatte den gelockten Sturkopf umstimmen können und so blieben mir nur subtilere Mittel, wie viel Zucker im Tee. „Oder weniger subtile Mittel, wie ein Gummihammer, Textilklebeband und Trichter zur Zwangsernährung“, dachte ich mit leichter Erheiterung, „denn wer nicht hören will, muss fühlen.“

Da klingelte das Holm`sche Handy, was mich aufhorchen ließ.

Es mussten gute Nachrichten sein. Nun, zumindest interessante für Sherlock, denn ich beobachtete, wie er sich im Sessel kerzengerade aufrichtete.
 

Bald darauf saßen wir auf dem Revier in einem kleineren Raum, der vollgestopft war mit Monitoren verschiedener Größe und einer Sammlung unterschiedlichster Aufnahme und Abspielgeräte, vom Kassetten- und VHS-Rekorder über PCs bis zum Blue-Ray-Spieler, eingebettet in einen undurchdringlichen Kabeldschungel.

„Wir haben die Dateien von seinem PC ausgewertet und sind auf Etwas gestoßen.“

Diese Worte aus Lestrades Mund hatten Sherlock so schnell an Ort und Stelle gelockt, meinereiner folgte quasi im Windschatten.

„Wie sie feststellen werden, Mr. Holmes, untermauern die Fundstücke durchaus unsere Theorie, derzufolge der jüngere Bruder den älteren umgebracht hat, damit dieser ihn nicht weiter erpressen kann.“ Er warf einen Blick auf Sherlock und Triumph schwang in seiner Stimme mit. Dann änderte sich sein Ausdruck: „Ich sollte sie wohl vorwarnen, meine Herren, das Material ist recht, hm, graphisch.“

Er startete die Videodateien.

„Ja“, dachte ich, „Graphisch trifft es recht gut, aber pornographisch beschreibt es besser.“

Als wir den Raum schließlich verließen hatte ich nagende Kopfschmerzen und wünschte mir Bleiche für mein Hirn und die Augen. Die ersten drei Videos waren dabei im doppelten Sinn nur der Anfang gewesen: Der Verdächtige beim Geschlechtsverkehr mit einer Frau. Nicht mit jener, die wir, wie ich mich erinnerte, im Haus angetroffen hatten. Heimliche, aber qualitativ erstaunlich gute Aufnahmen.

Der Rest war... verstörender. Weniger wegen dem homosexuellen Inhalt, als wegen der eindeutigen Einseitigkeit der Beziehung und dem sadistischen Vergnügen, das das spätere Mordopfer offensichtlich daran fand, den Unterlegenen zu kontrollieren und zu quälen.
 

Im Verhörraum wandte sich der Inspektor erneut an uns: „Wir haben den Verdächtigen noch bereits mit dem Material konfrontiert. Er hat es... schlechter aufgenommen als erwartet.“

So konnte man es auch ausdrücken: Von der besagten Person war nur noch ein Häuflein Elend übrig. Er saß in der Ecke und starrte mit leeren Augen in die Ferne.

Zudem reagierte er überhaupt nicht, weder auf Fragen noch auf Drohungen. Da stand Sherlock auf, ging zu dem jüngeren der vormaligen Gebrüder Black hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es schien zu wirken, denn plötzlich kam wieder Leben in den Mann.

Das kam mir seltsam vor... Sherlock war nun nicht gerade der Typ „Pferdeflüsterer“ und Menschen verstand er im Allgemeinen noch viel schlechter, vor allem auf emotionaler Ebene.

Ich fragte ihn nach dem Verhör was er geflüstert hätte und er antwortete: „Ich habe ihm nur mitgeteilt, dass seine Frau nichts davon erfahren muss - wenn er redet und ich seine Unschuld bezüglich des Mordes beweisen kann.“

„Dass er fürchtet, dass seine Frau ihn verlässt, wenn sie von seinem Seitensprung erfährt, hat er ja ausführlich geschildert“, grübelte ich daraufhin. „Aber dass er so weit ging sich das alles von seinem Bruder gefallen zu lassen, nur damit das Geheimnis und der scheinbare Hausfrieden gewahrt blieben, ist ein heftiges Stück. Selbst gesetzt den Fall, dass seine Frau ihm die einmalige Affäre verziehen hätte - durch das zusätzliche Material hatte dieser Peter ihn nun ganz in der Hand.“

Sherlock kratze sich am Kopf.

"Warum sollte ihn seine Frau nach dem Vorfall mehr hassen als vorher?"

„Äh, Sherlock.. zwei Männer? Geschwister?“, fragte ich ihn, verwunderter, als ich ob der Frage hätte sein sollen, wusste ich doch von wem sie kam.

„Ja und? Ist doch am Ende auch nur Sex.“

„...“ Meine Antwort gestaltete sich recht nichtexistent.

Seine Art über das Thema zu reden war so entsetzlich offen und direkt.

„Sag nichts - ihnen ist wichtiger, was die Gesellschaft darüber und somit von ihnen denkt, als was sie selber davon halten.“ Er rezitierte es wie einen auswendig gelernten Lehrsatz.

Trotzdem sah ich ihn erstaunt an. Er konnte ja doch verstehen, wenn vielleicht auch eher über logisches Verbinden von beobachteten Tatsachen, als durch Mitgefühl.

„Das ist doch dumm.“

Der Satz traf mich härter, als ich zeigte. Ausdrucklos lief ich weiter neben ihm her, schlitterte über den aalglatten Bürgersteig und kämpfte darum das Gleichgewicht zu halten. Mir wurde bewusst, dass ich Sherlock ein wenig beneidete: Ihm schien es völlig egal zu sein was andere von ihm dachten. Solange er mit sich selbst zufrieden war, solange war er mit der Welt im Reinen.

Er war dabei vor allem absolut ehrlich zu sich selbst. Ich seufzte und faste einen Entschluss: Auch ich wollte ehrlicher zu mir sein. Und zu Sherlock. Ich hatte die letzten zwei Tage mehr als genug Zeit zum Nachdenken und war mir darüber klar geworden, dass ich Sherlock wirklich sehr mochte. Mehr, als andere Freunde. Wie viel mehr, dassen war ich mir nicht sicher. Aber er hatte die Wahrheit verdient, sei es auch nur das Stückchen, über das ich mir klar geworden war. „Morgen um Mitternacht, pünktlich zum neuen Jahr, werde ich es ihm beichten!“, beschloss ich und schwor keinen Rückzieher zu machen.

Dementsprechend hart traf mich Sherlocks nächster Kommentar in die Magengrube:

„Warum liegt Menschen nur so viel an Beziehungen? Sie sind furchtbar kompliziert und bringen mehr Leid als alles andere."

Ich fühlte es nahezu physisch, denn mir schwindelte und ich begann auf dem tückisch vereisten Boden zu straucheln. Ein langer Arm an meiner Seite fing mich auf, eine warme Hand hielt mich.

An eine niedrige Mauer gelehnt kämpfte ich darum alle meine Sinne wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Um Zeit zu schinden nahm ich den Gesprächsfaden wieder auf: „Es würde mich nicht mehr wundern, wenn er ihn tatsächlich ungebracht hat. Was für ein Hass muss sich da aufgestaut haben.

Wie hat er seinen Bruder noch beschrieben?“

„Er war ein fürchterlicher Mensch. Er war sich und nur sich selbst der Nächste. In seinem Weltbild gab es nur ihn im Zentrum... und alle anderen hatten um ihn herum zu rotieren oder gefälligst aus seinem Leben zu verschwinden.“, zitierte Sherlock wortwörtlich aus dem Gedächtnis.

Es war erstaunlich was er sich alles merkte, solange er es als wichtig empfand.

Ich schwitzte und streifte meine Mütze ab.

„Du glühst ja“, hörte ich den großen Detektiv das offensichtliche statuieren, als er seine Hand auf meiner Stirn platzierte.

Ich wollte keine Schwäche zeigen und stieß mich von dem Mäuerchen ab. Energisch stapfte ich weiter, auch wenn Gleichgewichts-und Sehsinn noch immer Achterbahn fuhren. „Wäre ja noch schöner wie ein Schulmädchen in Ohnmacht zu fallen und sich von dem Schwarm nach Hause tragen zu lassen.“, dachte ich verächtlich.
 

Es dämmerte bereits, als ich, tief in Decken eingepackt, in meinem Bett erwachte.

„Ach verdammt!“

Ein allzu bekannter Lockenkopf tauchte im Türrahmen auf.

„Hast du was gesagt?“

Ich schüttelte verneinend den Kopf und bereute es im gleichen Atemzug.

Als das Zimmer wieder still stand saß er an meiner Seite.

„Du siehst gut aus“, stellte ich fest. „Hast du dein letztes Puzzleteil gefunden?“

Er nickte. Seine Verstimmung der letzten zwei Tage schien wie weggeblasen.

Wissbegierig richtete ich mich ein Stück auf. „Was war es? Wer war es nun? Hast du-“

Er drückte mich zurück und versenkte mich im Kopfkissen, das sich rechts und links von meinen Kopf wie ein Wall aufrichtete.

„Und du siehst furchtbar aus, John. Schlaf erstmal, bis morgen verpasst du nichts.“

„Du verrätst es mir morgen?“, fragte ich, halb fordernd. „Ärztliche Anweisung!“

„Dir und allen anderen.“

Er lächelte. „Auf ärztliche Anordnung.“
 

Ich erwachte durch das Klackern einer Laptoptastatur.

Müde blinzelte ich und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Doch mitten in der Bewegung hielt ich inne - er saß neben dem Bett, das Notebook auf dem Schoß, eine Lupe neben sich. Eine von den „Ich-lasse-Augen-wirklich-riesig-erscheinen“-Lupen. Matt zog ich eine Augenbraue in die Höhe. „Du sammelst noch immer Daten für deine Schlafsand-Datenbank.“

„Ja, aber keine Sorge, ich war bereits fertig. Und dein Zustand dürfte die Messwerte nicht beeinträchtigen.“

„Mein Zustand!“ Ich schnaubte und meinte gespielt empört: „Ich bin erkältet, nicht schwanger! Und jetzt verrat mir endlich, was du vorhast!“
 

Die Erklärung folgte in Form einer praktischen Demonstration. In klassischer Weise waren sie alle im Anwesen Mr. Cairns versammelt: Der große Detektiv, die mehr oder weniger Verdächtigen, in diesem Fall der jüngere Black und Patrick Cairns, der nicht so gut gelaunte Inspektor (es war ja verständlich: zum einen war er durch die gestern Abend angekündigte Versammlung nervös was die Wette anging, zum anderen war er gar nicht erfreut darüber seinen Verdächtigen, auch nur zeitweise, außerhalb einer Zelle zu sehen. In dieser Reihenfolge.) und die Zeitzeugen bzw. die herumstehende Füllmasse: eine handvoll Kriminalbeamte, ich, und natürlich auch der junge John Cairns.

„Jetzt spannen sie uns nicht auf die Folter, Holmes, und fangen sie endlich an!“, forderte Lestrade leicht gereitzt.

„Ich will mich kurz fassen“, begann dieser und erklärte: „Die Lösung des Falles liegt in einem Detail, einem Fakt, den ich, wie ich offen zugebe, für unwichtig hielt. Doch aufgrund von Dr. Watsons „schriftstellerischer Tätigkeit“, der er, trotz meiner Missbilligung, auf seinem Blog emsig nachgeht, wurde ich inzwischen so häufig von „freundlichen“ Kollegen und Mitmenschen auf diesen Fakt hingewiesen (wenn Blicke töten könnten wäre die Hälfte der anwesenden Polizisten zu Asche zerfallen), dass ich ihn nicht vollständig genug vergessen konnte:
 

Die Erde dreht sich um die Sonne.“
 

Verwunderte Blicke wurden ausgetauscht, doch Sherlock ließ sich nicht beirren.

Er fuhr fort: „Wie sich die involvierten Personen vielleicht erinnern fand ich am Tatort folgenden Gegenstand...“ Er hob ein durchsichtiges Plastikbeutelchen der Spurensicherung in die Höhe. Darin lag die graublaue Kugel. „John“, sagte er, und ich blickte ihn fragend an. Doch er schaute an mir vorbei zu dem Jungen, der, neugierig und ängstlich zugleich, in der Ecke stand und zuhörte.

„Du wärst gerne Astronaut, oder?“, fragte er das Kind.

John Cairns trat scheu einen Schritt zurück, doch dann nickte er kräftig.

„Und du hast dir doch sicher passende Spielsachen zu Weihnachten gewünscht, oder?“ Der Junge bejahte, doch der Vater mischte sich genervt ein: „Ich verstehe nicht was die Fragerei soll. Lassen sie meinen Sohn zufrieden und kommen sie zum Ende dieser Farce - was auch immer sie damit eigentlich bezwecken!“ Er trat auf Sherlock zu, doch Lestrade hielt ihn zurück.

„Bitte setzen sie sich, Mr. Cairns. Ich bin sicher Mr. Holmes wird unsere Zeit nicht ohne Grund in Anspruch nehmen. Gedulden sie sich bitte für den Moment und lassen sie ihn ausreden.“ Murrend setzte sich der Mann zurück auf seinen Stuhl.

Ungerührt befragte Sherlock den Jungen weiter: hast du noch was nach Weihnachten geschenkt bekommen? Nach dem zweiten Feiertag?“

„Ja, von Großtante Eleonore. Wir haben sie Vor-vor-vorgestern besucht!“, antwortete der Junge und lachte.

„Zeigst du uns bitte mal das Geschenk?“

Der junge lief in sein Zimmer und während er weg war rechnete ich nach: Vor-vor-Vorgestern, also vor vier Tagen. Da hatten wir den 27. - den Tag des Mordes.

Da war John auch schon wieder im Wohnzimmer. Mit beiden Händen trug er das Sonnensystem-Modell, welches ich von unseren ersten besuch in diesesen vier Wänden wiedererkannte, in den Raum. Da fiel es mir, und ich denke auch einigen anderen Anwesenden, wie Schuppen von den Augen. In der Mitte des Modells thronte eine unmittelbar vertaute, grün-blaue Kugel. Der dritte Planet hingegen war ungewöhnlich groß und gelb.

„Ok, dann hat der Junge eben die Planeten vertauscht - was hat das mit dem Mord zu tun?“, fragte eine Polizistin. Sherlock sparte sich eine verbale Erklärung. Stattdessen streifte er sich ein Paar Latexhandschuhe über, die er aus seiner Manteltasche geangelt hatte, und nahm die Kugel aus der Tüte. Er hielt sie demonstrativ in die Richtung der Polizeibeamtin und steckte sie dann auf einen leeren Draht ganz am Ende des Planeten-Modells.

Da dämmerte es den meisten: Mr. Cairns war, entgegen seiner Aussage, zum Zeitpunkt des Mordes im Keller gewesen. Mit dem Beweis konfrontiert gab dieser etwas nach: „Schon gut, wir haben uns an dem Morgen getroffen. Es tut mir leid, ich wollte nicht in diese Ermittlung einbezogen werden. Ich hab ja eigentlich nichts damit zu tun und ich kann mir in meiner Branche keine Gerüchte leisten.“

Inspektor Lestrade betrachtete ihn skeptisch, aber verunsichert.

Ein Murmeln ging durch die Reihen. Sherlock schüttelte versunken den Kopf. Dann trat er auf den Jungen zu und nahm ihm das Modell aus der Hand. „Ich präsentiere: die Mordwaffe!“, verkündete er und schraubte die Erde von ihrer exponierten Position ab. Es ging sehr leicht und nun erkannte man klar und deutlich den stabilen, aber dünnen und spitzen Metallstab in der Mitte.

„Er passt genau zu den Stichwunden und wenn sie das Gewinde hier näher untersuchen werden sie auch Rückstände vom Blut des Opfers finden.“ Zufrieden schaute er in die Runde, begutachtete die Gesichter, über die im Wechsel Überraschung, Verstehen und Bewunderung glitten.

Nur zwei Gesichter bildeten eine Ausnahme: die der zwei Cairns. Verwirrt wirkend rannte der Junge zu seinem Vater und klammerte sich an dessen Arme. Ich hatte ihn jedoch die meiste Zeit über beobachtet und ich war mir sicher, dass er genug verstanden hatte. Er wollte es nur nicht wahr haben. Der Vater schien erst wütend und aggressiv zu reagieren, doch dann knickte er ein.

„Es war Notwehr!“, hörte man ihn nach ein paar Sekunden des Schweigens sagen.

„Peter Black hatte mich eingeladen um mit mir über den Kauf eines wertvollen Sammlerstücks zu verhandeln. Ich hatte es jedoch gerade, im Paket mit weiteren Vereinbahrungen, an einen anderen guten Kunden verkauft. Doch deswegen hatte ich andere Angebote dabei, alternaive Stücke, von denen ich erwartete, dass sie sein Interesse wecken würden. Als ich ihm dies erzählte wurde er allerdings sehr ungehalten. Er hat sich immer weiter hineingesteigert und ließ sich nicht beruhigen. Ich zog es vor zu gehen, doch da ist er irgendwie vollständig ausgetickt. Er hat sich das große Messer von der Wand geschnappt und nach mir geschlagen! Ich konnte dem Bathlet gerade so ausweichen, doch ich bin dabei hart gegen den Schrank geschlagen. Das Modell ist dabei heruntergefallen und kaputt gegangen - einzelne Kugeln lösten sich und kullerten über den Boden. Ich bin kein Kämpfer und er war auch keiner, doch er hatte die Oberhand, denn ich hatte beim Ausweichen das Gleichgewicht verloren und landete auf dem Boden. Außerdem hatte er eine Waffe - ich nicht. Also schnappte ich mir den nächstbesten Gegenstand um wenigstens blocken zu können.“ Er stoppte und holte tief Luft.

Dann drückte er seinen Sohn an sich und fuhr fort: „Er stand über mir, groß, breit, bedrohlich und gefährlich. Ich wusste ich muss irgendwie zur Tür kommen, aber er hat den Durchgang blockiert.

Ich hab getan was ich konnte, so kräftig ich konnte - mein Tritt landete in seinen Kronjuwelen.

Mit einem Aufschrei ist er in die Knie geangen und er war wütend. Noch viel unkontrollierter und wütender als zuvor. Ich wollte ihn nicht umbringen, nur fliehen, aber in dem Moment, wie er zu einem neuen Schlag ausholte, hatte ich das Gefühl, dass es nur eine Lösung gab: er oder ich. Aus Panik hab ich ihm das Modell entgegengeschlagen, einfach weil ich es gerade in der Hand hielt. Die Spitze bohrte sich in seinen Hals. Das hat ihn noch zusätzlich angestachelt, doch nachdem ich noch zwei Treffer landen konnte hat er endlich aufgehört.“ Zitternd saß der Mann auf seinem Platz und schien sich nicht minder an dem Jungen festzuhalten als der Junge an ihm.

„Um das jetzt klar zu stellen“, fuhr Inspektor Lestrade langsam fort, „nachdem sie ihn, möglicherweise in Notwehr, getötet hatten nahmen sie die Mordwaffe an sich und sind flüchteten. Dabei übersahen sie, dass eine Kugel fehlte. Vielleicht dachten sie auch richtig gezählt zu haben. Das Sonnensystem besitzt ja neuerdings nur noch acht Planeten. Sie flüchteten also und Pluto landete verdeckt in der Nähe der Leiche, wurde zu dem Zeitpunkt mit Blut benetzt und später unbemerkt verschoben, oder andersrum. Kurz darauf kam dann der jüngere Bruder nach Hause und fand Peter in seinem eigenen Blut liegend vor. Daraufhin versuchten sie,“, sagte er und sah dabei den großen Mann an, „nachdem sie seinen Tod festgestellt hatten, die Daten im Computer zu manipulieren. Was sie nicht wussten war, dass ihrer beider Mutter, verängstigt durch den Kampflärm, die Polizei alarmiert hatte, da sie aufgrund ihrer Krankheit nicht selbst nach dem Rechten sehen konnte. Sie wurden am Tatort neben der noch warmen Leiche entdeckt und verhaftet. Verstehe ich das soweit richtig? Der Rest der Geschichte ist, nehme ich an, hinreichend bekannt.“
 

Sherlocks Arbeit war getan. Der Mord aufgeklärt, die Wette gewonnen. Die Nachfolgenden Ereignisse gingen uns nicht mehr viel an und so machten wir uns auf den Weg nach Hause.

Bester Laune schlenderte mein werter Mitbewohner voran, wodurch ich mich noch betrübter fühlte, als ich eigentlich war. Nach einer Weile viel Sherlock wohl meine Wortkargheit auf. „Nicht, dass ich dich zum quasseln animieren will, aber hast du was?“

Ich brummte vage Zustimmung. „Ich bin schockiert, wie sehr ein einziger Mensch die Leben anderer zur Hölle machen kann, nur weil er ein eiskaltes Arschloch ist.“

Schweigend gingen wir weiter, ein jeder in seinen Gedanken verloren. Schweigend betraten wir schließlich die Wohnung, schweigend streiften wir die Mäntel und Schals ab und schweigend beobachteten wir, wie das Essen in der Mikrowelle rotierte. Nach der Mahlzeit, die nach nichts hatte schmecken wollen, verzog ich mich ins Bett. Es war noch früh am Tag, aber ich fühlte mich zunehmend unwohl und irgendwas musste ich tun, wenn ich heute Nacht einigermaßen beisammen sein wollte. Ich warf mich noch lange unruhig hin und her, der Schüttelfrost ließ mich abwechselnd schwitzen und frieren und ich zog so lange an der Bettdecke, die ich irgendwann erschöpft wegdämmerte. Im Halbschlaf spürte ich sanfte Fingerspitzen, die durch mein Haar glitten. Es war ein ungemein angenehmes, beruhigendes Gefühl.

Irgendwo von weit her drang Sherlocks Stimme durch den Nebel in meinem Kopf.

„Sie waren beide so verzweifelt darum bemüht nach außen „korrekt“ zu wirken. Weil die Gesellschaft Andersartige nur schwer tolerieren mag.

Findest du das Zusammensein von zwei Männern - abartig?“

„Ja“, murmelte ich und versank tiefer in den Schleiern meines Traumes.
 

Gegen elf weckte mich mein Mitbewohner, doch er schien seltsam verschlossen, selbst für seine Verhältnisse.

Ich dachte an meinen Vorsatz für heute und spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte.

Wieso war das so schwer?

Je höher der lange Zeiger nach Oben rückte, desto nervöser wurde ich.

Hippelig schaute ich den Schneeflocken beim Fallen zu, aber es beruhigte mich nicht, eher im Gegenteil. In meinem Hirn herrschte ein einziges Chaos, wie ein Garnknäuel, malträtiert von einem Rudel junger Katzen.

Kurzerhand riss ich das Fenster auf und streckte mich dem kalten Gewirbel entgegen.

Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung. Ich drehte den Kopf und sah, wie Sherlock mein treiben passiv, an den Tisch gelehnt, beobachtete. Sein einziger Kommentar war: „Also wenn du dich umbringen willst kenn ich effektivere Methoden, als sich mit einer starken Erkältung in den frostigen Winterwind zu hängen.“

Sein Spott schnitt kälter als der Wind.

Verletzt schloss ich das Fenster und pflanzte mich vor den Fernseher, wo mir lauer fröhliche Menschen entgegenflimmerten. Ich konnte es nicht auf Dauer ertragen.

Genervt wollte ich den Kasten abschalten, doch Mitternacht war nur noch wenige Minuten entfernt.

Wie sollte ich es ihm nur sagen?

Mehr aus Gewohnheit, denn aus Freude, zählte ich den Countdown der letzten Minuten laut mit. Auch Sherlock zählte, und wie ich ihn beobachtete fiel es mir wieder ein: Er kümmerte sich nicht darum wie etwas getan wurde. Er tat es einfach. Die letzten Sekunden brachen an.

„Zehn“

„Neun“

„Acht“

„Sieben“

„Sechs“

„Fünf“

„Vier“

„Drei“

„Zwei“

„Eins“

„Frohesneuesjahrsherlockichliebedichbittebittesagjetztnichtsfalschessondernichdichauch!“

„Frohes -“ Sherlock verstummte. Verwundert schaute er mich an.

„Ich dachte du findest eine Beziehung zwischen zwei Männern so unnatürlich?“, fragte er und ich meinte, dass in seiner Stimme eine gewisse Bitterkeit mitklang.

„Tu ich auch.“ Ich senkte den Kopf, konnte seinem Blick nicht länger standhalten. Flüsternd setzte ich hinterher: „...vielleicht irre ich mich ja.“

„Aber war dir nicht die Meinung der Massen so wichtig?“, fragte er verächtlich.

„Schon, war sie. Ist sie noch. Aber... du bist mir wichtiger!“

Eine lange Pause.

Draußen knatterte überlaut das Feuerwerk, bunte Lichter überfluteten das Zimmer im Sekundentakt und man hörte die ersten Feuerwehr-Sirenen aufheulen.

Verschwinden leise, aber glasklar hörte ich Sherlocks Antwort:
 

„Ichdichauch.“
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Haeufchen
2012-07-02T23:22:37+00:00 03.07.2012 01:22
Wuhuhuhuuu!
Ich glaube es nicht!
Ich hab di lange FF gelesen~
yaaay~ xD
Und das obwohl sie so viel "Arbeit von Sherlock" beinhaltete.
Davor drückte ich mich bisher...

War sehr angenehm zu lesen und deine Ideen zum mord.
Geil!! O_O
Wirklich interesssant ausgekügelte Ideen und das ganze mit dem Sonnensystem!
RESPEKT! :D

Das John gleich so komplett mit der Wahrheit herausrückte, empfand ich als to much.
Ein ich mag dich, hätte schon voll genügt für mich. <3
Aber jedem seine eigenen Erfahrungen. ;)

Danke, war schön!


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