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Das Gesicht im Wind

Wichtelgeschichte für Glimmer
von

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24. Dezember 1978, 4 Uhr, Store Måsvatn (Regierungsbezirk Finnmark)

Sein Schlaf war weder tief noch sonderlich erholsam, aber angesichts der Tatsache, dass es vielleicht sein letzter sein würde, würde Remus sich nicht darüber beschweren. Das inkludierte allerdings nicht, dass man ihn einfach so wecken durfte – und es brauchte in diesem Zustand nicht viel, um genau das zu tun. Auslöser war letztendlich ein zusätzliches Gewicht auf seinem Bauch. Vermutlich lag es dort schon länger, aber erst, als Remus sich drehte und es ihm über die Hand rutschte, rutschte es damit auch in sein Bewusstsein.

Irritiert schlug er die Augen auf, zu erschöpft, um seinen Reflexen zu folgen und den Zauberstab zu ziehen. Mit Fingern, die wenigstens nicht mehr vor Kälte brannten, tastete er nach dem Ding auf seinem Körper. Sie strichen über raues Pergament, das gerade noch glatt genug war, um trotzdem teuer zu sein. Er stockte, um zu blinzeln.

Einen Moment später war er hellwach und griff nach dem rechteckigen Päckchen, um es in Augenschein zu nehmen. Das Pergament funkelte im Licht der magischen Kerze – und es funkelte teuer. Genauso wie die rote Schleife, die jemand mit ungeschickten Fingern darum gewickelt hatte. Er warf einen skeptischen Blick zu Sirius, doch der hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig. Remus täuschte er indes nicht, denn dazu war seine Atmung etwas zu leise und zu unauffällig. Einen Moment lang überlegte er, ob er das Päckchen einfach in seinen Rucksack stecken sollte, statt es zu öffnen. Mit einem weiteren Blick zu dem nicht schnarchenden Sirius entschied er sich dagegen – auch wenn ihm Böses schwante.

Mit spitzen Fingern zog er an der Schleife. Immerhin war sie tatsächlich gebunden und nicht einfach ein Knoten, an dem er ewig ziehen konnte. Sie flog ihm auch nicht um die Ohren. Vielleicht doch ein wenig neugierig löste er die Klebezauber auf dem Pergament mit einem leichten Ziehen und schlug das Blatt zurück. Ein schweres Buch fiel ihm entgegen. Unter seinen Fingern fühlte es sich nicht sonderlich teuer an. Der Umschlag bestand nicht aus Leder, sondern aus einem billigen Ersatzstoff, vielleicht sogar Muggelpapier. Eine dunkle Umrandung mit kleinen, leuchtenden Punkten – Sternen? – umfasste ein ebenso düsteres Bild. Der Werwolf fiel ihm als erstes ins Auge, die Zähne, die Ohren, die Rute, die Augen, das Knurren, das sich in seiner eigenen Kehle hochkämpfte...

Dann sah er die Leine.

Und dann – dann sah er Gilderoy Lockhart.

Er kannte Gilderoy Lockhart. Jeder Schüler, der in der ersten Hälfte der Siebziger nach Hogwarts gegangen war, kannte den Sucher von Ravenclaw, der seinem Haus eine Serie mit dreizehn Niederlagen in Folge beschert hatte – dann warf man ihn aus dem Team und versuchte sein Glück mit einem Zweitklässler. Ja, er kannte Gilderoy Lockhart. Für viereinhalb Jahre war er James‘ Lieblingsquidditchthema gewesen. Dass er Werwölfe an der Leine Gassi führte und dabei so aussah, als habe er nicht nur eine kleine Dosis Felix Felicis geschluckt, war dagegen eine neue Zutat, genauso wie das Grinsen, das magisch strahlte.

Wanderungen mit Werwölfen.

Er warf einen skeptischen Blick auf den Text auf der Rückseite und dann noch einen. Er blätterte von hinten durch die dünnen Seiten. Erst die Titelseite erregte seine Aufmerksamkeit. Nicht der billige Druck, den er auch mit geschlossenen Augen gerochen hätte. Es war die teure, königsblaue Tinte und die Worte, die sie zeigte.

Für die wundervolle Romilda Lupin.

Romilda Lupin. Romilda. Lupin.

Er schloss die Augen und atmete tief durch. Dabei zählte er erst bis zehn – und dann bis hundert. Romilda Lupin.

Er warf das Buch blind. Ein leises Keuchen verriet ihm, dass er getroffen hatte. Hoffentlich dort, wo es weh tat.

„Gefällt es dir nicht?“, fragte Sirius viel zu schnell.

„Romilda Lupin?“

„Es ist der Renner bei den Damen.“

Romilda?

„Ich habe ihm Romulus diktiert.“

Schnaubend öffnete er die Augen und warf Sirius einen finsteren Blick zu. Der hatte das Buch im Übrigen gefangen. Er hielt es immer noch in der Luft, kurz vor seiner Magenkuhle, auf die Remus eigentlich gezielt hatte.

„Du weißt, dass heute erst der dreiundzwanzigste ist?“, wechselte er seine Taktik.

Das wischte das Grinsen von Sirius‘ Gesicht. Langsam ließ er das Buch sinken und schüttelte den Kopf, allerdings zu vorsichtig, um nicht zu zeigen, dass er ihm eigentlich zustimmen wollte. „Es ist der vierundzwanzigste. Seit knapp vier Stunden.“

Remus seufzte. „Du weißt, dass heute erst der vierundzwanzigste ist?“

„Ja.“

Sirius reckte nicht einmal das Kinn, obwohl sein ‚Ja‘ einen eindeutigen Tonfall trug. Nur in seinen Augen spiegelte sich die Geste, vordergründig. Wenn Remus genauer hinsah, bekam er allerdings das Gefühl, dass Sirius ein bitterer Geschmack auf der Zunge lag, den er nicht schlucken konnte. Remus schmeckte ihn auch. Er kratzte in seinem Rachen und sammelte sich in seinem Hals zu einem Kloß.

Wortlos hob er die leere Hand und streckte sie seinem Freund hin. Genauso wortlos warf dieser das Buch ausgesprochen zielsicher zurück.

„Ich lese es später“, erklärte er und versuchte, beim Schlucken nicht an dem Kloß in seinem Hals zu ersticken. Sirius antwortete mit einem knappen Nicken und einem Funkeln in den Augen, dass ihm verriet, dass der bittere Geschmack etwas weniger bitter geworden war.

Vorsichtig legte Remus das Buch mit Gilderoy Lockharts Gesicht nach unten neben sich und stemmte sich hoch. Genauso behutsam drehte er sich und zog seinen Rucksack, auf dem er gelegen hatte, zu sich um ihn zu öffnen und Gilderoy Lockharts Zahnpastalächeln möglichst tief nach unten – und möglichst weit von den anderen Büchern entfernt – zu stopfen.
 

Als er aufsah, bemerkte er Lohe auf seiner anderen Seite. Sie schien schon eine ganze Weile halb auf dem tatsächlich schnarchenden Fenwick zu sitzen, halb über ihm zu schweben. Sie lächelte dünn, als sie seinen Blick erwiderte.

„Im Tal ruht ein gefrorener See. Eine Meile und eine halbe von hier ragt eine Landzunge in den See. Die Oberfläche ist sicher für eure Wegezauber. Dieser Hügel endet ebenfalls am Ufer des Sees. Es liegt noch im Sturm. Ich sage, es ist sicherer, wenn ihr dorthin geht. Ich kann euch leiten, sofern ihr mir traut.“

Remus zog die Brauen zusammen. Das Angebot würde er, wenn auch nicht sonderlich begeistert, vermutlich annehmen, solange die anderen beiden nicht protestierten – und Fenwick schnarchte aktuell zufrieden, obwohl sie auf ihm saß. Es war etwas anderes, dass ihn stutzig werden ließ.

„Wir können sicher auf eine Landzunge apparieren, aber das Ufer am Hügel ist sicherer, obwohl es vermutlich abschüssig ist und im Sturm liegt?“, fragte er skeptisch. „Was liegt außerhalb des Sturms?“

Lohes Lächeln wurde bitter. „Euer Ziel. Mein Ziel. Vielleicht der Tod von uns allen.“

„Und du hast uns schlafen lassen.“

„Ihr werdet die Kraft brauchen.“
 

Lohe belog sie nicht. Sie geleitete sie sicher an den Fuß des Geröllhügels, als sie Seit-an-Seit apparierten, und nicht etwa in einem Felsen oder in die Arme von Lucius Malfoy. Obwohl letzteres sicher noch eine offene Alternative war, wenn sie weiter gingen. Und das Ufer lag tatsächlich im Sturm. Sie hatten nur das nötigste bei sich und ihr Zelt und ihre Rucksäcke unter den Schutzzaubern zurückgelassen. Ohne die Zauber, die den Wind abhielten, fror Remus sofort. Einen Moment lang konnte er nicht sagen, ob es seine Hände waren, die vor Kälte zitterten, oder die seiner Begleiter. Er kam zu dem Schluss, dass er sich zwischen den Optionen nicht entscheiden brauchte.

Langsam löste er seine Hände aus denen der Anderen und versuchte, sich umzusehen. Mehr als seine Begleiter sah er dabei allerdings nicht. Lohes Haar schimmerte und flatterte im Wind. Fenwick war beinahe so weiß wie vor ein paar Tagen nach dem Quidditchspiel, nur dass er dieses Mal keine schwarze Gesichtshälfte hatte. Von Sirius‘ Gesicht sah Remus nicht mehr als die Augen, die über einem Schal leuchteten, der bald so weiß wurde, wie Fenwicks Haut. Um sie herum tobte der Sturm mit unverminderter Kraft, war sogar noch stärker geworden und riss an ihren Umhängen und sie beinahe von den Füßen.

Lohes wehende Gestalt schwebte zwischen ihnen. Ihr Körper schien greifbar, doch Remus glaubte nicht, dass er sie würde berühren können, wenn er seinen Arm nach ihr ausstreckte. Stattdessen berührte sie ihn. Mit einer flüchtigen Bewegung flackerte sie über ihm, so durchsichtig, wie er sie kennengelernt hatte. Ihre Hände legte sie mit einer federnen Leichtigkeit auf seine Schultern, so dass er sie kaum spürte – doch seine Aufmerksamkeit ruhte nicht auf ihrem Körper, nicht auf ihren Armen, sondern auf ihrem Gesicht. Auf den zarten Zügen, auf der schmalen Nase, deren Nasenflügel sich leicht blähten, als sie lächelte, auf dem schmalen, bitteren Lächeln selbst. Es war ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte – und mit einem Mal verstand er auch, warum. Er wusste, was sie sagen würde, ihm sagen würde, und wusste auch, dass ihm nur eine Reaktion bleiben würde. Das bittere Gefühl des Betrogen-werdens kroch seine Speiseröhre hinauf.

Diesem Gefühl folgte ein weiteres – Enttäuschung. Puzzleteile fügten sich ineinander, Dumbledores Befehl, das Kästchen, seine früheren Treffen mit der Aurae, plötzlich passten sie ineinander und er sah ein Bild, obwohl noch Teile fehlten.
 

„Du kennst Dumbledore“, flüsterte Remus, bevor sie sagen konnte, was sie sagen wollte.

Sie jedoch schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn nie gesprochen“, antwortete sie mit flüchtiger Stimme, die im Heulen des Windes kaum zu hören war. „Denn ich bin unwichtig. Ob ich oder eine meiner Schwestern diesen Weg beschreitet – es ist völlig gleich. Du bist derjenige, der nicht austauschbar ist.“

Durch sie hindurch konnte er Fenwick und Sirius sehen. Der eine war genervt, der andere hochgradig frustriert, aber beide verstanden sie nicht. Konnten sie nicht verstehen, vielleicht nicht einmal hören, und er wusste nicht, wie er es den beiden verständlich machen sollte. Nicht mit Lohe vor ihm, zwischen ihnen, mit ihren Händen auf seinen Schultern und mit ihren Augen, die unerschrocken seinen Blick suchten. Ihre Gestalt wurde dichter, noch während sich seine Aufmerksamkeit wieder auf ihre Augen fixierte.

„Ihr seid verloren“, fuhr sie fort. „Der Schritt aus dem Sturm ist eine Falle.“

Diese Aussage hätte ihn erschrecken sollen, doch sie tat es nicht. Längst hatte Remus diese Schlussfolgerung selbst geahnt.

„Was ist, wenn wir umkehren?“, fragte er und wusste, wie lahm diese Frage war. Noch während er sprach, konnte er ihre Antwort voraussehen.

„Das werdet ihr nicht“, sprach sie aus, was er ahnte. Sanft lehnte sie sich vor. „Du wirst es nicht.“

Weil er wusste, dass alles noch viel, viel schlimmer werden würde, wenn er ‚Nein‘ sagte. Das tat es bei Dumbledores Aufträgen immer und das wusste jeder, der sich auf Dumbledore einließ. Dieser Auftrag war keine Ausnahme, das hatte er gewusst, als er den Auftragsbissen schluckte, den Dumbledore ihm mit freundlichen Worten gereicht hatte. Er schloss die Augen. Nur, weil er musste, hieß das nicht, dass er auch wollte.

„Der Rest liegt an dir, Remus. Was auch immer geschieht – bewahre das Artefakt. Ich kann es nicht berühren, Khione kann es genauso wenig. Niemand außer dir ist dazu in der Lage, vergiss das nicht.“

Unwillkürlich hob er die Hand und legte sie auf den Anhänger, der warm an seiner Brust lag. Unter seinen Fingern pulsierte die Magie des Edelsteins rhythmisch zu dem Flackern in Lohes Gestalt.

„Viel Glück, Remus“, flüsterte sie. Ihr Körper wurde eins mit dem Wind. Für einen Augenblick spürte er sie dicht bei ihm, sah noch einmal ihr Gesicht, ihren schlanken Hals und die schmalen Schultern, als sie ihm einen Kuss auf die Stirn gab – dann war sie verschwunden.

Die Magie, die diese letzte Berührung hinterließ, blieb. Sie kribbelte über seine Stirn und kroch unter seine Haut wie ein unsichtbarer Schutz, den er schließlich nicht mehr spüren konnte. Dennoch wusste er, dass sie noch da war – er konnte sie sich nur nicht vergegenwärtigen oder gar greifen.
 

„Black, du Idiot, bleib-“, drang Fenwicks Stimme ausgesprochen genervt an sein Ohr. „Ach, Scheiße. Lupin! Könntest du aufhören zu turteln? Dein Lover ist auf dem Egotrip!“

Remus blinzelte.

„Sirius ist nicht mein Lover.“

„Sag das ihm. Er ist da lang.“

Remus blinzelte erneut. Er sah Fenwicks durchgefrorene Gestalt. Zitternd hielt der Auror einen Arm schützend vor seine Brust, mit dem anderen wies er Richtung See. Zumindest vermutete Remus, dass Fenwick in diese Richtung wies, denn sehen konnte er den See genauso wenig, wie er ihn hören konnte.

Sirius indes war verschwunden. Remus erinnerte sich an die finstere Miene, die er durch Lohe gesehen hatte und er ahnte, was sich in Sirius‘ verquerem, eifersüchtigem Kopf abspielen musste.

„Dieser Idiot“, murrte er, bevor er den Kommentar schlucken konnte. „Der See ist eine Falle.“

„Dieser See ist-“

Bevor Fenwick seine Frage komplett formulieren und Remus dafür, das nicht schon früher gesagt zu haben, erwürgen konnte – unabhängig davon, ob Remus es früher hätte sagen können – drang Sirius Stimme zu ihnen, durch den Wind zu stark verzerrt, um sie zu verstehen.

In seinem Augenwinkel sah er, wie Fenwick die Augen verdrehte. „Da haben wir das Problem“, verkündete er. Mit Grabesstimme fügte er hinzu: „Tu mir einen Gefallen. Turtel nie wieder mit einer Nymphe. Egal wie groß ihre Brüste sind.“

Dann zog Fenwick seinen Zauberstab und wartete darauf, dass Remus es ihm gleich tat. Der ließ sich nicht zwei Mal bitten, auch wenn ihm der Kommentar gar nicht passte. Immerhin hatte er nicht geturtelt. Wenn das irgendwer gewesen war, dann Lohe.

Sie tauschten einen letzten Blick, den Remus damit verbrachte, die Schutzzauber zusammenzuklauben, die ihm bei dieser Kälte noch einfielen. Dann rutschten und schlitterten sie die Böschung hinunter, aus dem Sturm.
 

Remus‘ Füße trafen auf Eis. Er musste sich bemühen, den Halt nicht zu verlieren. Als er sich umdrehte, sah er den Sturm. Eine riesige, dunkle Wand voller Wolken aus Schnee, die sich direkt hinter ihnen erhob. Sie streckte sich über beide Seiten des Sees hinein in die Nacht. Der Krümmung nach zu urteilen schloss sie sich in einem kreisförmigen Gebilde von mehreren Meilen Durchmesser. Vor ihnen ruhte der Wind und über ihnen strahlte der klare Nachthimmel.

Seine Augen weiteten sich, als er den Ort erkannte. Am anderen Ende des Sees ragten kahle Steinhügel in die dunkle Front und schwanden außer Sicht, doch er war sich sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Genau wie den See zu seinen Füßen, obwohl er dieses Mal auf dem Eis stand und nicht im Wasser. Über ihnen zog sich eine Aurora Borealis über den Himmel und tauchte ihn in rotes Licht.

Nur das Schloss – das auf einer kleinen Insel ein ruhiges Zentrum in all dem Sturm war – das kannte er nicht. Es wuchs hoch in den Himmel mit Zinnen und Türmen und es war weiß. Nicht wie der Schnee um sie herum, von dem er wusste, dass er weiß war, obwohl er bei Nacht viel dunkler erschien, sondern strahlend weiß und so gleißend, dass es beinahe von sich aus leuchtete.

Und es war eine Falle. Dieser Fakt war so klar, wie der Himmel über ihnen.

Die Temperaturen fielen von ‚zu kalt‘ auf ‚eisig‘. Sein Atem kondensierte in Wolken vor seinem Gesicht und wenn er zuvor gefroren hatte, kam ihm das im Vergleich immer noch warm vor.

„Das ist es“, murmelte er beinahe ehrfürchtig und hörte bei jedem Wort seine Zähne klappern.

„Erinnert mich an diese eine Geschichte aus deinem Muggelbuch, Moony“, hörte er Sirius sagen. Er verschwendete nur einen kurzen Gedanken daran, dass Sirius seine Bücher las. Ohne ihn zu fragen. Und überhaupt las. „Die Schneehexe, oder wie das hieß.“

„Die Schneekönigin“, gab Remus automatisch zurück. „Ich glaube nicht, dass das hier viel mit Andersens Märchen gemein hat.“

Sirius zuckte mit den Achseln. Zumindest glaubte Remus, dass er das tat, aber vielleicht war es auch nur ein Zittern. „Egal, oder? Gehen wir, bevor ich mir Körperteile abfriere, die ich noch benutzen will. Oder dein Fünkchen ihr Gesicht zeigt.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte Sirius sich in Bewegung. Und obwohl er ziemlich sicher zitterte, strahlte seine Geste dennoch die Erwartung aus, dass die anderen beiden ihm folgen würden. Remus kannte diese Rückfront. James‘ breite Schultern fehlten daneben, aber er kannte diese Art von Situation. Automatisch verfiel er in alte Muster und trat ebenfalls ein paar Schritte vor, nur um sich dann zu fragen, ob nicht jemand neben ihm gehen sollte.

„Lupin?“, hörte er Fenwick hinter sich. Statt stehen zu bleiben, drehte er nur den Kopf. Auch das gehörte zu dieser Art von Szene – nur war es normalerweise Peter, der nach ihm rief. „Was ist mit der Falle?“

Sirius blieb genauso abrupt stehen, wie Remus.

Falle. Richtig. Gottverdammt, wie konnte er nur so – er würde ein ernstes Wort mit Sirius‘ Führungsambitionen reden müssen.

„Falle?“, hörte er Sirius fragen.

Leise seufzte er. Wie sagte er das jetzt am besten, ohne dass ihm jemand dafür den Hals umdrehte? „Deshalb hat Lohe mit mir gesprochen, Padfoot“, begann er vorsichtig. „Sie hat nicht mit mir geflirtet. Das Schloss, es ist–“

Fenwick stieß ihn zur Seite, bevor er seine Aussage beenden konnte. Er stolperte, rutschte, fiel aber dank Sirius griffbereiter Hand nicht aufs Eis. Sirius Brust bremste seinen Fall. Remus Finger gruben sich beinahe automatisch in den Umhang des anderen. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete durch.

„Danke“, sagte er matt und richtete sich wieder auf. Vorsichtig prüfte er, dass er sicher stand, dann ließ er den Umhang los. Erst dann sah er kurz zu Sirius auf – der sich anscheinend mehr erhofft hatte, als ein einfaches Danke.

Abgesehen davon, dass so etwas für ihn ohnehin nicht in Frage kam, hatte Remus jedoch gerade andere Dinge im Kopf.

„Fenwick“, murrte er, wenig begeistert und blickte zu dem anderen Mann. Der ignorierte ihn, den Zauberstab gezogen und auf einen Punkt auf dem Eis gerichtet. Der Anblick ließ Remus stutzen und Sirius vermutlich auch. Irritiert folgten sie der Spitze des Zauberstabs mit dem Blick und plötzlich erkannte auch er den Schatten, der sich schnell näherte.

„Schutzzauber, Lupin“, hörte er Fenwick sagen, doch den Befehl brauchte er gar nicht mehr, um den eigenen Zauberstab zu heben. Neben ihm zog Sirius den seinen.

Der erste Schutzzauber ging schwer über seine Lippen, die Zauberstabbewegung durch die tauben Finger ungeschickt und plump. Fenwicks erster Fluch flog sauber durch seinen Schild. Der Schemen wich aus, fiel halb, und hielt trotzdem auf sie zu. Remus hörte ihn schreien, doch keine rabiate Antwort traf Remus‘ Schild.

Sirius‘ und Fenwicks nächste Flüche trafen vermutlich allein aufgrund der Entfernung nicht. Nach der zweiten Salve rief der Rennende erneut. Dieses Mal verstand er Evan Rosiers Stimme laut und deutlich.

„Verschwindet, ihr Idioten!“, brüllte er. „Lauft, solange ihr noch-“

Rosier stoppte so abrupt, dass er den Halt verlor und fiel. Weder die Worte noch der Sturz hielten Remus‘ Begleiter davon ab, zwei präzise Zauber abzufeuern. Ihn hingegen verunsicherte beides noch im selben Augenblick. Todesser neigten nicht dazu, ihn zu warnen. Oder mitten im Lauf zu stoppen, wenn sie keine Gefahr in ihm sahen.

Donner grollte hinter ihm, doch er drehte den Kopf nicht mehr rechtzeitig, um die Schneeböe kommen zu sehen.

Mit voller Wucht fegte sie über sie hinweg. Schmerz explodierte in seinem Rücken, als sei der Wind eine riesige Faust. Schreiend riss er die Augen auf. Die Energie schleuderte ihn hoch in die Luft. Er sah Fenwick unter sich, Sirius über sich, dann verlor er die Orientierung. Ob er höher stieg, ob er fiel – er wusste es nicht. Es blieb nur ein Gedanke.

Wie seltsam es war, fliegend zu sterben.



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