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Das Gesicht im Wind

Wichtelgeschichte für Glimmer
von

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18. Dezember 1978, 8 Uhr, Glasgow

Heute brauchte die elektrische Verdrahtung keinen magischen Schubs mit dem Zauberstab. Kaltes Neonlicht flackerte mit der Behäbigkeit von Leuchtstoffröhren, die ihren Lebenszenit längst überschritten hatten, auf und blendete ihn. Aus der Mitte des Raumes drang hinter der Rückenlehne des Sofas ein leises Stöhnen hervor und kündete davon, dass Sirius sein Bett in der letzten Nacht nicht gefunden hatte. Vielleicht hatte er auch gar nicht erst danach gesucht.

Gegen das Licht blinzelnd schob Remus sich in den Raum und trat über den Katalysator hinweg, den Sirius nicht mehr brauchte und den Remus ganz sicher nicht wegräumen würde. Er war sein Mitbewohner, nicht seine Putzhexe, auch wenn Sirius den Unterschied zwischen diesen beiden Konzepten möglicherweise noch nicht verinnerlicht hatte. Die zugezogenen Vorhänge, die James seinem besten Freund zum Einzug geschenkt hatte – möglicherweise um diesen zu beleidigen – ignorierend, passierte Remus mit traumwandlerischer Sicherheit auch die Halde aus Schmutzwäsche und einschlägigen Magazinen, welche sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr bewegte, dafür aber beständig wuchs. Noch so eine Sache, die Remus ganz sicher nicht aufräumen würde. Zumindest nicht, wenn Lily nicht für die nächsten Tage einen Überraschungsbesuch ankündigte. Und das würde sie nicht, denn sie verbrachte ihren Urlaub mit James in den Staaten. Das Stöhnen vom Sofa wurde indes eindringlicher.

Mit einem knappen Blick zu dem abgegriffenen Möbel, das er nun voll sehen konnte, kontrollierte er, ob Sirius tatsächlich auf der Sitzfläche kollabiert war. Fazit: Er war. Und er hatte sich nicht einmal die Sachen ausgezogen. Statt sich zu regen oder gar selbst aufzustehen, stöhnte die unförmige Gestalt seines Mitbewohners nur erneut.

„Was hast du gesagt, Sonnenschein? Ich kann dich nicht hören.“

„Machdachlichausch“, antwortete Sirius, nicht ihm sondern der Sofalehne.

Kopfschüttelnd tat Remus ihm den Gefallen und betätigte den alten Muggellichtbediener neben der Küchentür. Dunkelheit umfing ihn, begleitet von einem dankbaren Murren seitens der Couch. Leise öffnete er die Tür und schlüpfte hindurch.

In der Küche benötigte er kein Licht. Während die Fenster des Wohnzimmers zum finsteren Hinterhof zeigten, der auch zur Mittagszeit oft im Schatten der ihn umgebenden Hauswände lag, zeigten die der Küche zur Straße und überdies nach Osten. Und dort, hinter den Wohngebäuden auf der anderen Straßenseite, zogen sich die ersten hellen Schwaden der Dämmerung über den Horizont und kündigten einen Sonnenaufgang an, der von den finsteren Regenwolken über ihnen verschluckt werden würde.

Sirius wäre, so wie Remus seine Verfassung momentan einschätzte, bei diesem schummrigen Lichteinfall vermutlich gegen die Anrichte gestoßen oder sogar in die Feuerstelle gefallen, die er illegal betrieb, doch ihm reichte das Licht vollkommen aus. Problemlos erreichte er den Schrank mit den Kesseln, aus denen er sich den kleinsten aussuchte, um Wasser aufzusetzen.

Nach wie vor im Dunkeln hängte er den Kessel ins Feuer, das er mit einem Wink seines Zauberstabs aus der alten Glut aufflammen ließ, und machte sich auf die Suche nach einer sauberen Kanne.

Ein dumpfer Schlag störte das leise Knistern des Feuers. Er bewegte Remus nicht dazu ins Nachbarzimmer zu laufen und sich dabei möglicherweise doch noch an der Anrichte zu stoßen. Er bewegte ihn nicht einmal dazu aufzusehen. Stattdessen ließ er von seiner Suche ab und entzündete nun doch die Kerzen im Raum. Das Licht von einem Dutzend kleiner Flammen flackerte auf Geheiß seines Zauberstabes auf und blendete ihn, doch mit dieser Angelegenheit hielt er sich nicht länger auf. Er kannte Sirius‘ Haushalt, vermutlich besser als dieser selbst, und die dreckigen Kannen fand er auch halbblind. Es gab genug davon und das war nicht seine Schuld. Ein erneuter dumpfer Schlag ertönte, während er missmutig damit begann, seine Kanne der Wahl von Teeresten zu befreien. Oder was auch immer darin zu leben begonnen hatte.

Dem dritten Schlag schließlich folgte ein unflätiger Fluch. Einen Sirius-Augenblick später – welcher zu dieser Zeit des Tages einer Remus-Minute entsprach – streckte sich ein Mob schwarzen Haares durch die Küchentür. Der Kopf hob sich nur ein wenig, sodass Remus die Ringe sehen konnte und die Augen darüber.

„Wiespätisses?“, verlangte der Mob zu wissen.

„Kurz nach um acht. Lange Nacht?“

Sirius kollabierte erneut, dieses Mal vor Remus‘ Augen auf dem einzigen Küchenstuhl. Es gab zwar noch zwei weitere, aber die waren … irgendwo. Ja, irgendwo traf die Beschreibung ziemlich gut. In Sirius‘ Wohnung war alles irgendwo. Und während man über das, was weggeräumt, geputzt oder gewaschen gehörte, fiel, wie andere Leute über Elektrizitätskabel, suchte man den Rest zumeist vergebens. Remus hatte sich im Verlauf des letzten halben Jahres damit arrangiert, genauso wie mit Sirius Beleuchtungsvorlieben.

„Hölle.“

Statt die Einsilbigkeit seines sonst so wortgewandten Freundes zum Anlass zu nehmen, diesen mit weiteren Fragen zu belästigen, goss er den Tee auf, gab Milch dazu und schob Sirius schließlich eine dampfende Tasse zu.

„Bist du in eine Prügelei geraten oder in ein anderweitiges … Abenteuer?“, fragte er, bevor er einen vorsichtigen Schluck aus der eigenen Tasse nahm.

Sirius trank ebenfalls, vermutlich noch zu müde um zu realisieren, dass er sich gerade die Zunge verbrannte.

„Beides“, antwortete er schließlich. „Glaub ich. Verdammt, ist das heiß!“

Remus zuckte mit den Achseln und stellte die Tasse ab. „Hätte ich dich gewarnt, hättest du mir ohnehin nicht zugehört.“

„Argument. Aber du könntest meine Zunge ein wenig kühlen, weißt du? Aaa-“

Mit zu offensichtlichen Hintergedanken öffnete Sirius den Mund und streckte ihm die Zunge entgegen. Nicht einmal mehr die Augen darüber verdrehend ließ Remus das Thema kurzerhand fallen.

„Also? Zurück zum Thema. Du bringst die halbe Nacht in Soho zu und erinnerst dich dann nicht mehr, ob du dir eine Schlacht auf der Straße oder eine in einem Bett geliefert hast?“

Die Frage war generell überflüssig – Remus kannte die Antwort auch so, aber ihm war bewusst, dass er sich mit dem Ego seines Freundes beschäftigen musste, wollte er dessen aktuellen Wachheitsgrad bewahren. Die Antwort kam dann natürlich wie erwartet. Zumindest, nachdem Sirius den Mund wieder geschlossen und ihn einen Sirius-Augenblick lang beleidigt angestarrt hatte.

„Ein Bett war nicht involviert. Da bin ich mir ziemlich sicher. Frag meinen Rücken. Wenn der weich gelegen hat, frisst James seinen Besen.“

„Vergiss es“, gab Remus zurück und schnaubte belustigt. „Der hat gestern seine Koffer packen lassen und ist mit dem letzten Portschlüssel nach Hawaii. Vermutlich hat er seine Lily mitgenommen, denn ich glaube, im Gegensatz zu uns vergisst er sie nicht in der Portschlüsselzentrale. Der wird dir nicht einmal den Gefallen tun an dich zu denken, geschweige denn einen Besen für dich zu essen.“

„Ach ja. Die Liebe. Rosarot und klebrig wie eine angelutschte Zuckerstange. Das könnte ich jetzt auch gebrauchen. Die ganze Nacht.“

„Sirius, es ist kurz nach acht.“

„Sag ich doch.“ Um seine Worte zu unterstreichen zog Sirius die Augenbrauen hoch und warf ihm einen Padfoot-Blick zu. Der wirkte bei Lily, der wirkte bei Peter und er wirkte vermutlich auch bei der Hälfte der Bevölkerung von Soho, aber Remus hatte schon vor Jahren beschlossen, dass sich Sirius mit diesem Blick an ihm die Zähne ausbeißen durfte. Angestrengt blinzelnd ignorierte er den Augenaufschlag. Es wirkte. Eine Spur frustrierter fuhr Sirius schließlich fort. „Du bist ein oller Spielverderber, Moony. Aber gut, du hast Recht. Mit James muss ich nicht rechnen, der ist im sommerlichen Winterwunderland und lebt glücklich und zufrieden, bis der Arbeitsalltag sie scheidet. Was ist mit Wormtail?“

„Hat gesagt, er verbringt sein Weihnachtsfest bei seiner Mutter.“

„Also ist er eigentlich bei Karen und hat mit ihr sein ganz eigenes Stückchen klebriger Zuckerstangen. Habe ich erwähnt, dass ich auch gerne welche hätte? Nach Möglichkeit jetzt?“

Remus schnaubte. Statt zu Sirius blickte er eisern in seine Tasse. Darauf würde er sich garantiert nicht einlassen. „Davon hattest du letzte Nacht doch wohl genug, oder?“

„Auf einer Parkbank?“ Sirius schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Nein, nein, Remus, mein prüder Freund, das war keine rosarote, klebrige, angelutschte Zuckerstange. Es war ein Zitronenbrausebonbon. Und es gibt einen Unterschied zwischen denen und rosaroten, klebrigen, angelutschten Zuckerstangen. Die einen prickeln kurz auf der Zunge, von den anderen hat man länger was von. Vornehmlich, weil man sie nicht mehr aus den Haaren bekommt.“

„Und das jetzt wäre natürlich eine rosarote, klebrige-, nein, spar dir die Antwort. Ich kenne sie.“ So viel zu den guten Vorsätzen Sirius Ego den Raum zum Aufwachen zu lassen. „Was machst du zu Weihnachten?“

Sirius starrte ihn erneut an. Im Licht der Kerzen und der langsam höher kriechenden Dämmerung konnte Remus mitverfolgen, wie seine Mimik von beleidigt schmollend über grübelnd an seiner Unterlippe kauend bis hin zu dämlich grinsend wechselte. Die Sache war zu einfach, wirklich.

„Das Übliche. Ich denke, ich vergifte meiner Verwandtschaft mit meiner Sexualität die traute Weihnachtsatmosphäre.“

„Das heißt, du schickst eine Karte?“

Sirius schüttelte den Kopf. „Nö. Ich schicke einen Brief. Mit Abzügen. Ich brauche nur noch jemanden zum Posieren. Interesse? Peter könnte die Photos machen, gesetzt den Fall, dass er sich nicht schon bei Karen verkrochen hat, wie eine Ratte in ihrem Loch.“

Die Stirn runzelnd überging Remus den schlechten Witz und schüttelte den Kopf. „Nein. Kein Interesse, aber ich bin mir sicher, dass du jemanden findest.“

„Sicher?“

„Ganz sicher.“

„Spielverderber.“

Schmollend, aber immerhin wach genug, um sich zu bewegen, griff Sirius selbstständig nach der Kanne und goss sich nach. Vermutlich verbrannte er sich beim Trinken erneut die Zunge, aber dieses Mal ließ er die Sache unkommentiert. Stattdessen musterte er Remus, die Tischplatte, das Blumenmuster der Kanne, die orangen Küchenschränke und dann wieder Remus.

„Und, was machst du zu Weihnachten?“

Auf die Frage hatte er es angelegt, zugegeben, aber das hieß nicht, dass es ihm Spaß machte, sie zu beantworten. Vermutlich wartete Remus deshalb zu lange, sodass Sirius die Lunte roch. Die Augenbrauen zusammengezogen und das Kinn vorgestreckt schob er sich über den Küchentisch näher in sein Blickfeld.

„Deshalb machst du mir Tee“, stellte sein Freund trocken fest. „Was ist es dieses Mal?“

Ohne ein weiteres Wort zog Remus den Brief – Dumbledores Brief – aus seiner Tasche und reichte ihn an seinen Freund. Ebenfalls wortlos schnappte Sirius sich das Pergament und entfaltete es. Seine Augenbrauen zogen sich beim Lesen noch weiter zusammen.

„Moony, Moony, Moony“, tadelte er schließlich. „Andere Leute kriegen Socken zu Weihnachten. Oder Schmuck. Oder Lily in Unterwäsche. Und was kriegst du? Ein Selbstmordkommando.“

„Es ist kein Selbstmordkommando, Padfoot“, gab Remus zurück, war sich gleichzeitig aber bewusst, dass selbst sein Gegenüber hören musste, wie halbherzig diese Antwort klang. Wenn er ehrlich war: Er war selbst zu einem ähnlichen Schluss gekommen, als Dumbledore ihm den Auftrag, über Weihnachten hinter den Polarkreis zu verreisen, erteilt hatte. Aber man sagte nicht nein, wenn Dumbledore einen Auftrag vergab. Das hatte er in dem halben Jahr, in dem er nun für den Orden des Phönix arbeitete, begriffen. Natürlich, man konnte ‚Nein!‘ sagen. Offiziell ließ der alte Direktor diese Entscheidung genauso offen, wie er seinen Schülern die Entscheidung überließ, ob sie ihre Hausaufgaben machten, oder nicht. Gleichzeitig schwebte aber auch immer die Gewissheit mit im Raum, dass alles noch viel, viel schlimmer werden würde, wenn man sich für das ‚Nein!‘ entschied. In der Schule bedeutete das nur Punktabzüge und Strafarbeiten – das hatte er deutlich an seinen drei Lieblingsmitschülern erlebt – aber nun, in der Ordensarbeit, waren die Folgen nicht mehr einfach nur unangenehm. Und Remus kannte viele unangenehme Dinge. Einmal im Monat wurde er schließlich selbst zu einem.

Den Bissen, den Dumbledore ihm zwischen all den freundlichen Worten zuwarf, hatte er jedenfalls geschluckt, obwohl der sich in seinen Gedanken anfühlte, wie ein Kohlkopf im Mund eines Werwolfes. Dabei war Remus nur Teilzeit-Carnivore.
 


 

Sirius ließ sich auf seinem Stuhl zurückfallen und schien das Quietschen zu genießen, das davon kündete, dass sie möglicherweise bald gar keinen Stuhl mehr in der Küche haben würden. Die Anrichte in seinem Rücken, gegen die Remus sich lehnte, fühlte sich gleich noch ein wenig unbequemer an. Möglicherweise hatte sich Sirius Einrichtung mit ihrem Besitzer verbrüdert. Aber nein, das war Quatsch. Niemand, der noch ganz bei Trost war, verbrüderte sich mit Sirius Black. Deswegen waren sie ja die Herumtreiber und Sirius Anrichte gehörte sicherlich nicht dazu.

„Seit wann weißt du, dass Dumbledore dich zu seinem kleinen, niedlichen Selbstmordkrieger auserkoren hat?“

Für einen Moment war Remus versucht, zu lügen. Aber er wusste zwei Dinge: Erstens log er nicht gern und zweitens würde Sirius es sowieso erschnüffeln, als sei er ein großer, schwarzer Bluthund. Seufzend blieb er bei der Wahrheit.

„Zwei Wochen.“

Sirius beugte sich vor. Remus musste ihn nicht in seinem Augenwinkel beobachten, um zu wissen, dass er mit dünnen Fingern nach seiner Tasse griff, um sich daran festzuhalten, wie sonst an einer Flasche Butterbier.

„Und das sagst du mir jetzt?“

„Sieh es so: Ich sage es dir überhaupt.“

Angesichts seines Wachheitszustandes verstand Sirius erstaunlich schnell. Für einen Moment – einer Remus-Minute, im Übrigen, keinem Sirius-Augenblick – starrte er ihn an. Seine Augen weiteten sich nur ein wenig, vermutlich, weil er sie um diese Uhrzeit nicht weiter öffnen konnte. Dann stürzte er ruckartig den Inhalt seiner Tasse hinunter und verbrühte sich dabei möglicherweise den Rachen. Die Hälfte hustete er ohnehin wieder aus, weshalb es Remus nicht irritierte, als Sirius mit kratzigerer Stimme fortfuhr.

„James weiß nichts davon?“, fragte sein Freund heiser und hustete erneut.

Remus Mitleid hielt sich in Grenzen und beschränkte sich darauf, nach dem nächstbesten Lappen zu greifen und die Teelachen vom Tisch zu wischen.

„Ich habe es ihm erzählt. Zwischen Montrose gegen Puddlemere und Arrows gegen Portree. Also ja, er weiß, dass ich auf Mission gehen werde“, gab er schließlich dünn zur Antwort. Dabei zelebrierte er es, den Lappen über der Spüle auszuwringen. „Ich kann allerdings nicht ausschließen, dass er glaubt, ich besuche meinen familiären Streichelzoo.“

Das Husten, das Sirius Kehle entwich, war möglicherweise gleichzeitig ein Lachen.

„Allein das Unternehmen wäre lebensmüde genug, Moony. Was ist mit Peter?“

„Kennt die gleiche Geschichte.“

„Ich sollte mich wirklich geehrt fühlen, huh?“

Als Antwort zuckte Remus nur mit den Achseln. Sirius würde ohnehin nicht von seiner Meinung abweichen, die er längst gefasst hatte. Dazu war er ein viel zu großer Dickschädel. Außerdem kannte Remus die drei Phasen einer Padfoot-Entscheidungsfindung und konnte diese gerade viel zu deutlich im Gesicht des anderen lesen. Die erste Phase, die so viel umfasste wie ‚Ich bin entsetzt und spucke daher all das aus, was ich gerade im Mund habe. Sollte ich wieder erwarten nichts im Mund haben, werde ich schon etwas finden, was ich mir hineinstecken und anschließend wieder ausspucken kann‘, hatte er hinter sich gelassen. Genauso hatte er auch Phase zwei - ‚Ich entscheide, was ich will und werde ab jetzt jede abweichende Meinung ignorieren oder durchschütteln‘ – überwunden. Nein. Genauso, wie seine Gedanken gingen auch Sirius‘ Gesichtsmuskeln zu Phase drei über und fletschten, metaphorisch gesprochen, angriffslustig die Zähne. Remus mochte Phase drei nicht sonderlich. Sie bedeutete, sofern er in der Nähe war, in der Regel, dass Sirius ihn ins Kreuzverhör nehmen würde. Und auf das konnte Remus verzichten, allein schon, weil alle Aussagen, die er möglicherweise vornehmen oder auslassen konnte, das Ergebnis kaum beeinflussen würden. Ohnehin lagen Phase eins und zwei, die für eine Beeinflussung von Sirius Meinungsbild nötig waren, schon unüberwindbar weit zurück.
 


 

Einen letzten Hustenreiz schluckend, beugte Sirius sich wieder vor. „Dumbledore erwähnt in seinem Liebesbrieflein zwar leider nicht die große W-Frage, aber dafür für mich ominöse Mitsuizidgefährdete. Er nennt sie ‚Ordensmitglieder‘. Das heißt, wenn ich den Absatz richtig dekodiert habe. Die ganzen Schnörkel, Kringel und Schleifen könnten auch ‚Lieber Remus, ich wünsche mir zu Weihnachten ein Paar hübsche, warme, flauschige Liebestöter. Bitte nicht in grün. Dein Albi‘ bedeuten. Und schau mich nicht so an. Das da sieht nicht aus wie ein ein ‚us‘. Oder sieht das deiner Meinung nach aus wie ein ‚us‘? Ich finde, es sieht nicht aus wie ein ‚us‘.“

Zwar hielt Sirius ihm den Brief ziemlich prägnant vor die Nase, um ausgesprochen aufdringlich auf eines der Wörter zu deuten, doch Remus würdigte den Text keines Blickes. Er hatte ihn längst verinnerlicht, konnte jedes Wort rezitieren, und das nicht nur aufgrund seines beeindruckenden Textgedächtnisses. Die Nachricht war ihm längst ein Mantra geworden. Er seufzte.

„Dort steht ‚Tromso‘, Padfoot. Das am Ende ist ein O mit einem durchgezogenen Strich. Man spricht es seltsam aus. So wie O aber nicht ganz. Ö. So ähnlich. Jedenfalls – wirst du dort kein ‚us‘ finden können, weil es kein ‚us‘ gibt. Im Übrigen ist Fenwick der Glückliche.“

Sirius stockte und rückte näher.

„Fenwick? Fenwick wie in Benjy Montrose-Magpies-for-Zaubereiminister Fenwick?“

Ein knappes Nicken genügte Sirius, um sich in seinem Stuhl zurückzuwerfen. Der quietschte erneut ausgesprochen unglücklich.

„Wundervoll. Wenn Fenpie der Glückliche ist, dann weiß ich ganz genau, wer von euch der Unglückliche sein wird. Ich gebe dir einen Tipp: Er ist dummerweise kein Fan der Montrose Magpies und ich bin es nicht. Wer ist der Rest?“

„Dumbledore hat uns empfohlen, zwei Begleiter nach unserem Gutdünken auszuwählen, wenn wir wollen. Fenwick einen, ich einen. Ich fürchte nur, den Namen von Fenwicks Vorschlag kannst du nicht schreiben.“

Diese Antwort hatte ihren gewünschten Effekt. Sirius Kopf ruckte hoch. Beleidigt richtete er sich in seinem Stuhl auf.

„Moony? Falls du es noch nicht wusstest: Ich kann schreiben. Wirklich. Oder denkst du, ich habe meine N.E.W.T. von James abgemalt?“

Remus griff zu einer der gemeineren Antwortmöglichkeiten, die er im Ärmel hatte – er reagierte mit einem wohlplatzierten Schweigen, bei dem sich Sirius die Bedeutung von selbst aussuchen durfte. Alles war möglich von ‚Nein, natürlich nicht‘ über ‚Ja, was wohl auch sonst?‘ zu ‚Nein, natürlich nicht. Ihr habt beide von mir abgemalt‘. Sirius‘ Reaktion war klar, denn Sirius war eben Sirius und dieser entschied sich, wenn er die beleidigte Leberwurst spielen wollte, immer für die Variante, die ihn am meisten beleidigte. Sein Kopf näherte sich der Tischplatte, damit er besser von unten auf ihn herab grollen konnte. Schmollend schob er die Unterlippe vor und funkelte ihn an. Tatsächlich schafften es seine Augen in diesem Moment, mehr zornig als müde zu wirken.

„Du bist gemein, Moony“, verkündete er theatralisch und verzichtete nicht darauf, drohend mit dem Zeigefinger unter Remus‘ Nase herumzufuchteln.

Remus antwortete daraufhin mit weiterem Schweigen, woraufhin Sirius die Unterlippe noch ein wenig mehr vorschob. Dann sah er schlagartig ein, dass Remus nicht nachgeben würde, möglicherweise, weil er sich daran erinnerte, dass es ihn Mühe kosten würde, Remus zum Aufgeben zu bringen, denn der war nicht James oder Peter. Mit einer harschen Bewegung hob er den Kopf wieder und schob seine Nase und den Rest seiner Existenz noch weiter in Remus‘ Blickfeld. Ein Hund hätte bei dieser penetranten Nähe möglicherweise bereits zugebissen – Sirius passierte das manchmal – aber er war ein artiger Wolf. Außerdem wollte er sich die darauf unvermeidlich folgenden Kommentare ersparen.

„Okay, nächste Frage. Wenn Fenwicks Begleiter Mister Sirius-kann-seinen-Namen-nicht-schreiben ist, wer ist dann deiner?“

Remus zuckte mit den Achseln.

„Niemand.“

„Niemand?“

„Niemand. Ich habe nicht vor, jemandem das Weihnachtsfest zu verderbe, indem ich ihn auf eine lebensgefährliche Ordensmission zum Polarkreis nötige.“

„Also“, Sirius unterbrach sich für einen Moment, um mit der Zunge zu schnalzen, „verdirbst du lieber allen anderen das Weihnachtsfest, indem du einen Mann weniger mitnimmst und deswegen noch viel wahrscheinlicher in den Schnee beißt?“

„Nicht Weihnachten. In Anbetracht der Gesamtsituation des Auftrages, wird der Ausgang von selbigem eine Weile benötigen, um Großbritannien zu erreichen. Ich verderbe also niemandem das Fest.“

„Nur Neujahr.“

„Ja.“

Dieses Mal konnte Remus Sirius‘ Mimik nicht zu seiner Zufriedenheit lesen. Entweder war sein Gegenüber gerade ernsthaft belustigt oder aber ernsthaft gekränkt. Möglich auch, dass er sich zwischen diesen Aspekten nicht entscheiden konnte oder wollte. Jedenfalls zuckten seine Mundwinkel verdächtig, während sich seine Augenbrauen zusammenzogen wie die Regenwolken um den Sonnenaufgang in Remus‘ Rücken. Sirius-Augenblicke vergingen. Auch wenn sie sich nicht deutlich widerspiegelten und das Spucken fehlte, erahnte Remus doch die drei üblichen Phasen.

‚Verdammt!‘

‚Okay, was anderes kommt ohnehin nicht in die Tüte.‘

Und dann: Festbeißen.

Glücklicherweise biss Sirius nur verbal. Dieses Mal.

„Ich glaube, du vermiest mir viel mehr das Weihnachtsfest, wenn du nicht da bist und stattdessen in den Schnee beißt, als wenn du mich zum in den Schnee beißen einlädst. Bin dabei.“

Natürlich hatte er geahnt, dass Sirius zu genau diesem Schluss kommen würde. Er hatte die verbalen Zähne in seiner Mimik gesehen, bevor er zugeschnappt hatte, und jetzt spürte Remus förmlich, wie sein Wille ihn gepackt hielt und durchschüttelte. Unwillig schloss er die Augen und zählte bis zehn. Dann zählte er noch einmal, dieses Mal bis hundert, nur um sicher zu gehen. Er konnte Sirius Blick zwar nicht sehen, doch er spürte ihn auf der Haut. Dieses fordernde Kribbeln, das er immer dann in ihm auslöste, wenn er sich etwas wirklich felsenfest in den Kopf gesetzt hatte. Remus wusste, dass er zur nächsten Stufe, dem Hundeblick, übergehen würde, wenn er seinen Willen nicht bekam. Und im Gegensatz zu den meisten Hunden war Sirius ausgesprochen ausdauernd, was selbigen anbelangte. James vermutete dahinter eine Überlebensstrategie, die ihn davor bewahrte, von einer Horde wütender Fünftklässlerinnen in der Luft zerrissen zu werden, und Remus billigte dieser Idee gewisse Realitätschancen zu. Wenn er ehrlich war, konnte er sich besseres vorstellen, als die nächsten drei Tage von einem herzerweichenden Dackelblick verfolgt zu werden.

Kapitulierend vergrub er das Gesicht in seiner linken Hand.

„Du brauchst einen Schlafsack, Soren braucht die Informationen für die zusätzlichen Vorräte und ich brauche mehr Tee. Oh, und ich hoffe, du kannst Skifahren.“

Die unausgesprochene, dafür aber reichlich verdatterte Frage „Wie? Skifahren?“ hing für einen Moment im Raum, dann erhob Sirius sich ächzend. Mit mehr Körperkontakt als nötig schob er sich an Remus vorbei, erhielt aber nicht die angestrebte zwischenmenschliche Aufmerksamkeit, denn Remus konzentrierte sich darauf, sich die Schläfen zu reiben. Während sein Freund sich möglichst geräuschvoll daran machte, Wasser aufzusetzen, verfluchte er sich dafür, so einfach nachgegeben zu haben. Natürlich war er nicht dumm genug um zu behaupten, dass er nicht bereits vor diesem Morgen darauf gehofft hatte, Sirius würde ihn begleiten. Aber trotzdem hatte er geglaubt, standfester zu sein. Zumindest für eine Weile. Vielleicht sogar bis tausend zählen zu müssen...

Die nächsten drei Tage würden Stress bedeuten. Er hatte die Ausrüstung bereits komplett, auch weil das meiste der Norweger besorgte, dessen Namen er nicht aussprechen konnte. Aber er würde Sirius noch den Spaß, den er sich vermutlich unter dieser Mission vorstellte, austreiben müssen. Und natürlich wollte Sirius noch diese Photographien-

Er schluckte und warf einen Blick zwischen seinen Fingern hindurch. Der Himmel war mittlerweile regenwolkengrau und das Licht, das durch die Fenster fiel, ließ Sirius Gestalt als dunkle Masse erscheinen, der man keinen Wasserkessel – und erst recht kein Feuer oder gar einen Zauberstab – in die Hand geben sollte.

„Und du willst deiner Familie wirklich Abzüge zu Weihnachten schicken?“

Die dunkle Masse, die Sirius war, zuckte mit den Schultern.

„Ich dachte an einen Brief für Mama Walburga und einen für mein liebstes Brüderchen. Wallis Blick werde ich nicht sehen können, aber ich dachte daran, unsere Jungs aus Gryffindor um einen kleinen Gefallen zu bitten. Irgendwer wird schon ja sagen. Also, willst du nun mitmachen oder willst du nun mitmachen?“

Remus seufzte verhalten. „Ich habe dir bereits gesagt, dass das nichts für mich ist.“

„Du bist so prüde.“

„Bin ich nicht! Ich habe nur andere Probleme, da brauche ich nicht noch eins mehr. Zumal wir keine rosaroten, klebrigen und angelutschten Zuckerstangen sind. Vergessen?“

Leise blubberte heißes Wasser in die Teekanne, ein langer Moment, in dem sich Sirius zu sehr auf seine Tätigkeit konzentrierte, als dass er mehr Aufmerksamkeit zum Reden übrig gehabt hätte. Viel zu schnell war er vorbei, doch das Wort, das schließlich folgte, war nicht das, welches Remus erwartet hatte.

„Okay.“

„Okay?“

Remus hob den Kopf, ohne die Hand vom Gesicht zu lösen. Zwischen Ring- und Mittelfinger hindurch musterte er seinen Mitbewohner argwöhnisch. Der zuckte neuerlich mit den Achseln. Für einen Moment drehte er Remus den Rücken zu, um den Kessel zurückzustellen.

„Okay“, wiederholte er. „Du musst echt nicht mitmachen. Ich werde schon einen passenden Ersatz finden. Denke ich. Das heißt – glaube ich. Na gut. Hoffe ich. Oder... Ach, weißt du...“

Nicht nur Remus war gut darin, Sprachpausen zu seinen Gunsten zu nutzen. Die folgende zögerte Sirius gerade genug hinaus, damit Remus das Grinsen darin spüren konnte. Dann drehte er sich um.

Jedes seiner Nackenhaare stellte sich auf. Ein Kloß bildete sich in Remus‘ Hals und ließ ihn nicht schlucken. Wie magisch angezogen suchte er Blickkontakt. Und da war er.

Der Blick.

„Ich glaube, ich hab‘s mir gerade anders überlegt.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: Arcturus
2013-01-10T21:57:46+00:00 10.01.2013 22:57
Test
Von: abgemeldet
2012-08-20T13:31:17+00:00 20.08.2012 15:31
Hey^^
Die Geschcihte gefällt mir bis jetzt ganz gut. Ich mag die Art, wie die beiden miteinander umgehen und wie sie die Dinge sehen.
Du machst auch sehr schön deutlich, dass sie die Dinge grundsätzlich unterschiedlich sehen ich meine, eine Remus-Minute und ein Sirius-Augenblick?! das ist echt genial, total süße Idee.
Auch Sirius Einstellung zur Liebe: angelutschte, rosarote Zuckerstange XD köstlich und dann das mit dem in den Haaren-klebenbleiben.
Dein Sirius gefällt mir außerordentlich.
Dein Remus ebenfalls, weil er Sirius so gut einschätzen kann und wie er James irgendwie schon und irgendwie wieder auch nicht gesagt hat, dass er zu einer gefährlichen Mission muss, genial.
Das lese ich auf jeden Fall weiter.
LG Chiyo
Von:  Glimmer
2012-02-02T08:21:14+00:00 02.02.2012 09:21
Diese Geschichte ist der Wahnsinn.

Hatte ich schon gesagt wie obersupermegatollbombastisch diese Geschichte ist? Ich könnte die jetzt tausendmal 'Dankeschön' ins Ohr Brüllen!

Ich liebe ja, wie bereits erwähnt, Landschaftsbeschreibungen, und Norwegen noch dazu. Am allermeisten gefallen mir die Remus Minuten und die Sirius Augenblicke, und nachdem auch Peter Weilen dazu gekommen waren, hab ich (bisher ohne Erfolg) nach einer James Zeitangabe gesucht-aber vllt denkt der sowieso nur in Lily Sekunden :D

Ich musste schon am Anfang der Geschichte grinsen, als ich diesen wundervollen 'Dialog' gelesen habe:


>„Was hast du gesagt, Sonnenschein? Ich kann dich nicht hören.“
>„Machdachlichausch“, antwortete Sirius, nicht ihm sondern der Sofalehne.

Zu witzig und es passt genau zu meiner Vorstellung von Sirius, der nun mal ein Herumtreiber ist! Deinen Remus mag ich ebenfalls sehr, und seine Gedanken sind nicht nur wundervoll Remus-mäßig sondern so, ich weiß auch nicht, passend. Er ist Ruhig und gleichzeitig hab ich immer das Gefühl, das seine Gedanken zuweielen spöttisch klingen. Die Idee mit der 'Putzhexe' fand ich auch sehr witzig, da Sirius, wenn er denn wollen würde, es auch einfach nur sauber zaubern könnte. Ich kann schon gut nachvollziehen, warum sich Remus da verweigert!

>„Moony? Falls du es noch nicht wusstest: Ich kann schreiben. Wirklich. Oder denkst du, ich habe meine N.E.W.T. von James abgemalt?“
Remus griff zu einer der gemeineren Antwortmöglichkeiten, die er im Ärmel hatte – er reagierte mit einem wohlplatzierten Schweigen, bei dem sich Sirius die Bedeutung von selbst aussuchen durfte. Alles war möglich von ‚Nein, natürlich nicht‘ über ‚Ja, was wohl auch sonst?‘ zu ‚Nein, natürlich nicht. Ihr habt beide von mir abgemalt‘.

Ha das ist zu cool! Allein die Vorstellung von Sirius' Gesicht, und wenn Lily das erst mitkriegen würde. Ich mag diese Art von Humor sehr, und da Remus ja eigentlich meist nicht so die Witze schmeißt, finde ich das noch schöner.

Und bei ersten Mal lesen dachte ich 'Selbstmordkommando?' Wie Remus? Ich glaub da hab ich das erste Mal gedacht, 'Das mit Weihnachten wird wohl nichts!'

Jetzt warte ich gespannt auf die anderen Kapitel und freu mich die ganze Geschichte nochmal zu lesen :)


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