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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Finaaaaaaaaaaale! Komplett anzeigen

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Eierkuchen

45: Eierkuchen
 

Das erste, was Fritz durch seine halb geöffneten Augenlider erspähen konnte, war Regen, der auf die Frontscheibe des fahrenden Autos prasselte. Gleichmäßig und einschläfernd fuhren die Scheibenwischer immer wieder darüber weg und schoben die Flüssigkeit beiseite.

Fritz zwang sich, die Augen dennoch weiter zu öffnen. Er saß auf dem Rücksitz seines eigenen Autos. Nicht sofort erinnerte er sich an die letzten Geschehnisse. Was hatten er und die MIU gemacht? Ah, die Brauerei in Radeberg gestürmt. Ja. Paul Frais gejagt. Doch dieser war schwer zu fassen gewesen … und zuletzt … Oh.

Schlagartig war Fritz hellwach und drückte seine Nase ans Fenster. Sie fuhren auf einer Autobahn. Der Himmel war von Regenwolken völlig verhangen; unmöglich zu erkennen, wie spät es war.

»Wo fahren wir hin?«, rief er schrill.

»Nach Alfeld«, antwortete der Fahrer. »In der Klinik dürfen wir ja eh nicht mehr pennen. Haben da nur ’nen ganz kurzen Stopp gemacht, um unsere Sachen zu holen. Wahrscheinlich musst du im HQ kurz ’ne Aussage für den Bericht machen und darfst dann gleich nach Hause weiterfahren. Naja, wenn du fahren kannst.« Micha warf ihm durch den Rückspiegel einen vielsagenden Blick zu.

Fritz’ Hand schoss sofort an seine Halsseite, wo Frais ihn gebissen hatte. Dazu musste er sie erst mal unter der roten Decke hervor winden, mit der er säuberlich zugedeckt war. »Fühlt sich gar nicht so schlimm an …«

»’n normaler Vampirbiss halt.«

»Habt ihr …« Fritz zögerte. »… Habt ihr Frais besiegt?«

»Ja, er ist tot«, bestätigte Micha.

»Wer hat ihn getötet?«

»Sonnenscheinchen.«

»Oh, das … hätte ich nicht erwartet.«

»Wir auch nicht. Seiner eigenen Aussage nach ist er einfach nicht mit raus gerannt, als das restliche Sackheer vor Frais getürmt ist. Hat sich in ’ner dunklen Ecke versteckt … und keine Sau hat auf ihn geachtet, weil alle viel zu beschäftigt waren. Wir mit Frais, Frais mit uns. Schwein gehabt.«

Fritz ließ diese Information sacken. Alea hatte sich also auf seine Fähigkeiten zurückbesonnen und das einzig Richtige getan. Dieser Teil der Geschichte fühlte sich gut an; der andere jedoch …

»Er weiß es also«, hörte Fritz sich leise sagen. »Er weiß, dass ihr Vampire seid.«

Micha nahm einen tiefen Atemzug und ließ sich Zeit mit der Antwort. »Also …«, begann er schließlich umständlich, »… die Lage ist da nicht ganz klar, weißt du … Genau genommen haben wir keine Ahnung, was er weiß. Aber es steht außer Frage, dass er etwas weiß. Wir müssen diesen Punkt noch klären.«

Fritz ließ es dabei bewenden. Sein Blick glitt zum Beifahrersitz; über diesem lag schlafend der schwere Bluthund, unförmig wie ein Kartoffelsack. Seine Rute hing schlaff über der Handbremse. Als Fritz erstmals neben sich schaute, war er überrascht, auch auf der Rückbank nicht allein zu sein: Auf der linken Seite saß Eric Fish, oder besser, er lag halb, den Kopf gegen Scheibe und Nackenpolster gelegt und ebenfalls bis knapp unter die Nase warm zugedeckt. Offensichtlich war er am Leben: Seine Augen waren geschlossen, doch er atmete tief und gleichmäßig.

»Weck ihn nicht auf«, bat Micha. »Der ist völlig erledigt. Schläft wie ’n Stein, seit wir unterwegs sind. Von Radeberg bis Dresden, und von Dresden bis jetzt auch wieder.«

»Er hat sich immerhin das Blut abgewaschen.«

»Nee, das waren der Hampf und Frau Schmitt. Er wird überrascht sein, wie sauber er ist. Bestimmt wär er nicht mal wach geworden, wenn wir ihn kopfüber ins Wasser getaucht hätten. Ich hab das vorgeschlagen, aber keiner wollte mitmachen.«

Fritz schaute wieder aus dem Fenster. Der fadenförmige Regen ließ die monotone Umgebung der Autobahn grau und trüb wirken. Nach einigen Kilometern fiel Fritz auf, dass Micha mit dem Zeigefinger irgendetwas in seinem Mund betastete und es sich, die Zähne gebleckt, angewidert im Rückspiegel ansah, welchen er hiernach mürrisch wieder gerade rückte.

»Du bist doch nicht verletzt, oder?«, fragte Fritz den Vampir überflüssigerweise.

Unbequem antwortete Micha: »Naja … doch.« Erstmals klang er gar nicht mehr so tough, sondern fast ein bisschen weinerlich. »Von meinem rechten Fangzahn ist die Spitze abgesplittert. Jetzt sieht das aus, als hätte ich rechts keinen Eckzahn.« Er schielte zu Fritz in den Rückspiegel. »Und der Giftkanal ist auch hin«, fügte er Mitleid heischend hinzu, »jetzt hab ich dauernd so ’nen scharfen Geschmack im Mund.« Er schmatzte demonstrativ.

»Heilt das?«, wollte Fritz wissen.

»Ja … Aber ’nen Fangzahn zu regenerieren dauert fast einen Monat! Das scheiß Teil wird rausfallen und neu wachsen.«

»Sei froh, das machen Menschenzähne nicht«, erinnerte Fritz. »Und du kannst ja mit dem linken Zahn noch beißen.«

»Für’n Arsch! Du willst doch auch nicht nur auf einem Backenzahn kauen, oder?«

Fritz hörte einfach nicht mehr zu. Für das Gejammer hatte er nicht viel übrig, also tat er so, als würde er weiterschlafen. Inzwischen wurde der Himmel langsam wieder heller.
 

Drei Tage später traf sich die MIU in Alfeld im Keller der SAPPI-Fabrik. Als Fritz dort ankam, wirkte plötzlich alles so vertraut und heimelig. Die ersten Arbeitstage, die er hier verbracht hatte, waren völlig friedlich gewesen und es hatte keinen Hinweis auf die Schrecken gegeben, die dem Antritt der Reise nach Wuppertal gefolgt waren. Jetzt war es, als wäre er nie weg gewesen. Das leise Gluckern der Kaffeemaschine hinter der Tür mit der Aufschrift ›Wer den geheimdienstlichen Kaffeekocher klaut, ist ein schlechter Mensch‹; die Bandfotos an den Wänden; das MPS-Poster von Saltatio Mortis mit den verräterischen Fangzähnen und Aleas Schnurrbart; der Weinkeller, der einen Vorrat an Hyperborea aller Geschmacksrichtungen beherbergte; der geräumige Besprechungssaal, der allen kompletten MIU-Bands Platz bot: Alles hieß Fritz warm willkommen.

Die vier MIU-Bands, die für Norddeutschland zuständig waren – In Extremo, Subway To Sally, ASP und Saltatio Mortis – waren mit allen Musikern, die am Fiacail Fhola Incident beteiligt gewesen waren, im HQ eingetroffen. Der Einzige, der fehlte, war Klaus Buschfeldt. Schievenhöfel vertrat ihn jedoch und verbreitete ohnehin weit mehr gute Stimmung, als der Direktor es je vermocht hätte.

Es war der dritte Tag nach der endgültigen Zerschlagung von Fiacail Fhola. Zumindest die Vampire waren mittlerweile von den gröbsten Verletzungen genesen, wenn man von Michas Fangzahn absah.

»Ich hab übrigens«, erhob Eric die Stimme, als alle im Konferenzraum um den großen runden Tisch saßen, »schon heute einen Brief von unseren irischen Freunden Fírinne gekriegt. Aufgesetzt von der Präsidentin persönlich. Mary McAleese wünscht uns weiterhin viel Erfolg und freut sich auf weitere gute Zusammenarbeit. Ich würde den Brief ja vorlesen, aber der ist komplett auf Gälisch. Er fängt an mit ›Dia daoibh, a chairde‹ – also mit dem, was ich auf einer irischen Bühne als erstes sagen würde.«

»Es gibt auch von der Studentenkapelle was Neues«, verkündete KP, »von Snowine. Sie haben sich von dem Schrecken ganz gut erholt und wollen wohl bald wieder Musik machen. Einwandfreie, versteht sich. Ihr könnt ja mal die Ohren offenhalten, vielleicht kriegen sie ja irgendwann einen Plattenvertrag.«

»Nur wenn die noch ein gutes Stück besser werden«, sagte Simon mit schiefem Lächeln. »Aber wir haben ja alle mal klein angefangen.«

Micha fügte den Meldungen noch eine weitere hinzu: »Rea und seiner Familie geht’s übrigens auch gut. Er sitzt jetzt in der Jury von The Voice of Germany. Naja, soll er machen.«

Die Runde lachte verhalten. Immerhin schien bei den Verbündeten der MIU alles in Ordnung gekommen zu sein.
 

»Was werdet ihr jetzt tun?«, fragte Fritz, als er, Micha und Basti auf dem Gelände standen und die beiden Musiker eine Zigarette rauchten. »Nehmt ihr jetzt sofort die Arbeit an einem neuen Fall auf?«

»Nee«, antwortete Micha nach einem langen Zug. »Jetzt haben wir Zeit für die Musik. So steht’s im Arbeitsvertrag. Alle wollen touren – wir mit Sterneneisen, Subway mit Schwarz In Schwarz und Saltatio mit Sturm aufs Paradies. Lex’ Band hat, glaub ich, auch ein Album in Planung. Weißt du, wenn man Künstler ist, ist Rumtouren das Allergrößte. Ich freu mich immer schon ’n halbes Jahr vorher drauf. Wir werden nicht nur in Europa sein, sondern auch in den USA und in Mexico.«

Fritz schnitt eine Grimasse. »Das würde ich mir nicht antun.«

»Ach, du weißt ja nicht, was gut ist!«, lachte Micha.

Basti wechselte das Thema. »Fritz, biste morgen Abend bei unserer kleinen Party dabei?«

»Party? Oh … mich hat keiner eingeladen.«

»Dit ham wir auch spontan jestartet. Also … eijentlich sollen wa dit nicht rumerzählen, aber … Buschfeldt –«

»Bekommt er Ärger?«, fragte Fritz sofort. Nach allem, was auch der MIU-Direktor hatte durchstehen müssen, würde ihm das sehr Leid tun.

»Nee, im Jegenteil«, grinste Lange. »Der hat mit seinen Maßnahmen und Anweisungen den Fall sooo toll jelöst, dass er jetzt versetzt und befördert wird. MIU-Direktor und unser Chef wird KP. Dit ist, wat wir eijentlich feiern. Und dass wa noch leben, natürlich. Wir wollen noch ’n paar andere Leute einladen: den Niklas Löhse … deine Freundin Ríona … dann natürlich alle von Schandmaul, Faun, Schelmish, Corvus Corax, Tanzwut, Cultus Ferox und Connys Truppe … oh, und den Jefäßchirurg, der Lex operiert hat.«

»Klingt unterhaltsam«, befand Fritz.

»Jaah, ne? Also nimm dir bloß nüscht anderet vor!«
 

Fritz blieb auch diese Nacht noch in Alfeld. Am nächsten Morgen würde noch einiges an Papierkram zu erledigen sein. So sehr er sich auch nach Kittys heilender Umarmung sehnte: Auf einen Tag mehr oder weniger kam es jetzt nicht mehr an. Er war in diesem einen Monat viel stärker geworden, hatte Ängste überwunden und Courage gezeigt, hatte mehr zu erdulden gelernt als je zuvor. Kitty würde diesen neuen Fritz zu gegebener Zeit kennen lernen. Außerdem wollte er noch etwas für sie besorgen …

Als Fritz am Spätnachmittag ins HQ kam, waren dort schon viele Menschen versammelt. Zum Glück war der Fabrikkeller wesentlich größer als alle Stützpunkte, die sie in der letzten Zeit bewohnt hatten. KP begrüßte ihn herzlich und Fritz gratulierte ihm, denn nun war die Beförderung offiziell. Auch alle anderen Kollegen und MIU-Sympathisanten begegneten Fritz fröhlich und klopften ihm auf die Schulter.

Die Küchentür trug diesmal die Aufschrift ›Heute nur für Buffet-Personal!‹. Fritz war nicht sicher, was genau das zu bedeuten hatte. Natürlich würde der Raum als Lager für Hyperborea dienen und die strikte Beschränkung wäre gewöhnlich dazu gedacht gewesen, den unwissenden Alea am Eintreten zu hindern; jetzt aber wusste Fritz nicht, was Alea wusste und was die anderen davon wussten, was er wusste. Niemand hatte ihn diesbezüglich aufgeklärt. Allerdings war Alea derzeit nirgends zu sehen – Zeit für Fritz, in die Küche zu schlüpfen und Erkundigungen einzuholen, ob die Aufschrift immer noch ernst gemeint oder zu einem Scherz degradiert worden war, über den auch Alea nur noch müde lächeln konnte. Fritz brauchte in dieser Angelegenheit unbedingt Klarheit, denn sollte es immer noch einen Sicherheitsstandard zu wahren geben, so wollte er nicht derjenige sein, der diesen verletzte.

Vorsichtig trat er ein. Erwartungsgemäß fand er Gläser und ein paar Flaschen Hyperborea vor, außerdem Lasterbalk und Asp, die vor der Anrichte standen und gemeinsam ein Glas 2009er – halbtrocken, wie Fritz inzwischen wusste, mit mehr Gewürzen als Fruchtzucker – genossen.

»Na?«, begrüßte ihn Lasterbalk und hielt ihm vergnügt sein halbvolles Glas hin. »Mal probieren?«

Fritz hob die Brauen. »Vielleicht bin ich ja im Laufe des Abends betrunken genug, dass ihr mir das Zeug unterjubeln könnt.«

»Oh, guter Ratschlag. Danke.«

»Sagt mal …« Fritz beugte sich verschwörerisch vor, und automatisch senkten auch die Vampire ihm die Köpfe entgegen. »… was ist jetzt eigentlich mit Alea? Weiß er bescheid? Was hat er gesehen

Lasterbalk reagierte entspannt auf die Frage. »Oh, gesehen hat er ziemlich viel, des wissen wir mittlerweile. Zum Beispiel einen Paul Frais am Rande des Wahnsinns, der zusammenhangloses Zeug labert.«

»Und jeden in seinem Umfeld, eingeschlossen uns alle, als Vampire tituliert, die ihre Rasse verraten«, ergänzte Asp mit ernster Miene, aber dem bekannten listigen Funkeln in den Augen. »Wer weiß schon, wie viel davon wahr ist?«

Die Gelassenheit der beiden verunsicherte Fritz noch mehr. Seine Verwirrung wuchs. »Aber Alea hat euch gegen ihn kämpfen gesehen«, gab er zu bedenken, »er hat gesehen, wie ihr seine beiden Handlanger geschlachtet habt …«

»Die haben wir gepfählt, und das waren vornehmlich Sebastian und Ingo. Fangzähne waren nicht im Spiel.«

»Aber er muss doch gesehen haben, wie …« Fritz unterbrach sich, als ihm einfiel, dass er das Ende des Kampfes ab dieser Stelle verpasst hatte. Frais hatte ihn ausgeknockt. Aber hatte denn daraufhin niemand …?

Wieder schien Asp seine Gedanken lesen zu können: »Micha hat sich danach ziemlich auf Frais gestürzt, ja. Und bei diesem Ringkampf hat er ein paar gute Minuten durchgehalten.«

»Niemand von uns hat Frais mit den natürlichen Waffen eines Vampirs angegriffen«, fuhr Lasterbalk ruhig fort, »weil wir wussten, dass es nix nützen würde. Micha wusste das auch. Er hat’s mit bloßer Kraft versucht. Und Alea hat in diesem Moment schon auf Frais eingewirkt, aus der Distanz, bis er sich getraut hat, näher ranzukommen, um einen festeren … Griff zu haben.«

Es ergab einen gewissen Sinn. Trotzdem wuchsen die Furchen in Fritz’ Stirn zu tiefen Gräben aus. »Das heißt … er weiß nichts? Aber wie …? Er wusste schon vorher, dass wir ihn anlügen, das hat er mir selber gesagt …«

Lasterbalk nickte. »Ja, absolut richtig. Wir haben uns da fälschlicherweise in Sicherheit gewiegt, fürchte ich. Er hat uns damit konfrontiert und wir haben ein Geständnis abgelegt.«

»Oh … ach ja? Und welches?«

»Wir haben sein Blut gegen Hinweise getauscht. Über längere Zeit, immer wieder. Wir … dealen sozusagen damit, um uns Tipps aus erster Hand zu holen.«

Fritz brauchte einen Moment, um sich zu entsinnen, was damit gemeint war. »Coppelius«, murmelte er. »Es war nicht das erste Mal.«

»Nein.«

»Wie?«

»Alea ist ein fleißiger Blutspender.«

»Und wir sind gut im Netzwerken, genau wie Frais«, fügte Asp hinzu und leerte gemütlich sein Glas.

»Wie hat er es aufgenommen?«, fragte Fritz unbehaglich.

»Ging so. Er kann furchtbar vernünftig sein.«

»Aber dass ihr Vampire seid …«

»Fritz.« Lasterbalk stellte sein Glas beiseite, kreuzte die Arme vor der Brust und sah ihn fest von oben herab ab. »Glaubst du net auch, dass Alea dann ein bisschen mehr Theater gemacht hätte? Wenn er all sein Vertrauen untergraben finden würde? Er weiß, dass wir alles tun, um ihn zu beschützen … aber fände er das raus, dann glaub ich net, dass er noch taff hinter uns her spazieren und hinterrücks unseren Feind umlegen würde.«

»Hmmm. Vielleicht hast du Recht.«

Allmählich sah Fritz ein, dass er sich womöglich doch von den Umständen hatte blenden lassen. Einen reinen Tisch mit Alea hätte er sehr begrüßt, doch vorschnell daran zu glauben war naiv gewesen. Das Risiko war enorm. Und an der Erkenntnis, dass man unter der Hand sein Blut verkaufte, hatte Alea sicher erst einmal genug zu kauen.

Als die Stille einen langen Moment angehalten hatte, schickte sich Lasterbalk mit einem knappen »Bis später dann« zum Gehen an. Asp blieb stehen und musterte Fritz aufmerksam.

»Nicht ganz, was du erhofft hast, hm?«

»Nicht wirklich«, gab Fritz zu.

»Es wäre uns allen lieber, wenn das Lügen ein Ende hätte.«

Fritz nickte langsam; inzwischen wusste er, dass das stimmte. Ändern können würde er daran nichts. Geneigt, einer anderen drängenden Frage nachzugeben, wandte er sich an Asp und fragte zaghaft: »Belastet es dich sehr, dass dein Erschaffer tot ist?«

Asp dachte darüber nach, lächelte vorsichtig und meinte: »In dem Moment, als er sagte, dass er uns alle töten würde – mich eingeschlossen –, hat er das Band zerstört. Es ist wirklich so einfach. Nur ein paar Worte … und man ist frei.« Sogleich, um das Aufkommen nachdenklichen Schweigens zu vermeiden, fügte er hinzu: »Fritz, Micha hat vorhin nach dir gefragt. Ich weiß aber nicht, was er wollte. Vielleicht solltest du ihn mal suchen gehen.«

»Oh.« Das erstaunte Fritz. »Ich mach mich gleich auf den Weg.«
 

Fern dem Trubel auf den Stufen der mittlerweile geschlossenen Papierfabrik saßen Eric Hecht und Michael Rhein und tranken jeder ein Bier. Gesagt hatten sie bisher nicht viel, eigentlich nur steifes Zeug, doch endlich setzte Eric dazu an, das verlegene Schweigen zu brechen.

»Diese Sackpfeifen-Armee war episch«, sagte er. »Was für’n Mist, dass ich nicht mitspielen konnte.«

Micha zuckte die Schultern: »Nimm’s leicht, Drama Queen. Dafür hattest du deinen Auftritt als Mittelpunkt des Ganzen. Viele Sackspieler Deutschlands und Irlands haben sich zusammengerottet, um dich zu retten.« Er trank den Rest seines Biers aus, stellte die Flasche neben sich und musterte den anderen. »Ich würd dich gern was fragen«, begann er zögerlich. »Was, das mich eigentlich nichts angeht, aber das ich einfach nicht raffe.«

Eric starrte ihn an. »Und was? Frag halt … solange es nicht wieder was Beleidigendes ist.«

»Nee, diesmal nich’ … nur … naja – warum, zur Hölle, trinken die dein Blut? Ich meine die Subway-Vampire. Deine Frau ist kein Vampir, von der können die Löcher nicht sein. Was also machst du mit Simon und Silvio, dass die so abhängig von deiner Suppe sind? Und wieso

Eric antwortete nicht sofort. Eine Zeitlang sah er Micha an, als wäre er nicht ganz sicher, die Frage überhaupt richtig verstanden zu haben. »Du glaubst also«, fasste er die Anklage zusammen, »ich würde die dazu zwingen? Um sie zu dominieren? So eine … Machtspiel-Sache? Ja?«

Sofort zuckte Micha erneut die Schultern, hielt aber weiterhin den Blick unverwandt auf Eric geheftet. »Es ist einfach nur komisch. Und die wollen nicht drüber reden, wenn man sie drauf anspricht. Für mich sieht das schon danach aus, als würdest du sie unter Druck setzen.«

Eric schüttelte entschieden den Kopf. »Ich hab wirklich andere Sachen zu tun, als meine Bandmitglieder permanent zu demütigen«, schnaubte er. Seine leere Flasche anstarrend, fuhr er leiser fort: »Die sollten es nur nicht überall rumerzählen.«

»Was rumerzählen? Dass du es magst, gebissen zu werden?«

»So ist das nicht. Nein, dass ich … also, dass ich … oft, wenn ich zu viel arbeite, nicht zur Ruhe komme. Nicht schlafen kann. Launisch werde … und Fehler mache, die nicht passieren dürfen. Das ist ein Problem, gegen das Baldrian nicht mehr hilft. Ich kann einfach oft nicht schlafen, wenn wir arbeiten, und steh dann unter Stress. Das tut keinem in meiner Umgebung gut. Du weißt genau, was ich damit meine.«

Endlich verstand Micha, was der andere ihm herumdrucksenderweise mitzuteilen versuchte. »Achsoooo … Es geht also nur um ’ne Dosis Schlummifix?«

»Worum denn sonst?«

»Du tauschst eine warme Mahlzeit gegen einen Gute-Nacht-Kuss?«

»Finde ich fair«, erwiderte Eric trotzig. »Und deine Metaphern sind geschmacklos, wie immer. Michael, wenn ich versuchen würde, Subway To Sally von mir abhängig zu machen, dann müsste ich mich erst mit Bodenski um die Vorherrschaft prügeln. Das wäre ein epischer Kampf, wie zwischen den beiden Stieren in der Táin Bó Cúailnge. Und ich würde definitiv nicht gewinnen.«

»Verstehe.« Micha nickte nur. Es war nicht nötig, mehr dazu zu sagen.

Beide starrten eine Weile vor sich hin. Dann, schließlich, gab Micha Eric wortlos eine neue Flasche und hielt ihm seine eigene zum Anstoßen hin.
 

Als Fritz nach langem Suchen dazukam, stand Eric sofort auf. »Ah, Friedrich. Gut, dich zu sehen. Ich lasse euch mal allein … Wollte eh gerade noch ein paar Worte mit den anderen wechseln, außer meiner Band werde ich die ja alle eine Weile nicht sehen«, entschuldigte er sich.

Fritz wartete, bis er außer Hörweite war, und wandte sich dann an Micha: »Was wolltest du mich denn wissen lassen?«

»Och, nur was … so am Rande.« Micha nickte neben sich, und Fritz nahm Platz, woraufhin auch er ein Bier gereicht bekam. »Eigentlich nur, dass ich bei der MIU aufhöre. Hey, du bist nach InEx der erste, der’s erfährt, Glückwunsch.«

»Aufhören?«, wiederholte Fritz und starrte seine Flasche an, als wüsste er nicht mehr, wie sie zu öffnen war. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand kaltes Wasser über den Kopf gekippt. Was sollte diese Eröffnung? »Aber wieso denn das? Buschfeldt ist doch weg!«

»Ach, es war nicht nur Chefchen, der mich genervt hat«, wehrte Micha ab. »Eigentlich hab ich schon lange drauf gewartet. Du weißt, Buschfeldt hätte uns als Band platt gemacht, wenn wir ausgestiegen wären. KP wird uns keine Schwierigkeiten machen. Die anderen werden, denk ich mal, noch weiterarbeiten. Zumindest, solange die restlichen Schwachmaten nichts alleine hinkriegen.« Er lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Ich fänd’s gut, wenn die anderen auch aussteigen würden … Wir hätten mehr Zeit für die Mucke.«

»Hm, verstehe«, gab Fritz unschlüssig zurück. Er war nicht sicher, ob er bekümmert oder eher erleichtert sein sollte.

»Außerdem«, fuhr Micha verträumt fort, »muss ich mir … in zwanzig Jahren oder so … einen anderen Ort suchen. Warum erst richtig alt werden, wenn man es vermeiden kann.«

Fritz horchte auf. »Moment mal … Du willst sterben

»Sterben?«, fragte Micha verblüfft.

»Naja, alle haben gesagt, dass … Vampire ja nicht von alleine sterben, sondern, wenn sie alt sind, einfach woanders hingehen und wiedergeboren werden. Dass sie sich aber ab einem bestimmten Zeitpunkt immer daran erinnern, wer sie sind … und dass sie es irgendwann satt haben …«

»Naja, das stimmt auch, ich meine, es will ja keiner ewig leben. Aber –«

Fritz fiel ihm entsetzt ins Wort: »Alle sagen, dass alte Vampire ihr Leben dann selber beenden!« Ängstlich fügte er hinzu: »Ich meine, du bist der älteste Vampir in der Gegend, oder?«

»Oh ja.« Michas eben noch leidlich bestürzte Miene verwandelte sich in ein Grinsen. »Aber mach dir keinen Kopf. Ich rede wirklich nur vom Verjüngen. Sterben, wer macht denn so was? Will ich nichts von wissen. Gibt noch viel zu viele Orte, die ich sehen will, und zu viele Sachen, die ich ausprobieren will. Blöd, dass Menschen nur ein einziges Leben haben, denn das reicht ja vorne und hinten nicht. Ich will mal auf dem Mond wohnen, und so. Kann also noch dauern.«

Jetzt musste Fritz lachen. »In Anbetracht dessen müsste man sich wirklich überlegen, doch noch ein Vampir zu werden.«

»Vergiss es, so ’ne Weichflöte wie dich will ich nicht als Baby! Würde mich ja um den Verstand bringen!« Micha lachte mit. »Aber ich sag mal, im nächsten Leben lass ich es ’n bisschen ruhiger angehen. Zwei Jobs gleichzeitig sind einfach zu stressig. Keine MIU mehr.«

»Aber auch kein In Extremo.«

»Das ist schade, ja.«

»Du liebst die Band wirklich, oder?«

»Jaah«, sagte Micha zärtlich. »Du glaubst nicht, wie verdammt dankbar ich bin, in einer Band wie In Extremo zu spielen. Wie viel mir das gibt. Diese Typen behandeln mich zu einhundert Prozent wie ihresgleichen.«

Fritz staunte. »Ist das nicht selbstverständlich?«

»Nee. Eben nicht. Selbst wenn Menschen dich als gleichgestellt betrachten, wirst du trotzdem ständig dran erinnert, dass du anders bist. Wenn ich mit InEx unterwegs bin, passiert das praktisch nie. Wenn wir zusammen essen, nörgeln die nicht rum, dass ich das gar nicht brauche. Die liegen mir nicht in den Ohren, wann ich wie viel Blut trinken soll. Die machen keine blöden Bemerkungen über meine Augen oder sagen Sachen wie: ›Oooh, Micha, mach doch mal mit deinen Zähnen meine Bierdose auf.‹ Die reißen keine Vampirwitze – naja, gut, meistens jedenfalls – und die verlangen auch nicht, dass ich sie beiße oder an ihnen rumlecke, wenn sie sich mal in den Finger schneiden. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich. In den anderen Bands passiert das, das weiß ich. Müssen die Vampire selber wissen, wenn die das nicht stört. Die sind ja auch fast immer zu zweit in einer Band. Ich jedenfalls würde mich nicht wohlfühlen, wenn ich ständig so ’nen Stempel auf der Stirn hätte. Aber so ist es eben nicht … Ich kann mich die ganze Zeit praktisch wie ’n Mensch fühlen. Hyperborea? Jeder hat Lieblingsgetränke. Azathioprin? Die anderen nehmen auch Pillen. Scheißegal! Ich bin einer von ihnen, und sie zeigen mir das. Alter, mit denen kann ich Musik machen, bis die Welt untergeht … und genau das will ich!« Er atmete tief die kühle Luft ein und ließ sie behaglich wieder ausströmen. »Vielleicht sollte ich sie einfach alle in Vampire verwandeln … In Extremo für immer …«

»Ohne Anschluss an Menschen werdet ihr so ein Haufen wie Coppelius«, erinnerte Fritz grinsend. »Nein, es ist schon ganz gut, dass Vampire sich mit Menschen umgeben. Nicht nur zum Sattwerden.«

»Hm, ja. Wäre vielleicht doch nicht so gut.«

»Hier seid ihr!«, hörte Fritz auf einmal Falk rufen, der durchs Dunkel auf sie zustapfte. »Ich hab euch schon gesucht! Ich möchte die Herren ja nicht stören, aber: Wir gehen gerade zu den harten Drogen über.« Er sah ausgesprochen gut gelaunt aus. »Erstens stehen Musiker, gleich nach Winzern und Weinhändlern, an dritter Stelle der Personengruppen mit berufsbedingt erhöhtem Alkoholkonsum. Zweitens müssen wir alle wieder eingetrunken sein, wenn’s auf Tour geht. Also? Kommt ihr?«

Fritz schaute unschlüssig vom einen zum anderen. »Ich hätte wissen müssen, dass harte Sachen ausgepackt werden würden, oder?«

»Willste kneifen?«, neckte Micha und gab ihm einen herausfordernden Rempler mit der Schulter.

»Nicht diesmal, Micha. Nicht diesmal.«

Ein zufrieden schmunzelnder Falk führte den Dreiertross Richtung Küche.
 

Zu Fritz’ Erleichterung fiel der Kater am nächsten Morgen mild aus. Schon gegen Vormittag hatten ihn die Musiker mit auf Erfahrung basierenden Tipps soweit wiederhergestellt, dass er endlich seine Fahrt nach Hildesheim antreten konnte – nach Hause, zu Kitty.

Seine Frau fiel ihm um den Hals, als wäre er jahrelang verschüttet gewesen. »Ich hab so wenig von dir gehört!«, beschwerte sie sich, schob ihn von sich und musterte ihn besorgt. »Oh Gott, du hast sogar Wunden am Hals!«

»Halb so wild«, antwortete er lächelnd. Wie schön sie war, so schwarz in schwarz, wie immer. Einen neuen Lidschatten hatte sie auch. Seine Gothic Queen … und daneben er, ein penibler, feiger, sauberkeitsfanatischer Krawattenträger …

»Komm rein! Ich hab Pflaumenkuchen im Ofen!«, forderte ihn Kitty auf und zog ihn am Hemdärmel ins Haus, um die Tür zu schließen. »Leider gibt es im Winter keine deutschen Pflaumen … Man muss immer irgendwo welche aus Südamerika finden …«

Schon der süße Duft aus der Küche ließ Fritz den Mund wässrig werden. Beinahe hätte er vergessen, dass er Christine etwas mitgebracht hatte. Da sie schon wieder herumwuselte, hielt er sie sanft am Arm fest. »Kitty, guck mal«, strahlte er. »Ich hab was für dich.« Und er reichte ihr ein kleines hölzernes Kästchen mit goldenem Beschlag.

»Für mich?«, fragte Kitty, sichtlich verwirrt. Offensichtlich war Fritz’ heile Rückkehr für sie schon das größtmögliche Geschenk gewesen. »Nanu …« Sie klappte das Kistchen vorsichtig auf. Ihre Augen wuchsen zu doppelter Größe heran. »Oooh!«

Fritz sah zu, wie sie die beiden herzförmigen Glasanhänger herausnahm und selig lächelnd betrachtete. »Ich wusste gar nicht, dass es sie als Herzchen gibt! Wie süß!«

»Tja«, erwiderte Fritz und schluckte das aufkeimende Unbehagen tapfer hinunter. »Wir müssen uns wohl mal einen Arzttermin geben und sie füllen lassen.«

»Gleich morgen!«, freute sich Kitty.

»Ja, von mir aus …«

»Wie kommt es, dass du plötzlich nichts mehr dagegen hast?«, wollte sie neugierig wissen.

Fritz druckste herum. »Och, also … Sagen wir, es hat sich vieles verändert. Der neue Job hat alles ein bisschen … umgeworfen. Ich sehe einiges anders. Muss offener für Neues sein, weniger verklemmt. Ich arbeite dran. Und Blut hab ich sooo viel gesehen in den letzten Wochen … Ich mag es immer noch nicht, aber ich glaube, ich will jetzt lernen, damit umzugehen. Dazu gehört es eben, auch deinen Vorlieben mal ein bisschen entgegen zu kommen. Auch dich werde ich jetzt wohl mit anderen Augen sehen … meine Vampirlady.« Er zog sie an sich und küsste sie auf die Wange, und Kitty quietschte vergnügt.

»Fritz, ich bin so glücklich, dass du endlich wieder da bist!« Liebevoll gab sie ihm nun ihrerseits einen Kuss. »Du bist der beste Mann der Welt!«

Und das sagt eine Frau, der ich nie wirklich alles zu geben versucht habe, dachte Fritz ganz liebestrunken. Ich hab immer viel zu sehr auf mich selbst aufgepasst … aber das wird jetzt alles anders.

Und, optimistisch in die Zukunft sehend, fuhr er zum Jahresanfang wieder nach Alfeld.
 

ENDE


Nachwort zu diesem Kapitel:
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