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Kaltherzig

von

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the unwelcome newcomers

Noch vor Sonnenaufgang war ich wieder im sicheren Bereich der Vampire und wollte nichts lieber tun als mich in meinem Bett zu verkriechen, doch kaum hatte ich einen Schritt in das Schloss gemacht, da war auch schon Oleen an meiner Seite und fragte mich nach zwei Vampiren aus, die meiner Schwester einen abgerissenen Kopf vor die Füße gelegt und ihr einen schönen Gruß übermittelt hatten.

„Sie war sehr wütend, Mylady. Was habt Ihr euch nur dabei gedacht?“, flüsterte die Messerwerferin ehrfürchtig und folgte mir im Laufschritt, ehe ich ihr die Tür vor der Nase zuknallte, weil ich keine Notwendigkeit darin sah, mich vor ihr zu rechtfertigen.

Der Durst brannte in meiner Kehle wie lauter kleine Feuerameisen, als ich mich auszog und unter die Bettdecke schlüpfte. Als Reinblüterin brauchte ich regelmäßig Blut. Die Gier konnte ich noch im Zaum halten, doch sie kam oft genug um mich tagtäglich zu quälen. Ich würde vielleicht noch zwei Nächte lang durchhalten können, aber für meine Aufgabe brauchte ich Kraft und ich rechnete bereits damit, morgen von einer Horde Werwölfe Besuch zu bekommen. Ob die Kleinen wohl bereits ihre Eltern gefunden hatten?
 

Wie immer wurde ich, pünktlich zu Sonnenuntergang, von einem leisen Klopfen aufgeweckt und stand leicht benommen aus dem Bett.

„Mylady Rebecca? Eure ehrwürdige Schwester Leonore, Königin der Vampire und Schlächterin der Werwölfe, wünscht Euch im Speisesaal vorzufinden, bevor Ihr zurück auf Euren Posten geht“, drang eine Fistelstimme von der anderen Seite der Tür zu mir her, deren Nachricht mich erschaudern ließ.

Ein Essen mit meiner Schwester. Lieber würde ich mir einen Dolch ins Herz rammen lassen – was wahrscheinlich auch der Fall sein würde, sollte ich nicht dort aufkreuzen.

Missmutig zog ich mir eine Hose an – damit ich mich auch bewegen konnte, wenn ich um mein Leben rang –, meine braunen Lederstiefel mit Schnallen und zog mir dann meinen langen dunkelroten Mantel mit Kapuze, über meine weiße Bluse mit einem Korsett darüber, an.

Sicherheitshalber verstaute ich noch zwei Messer mit einer gewellten Klinge aus Silber in meinen Stiefeln und band mir eine schwarze Peitsche um die Hüfte.

Letztendlich kümmerte ich mich noch um meine wallenden Haare. Um sie zu bändigen, flocht ich sie zu einem langen Zopf und steckte sie mir, mit glänzenden Nadeln und Spangen, hoch.

Widerwillig marschierte ich in Richtung Speisesaal, durchquerte dabei viele Räumlichkeiten und Gänge, wobei ich hin und wieder einigen verschreckten Vampiren begegnete, die mich entweder mit unverhohlenem Hass oder Neugierde musterten. Bewunderung lag kaum in ihren schwarzen, ausdruckslosen Augen. Es war nicht zu übersehen, wem ihre Treue galt.

Mit durchgestrecktem Rücken und steif nach unten gezogenen Schultern, öffnete ich die Türe und schlüpfte schnell in den Speisesaal. Das Licht des Mondes, dass durch die ganze verglaste Wand links von mir, eindrang, strahlte heute Abend unglaublich hell und machte es überflüssig Kerzen anzuzünden, obwohl wir sie ohnehin nicht benötigt hätten.

Zwei Vampire hatten sich in schwarzen Umhängen neben der in der Mitte sitzenden Königin postiert und hielten den Kopf gesenkt, so dass ich keinen Blick auf ihre Gesichter erhaschen konnte. Leibwächter waren äußerst unangenehme Zeitgenossen.

„Rebecca, wie pünktlich du doch bist.“ Mit einem hämischen Kräuseln der blutroten Lippen, deutete Leonore mit ihrem Glas auf den Sitzplatz am anderen Ende des langen Tisches. „Setz dich doch, Schwester.“

Ohne den Blick von ihrer erhabenen Gestalt abzuwenden, ließ ich mich auf den Thron ähnlichen Sessel sinken. Vor mir, nur zehn Zentimeter von mir entfernt, stand ebenfalls ein Weinglas, aber anstatt mit Rotwein, war es mit Blut gefüllt. Mit Blut, dessen Geruch mir süße Verführungen zuflüsterte und deren Farbe mich zu hypnotisieren vermochte.

Vorsichtig legte ich meine zittrigen Finger um das Glas, doch noch wagte ich es nicht, die warme Flüssigkeit zu kosten. Sie stammte frisch aus der Quelle. Höchstens zwei Minuten alt. Welch eine Verschwendung wenn ich mich nicht erbarmte ... aber schließlich saß ich mit meiner Schwester an einem Tisch. Und wie sie mich fixierte, passte mir gar nicht.

Das Blut könnte vergiftet sein, kam es mir in den Sinn und verwarf diesen dummen Gedanken sofort wieder. Wenn dies der Fall hätte sein sollen, dann hätte sie sich kaum die Mühe gemacht, einen Eid abzulegen, um mich an ihre Dienste zu binden. Allerdings tat man immer gut daran, etwas paranoid zu sein.

„Warum hast du mich herbestellt, Leonore?“, fragte ich sachlich und stellte das Glas zurück auf den Tisch. Mit den Fingerspitzen schob ich es noch ein gutes Stück weiter von mir weg. Ich würde Frederique und Lucius darum bitten müssen, mir noch vor meinem Verschwinden einen Menschen bringen zu lassen. Mein Durst war stärker, als ich gedacht hatte.

„Was für eine nette … Geste, du dir doch ausgedacht hast, liebste Schwester. Für deine Verhältnisse“, fügte sie noch hinzu und nahm einen weiteren Schluck. Sicher spielte sie auf den abgetrennten Kopf an, den ich ihr hatte überbringen lassen. Die Männer hinter ihr bewegten sich keinen Millimeter.

„Ja“, stimmte ich zu. „Das hatte ich mir auch gedacht, nachdem er versucht hatte mich anzugreifen.“

Die Vampirin zog eine ihrer perfekten Augenbrauen in die Höhe und brach in Gelächter aus. Ihre Leibwächter zuckten zusammen. „Interessant wie du die Dinge regelst. Und ich dachte bereits, wir hätten nichts gemeinsam.“

Mir wurde übel bei dem Gedanken irgendwelche Parallelen zu ihr aufzuweisen, aber ich zwang mich, mir nichts anmerken zu lassen. Diese Genugtuung würde ich ihr nicht geben. „Gibt es sonst noch etwas, worüber du mit mir sprechen wolltest? Oder habe ich bereits genug für dein Amusement getan?“

„Hmm, ja, da war allerdings noch etwas.“ In ihren Augen blitzte der Schalk auf. „Von nun an wird Evelyn mit dir die Ostgrenze bewachen, sei also so gut und versuch nicht sie in Stücke zu reißen.“

Ich versuchte erst gar nicht ein Knurren zu unterdrücken. „Dieses Biest hat an der Ostgrenze nichts zu suchen!“

„Oh, da wäre ich mir nicht so sicher“, blaffte Leonore zynisch. „Glaube nicht, dass ich dir blind vertraue nur weil wir verwandt sind, Rebecca, denn ich weiß, dass deine Loyalität schon lange nicht mehr mir gilt. Du bist nur dir selbst wichtig, seitdem––“

„Genug! Kein einziges Wort mehr!“, beendete ich dieses Gespräch, indem ich mich erhob und zur Tür eilte, vor der ich noch einmal kurz inne hielt, es aber nicht wagte mich umzudrehen und in die leuchtend roten Augen meiner Schwester zu blicken, die genau wusste, wie sie mich verletzten konnte. Derart furchtlos waren selbst die edelmütigsten Krieger nicht.

„Sollte“ – ich knirschte mit den Zähnen – „Evelyn auch nur einen Fuß auf mein Gebiet setzten, wirst du von ihr noch nicht einmal mehr den Kopf wiederfinden.“

„Ist das eine Drohung?“, fragte die samtene Stimme, als stünde sie direkt hinter mir und hauchte mir kalten Frost auf den Nacken.

„Nein. Nur eine Warnung“, erwiderte ich ebenso kalt und stolzierte erhobenen Hauptes hinaus, obwohl ich mich so klein wie eine Maus fühlte.

Auf dem Weg in meine Gemächer begegnete ich dem Teufel. Oder besser gesagt, der Teufelin mit den roten Haaren und dem Blick, der Tote vor Schreck zum Leben wieder erwecken könnte.

Das kleine Mädchen blickte mich von unten hinauf an – in ihren Augen lag die brodelnde Verachtung, mit der ich oft genug Bekanntschaft gemacht hatte und es nicht noch einmal darauf anlegte, das Schwert gegen sie zu erheben.

Damals, als sie sich eben erst Leonore angeschlossen hatte und ich deswegen – mit der Naivität einer liebenden Schwester – eifersüchtig wurde und sie zum Duell herausgefordert hatte, hätte mir das kleine Monster beinahe den Kopf abgerissen. Dabei hätte ich doch wissen müssen, dass Evelyn dank dem Blut meiner Schwester, um einiges mächtiger war als die anderen frisch gewandelten Vampire. Schlussendlich hatte ich dennoch gesiegt und ihr jämmerliches Leben als Schoßhündchen meiner Schwester verschont. Mittlerweile bedauerte ich es zutiefst.

Die Rothaarige verschwand um eine Ecke, ohne mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Mylady?“, fragte eine mir allzu bekannte Stimme und ich drehte mich um, um den Vampir mit den langen braunen Haaren, die er mit einem blauen Band im Nacken zusammen gebunden hatte und den schwarzen Augen, die leer auf einen Ort hinter mir starrten, zu begrüßen.

„Lucius“, sagte ich und entdeckte Frederique hinter ihm, flankiert von zwei dunkelblonden Vampirinnen mit fülligen Körpern, die ausschlossen, dass diese beiden zu ihren Lebzeiten jemals ein Schlachtfeld auch nur von nahem gesehen hatten. Auch ihnen nickte ich leicht zu und machte einen Schritt vorwärts.

Die Vampirin, die sich rechts in Frederiques muskulösen Arm eingehakt hatte, machte unmerklich einen Schritt zurück. Ich musste an mich halten, um nicht zu grinsen und sie noch mehr in die Enge zu treiben.

Ich hob eine Hand. Die beiden Vampirinnen verschwanden, als hätte ich ihnen eröffnet ihre molligen Kadaver den Ratten zum Fraße vorzuwerfen.

Frederique, dessen welliges Haar wie ein Vorhang über seine linke Gesichtshälfte fiel, stellte sich neben Lucius und verbeugte sich. Die beiden waren kaum älter als ich, standen aber stets an meiner Seite wenn ich sie brauchte. Dennoch würden sie sich niemals gegen die Königin stellen. Das wäre Hochverrat und würde mit dem endgültigen Tode bestraft.

So viel also zum Thema ‚sie waren da wenn man sie brauchte‘.

„Bringt mir einen Menschen auf mein Zimmer“, bat ich klanglos und schlenderte an ihnen vorbei.

„Sehr wohl, Mylady“, sagten die beiden in tiefem Bariton und eilten dann in den Kerker, in denen sich die Gefangenen meiner Schwester tummelten.

Sie hatte eine ziemlich eigene Vorstellung was ‚Haustiere’ anbelangte.
 

Gelangweilt und gesättigt lag ich mit geschlossenen Augen auf einem Baumstamm, dessen Rumpf noch halb an den Wurzeln hing und den Stamm deshalb schräg über den Boden hielt.

Die Magd, die Lucius und Frederique mir gebracht hatten, war abgemagert gewesen und hielt sich kaum noch am Leben. Kaum etwas, aus dem man viele Nährstoffe ziehen konnte, aber es würde reichen. Entweder meine beiden Vampire waren im Kerker auf meine Schwester getroffen, die ihnen befohlen hatte mir das magerste Ding mitzubringen, das sie hatten, oder dort unten gab es tatsächlich kaum noch Überlebende.

Ich erschauderte bei der Erinnerung an den dunklen, feuchten Keller, der sich als Tunnelsystem unter dem Schloss verborgen hielt. Die Schreie, die ich damals als Kind wahrgenommen hatte, hallten mir noch immer in den Ohren nach. Die verstümmelten Leichen und zerfetzten Körper hatten mich wünschen lassen ich wäre blind. Doch am schlimmsten war der Geruch.

Verdrecktes Blut. Verbranntes Fleisch. Der Duft des Todes.

Das Knacken eines Astes ließ mich in Alarmbereitschaft, mit der Hand an meiner Peitsche, aufspringen. Ich rümpfte die Nase, als mir der unverwechselbare Geruch eines Werwolfs entgegen wehte. Sie verirrten sich für meinen Geschmack viel zu oft hierher.

„Zeigt Euch“, befahl ich.

Ein ungewohnter Laut hallte von den Bäumen wieder. Ein langsames Händeklatschen. Irritiert starrte ich den Wolf in Menschengestalt, der scheinbar schutzlos hinter einem Baum hervor trat, fassungslos an. Wieso bemerkte ich ihn nicht schon eher? War ich derart in Gedanken versunken gewesen?

„Wer seid Ihr?“, fragte ich mit monotoner Stimme.

„Komisch, mir lag dieselbe Frage auf der Zunge“, meinte der Fremde und musterte mich eingehend. Ich war es nicht gewohnt, dass man mich so direkt ansah, da die meisten den Blick senkten oder einfach durch mich hindurch schauten.

Er schien nicht daran interessiert zu sein die Grenze zu überqueren, sonst hätte er es längst versucht, also würde ich auch nicht einschreiten müssen. Und was wenn er zu mir wollte? Ich überdachte diese Idee und schüttelte innerlich den Kopf. Lächerlich.

Der Werwolf legte den Kopf schief, wobei ihm einige haselnussbraune Haarsträhnen ins Gesicht fielen. „Willst du mich nicht angreifen?“

Ich kniff abschätzend die Augen zusammen. Es gefiel mir nicht sonderlich, dass er es sich herausnahm mich so persönlich anzusprechen. Als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Allerdings hatte ich auch nie wirklich ein kleines Plauderstündchen mit Werwölfen, also woher sollte ich wissen, ob nicht alle so sprachen?

„Der Gedanke ging mir durch den Kopf“, antwortete ich zynisch und wartete in Wirklichkeit nur auf einen triftigen Grund um ihn töten zu können.

Der Mann, mit dem kantigen Gesicht und den listigen Augen eines Fuchses, grinste und machte einen Schritt auf mich zu, den ich sofort als Angriff interpretierte.

Aus reinem Reflex packte ich meine Peitsche und warf sie schnalzend nach ihm. Das schwarze Haar umschlang seinen linken Fußknöchel, und noch in derselben Sekunde schleuderte ich den Griff über einen dicken Ast und fing ihn auf der anderen Seite wieder auf. Mit einem kräftigen Ruck meinerseits wurde der Werwolf in die Luft gerissen und schwang nun kopfüber – sein freies Knie angewinkelt wie eine verkehrte 4 – hin und her.

„Oh, das war jetzt aber unnötig“, war sein tadelnder Kommentar dazu. Hatte er denn keine Angst? War er nicht wütend?

Meine Verwirrung muss mir ins Gesicht geschrieben gewesen sein, denn der Mann in den kurzen Hosen und mit nacktem Oberkörper, seufzte theatralisch und verschränkte die Arme, was in seiner momentanen Position alles andere als autoritär wirkte. „Willst du mich nicht runterlassen?“

Ich schnaufte. „Nicht in nächster Zeit. Zuerst nennt Ihr mir Euren Namen.“

„Tristan“, antwortete er abschätzend. Er verspannte sich und ich konnte praktisch hören wie er mit den Zähnen knirschte. Ich fragte nicht nach, ob das wohl sein richtiger Name war, denn im Grunde spielte es keine Rolle. Feind war Feind. „Und deiner?“

Wieder war ich kurz davor mein Gesicht zu verziehen. So wie er sich in meiner Gegenwart verhielt, nahm ich nicht an, dass er mich mit der Vampirkönigin in Verbindung brachte und damit das auch so blieb, sagte ich: „Becca.“

Der Wolf hob seine dunklen Augenbrauen, als klang der Name viel zu gewöhnlich für jemanden wie mich. „Also gut, Becca. Bist du die Hexe?“

Ich legte den Kopf fragend schief und wartete auf eine Erklärung. Er wusste doch, dass ich eine Vampirin war, oder?

Der Mann räusperte sich. Obwohl sein Gesicht langsam rot anlief, zeigte er in dieser Hinsicht keinerlei Regung und formulierte seine Frage anders: „Bist du die Frau, die die beiden Wolfsjungen verschont hatte?“

„Und wenn ich es wäre?“, fragte ich argwöhnisch. Ich fühlte mich unwohl bei dem Gedanken mit einem Werwolf – meinem Todfeind – zu plaudern, wo wir uns doch eigentlich bis auf das Blut bekämpfen sollten.

Der, der sich Tristan nannte, zog die Augenbrauen zusammen. „Ja oder nein?“

Ich verdrehte die Augen. „Schon möglich“, murmelte ich, was wohl Antwort genug für den Werwolf war.

Überraschend hörte ich meine Peitsche reißen, als hätte der Wolf lediglich einen Wollfaden zerrupft und wurde von zwei starken Armen zu Boden gerissen.

Er ist flink, schoss es mir durch den Kopf und ließ mich wieder zu Besinnung kommen. Blitzschnell und in fließender Bewegung rollte ich mich auf ihn drauf und zog eins der Messer aus meinem Stiefel, das ich ihm an die Kehle drückte. Zischende Rauchfäden stiegen von seiner Haut auf.

„Nicht – bewegen“, wies ich ihn zornig an. Mit dieser Aktion hatte er nicht gerade meine Sympathien geweckt. Im Gegenteil. Ich hatte jetzt nicht schlecht Lust ihn umzubringen wie es dieser bösartige, gnadenlose Teil in mir verlangte, aber mein rationaler Verstand hatte noch immer die Überhand.

Seine Atmung blieb ruhig. Für meinen Geschmack schien er sich seiner eine Spur zu sicher zu sein. Wie dumm von ihm.

„Allein die Tatsache, dass Ihr mich angegriffen habt, wäre Grund genug um Euch zu töten“, teilte ich ihm meine Gedanken laut mit.

Um seine Mundwinkel zuckte es. „Und warum tust du es dann nicht?“

Diese Aussage irritierte mich sogar noch mehr als alles Vorhergegangene, weil ich nicht wusste wie ich sie beantworten sollte. Warum konnte ich mich nicht einfach seiner entledigen? Hatte ich mich zu lange im Schloss verkrochen und vergessen, wie man sich gegenüber einem Werwolf zu verhalten hatte? Oder wollte ich mich so sehr von meiner Schwester abheben, dass ich sogar dazu bereit war einem Wolf das Leben zu schenken?

„Außerdem hatte ich nicht vor, dich zu töten“, fügte er hinzu. „Es war nur eine Prüfung.“

„Was für eine Prüfung?“, fragte ich, nicht überzeugt von seiner unschuldigen Absicht.

„Ob du genauso bist wie die anderen, oder nur so tust.“ Seine Hand bewegte sich auf mich zu und ich schnitt ihm als Warnung ein kleines Andenken in den Hals.

Keinesfalls eingeschüchtert, legte er sie auf meine Wange. Die Hitze brannte wie Feuer auf meiner Haut. Ich versuchte den Schmerz wegzublinzeln, doch vergebens. Zu lange hatte ich ohne Berührung gelebt, als dass ich dieses Gefühl jetzt einfach hätte wegstecken können.

„Schluss damit“, flüsterte ich, nicht sicher ob ich es auch wirklich wollte. Wie lange war es her seit mit jemand angefasst hatte? Jahre? Dekaden? Auf jeden Fall so lange, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte.

Anstatt zu tun, was ich ihm befiel, wanderte seine Hand von meiner Wange in meinen Nacken und drückte meinen Kopf soweit runter, dass meine Stirn fast seine berührte.

Meine Finger verkrampften sich um den Griff meines Messers, aber ich ließ es gestehen, weshalb auch immer.

Hatte dieser Mann denn keinen Überlebensinstinkt? Und wenn wir schon einmal dabei waren, hatte ich keinen?

Ich hatte mich nie in solch einer Situation befunden, und konnte scheinbar nicht allzu gut damit umgehen. Vielleicht wäre Evelyn doch ganz nützlich gewesen.

„Was habt Ihr vor?“, fragte ich und versuchte nicht allzu verschreckt zu klingen.

„Ich will mich bedanken“, hauchte Tristan und hob den Kopf in Erwartung eines Kusses, doch das war der Moment indem ich von ihm fort sprang, als wäre er ein Berglöwe der sein Maul aufriss um mich zu verschlingen.

Mein Herz raste mir in der Brust, eine etwas verstörende Besonderheit der Reinblüter. Wir waren nicht direkt tot. Wir waren lebendig, unsere Haut war relativ warm und wir konnten sogar Tränen vergießen. Sinnlose Kleinigkeiten, wie ich fand. Und in eben solchen Moment verfluchte ich meine Abstammung. Es wäre mir sehr gelegen gekommen genauso leblos zu sein wie meine unreinen Artgenossen, dann müsste ich mir keine Gedanken darüber machen, ob der Wolf meine Reaktion bemerkte und als Schwachpunkt sah.

„Verschwindet!“, fauchte ich Tristan an, der sich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht aufrappelte. Wie schön, dass sich wenigstens einer hier amüsierte. Es sprach doch nichts gegen ein bisschen Spaß, indem man eine Vampirin auf die Schippe nahm, nicht wahr?

„Du bist wirklich interessant, Becca“, sagte der Wolf, sichtlich amüsiert über meine Reaktion.

Ich unterdrückte einen Fluch. Er hatte mich überrumpelt, das war alles. Es würde nie wieder vorkommen und sollte er es doch versuchen, würde er Bekanntschaft mit meinen Fangzähnen machen. „Es wäre klüger wenn Ihr verschwindet.“

„Eine Frage noch“, bat Tristan mit schief gelegtem Kopf. „Warum hast du die Kinder am Leben gelassen? Ihr Vampire seid nicht gerade Heilige.“

Diese Frage war leicht zu beantworten. „Es ist meine Aufgabe die Grenze zu schützen. Nicht mehr und nicht weniger.“

„Das beantwortet nicht meine Frage.“

„Eine bessere werdet Ihr auch nicht bekommen.“ Das schien er mir zu glauben, denn er zwinkerte mir noch ein letztes Mal zu, ehe er auf die Knie fiel und begann sich zu verwandeln. Nur wenige Vampire – ich hatte bis heute Nacht nicht dazu gehört – hatten jemals die Verwandlung in einen Werwolf miterlebt, doch den Gerüchten nach musste es sehr schmerzvoll sein.

Ich konnte seine Knochen brechen und seinen Kiefer knacken hören, als sich sein Körper veränderte, größer wurde. Ein leicht bläulicher Schimmer lag auf seiner Haut, und einige Sekunden später auf seinem goldbraunen Fell, von dem ich nicht wusste ob es vielleicht nur an dem Vollmond lag, der uns heute Nacht Gesellschaft leistete.

Tristans Beine wurden länger, ebenso seine Arme, aus denen Furcht erregende Klauen wuchsen. Sein breiter Rücken krümmte sich leicht und sein Kopf nahm die Gestalt eines riesigen Wolfes an.

Ohne dass ich es richtig mitbekommen hatte, hielt ich plötzlich meine beiden Messer in den Händen. Mir wurde bewusst, dass meine Bereitschaft ihn in dieser Gestalt zu töten um einiges größer war, sollte es zu einem Handgemenge kommen. Mit einem Schuss könnte ich unter Umständen sogar sein Herz treffen, fragte sich nur, ob das Silber ihn schnell genug hinwegraffen würde, bevor er sich das Messer wieder herausziehen konnte.

Bevor ich meinen endgültigen Entschluss fassen konnte, blinzelte mich der Wolf, dessen Augen zu menschlich für mich wirkten, mit herausgestreckter Zunge an, gab ein kurzes Jaulen von sich und verschwand hinter dem schützenden Schleier der Dunkelheit.

In den ersten Minuten konnte ich nicht anders als ihm hinterher zu starren und zu hoffen das es weder eine Falle war, noch das er versuchte Verstärkung zu holen. Nichts geschah, und erst dann ließ ich meine Waffen wieder sinken und schlenderte zur Mauer begab, um mich meinen Amok laufenden Gedanken hinzugeben.

Ich hatte mich gerade mit einem Werwolf unterhalten, ohne dass wir uns gegenseitig an die Kehle gegangen waren. Eine merkwürdige Nacht.

Und wie es aussah war sie noch nicht vorbei.

Etwa zwei Stunden später hörte ich wieder das tiefe Grollen eines Werwolfs, die sich in letzter Zeit viel zu oft in meine Nähe trauten. Es war nicht Tristan, dass erkannte ich bereits an dem beißendem Geruch von totem Fleisch, der mir ins Gesicht wehte. Dieser Wolf hatte gerade Vampire getötet. Ich hoffte nur, es war niemand von den anderen Grenzen, die von wesentlich mehr Vampiren bewacht wurden, was aber nicht hieß, dass sie auch stärker waren.

Ich stellte eine Ausnahme dar. Schnell, stark, Kriegserfahren und sehr, sehr schwer zu töten.

Mit meiner eingerollten Peitsche in der Hand schlich ich mich in den finsteren Wald, der jegliches Licht verschluckte und gab mein Bestes zwischen Schatten und Bäumen zu unterscheiden, während ich gleichzeitig versuchte diesen nächtlichen Besucher zu erspähen.

Hinter mir zerbrach ein Zweig, ein warmer Atemhauch strich über meinen Nacken. Ich wirbelte herum und wollte auf das pelzige Monster einschlagen, doch da war nichts außer Luft.

Dann ließ das sanfte Rascheln von Blättern meinen Kopf nach rechts zucken und diesmal sah ich ihn. Glühende türkisfarbene Augen die mich aus einem massigen Körper mit langer Schnauze anstarrten. Mit seinem schwarzen Fell tarnte er sich perfekt in der Finsternis, wurde zu einem einzigen großen Schatten, der die Ausmaße eines ausgewachsenen Hengstes hatte. Jedoch mit einem Maul, das meinen Schädel ohne große Anstrengung wie eine Walnuss aufknacken könnte.

Ohne auf eine weitere Beschreibung einzugehen, warf ich die Peitsche weg – die bei einem so riesigen Wolf ohnehin nutzlos gewesen wäre – und griff sofort zu den Messern, die ich gezielt nach ihm schleuderte.

Trotz seiner Größe schaffte er es dennoch auszuweichen, duckte sich und sprang im nächsten Augenblick auf mich zu, erwischte jedoch nur den Baum als ich mir zur Seite rollen ließ. Seine monströsen Krallen hinterließen tiefe Furchen im Holz.

Er war schnell, als er mit seinen vielen Fangzähnen nach mir schnappte, aber ich war schneller. Mit dem Fuß verpasste ich ihm einen Tritt gegen den Unterkiefer, der seinen Kopf nach oben schnellen ließ, was ihn aber nicht lange aufhielt und mir keine Gelegenheit gab auszuweichen, als er diesmal einen Hieb mit seinen Krallen verpasste.

Ich schrie nicht, da sich die tiefen Wunden beinahe sofort wieder verschlossen. Ich hatte schon Schlimmeres durchgestanden, auch wenn diese Kratzer wie die Hölle brannten.

Ich stieß mich von einem Baumstamm ab, um nach dem Schwung aufwärts, auf seinen haarigen Rücken zu springen. Der Werwolf brüllte so laut, dass es mir durch Knochen und Mark ging, als ich mit rot gewordenen Augen meine tödlichen Fangzähne in seinen dicken Hals stoßen wollte, um mit einem sauberen Biss seine Herzarterie zu trennen.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass sich das Biest auf den Rücken fallen ließ und mir mit seinem Gewicht sicher einige Rippen und einen Teil der Wirbelsäule brach, ganz zu schweigen von den Quetschungen an meiner Lunge.

Ich keuchte und versuchte mich von diesem Rückschlag nicht behindern zu lassen, aber nach meiner schnellen Genesung bemerkte er trotzdem, dass ich um einiges langsamer geworden war. Wenn ich nicht besser aufpasste, könnte das mein Todesurteil bedeuten.

Ich fauchte und sprang in Richtung der Dolche, die nach seinem Ausweichmanöver in einem Baumstamm feststeckten, doch ich schaffte es nur ein einziges Messer herausziehen, bevor der schwarze Werwolf mich von der Seite erwischte und zu Boden riss. Mein Kopf schlug auf einer dicken, hervorstehenden Wurzel auf und nach einem kurzen Knacke-Laut setzte der Schwindel ein, der mich für die Zeit außer Gefecht setzte, die der Werwolf brauchte um meine Arme mit seinen Teller großen Tatzen bewegungsunfähig zu machen. Ich blinzelte den Schmerz fort, der meine Wirbelsäule hinab schoss und versuchte mich gegen die Bestie zu stemmen, was seine Krallen nur noch tiefer in mein Fleisch trieb.

Ein selten gespürter Druck legte sich auf meine Brust und ich glaube ich war einfach zu stolz, um mir einzugestehen, dass es sich dabei wohl um Angst handelte.

Er war zu stark. So stark, wie ich es vorher noch nie bei einem Werwolf erlebt hatte. Ich würde sterben.

Diese Vorstellung packte mich mit solch erstaunlicher Gleichgültigkeit, dass ich einige Sekunden brauchte, um zu realisieren wie der Wolf keine Anstalten machte mir die Kehle durchzubeißen und mich stattdessen musterte, als wäre ich ein festgenagelter Schmetterling.

Für einen kurzen Moment war ich vollkommen gefangen von diesem Anblick tödlicher Schönheit. Die Kaltblütigkeit, die sich in seinen türkisen Augen wiederspiegelte. Der reine Duft von Schnee, der an ihm haftete.

Der Kopf des Werwolfes kam näher und ich spannte mich an, erwartete den Schmerz sobald er meine Kehle zerfetzte, doch seine kalte Schnauze drückte sich lediglich gegen mein Schlüsselbein und atmete tief ein. Sein Fell stellte sich auf, er schloss die Augen und ein Schütteln ging durch seinen Körper.

Ich packte die Ablenkung beim Schopf, befreite meine linke Hand – natürlich nicht ohne erheblichen Schaden davonzutragen –, umfasste mit blutigen Fingern den Dolch, der neben mir gelandet war und trieb ihn tief in die Brust meines Angreifers.

Der Werwolf knurrte, so dass ich einen herrlichen Blick auf seine fingerlangen Fangzähne hatte und mir ziemlich sicher war, mein Schicksal besiegelt zu haben, doch zu meiner endlosen Überraschung ließ er von mir ab und verschwand in den Schatten des Dickichts genauso schnell wie er gekommen war.

Ich blieb auf dem kalten Boden liegen und versuchte zu begreifen, warum ich noch immer am Leben war, bis ich das bekannte Kribbeln auf meiner Haut spürte, das den Sonnenaufgang ankündigte. Ich erhob mich schwerfällig und ging zurück zum Schloss.

Auf halbem Weg murmelte ich: „Er hat meinen Dolch mitgenommen. Den will ich wieder.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Rapsody
2013-09-09T21:43:05+00:00 09.09.2013 23:43
Ehrlich gesagt bin ich sprachlos. Wer in Gottes Namen ist denn der große Wolf? Ich bin gerade überfordert von soviel Spannung.
Tut mir Leid, ich muss erstmal weiterlesen.

LLG
Von:  Enyxis
2013-06-21T18:44:26+00:00 21.06.2013 20:44
Es war wirklich spannend *Q* Der Kampf war total toll!
Ich liebe Rebecca! xD Sie ist so cool. Tristan ist ziemlich interessant ^^ Und Evelyn ist gruselig X__X Sie ist noch schlimmer als Claudia aus "Interview mit einem Vampir"... Vampire, die eigentlich Kinder sind, sind irgendwie immer gruselig kann das sein? Aber du beschreibst sie wirklich, wirklich gut!

lg
Enyxis
Von:  blacksun2
2012-02-13T15:03:04+00:00 13.02.2012 16:03
wow, das am Ende vom Kapitel war nicht nur neu für mich, sondern auch spannend
so wird das Wort diesmal: SPANNEND

den Kampf hast du super gut beschrieben, so gut, dass ich es wie ein Film vor mir hatte

glg
blacksun


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