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Fortschritts Folgen

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Fortschritts Folgen

Fortschritts Folgen
 

Autor: Salix
 

Mit einem lauten Krachen fiel die Autotür hinter Murtagh zu. Eigentlich hatte er Besseres zu tun als hier zu sein, aber am Montag musste er dem Anwalt seine Antwort geben, ob er sein Erbe annähme oder nicht. Dafür wollte er sein Erbe zumindest einmal gesehen haben.

Also war er, anstatt in seinem Büro seiner Tuchfabrik in Glasgow zu sitzen, den ganzen Tag durchs Hochland gezuckelt. Er hatte mehr Schafe gesehen, gehört und wegen dieser warten müssen, als er ertragen konnte, weswegen er die Ruhe für den Moment genoss.

Genaugenommen wünschte er sich wirklich zurück in sein lautes Büro nahe der Weberei, wo er das Klappern, der durch eine Dampfmaschine betriebenen, Webstühle hören konnte, doch nun war er hier, also würde er auch tun, weswegen er hergekommen war.

Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch sein rotes Haar, starrte ins Tal vor ihm und beschloss zu Fuß weiterzugehen.

Er wollte seinem Wagen dieses mehr aus Schlaglöchern als aus Straße bestehende Etwas, das ins Tal hinunter führte, nicht antun.

Über ihm kreischte ein Raubvogel, dessen Art er nicht bestimmen konnte. Langsam, den mit Wasser gefüllten Schlaglöchern ausweichend, schritt er ins Tal hinab.

Es dämmerte schon, aber als viel beschäftigter Fabrikbesitzer war es nicht so einfach Zeit zu finden, um das Land, welches er von seinem Großonkel geerbt hatte, zu besichtigen. Er würde wohl hier übernachten müssen. Falls er im Herrenhaus kein Quartier fand, könnte er sicher im Dorf unterkommen.

Er seufzte erneut, während seine Gedanken zu seiner Arbeit zurückwanderten. Erst neulich war dieser seltsame Verein bei ihm vorbeigekommen, der doch tatsächlich die Arbeiterkinder zur Schule schicken wollte. Wozu bitte brauchten die Bildung, wenn sie später eh zwölf Stunden am Tag in den Fabriken vor den Maschinen verbringen würden?

Außerdem hatte sich sein Vorarbeiter darüber beschwert, dass er schon wieder einen der Jungen, welche die gerissenen Kettfäden verknoteten, ersetzen musste, weil der mit der Hand in den Webstuhl gekommen war. War der Bursche eben nicht schnell genug gewesen. Einen Krüppel, dem die Finger fehlten, konnte er in seiner Fabrik nicht brauchen! Es fand sich sicherlich rasch ein neues Kind, das dessen Stelle einnahm. Sollte der Faulpelz zusehen, wie er nun ohne Arbeit zurecht kam. Es gab schließlich genug Kinder, die froh über diesen Job waren. Wer nicht mehr zum Arbeiten taugte, flog eben.

Fluchend zog Murtagh seinen Fuß aus einem Schlagloch. Jetzt war sein Wildlederschuh ruiniert und die feine Wollhose mit Schlamm bespritzt!

Nachdenken war auf dieser Straße nicht sehr sinnvoll, dazu war sie zu kaputt. Der eisige Wind ließ ihn schaudern. Er freute sich schon auf einen heißen Tee im Dorfpub, falls die dort Tee hatten. Er befand sich hier schließlich im tiefsten schottischen Hochland!

Glucksendes Plätschern, erinnerte ihn daran, dass ein Bach in der Nähe floss. Sein Blick schweifte über den mit Erika und Heide bewachsenen Hang, bis er den silbrigen Schimmer des Baches ausmachen konnte. Der Bach schlängelte sich wie ein glänzendes Band ins Tal hinunter. Weiter unten floss er ein Stück weit neben der Straße längs.

Rasch schritt Murtagh darauf zu, kniete sich nieder und bemühte sich mit dem kalten Wasser den Schlamm von seiner Hose zu entfernen, wodurch er ihn nur tiefer in den Wollstoff rieb.

Einige Blätter und Äste trieben vorbei. Murtagh glaubte, er könne er die Rindenboote vergangener Tage vorbei schwimmen sehen. Einfache Boote, welche er mit ein paar Dorfjungen gebastelt hatte, als er einen Sommer hier verbringen durfte. Sie hatten trockene Rinde genommen, ein Loch für den Mast hineingebohrt, wobei man nicht zu tief bohren durfte, und große Blätter als Segel benutzt. Fast konnte er die verzweifelt rufende Stimme seiner Gouvernante hören, der er für diesen einen herrlichen Nachmittag entkommen war.

Er zog die zitternden Hände aus dem Wasser und rieb sie mit seinem Stofftaschentuch trocken, dann schlug er den Mantelkragen hoch. Wenn er noch länger müßig auf den Bach starrte, war er bald völlig vom kalten Wind ausgekühlt.

Murtagh erhob sich und strebte nun raschen Schrittes auf das Dorf zu. Keinerlei Rauch trübte den Himmel, ein Luxus, welchen er von Glasgow nicht kannte, war dort der Himmel doch täglich durch den Kaminrauch der Wohnhäuser und Fabriken verdunkelt.

Kurz fragte er sich, ob er das Läuten zur Abendmesse einfach nicht gehört hatte, so in Gedanken versunken wie er gewesen war, schließlich müsste es um die Zeit der Abendmesse herum sein. Er schüttelte den Kopf und betrat die Hauptstraße, welche in keinem besseren Zustand war als die Zufahrtsstraße.

Das Schild des Pubs quietschte im Wind. Irgendwo schlug ein hölzerner Fensterlagen gegen den Rahmen.

Nirgendwo schimmerte Licht in den Fenstern, obwohl es langsam wirklich schwer wurde etwas zu erkennen.

Die Tür des Gasthauses stand offen und knarrte. Auch hier gab es kein Licht.

„Hallo, ist hier jemand?“, rief Murtagh. Der Klang seiner Stimme drang klar und weit durch die Stille.

Nichts rührte sich, niemand antwortete ihm.

Er spähte durch die offene Tür in den Pub. Trockene Blätter waren in das leere Haus geweht. Spinnweben überzogen die letzten vereinzelten Flaschen auf dem schiefen Regal über dem Tresen. Durch die zerbrochenen Scheiben pfiff der Herbstwind eine schaurige Melodie.

Murtagh trat zurück und lauschte.

Nichts. Keine Stimmen, noch nicht einmal das Blöken eines dieser lästigen Schafe war zu vernehmen, nur der klappernde Fensterladen.

Er stopfte seine kalten Hände in die Tasche seines Wollmantels und sah sich um.

Zerbrochene Scheiben, schief hängende Läden und zusammengesackte Dächer, zeugte davon, dass die Häuser hier schon lange nicht mehr bewohnt waren.

Murtagh stolperte durch das Dorf Richtung Herrensitz. Eigentlich müsste aus den Fenster dort Licht zu ihm vordringen, doch dort war nur der Umriss eines großen verwinkelten Hauses auszumachen.

Auf halben Weg zum Herrenhaus hinauf blieb Murtagh stehen. Der inzwischen aufgegangene Vollmond, beleuchtete die Ruine des Herrensitzes vor ihm. Er drehte sich um und blickte zum Geisterdorf zurück.

Wann war er zuletzt hier gewesen?

Vor über zwanzig Jahren. Er erinnerte sich daran, dass die Dorfkinder auf der Straße gespielt hatten. Die Frauen hatten vor den Häusern gesessen und die Wolle gesponnen, welche sie dann in Heimarbeit gewebt hatten. Das Tal war voller Leben gewesen, voller Lachen und Freude, nun war es verlassen.

Es gab dieses Dorf seiner Erinnerung nicht mehr.

Die Leute waren fortgegangen, in die Städte, in die Fabriken, wie er eine besaß, oder sie hatten ihr Glück jenseits des Ozeans in der Neuen Welt gesucht.

Murtagh schluckte, er hatte auf seiner Fahrt schon andere solcher Täler und Dörfer passiert. Eine heftige Böe eisigen Winds warf ihm Staub und tote Blätter ins Gesicht. Zwinkernd wischte er sich diese vom Mantel. Seine Schultern sanken hinab. Er wanderte langsam zurück zu seinem Wagen. Hier würde er keine Unterkunft für die Nacht finden, wie es aussah.

Jedes Rascheln, Klappern oder Rattern ließ ihn zusammenzucken und aufschauen, ob nicht doch jemand hier war.

Er hatte sich noch nie so sehr nach einem anderen Menschen gesehnt wie jetzt, doch er war allein.

Er ging einsam durch sein Erbe, ein leeres Tal ohne Zukunft, Dank des technischen Fortschritts, zu dessen Förderern er selbst zählte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  nufan2039
2012-03-07T20:54:55+00:00 07.03.2012 21:54
wirklich gut geschrieben, aber das kenn ich ja net anders von dir! :) Klasse Stil!
Von: Futuhiro
2011-12-01T19:33:15+00:00 01.12.2011 20:33
Wouw, sehr anspruchsvoll geschrieben. Mitnehmend, als ob man selber durch das Dorf laufen würde. Hat was dramatisches ... nein, eher tragisches. Also mir gefällt es super. Toller Schreibstil.
(Auch wenn ich das Lied nicht kenne, auf dem die Story basiert ^^)


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