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Alles ist erleuchtet

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Alles ist erleuchtet


 

~*~*~

Alles ist erleuchtet

~ Everything Is Illuminated ~
 

Er zählte die Regentropfen, während er sich missmutig an die Wand lehnte. Er hasste die Nässe. Er hasste das Warten.
 

"Sie ist zu spät", murmelte er und zündete sich eine Zigarette an. "Mal wieder."
 

Die anderen drei, dicht zusammengedrängt unter Regenschirmen und dem schmalen Vordach, unter dem er sich zuvor ins Trockene geflüchtet hatte, ignorierten ihn. Es war jedoch auch möglich, dass sie ihn nicht gehört hatten. Die einzigen Geräusche waren das Prasseln des Regens, die fernen Autos und das flickernde Geräusch der defekten Straßenlampe. Das Licht flackerte und tauchte die vier immer wieder in Dunkelheit. Wie bezeichnend.
 

"Statt herumzustehen und nichts zu tun... was habt ihr gefunden?", fragte Havelock schließlich mit einem kurzen Blick auf ein Notizbuch, das wie per Zauber in seiner Hand erschienen war. "Sev'rance, was hast du?"
 

Der Angesprochene schnaubte und warf die Zigarette achtlos weg. Sie erlosch in der Dunkelheit. "Ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst mich nicht so nennen. Wenn ich offiziell oder öffentlich unterwegs bin, heißt es Sherlock. Nicht Sev'rance. Ich bin ein ganz normaler Bürger."
 

"Wie du meinst." Havelock ignorierte den Tadel und hob abwartend eine Augenbraue. "Dann eben: Sherlock Lupin, was hast du?"
 

Sherlock oder Sev'rance warf ihm noch einen vernichtenden Blick zu, bevor er sich wieder an die Mauer lehnte und begann, seine Ergebnisse vorzustellen. Oder das, was Ergebnisse wären, wäre es in irgendeiner Art und Weise brauchbar. Andererseits, was hatte man von ihm erwartet? Er war nicht sein Bruder, der immer alles richtig machte.
 

"Nichts", sagte er simpel. "Der Kerl hat vor grob gesagt fünf Jahren das letzte Mal ein Buch ausgeliehen - hab die ganzen Datenbanken durchsucht, und ich habe Frau Bibliotheksdrachen gefragt, nichts. Nada. Nur dieses komische Buch vor fünf Jahren, dass er praktisch ungelesen zurückgegeben hat." Sherlock dachte nach. "Ich glaube, ja, es hieß 'Extrem laut und unglaublich nah', von diesem Foer. Hab nur kurz die Beschreibung überflogen, nichts, was mit unserem Fall hier zu tun haben könnte."
 

"Kurz, du hast nichts von Interesse", sagte Cassandra seufzend. "Wie so ziemlich immer, wenn ich das mal anmerken darf. Ich weiß nicht, was der Job als Bibliothekar nutzen soll, wenn wir eine Detektei sind..."
 

Sherlock schnaubte und ignorierte sie gekonnt. Im Laufe der Zeit hatte er diese Kunst verperfektioniert. Nach ständigem Genörgel war es auch dringend notwendig. Tatsächlich war der Job nicht sehr hilfreich, aber wenn sie mal fachkundige Informationen brauchten, über was auch immer, kam er am leichtesten und am schnellsten daran. Vor allem, da die Informationen stichhaltiger waren als irgendwelche Internetrecherchen - wenn es um glaubwürdige Details ging, war die richtige Literatur immer noch der beste Hinweis. Vor allem, wenn die Bibliothek zusätzlich dazu recherchefreundlich digitalisiert war. Aber Cassandra war sowieso immer missgelaunt. Sherlock beobachtete ein Auto, das in die Straße einbog. Die Scheinwerfer erleuchteten die Gruppe kurz, dann war der Wagen vorbei und die Straße war wieder dunkel.
 

"Schön, er ist kein großer Leser", sagte Havelock und lenkte das Thema zurück. "Weiter - Cassandra, was hast du?"
 

"Ein Pausengespräch", sagte sie knapp. "Ein Kollege meinte, dass ihm der Typ beinahe leid täte, weil der wochenlang nur Mahnungen oder so was bekommen hat. Ist nicht mein Bezirk, deshalb kann ich das nicht verifizieren, und du weißt schon, Postgeheimnis und so, da weiß ich also auch nichts genaueres, aber offensichtlich hatte der Typ einige Schulden. Ist jetzt aber Geschichte, seit knapp einem Monat ist da nichts mehr."
 

Postbote war genauso nutzlos wie Bibliothekar in den meisten Fällen. Sherlock wusste wirklich nicht, warum es immer er war, der die dummen Kommentare abbekam. Überhaupt, der einzige, der einen nützlichen Job hatte, war Havelock, und das war auch nur, weil die Detektei unter irgendeinem Namen laufen musste. Wobei er die Detektei nicht einmal richtig unter seinem Namen laufen ließ - nur im Register. Der Name der Detektei war, so einfallslos wie Havelock bei so etwas nun einmal war, 'SHADE', weil es ihren Namen entsprach... so was von Klischee. Jonathan war ein Bankangestellter - seine Informationen waren dementsprechend nur in bestimmten Fällen von Nutzen - und Jepedina war Verkäuferin. Das war nur praktisch, wenn es um Gerüchte und Klatsch und Tratsch ging. Da es also nicht an ihren momentanen Beschäftigungen liegen konnte, musste es etwas mit seinem früheren Beruf zu tun haben. Die Leute waren wirklich nachtragend heutzutage.
 

"Ein lesefeindlicher Schuldner, der im Lotto gewonnen hat?", fragte Jonathan milde.
 

Havelock schüttelte den Kopf. "Das habe ich schon geprüft. War in der Anwaltskanzlei meines früheren Kollegen. Habe natürlich keine Auskunft bekommen, aber man hat durchblicken lassen, dass er weder eine höhere Geldsumme gewonnen hat, noch ein wirklich redlicher Bürger ist. Scheinbar war er in irgendwelche Diebstahldelikte verwickelt, die ihm keiner nachweisen konnte." Er machte eine Notiz in seinem Buch. "Ich werde da noch mal genauer nachforschen..."
 

Ein leises Lachen unterbrach ihn. "Scheint die Diebstahlsaison zu sein." Sherlock grinste - endlich war seine frühere Profession mal von Nutzen beim Informationeneinholen.
 

"Sag bloß?" Cassandra sah ihn milde erstaunt an. "Hast du auch mal etwas Nützliches beizutragen oder unterbrichst du uns nur so zum Spaß?"
 

Er ignorierte sie, einmal mehr, und sah seinen älteren Bruder an. "Du weißt, dass ich noch immer Kontakte mit den... zwielichtigeren Kreisen habe, Havel? Rate mal, was momentan da so los ist. Ein ziemlicher Aufruhr wegen einem gestohlenen Bild - ich war es nicht, Andra! - und was für eins! Hast sicher schon davon gehört, 'Tausend Strahlende Sonnen', von diesem Alois de Kishehn..."
 

"Und das sagt uns was?" Unterbrach Havelock unbeeindruckt. "Ich weiß, dass du immer sehr interessiert bist, wenn irgendwo Kunstwerke gestohlen werden, und natürlich ist beides Diebstahl, aber das hat keinerlei Zusammenhang mit unserem Fall, Sev'rance."
 

Sherlock schwieg mit säuerlicher Miene und starrte angestrengt in eine andere Richtung - genauer gesagt auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Der Kerl, über den sie hier so fröhlich diskutierten, hatte gerade das Licht in dem Zimmer ausgeschaltet. Ein anderes Licht ging an. Sherlock seufzte. Immer noch keine Hoffnung darauf, bald nach Hause zu kommen. Nicht, dass es wahrscheinlich war, wenn Havelock mit von der Partie war. Er würde hier noch herumstehen, wenn eine neue Eiszeit hereinbrach, wenn sie nicht darauf bestanden zu gehen. Wobei 'sie' ihn selbst ausschloss, den er wusste nur zu genau, dass, wenn er fragte, ob sie gehen könnten, sie erst recht die ganze Nacht hier standen. Er kannte seine Pappenheimer. Leider.
 

So in Gedanken hatte er die Hälfte von Jonathans Bericht verpasst. "...hohe Schulden, aber plötzlich konnte er alles zurückzahlen, mit Zins und Zinseszins. Ich habe den Betrag geprüft. Normal ist es nicht, aber den anderen war es nicht unnormal genug, als dass sie da näher nachgeforscht hätten."
 

Er zeigte ihnen eine Notiz, wo eine Zahl mit vielen Nullen notiert war. Sherlock griff danach und betrachtete die Zahl nachdenklich. Die Höhe des Betrags war nichts erstaunliches für ihn, er hatte viel mit solchen Größenordnungen zu tun gehabt. Nicht in der numerisierten Variante, aber dennoch war er nicht so beeindruckt wie die anderen. Oder die anderen außer Havelock, der nie zeigte, dass er beeindruckt war, was nur zwei Personen übrig ließ. Die Auswahl ließ deutlich zu wünschen übrig.
 

"Und, was schließst du daraus, Herr Oberschlau?", fragte Cassandra bissig.
 

Sherlock sah sie an und reichte die Notiz an Havelock zurück, der sie ordentlich im Notizbuch verstaute. "Dass man durch den Verkauf von bestimmten Bildern auf dem Schwarzmarkt den Betrag reinbekommen könnte."
 

Cassandra schnaubte verächtlich. "Oh, natürlich. Wir wissen ja alle, dass bei dir jeder, der in einer finanziellen Misere steckt, sofort zum Kunstdieb wird. Wie konnten wir das nur übersehen?"
 

"Hört auf damit", sagte Havelock in einem gleichgültigen Tonfall. "Hinz und Kunz können nicht einfach irgendwelche Kunstwerke stehlen. In dem Punkt sollten wir Sev-, ah, ich meine natürlich, Sherlock, ein wenig Respekt zollen, weil er dazu in der Lage ist."
 

"Das klingt weniger wie ein Kompliment denn wie eine Beleidigung", brummte Sherlock und ignorierte die anderen mürrisch. Mal wieder. Es war bereits eine Gewohnheit.
 

Nach dem ersten Informationsaustausch senkte sich Schweigen über sie herab. Alles in allem hatte es nicht viel gebracht. Sie wussten, dass es ein zwielichtiger Typ war, dass er Schulden gehabt hatte und dass er nicht viel las. Zumindest keine Bücher aus der Stadtbibliothek. Und natürlich dachte Sherlock, dass es ein Kunstdieb war, weil alle Kunstdiebe waren. Das waren die Worte, die Cassandra benutzen würde. Zwar hatte Havelock recht, dass es nicht einfach war, aber Sherlock behauptete auch nicht, dass es ein guter Kunstdieb war. Vielleicht war er wirklich ein wenig einseitig, aber wenn man lange Zeit tagtäglich mit Dieben zu tun hatte, war es eigentlich nicht sonderlich verwunderlich. Sherlock seufzte und beobachtete gelangweilt, wie das Regenwasser in den tiefen schwarzen Abgrund des Gullis floss. Nicht, dass es einen Unterschied in dieser Szenerie machte. Alles war dunkel.
 

"Langsam ist es wirklich spät", merkte Jonathan an. "Sie könnte wirklich bald mal kommen."
 

"Sonst kommt der Bus vor ihr." Cassandra warf einen kurzen Blick zum Haltestellenschild - es war in der Dunkelheit nur als graue Fläche zu erkennen. "Unsere Tarnung würde auffliegen."
 

Sherlock schnaubte. "Oh, ja, es ist so unauffällig in einer dunklen Nebenstraße im Regen zu stehen, vor allem um diese Uhrzeit!"
 

Im Prinzip war die Idee nicht schlecht gewesen. Leute, die auf den Bus warteten, waren vollkommen unauffällig. Wenn sie sich umsahen, war es aus Langeweile. Wenn sie sich nicht bewegten, war es, weil sie warteten. Nur wartete keiner geschlagene drei Stunden auf einen Bus. Nicht im strömenden Regen. Im Sonnenschein vielleicht, aber nicht bei diesem Wetter. Man könnte sagen, der Plan war gut, aber nicht die Ausführung. Sherlock wunderte sich darüber, denn normalerweise plante Havelock und seine Pläne waren praktisch unfehlbar - abgesehen von kleineren Murphischen Pannen. Aber das war keine Panne mehr. Ob Havelock krank war? Sherlock neigte sich ein wenig zu Jonathan rüber.
 

"Sag mal, Earl, weißt du, ob was mit Havelock nicht stimmt?"
 

"Nein. Er ist dein Bruder", sagte Jonathan unbekümmert. "Und ich weiß immer noch nicht, wieso mein Spitzname 'Earl' sein muss. Du meckerst ständig, dass du nicht Sev'rance genannt werden willst, aber wenn ich mich beschwere, ignorieren es alle. Ich finde den Namen nicht witzig."
 

Sherlock verzog das Gesicht. "Ich will nicht, dass man mich Sev'rance nennt, weill das mein Deckname ist und ich unter dem Namen immer noch bei der Polizei auf der Gesuchtenliste stehe... und Earl Grey passt einfach zu dir. Ich meine, du heißt Grey, du trinkst Earl Grey und dein Auto ist auch grau!" Er sah zur Seite. "Außerdem hab ich mir das nicht ausgedacht, Jonathan..."
 

Angesprochener nickte knapp und sie schwiegen wieder. Sherlock langweilte sich. Da wartete man und hatte Gesellschaft, aber niemand redete mit einem. Wenn man wenigstens im alten, gemütlichen Golf sitzen könnte, am besten mit einem kleinen Streit darüber, wessen Musik man hörte... - wobei Jonathan mehrfach darauf hinweisen würde, dass es sein Auto und damit auch sein Radio war und sie deshalb seine Musik hören würde, aber Havelock jedes Mal gewann... Sherlock seufzte. Aber nein, Havelock hatte sich ausgerechnet den regnerischsten Tag des gesamten Monats ausgesucht, um seinen Bushaltestellenplan in die Tat unzusetzen.
 

"Hey, Leute!"
 

Sherlock sah auf. Jepedina rannte winkend durch den Regen. Wasser spritzte, als sie durch die Pfützen sprang. Schwer atmend kam sie neben ihnen zum Stehen, ein breites Grinsen im Gesicht. Havelock hob eine Augenbraue.
 

"Wo in drei Teufels Namen warst du, Dina?" Cassandra stemmte die Hände in die Hüften. "Ich habe mir Sorgen gemacht!"
 

"Ach was, Papperlapapp!" Jepedina winkte ab. "Ich wurde von der Polizei aufgehalten -"
 

Havelock war sofort alarmiert. "Polizei?"
 

Es war erstaunlich, befand Sherlock, wie besorgt die anderen waren, wenn es um die Polizei ging, und er selbst, der einzige, der etwas von der Polizei zu befürchten hatte, war vollkommen entspannt. Andererseits, wenn er sich zu viele Sorgen machen würde, wäre er dauerhaft beunruhigt. Immerhin war Jepedina Ex-Polizistin. Ein Grund mehr, weshalb Havelocks Besorgnis lächerlich war. Sherlock bemerkte den Blick seines Bruders nicht. Jepedina lachte.
 

"Keine Bange, Leute", sagte sie mit einem Grinsen. "Der Laden wurde überfallen, deshalb die Polizei."
 

"Sehr beruhigend", murmelte Jonathan kopfschüttelnd.
 

Sherlock grinste mit Jepedina um die Wette. Noch eine Diebstahlrelation. Es war wirklich Diebstahlsaison. Egal, was Cassandra und Havelock sagten, er hatte zumindest insofern recht, dass es irgendwo immer einen Bezug dazu gab. Fast alle Fälle waren Diebstähle. Die einen mehr, die anderen weniger. Selbst Mord war ein Diebstahl im weiteren Sinne - man stahl das Leben - also war es doch akzeptabel, wenn man von vorneherein davon ausging, dass es sich um einen Dieb handelte, oder?
 

Jepedina lehnte sich neben Sherlock an die Wand und winkte mit der Hand. "Macht euch keine Gedanken. Als ob ein Überfall glücken könnte, wenn ich direkt vor Ort bin - ich war mal Polizistin, ich bin nicht blöd. Der Typ, der das versucht hat, der war vielleicht ein wenig stupide, aber na ja. Jedenfalls, wir haben den überwältigt, Polizei war da und ich hab mit den alten Kollegen geredet."
 

"Hoffentlich nicht über mich", murmelte Sherlock unernst.
 

Sie schlug ihm lachend auf die Schulter. "Ach, Sherley, ich würde doch nicht meinen Freund verpfeifen!"
 

"Meinst du jetzt Freund oder 'Freund'?", fragte Sherlock, die Namensverstümmelung ignorierend. "Ich hätte da gerne Klarheit, bevor ich einen Kommentar dazu abgebe."
 

Jepedina lachte nur und winkte ab.
 

"Was hast du also herausgefunden?", fragte Havelock. "Du hast mit deinen Kollegen geredet?"
 

Sie nickte. "Hauptsächlich über dieses und jenes, den Idioten, der den Überfall versucht hat, einige Diebstähle..." Sie sah aus den Augenwinkeln zu Sherlock. "Hauptsächlich Kunstgegenstände. Und natürlich dieser ganz große Fisch, die Tausend Strahlenden Sonnen. Hat für großen Aufruhr gesorgt, aber sie haben bereits einen Kreis der Verdächtigen. Sherley ist nicht dabei, aber das war auch zu erwarten, gell? Es gab schließlich genug Spuren und Hinweise." Sie lächelte. "Unser Mann gehört übrigens grob genommen dazu, also zu den Verdächtigen."
 

Sherlock grinste triumphierend ob ihrer Worte. Er hatte recht gehabt! Es war vielleicht Zufall, mehr so, da seine Vermutungen nicht mal auf Luft basiert hatten, aber solche Kleinigkeiten konnten seinen Triumph nicht schmälern. Es war selten genug, dass er den Sieg errang. Es musste einfach ein Zusammenhang bestehen. Cassandra sah bereits so finster drein.
 

Bevor Sherlock jedoch seinen Sieg auskosten konnte, kam der Bus. Havelock gab ihnen ein unauffälliges Zeichen, dass sie einsteigen sollten. Sie folgten der Aufforderung nur zu gerne, denn aus dem ehemals leichten Schauer war eine wahre Sintflut geworden, mit Blitz und Donner und der ganzen dazugehörigen Szenerie. Im Rinnstein entstand bereits ein neuer Amazonas. Ein Blitz zuckte über den Himmel, als Sherlock einstieg. Er lächelte. Offenbar war selbst für Havelock das Wetter zu schlecht, um weitere Beobachtungen anzustellen.
 

Während ihr Anführer also bezahlte - "Ein 5er-Ticket bis Treacle Mine Road" - gingen die anderen im leeren Bus nach hinten und nahmen einen der Vierer in Besitz. Sie kabbelten sich kurz, wer rückwärts fahren musste, und Jonathan entzog sich dem Konflikt, indem er sich in den Zweier-Sitz hinter dem Vierer setzte. Sherlock grollte. Nicht nur musste er rückwärts waren, was an sich schon schlimm genug war (er glaubte Cassandra kein Wort, dass ihr schlecht würde, wenn sie nicht vorwärts fahren durfte, und mit Jepedina legte er sich grundsätzlich nicht gerne an), nein, er saß auch noch genannter Cassandra von Troja, seiner persönlichen Unglücksunke, gegenüber und Havelock nahm gerade auf seiner anderen Seite Platz. Er war gefangen.
 

"Wir stellen also fest", begann Havelock ohne Präambel und Sherlocks finstere Miene ignorierend, "dass wir praktisch fertig sind mit diesem Fall. Wir brauchen nur noch ein paar Beweise und das war's."
 

Die anderen nickten. Normalerweise wäre gerade das Erbringen von Beweisen das Problem, aber seltsamerweise war ihre Truppe nie besorgt darum. Sherlock fragte sich manchmal, warum. Vielleicht war er hier der Einzige, der sich um solche Dinge wirklich Gedanken machte. Jepedina schien es sich abgewöhnt zu haben.
 

"Kaum zwei Wochen und wir wissen praktisch alles." Cassandra seufzte. "Wir mussten nicht mal Klinkenputzen gehen. Was kriegen wir für diese Zeitverschwendung?"
 

Sherlock schüttelte nur den Kopf, verschränkte die Arme und sah aus dem Fenster. Draußen war es fast vollkommen dunkel, nur die Straßenlampen spendeten hier und da ein wenig Licht. Trostlos. Die gelegentlichen Blitze untermalten die düstere Szenerie nur noch mehr. Sherlock verfolgte gelangweilt den Pfad einzelner Regentropfen auf der Scheibe.
 

"Ich hätte gerne mal wieder einen richtigen Fall", sagte er abwesend.
 

Jepedina hob eine Augenbraue. "Richtig?"
 

"Was interessantes. Mit ein bisschen Spannung. Wo man seinen Kopf braucht. Du weißt schon, richtig eben."
 

"Ah." Havelock nickte. "Wie der Drachenläufer-Fall?"
 

Sherlock grinste. "Na, der Fall hatte den Vorteil, dass es auch noch um ein altes Kunstwerk ging..."
 

Cassandra sah ihn nur an. Sherlock zuckte nur mit den Schultern und blickte wieder nach draußen. Der Drachenläufer. Eigentlich ein falscher Name, denn es war kein Läufer, sondern ein Wandbehang - aber ein sehr berühmter in den gehobenen Kreisen der Kunstkenner. Und Kunstdiebe, selbstverständlich. Sherlock hatte das Kunstwerk gekannt, besser als alle anderen in der Truppe. Es hatte sie alle erstaunt, als Havelock ihn plötzlich mitgebracht hatte. Sherlock erinnerte sich gerne an seinen ersten Fall. Zumindest sein erster Fall auf Ermittlerseite - zuvor war er immer der Täter gewesen, berühmt dafür, nie eine Spur zurückzulassen, nie erwischt zu werden. Offiziell war dieser Rekord ungebrochen - Havelock hatte ihn eher durch Zufall aufgespürt denn durch Hinweise - und Sherlock hatte sich inzwischen aus dem Diebesmetier zurückgezogen.
 

Einen Monat später hatte Havelock vor seiner Tür gestanden. "Kennst du den Drachenläufer von Ahleid Sonkeish?"
 

Sherlock hatte geblinzelt, verwirrt, und genickt. "Natürlich. Ein berühmter Wandteppich, wertvoll, der Traum -"
 

Kaum gesagt und schon hatte Havelock ihn am Arm gepackt, in seine Detektei geschleift, ihn knapp vorgestellt und gesagt: "Der Teppich wurde gestohlen - wieder einmal. Wir sollen ihn finden. Außer bei dem ersten Diebstahl, hier das Foto, haben wir zumindest ein paar Spuren gefunden, aber der erste ist uns ein Rätsel..."
 

Dann hatte er Sherlock Fotos in die Hand gedrückt, vom Teppich (er hatte sie nicht einmal angesehen), von den Tatorten... das Stück war sehr begehrt, denn es fanden sich dreizehn Tatortfotos von genauso vielen Diebstählen wieder. Sherlock hatte ein Lachen unterdrücken müssen. Es war einer der wenigen Augenblicke gewesen, in denen er seinen großen Bruder wirklich überraschen konnte.
 

"Weißt du", fing er an und tippte mit dem Finger auf eines der Bilder, "das war ich." Er schob das Bild vom ersten Diebstahl über den Tisch zu Havelock. "Der Rest, das waren eindeutig Dilettanten. Amateure, und schlechte noch dazu."
 

Damit hatte alles angefangen. Nicht nur ihre Zusammenarbeit, sondern auch die Sticheleien. Havelock hatte ihn zuvor immer für einen kleinen Dieb gehalten, nichts Besonderes, denn er hatte Sherlock nur mit relativ kleiner Beute erwischt. Die Erkenntnis aber, dass Sherlock den Drachenläufer, der von den besten Sicherheitssystemen überwacht wurde, ohne Spuren zu hinterlassen gestohlen hatte... das hatte ihn sprachlos gemacht. Das war der Zeitpunkt gewesen, an dem sie festgestellt hatten, dass er seinen Namen zu Recht trug. Bis heute rätselte Havelock immer noch darüber, wie Sherlock Sev'rance Lupin seine Diebstähle begangen hatte. Sherlock hatte es nie verraten.
 

"...schläfst du?"
 

Er sah verwirrt auf. Alle Augen waren fragend auf ihn gerichtet. "Hn?"
 

"Du warst ein wenig... weggetreten", erklärte Havelock schließlich.
 

"Tatsächlich?" Sherlock fuhr sich durch die Haare. "Tut mir Leid, ich hab nur ein wenig nachgedacht..."
 

Cassandra hob eine Augenbraue. "Er ist krank", stellte sie fest. "Er hat sich doch gerade allen Ernstes entschuldigt!"
 

Er schnaubte und sah wieder stur aus dem Fenster. Vielleicht sollte er froh sein, dass sie kein größeres Theater gemacht hatte, mit übertrieben nach Luft schnappen und allem, aber manchmal fragte er sich wirklich, warum er sich das überhaupt antat. Wieso arbeitete er immer noch mit dieser Gurkentruppe zusammen? Einmal abgesehen vom offensichtlichen Grund der Erpressung, die Havelock mit ihm betrieb. Das war zumindest zu Anfang ein Hauptgrund gewesen, die Gefahr, dass Havelock ihn an die Polizei verpfiff. Zwar gänzlich ohne die stichhaltigen Beweise, aber allein die Tatsache, dass gegen ihn Anklage erhoben würde, war problematisch genug gewesen, so dass Sherlock sich bereit dazu erklärt hatte, mitzumachen. Inzwischen war diese Ausrede irgendwie hinfällig geworden, denn er arbeitete nicht nur für Havelock, er wohnte auch noch mit ihm zusammen. Vielleicht war er wirklich krank.
 

"...als nächstes?", fragte Jepedina gerade spöttisch - das Gespräch war auch ohne Sherlocks geistige Anwesenheit weiterfortgeschritten. "Eine verlorene Katze suchen? Vielleicht sollten wir uns umbenennen, statt 'Detektei SHADE' so was wie 'Fundbüro SCHJJ'..."
 

"Sag das noch mal." Sherlock grinste. "Den Namen des Fundbüros. Du willst also wirklich, dass wir uns einen unaussprechlichen Namen zulegen?"
 

"An dem Namen kann man ja noch feilen!"
 

Jepedina schmollte. Havelock seufzte.
 

"Ich verstehe, dass ihr gelangweilt seid. Ein Fall wie der Drachenläufer fällt aber nicht vom Himmel. Und wir sollten froh sein, dass es nichts Spektakuläres ist."
 

"Oder musikalisch, was?" Cassandra verschränkte die Arme. "Havel hat recht. Eine kleine Schatzsuche wäre natürlich spannender als Beschattungsarbeit, aber wir sollten auch an die andere Alternative denken."
 

Sherlock zog die Brauen zusammen. Das war eine bittere Erinnerung. Seit dem Fall waren sie alle ein wenig unruhig, sobald es um Musik ging. Musik hören war eigentlich kein Problem, solange Gesang dabei war. Instrumentale Stücke nur, wenn sie in einer großen Gruppe waren. Das galt für sie alle, außer Havelock. Havelock war extrem. Wenn es sich um ein instrumentales Musikstück handelte, sah er sich nur die Noten an - sobald man es abspielte, ging er. Er weigerte sich strikt, etwas Gesangloses anzuhören. Meist bemerkte es keiner, zumindest kein Außenstehender, aber wenn man die vielen kleinen Zeichen kannte, dann sprang es einem praktisch ins Gesicht. Die Weigerung, in einen Fahrstuhl mit dudelnder Musik zu steigen. Das Vermeiden von Läden, in denen nur Hintergrundmusik ohne Gesang gespielt wurde. Das Ausweichen, wenn Leute mit lauter Musik in die Nähe kamen, bei der keine Stimme herauszuhören war. Sherlock stimmte durchaus damit überein, dass eine musikalische Alternative ganz sicher nicht wünschenswert war. Nicht nach dem Fall des Selbstmörderlieds.
 

"Es schien so harmlos", sagte Jepedina leise. "Ich meine, wer vermutet schon irgendwas so... unheimliches... wenn er den Namen 'Spiel des Engels' hört? Klingt doch eher romantisch!"
 

Jonathan schnaubte und beteiligte sich zum ersten Mal wieder am Gespräch. "Ich wette, der Komponist - möge-er-in-Frieden-ruhen-und-Friede-seiner-Asche - wusste selbst nichts davon. Zumindest bis sich Herr Ron Filos Acazzur in sein tragisches Ende stürzte."
 

"Genug davon!" Havelock sah sie finster an. "Ich will nichts mehr davon hören! Es ist aus und vorbei, verstanden?"
 

Er war laut geworden, und das war Grund genug, leise zu sein. Die anderen warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu, aber Sherlock beobachtete lieber seinen Bruder. Er hatte nie erfahren, warum es ihn so sehr mitnahm, aber fragen kam überhaupt nicht in Frage. Sherlock schnitt eine Grimasse, als sich Schweigen zwischen ihnen ausbreitete. Es war dieses unangenehme, zähe Schweigen, dass man am liebsten brechen würde, es aber nicht wagte. Hoffentlich war es morgen besser. Immerhin, es hieß doch 'Nach Wolken die Sonne' - und bei den Wolken heute hoffte Sherlock mehr den je auf die Richtigkeit von Sprichwörtern.
 

Der Bus bog um eine Straßenecke.
 

~ E N D E ~


 

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Wer alle Anspielungen entdeckt, bekommt von mir eine Riesenpackung Kekse ;)



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