Kapitel 20
»Das ist die Erklärung?«
Aois Worte waren leise, beinahe nicht hörbar, als Kai seine Erzählung beendet hatte. Er schluckte trocken, fühlte, wie der Speichel sich nur mühsam den Weg durch seine Kehle bahnte und schon auf der Hälfte des Weges versiegte. Seine Hände begannen zu zittern, und als sich Kai neben ihm bewegte, durchfuhr ihn ein so unangenehmer Schauer, dass er beinahe aus dem Bett herauspurzelte, so stark war der Impuls zur Flucht. Hastig raffte er die Bettdecke um sich, sich nicht darum kümmernd, dass Kazuki verlegen den Blick senkte, als Kai einige Sekunden brauchte, um das verbleibende Laken so weit über sich zu ziehen, dass es seinen nackten Körper verdeckte. Aois Augen rasten über den Boden, als er aus dem Bett sprang, suchten nach seiner Kleidung, dem einzigen Schutzschild, das ihm in den Sinn kommen wollte. Eine Welle der Erleichterung breitete sich in ihm aus, als er sie schließlich auf einem Stuhl entdeckte, doch als ihm klar wurde, dass er an Uruha vorbei musste, um sie zu bekommen, verließ ihn jeder Funken Antrieb und seine Bewegung erstarrte.
Keine zehn Pferde würden ihn zu dem Verräter führen. Er war verloren. Entblößt, umzingelt von Feinden und ohne Ausweg. Es war irrational, doch genau so fühlte er sich in diesem Moment.
»Aoi«, begann Uruha, doch eine ruckartige Handbewegung des schwarzhaarigen Gitarristen schnitt ihm das Wort im Mund ab, ehe er beinahe über den Tropf stolperte, als sich sein Körper wie das Blatt einer Mimose zusammenzog und sich instinktiv so weit wie möglich von Uruha und Kai in Sicherheit brachte.
Die Wand, an die er sich drückte, war keine zwei Meter entfernt. Denn das Zimmer war klein und die Tür von Uruha blockiert. Es reichte nicht im Geringsten aus, um die Übelkeit und Panik, die Aoi mit jeder Sekunde mehr überrollte, zu tilgen.
Das war sie also. Die Erklärung. Die Erklärung für all die seltsamen, missverständlichen Dinge, die in den letzten Wochen passiert waren. Wie viele waren es, vier, sechs? Wie konnten es zwei Menschen schaffen, in solch kurzer Zeit ein solches Chaos anzurichten – ganz gleich, ob sie es mit guten Absichten getan hatten oder nicht. Hatten sie tatsächlich gedacht, ihr Versteckspiel drei Monate unbemerkt durchziehen zu können?! Sie hatten sich auf einen Deal mit dem Teufel eingelassen, und anstatt ihm zu vertrauen und ihn einzuweihen, hatten sie ihn hintergangen und belogen.
»Aoi!«, begann Uruha erneut, das Gesicht verzerrt vor Sorge und Schuldgefühlen, und diesmal machte er einen Schritt auf den Gitarristen zu und streckte die Hand nach ihm aus.
Und dann geschah alles so schnell, dass Aoi gar nicht begreifen konnte, was er tat. Uruhas Hand berührte seine Schulter, ein Blitzschlag zuckte von den kühlen Fingerspitzen durch seine Synapsen und auf einmal schnellte seine Faust nach vorn und traf den Jüngeren so hart im Gesicht, dass dieser mit einem gedämpften Laut nach hinten taumelte und einen kleinen Beistelltisch mit seinem Gewicht zu Boden riss.
Er blieb regungslos liegen und Aoi schnappte nach Luft, als ihn erst der Schmerz des Schlages in seinen Fingerknöcheln begreifen ließ, was er soeben getan hatte. Kais Augen waren schreckgeweitet, sein Kiefer ebenso wie Kazukis vor Überraschung und Entsetzen aufgerissen, und für ein paar Sekunden rührte sich keiner von ihnen, bis mit einem Mal ein Ruck durch Kazuki ging und er auf Uruha zustürzte.
Nur am Rande bekam Aoi mit, wie er den Gitarristen, den der Schlag fast ausgeknockt hatte, rüttelte und auf ihn einredete, doch jedes Quäntchen Schuldgefühl oder Sorge, das normalerweise in dieser Situation in ihm aufgeflammt wäre, blieb still. Er ließ die Fingerknöchel knacken und warf Kai einen finsteren Blick zu, so dass ihn dieser, als er ihn bemerkte, so verängstigt anstarrte wie ein Kaninchen die Schlange.
»Sei froh, dass du eine Gehirnerschütterung hast!«, zischte Aoi, und er musste den Satz nicht vollenden, um seine Drohung ihre Wirkung entfalten zu lassen. Kai nickte wie betäubt, und rutschte unbewusst ein paar Zentimeter zurück, während sich die Härchen auf seinen Armen sichtbar aufstellten.
»Bist du total bescheuert; du hättest ihn ernsthaft verletzen könnten!«, schimpfte Kazuki aufgebracht, als Uruha endlich auf sein Schütteln reagierte und sich mit einem schmerzvollen Laut auf dem Boden wand und krümmte. Die einzige Reaktion, die er bei Aoi auslöste, war ein abfälliges Schnauben, ehe er den Blick abwendete und sich für einen kurzen Moment absolut fantastisch fühlte. Denn genau das hatte er jetzt gebraucht!
Er war wütend, betäubt, enttäuscht, ausgeblutet, hintergangen und erschöpft – es war ein so großes Chaos, dass er nicht einmal für eine Sekunde ein klares Gefühl herausfiltern konnte – doch Gott, hatte sich der Schlag gut angefühlt! Es war keine Entschädigung für die Angst, die er in den letzten Wochen ausgestanden hatte, die Berg- und Talfahrt, durch die sie ihn täglich aufs Neue gejagt hatten, bis schließlich alles in Kais Wohnung eskaliert war – doch es hatte sich gut angefühlt. Und das war in Aois Augen Rechtfertigung genug.
»Du kannst froh sein, dass ich nur einmal zugeschlagen habe«, erwiderte er, selbst ein wenig verwundert über die Kälte in seiner Stimme. Er weigerte sich, auch nur auf den Gedanken zu kommen, dass es ihm in wenigen Momenten leid tun könnte.
Kazuki sah ihn entsetzt an, ehe sich seine Stirn zornig zusammenzog, doch Aoi hätte es nicht weniger interessieren können. Er hätte am liebsten wider besseren Wissens weiter zugeschlagen, so lange auf irgendjemanden oder irgendetwas eingeprügelt, bis die wilden Emotionen, die hinter seiner eisigen Schale brodelten, kompensiert waren. Doch zum Glück hinderte ihn seine verbliebene Vernunft daran.
Uruha rollte sich leise jammernd auf die Seite und wischte sich das Blut vom Gesicht, das sich aus seiner angeschlagenen Nase tropfte. Kazuki brauchte ganze 20 Sekunden, um zu seiner Tasche zu sprinten und ihm ein Taschentuch aufzudrücken, um die Blutung zu stoppen. Die kleine Geste reichte aus, um Aoi ernsthaft in Versuchung zu führen, ihm seine eigene blutige Nase zu bereiten.
Nur langsam schien Uruha zu begreifen, was gerade geschehen war. Doch er setzte nicht einmal zum Versuch an, einen Gegenangriff zu starten, sondern hatte die Augen gesenkt, nicht wagend, Aoi anzusehen, dessen Brustkorb sich mit einem Mal schmerzhaft zusammenzog, als er zum ersten Mal seit Minuten die unangenehme Stille fühlte, die er ausgelöst hatte.
Weder Kai noch Uruha wagten es, ihn anzusehen, waren schockgefroren, als würde selbst die kleinste Bewegung eine Landmine auslösen, und nur Kazuki durchbohrte ihn mit tödlichen Blicken.
»Wäre ich euch wirklich so wichtig, wie ihr behauptet, hättet ihr mich überhaupt nicht erst durch so einen Höllentrip geschickt!«, sagte Aoi schließlich, doch seine Stimme war lange nicht so schneidend und fest, wie er geglaubt hätte.
Denn er war nicht nur wütend. Zu einem kleinen, einem winzigen Teil war er so erleichtert, dass er am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.
»Du hast sie gerade wirklich nicht mehr alle, oder?!«, ließ sich erneut Kazuki vernehmen, blind gegenüber der angespannten Situation zwischen den drei anderen. »Ihr habt sie alle nicht mehr! Die gesamte PSC ist verrückt! Deals und Videokameras und Versteckspiele! Ich dachte mir ja schon eine Weile, dass hier irgendwas nicht stimmt, aber das ist doch nicht normal! Spielen wir hier in einem Dorama mit, oder was? Bei was für einem Verein habe ich hier eigentlich unterschrieben?!«
Er tupfte mit dem Taschentuch etwas zu aufgebracht an Uruhas Nase herum, so dass dieser schmerzhaft zischte. Aoi konnte sich nur im letzten Augenblick zusammenreißen, dem rothaarigen Gitarristen mit dem Tropf eins überzuziehen.
»Das sagt derjenige, der das Label erpresst, um bei meinem Freund einziehen!«, giftete er zurück und sah triumphierend, wie Kazukis Stirn ertappt zuckte, ehe er sich aufrichtete und die Arme vor der Brust verschränkte, um sich zu verteidigen. Doch Aoi war noch nicht fertig. Noch bevor der andere auch nur die Möglichkeit hatte, ein Wort zu sprechen, schritt er angriffslustig auf ihn zu, sich nicht im Geringsten von der Tatsache beirren lassend, dass er noch immer nur mit einer Bettdecke bekleidet war, und drängte ihn nach hinten.
»Du hältst dich hier gefälligst raus!«, zischte er leise und drohend. »Unsere Angelegenheiten gehen dich einen Scheißdreck an! Ich habe langsam genug von dir! Verschwinde, bevor ich dir auch eine reinhaue! Und wenn wir schon mal dabei sind – lass die Finger von Uruha!«
Kazukis Kiefer klappte nach unten, doch anstatt eingeschüchtert zu sein, flammte in seinen Augen Trotz auf.
»Hast du dich nicht gerade von Uruha getrennt?!«, fragte er und schubste Aoi herausfordernd gegen die Schulter. »Oder drückst du deine Zuneigung immer damit aus, dass du deinem Freund die Nase blutig schlägst?! So wie ich das verstanden habe, hast du sie gerade vor die Tür gesetzt, weil sie dich hintergangen haben, anstatt ihnen für ihren Liebesbeweis um den Hals zu fallen! Meinetwegen, tu, was du willst!« Ein schiefes Grinsen zog seinen Mundwinkel nach oben und er wippte provozierend mit den Augenbrauen. »Wenn du Uruha nicht mehr willst, dann nehme ich ihn! Und glaub mir, ich werde ihn viel besser behandeln, als-«
Ein harter Schlag traf ihn mitten ins Gesicht und ließ ihn zurücktaumeln, so dass er neben Uruha in die Knie sank.
»Was zur Hölle!«, fluchte er, und tastete über die schmerzende Wange, um das Ausmaß der Verletzung abzuschätzen, doch im Gegensatz zu Uruha war er noch relativ glimpflich davongekommen. »Willst du, dass ich dich umbringe?!«, drohte er und griff nach etwas, um sich aufzurichten, doch sein angeschlagener Gleichgewichtssinn hielt ihn davon ab, so dass er nur kurz taumelte und dann wieder zurücksank.
Der Blick, mit dem Aoi ihn durchbohrte, war tödlich.
»Ich schlage Typen die Nase blutig, die mich gerade ankotzen! Und ich schlage nochmal zu, wenn es sein muss!«, grollte er und ließ die Fingerknöchel knacken. Seine ungeübte Schlaghand tat mehr weh, als ihm lieb war, so dass er diese Drohung wohl eher nicht wahrmachen würde, doch allein die Tatsache, dass Kazuki sichtlich eingeschüchtert verharrte, war Lohn genug. Er hatte keine Ahnung, woher seine gewalttätigen Ambitionen auf einmal kamen, aber sie auszuleben, fühlte sich gerade äußerst befriedigend an!
Der Rothaarige schnaubte nur leise, und versuchte mit seinen Fingerspitzen seine brennende Wange zu kühlen. Ein klein wenig hatte Aoi auf Gegenwehr gehofft, denn die Worte hatten ihn erneut so sehr aufgebracht, dass er beinahe explodierte. Sein Blick huschte über Kai, der wie vom Donner gerührt im Bett saß, zu Uruha auf dem Boden, und mit einem Mal platzten die Emotionen einfach aus ihm heraus.
»Verstehst du es einfach nicht?«, schrie er Kazuki an, seine Stimme so laut, dass man es selbst auf dem Gang hören musste. »Geht es nicht in deinen Kopf hinein?! Ich liebe sie! Egal, was sie für einen Scheiß abziehen, oder ob sie sich wie die größten Volltrottel aufführen, oder es verdienen, dass ich ihnen eine reinhaue – ich liebe sie immer noch! Es ist nicht so, als hätten sie jemanden umgebracht, und spätestens morgen werde ich ihnen verzeihen und wir werden darüber reden und es irgendwie wieder in den Griff bekommen! Oh ja, ich werde sie bestrafen, dass sie mich so hinters Licht geführt haben, aber deswegen lasse ich sie nicht einfach fallen! Wir gehören zusammen und nichts und niemand kann uns jemals wieder auseinanderbringen! Nicht du, nicht die PS Company, nicht die Fans, nicht die Medien, niemand! Ich kann es dir buchstabieren, wenn du willst, oder aufmalen oder als Video schicken, wenn du es dann besser verstehst! Hier wird sich gar niemand trennen!«
Er atmete schwer, als er die letzten Worte gesprochen hatte und merkte unangenehm berührt, dass ihn seine eigene Ansprache so aufgewühlt hatte, dass er zitterte.
Kazuki sah ihn mit großen Augen an, einen Moment vollkommen regungslos, ehe mit einem Mal alle Kraft aus seinem Körper zu verschwinden schien. Seine Schultern sanken ein, seine Gesichtsmuskeln entgleisten ihm und seine Lippen begannen zu zittern. Er hatte die Augen auf Aoi gerichtet, doch sein Blick war unfokussiert, als würde er ihn nicht einmal wahrnehmen.
»Ok«, sagte er schließlich leise, noch nicht einmal versuchend, die Resignation zu verbergen, die in seiner kaum hörbaren Stimme lag. »Ich habe verstanden… Ich habe verstanden…«
Aoi rang nach Luft, beinahe darauf gefasst, dass es ein Trick war, um ihn aus der Bahn zu werfen, doch als Kazuki sich langsam aufrichtete, so mühsam, als würde ihm jede Bewegung eine Qual sein, kam ihm der Verdacht, dass seine Worte tatsächlich Wirkung gezeigt haben könnten. Er sah den Blick, den Kazuki ihnen dreien zu warf, sah, wie er für eine Sekunde zu lang auf Uruha und ihm hing, ehe Flüssigkeit die Konturen der dunklen Pupillen verschwimmen ließ und er den Kopf abwendete.
»Ich habe verstanden«, sagte er erneut, mehr zu sich selbst als zu Aoi, ehe er die Tür öffnete.
Das leise Klicken, als sie hinter ihm ins Schloss fiel, war der einzige Laut, der in den nächsten zwei Minuten zu hören war. Die Stille fror sie ein wie kurz nach der fatalen Offenbarung. Aoi wagte nicht, sich zu bewegen, die Hände noch immer zu Fäusten geballt, doch sein Zorn war komplett verflogen. Nun fühlte er sich nur noch ausgeliefert.
Kai war der erste, der das Schweigen brach.
»Hast du das gerade ernst gemeint?«, fragte er mit heiserer Stimme.
Aoi schluckte trocken, die Frage wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf. Hatte er es ernst gemeint? Ja. Wie gern hätte er das Gegenteil behauptet, um seinen Stolz zu wahren, doch er konnte und wollte es nicht zurücknehmen.
Vorsichtig nickte er, den Kopf noch immer abgewendet, und als ein leises »Ja…« seine Lippen verließ, dauerte es keine zwei Sekunden, bis ihn starke Arme umfingen und sich ein warmer Körper so eng an ihn klammerte, dass es ihm die Luft aus der Lunge presste.
»Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr!«, flüsterte Uruha in seinen Nacken, und die Verzweiflung, mit der er sich an ihn klammerte, trieb Aoi urplötzlich die Tränen in die Augen. Er rang nach Atem, sein Herzschlag so laut, dass er glaubte, das ganze Krankenhaus müsse ihn hören, ehe seine Hände beinahe von selbst nach Uruhas Armen griffen und sie noch enger um sich zogen. Das Gefühl, das seinen Brustkorb zusammenschnürte, nahm zu und gleichzeitig ab, und ließ ihn sich so schwerelos fühlen, dass es ihm beinahe vorkam, als würde nur Uruhas Gewicht ihn noch auf dem Boden halten.
Schneller als er reagieren konnte, wurde er umgedreht, und nur wenige Sekunden später war auch Kai so nah wie Uruha an ihn gepresst. Er konnte das Trommeln ihrer Herzen hören, ihren Puls in den Adern ihrer Arme, mit denen sie ihn umfassten, rasen spüren. Hände griffen nach den seinen, verschränkten ihre Finger ineinander; die Decke entglitt ihm und wurde nur durch die Nähe ihrer Körper gehalten; ein Kopf vergrub sich in seinem Nacken und heißer, rascher Atem ließ ihn erschaudern. Tausend kleine Sinneseindrücke rasten auf einmal auf ihn hernieder, überschlugen sich in seinem Bauch und ließen jeden Gedanken, den er noch bis soeben gehabt hatte, verschwinden.
Die Maschinen piepsten protestierend und Aoi bemerkte, dass Kai schlichtweg die Kabel aus ihnen herausgezogen hatte, die nun lose an den Anschlüssen in seinem Unterarm baumelten, ehe er es wieder vergaß und sich dem warmen, allumfassenden Gefühl hingab, das sie einschloss. Er sog ihren Geruch ein, drückte ihre Hände, rieb seine Wange an jedem Millimeter Haut, den er erreichen konnte – und als sich schließlich Lippen auf die seinen legten, hauchzart wie die Berührung eines Blütenblatts, brachen auch seine letzten Dämme gegen die Sturzflut von Emotionen.
Er wusste nicht, wer ihn zuerst küsste. Sein Kopf wurde gedreht und erneut wurden seine Lippen verschlossen, ehe sich das Spiel wiederholte, wieder und wieder. Es war nicht verlangend, es war nicht leidenschaftlich, es war die bloße Berührung ihrer Lippen, so sanft und gleichzeitig so verzweifelt, dass Aoi seine abgehackte Atmung nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Er kam sich vor wie ein Schiffbrüchiger, der endlich gerettet worden war und in den Armen der Menschen lag, nach denen er sich wochenlang gesehnt und die er nun endlich wiedergefunden hatte.
Und obwohl sie kein Wort sprachen, wusste er genau, dass sie sich in diesem Moment mehr verstanden als all die letzten Monate zusammen.
»Jagt mir nie wieder so einen Schrecken ein!«, flüsterte er schließlich mit erstickter Stimme. Lippen hasteten über seine Schultern, seinen Hals, seine Arme, seine Wangen, und die vielen Versprechen, die leise gemurmelt an sein Ohr drangen, verlangten ihm alle Selbstbeherrschung ab, nicht in Tränen auszubrechen.
Irgendwann verstummten sie, ebenso wie ihre Bewegungen. Doch diesmal waren sie nicht eingefroren. Sie ruhten aneinander, die Augen geschlossen und dem gleichmäßigen Atem der anderen lauschend. Aoi ließ seinen Kopf an eine Schulter sinken und bemerkte plötzlich, wie sehr die letzten Wochen an seiner Kraft gezehrt hatten. Er war erschöpft und zum ersten Mal seit langem hatte er das Gefühl, sich tatsächlich zu erholen.
Gedanken begannen träge und zusammenhangslos durch seinen Kopf zu gleiten. Ob er Uruha schwer verletzt hatte? Er würde sich um seine Wunde kümmern müssen. Ob die Krankenschwestern wohl mit Kai schimpfen würden? Durfte er überhaupt einfach so seine Schläuche herausziehen? Wie könnte er es anstellen, Uruha und Kai zu überreden, mit ihm zusammenzuziehen? Sie bräuchten ein Bett, ein großes Bett…
»Ihr seid solche Idioten!«, sagte er schließlich und lachte leise, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen.
Er sah, wie Kai, der vor ihm stand, beschämt das Gesicht verzog, während sich Uruhas Arme fester um ihn schlossen. Es bog seine Mundwinkel zu einem warmen Lächeln nach oben, und als seine Fingerspitzen über die weiche Haut ihrer Wangen kosten, die feuchten Tränenspuren beiseite wischten, von denen er überhaupt nicht bemerkt hatte, wann sie entstanden waren, wusste er, dass sie verstanden hatten, dass er ihnen verzieh.
»Ich will nach Hause!«, sagte er leise, als ihm ein plötzlicher kühler Luftzug bewusst machte, dass er noch immer entkleidet in einem sterilen Krankenzimmer zwischen Krankenbett und piepsenden Maschinen stand. Das war nicht die Umgebung, in der er ihre Versöhnung feiern wollte.
»Was tun wir jetzt?«, sprach Uruha plötzlich die Frage aus, von der Aois Geist sich bisher geweigert hatte, sie auch nur zu denken.
Er hatte keine Ahnung. Sie hatten den Deal gebrochen. Mussten sie sich jetzt trennen?
»Ich gebe keinen von euch kampflos auf!«, sagte Kai, so viel Entschlossenheit im Blick, dass Aoi und Uruha augenblicklich nickten, der Führung ihres Leaders folgend, auch wenn sie ahnten, dass er ebenso wenig einen konkreten Plan hatte wie sie. Alles, was Aoi wusste, war, dass er Recht hatte. Keiner von ihnen würde kampflos aufgeben. Das, was sie hatten, war das Bedeutendste, was ihm in seinem ganzen Leben passiert war. Und wenn es die einzige Lösung war, würde er alles andere, was er besaß, dafür ohne Zögern opfern.
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken, und als er sah, dass Kazuki in der Tür stand, bereute er, ihm nicht in dem Moment mit der Faust ins Gesicht geschlagen zu haben, als er die Möglichkeit gehabt hatte.
»Was willst du denn schon wieder?!«, fauchte er, die Augen zu Schlitzen verengt, als würde er dem anderen am liebsten an die Gurgel springen. Kazuki schnaubte nur abfällig und wendete sich dann zur Überraschung aller Kai zu.
»Ich wollte euch lediglich warnen, dass eure Managerin im Anmarsch ist, um dich abzuholen!«, sagte er. »Ich habe sie an der Rezeption gesehen, wie sie die Papiere ausgefüllt hat.«
Einen kurzen Moment verstummten sie und erstarrten zu Stein, dann kam Leben in sie.
»Shit, wir müssen hier raus; sie darf uns nicht erwischen!«, fluchte Uruha, plötzlich in Panik, ehe er abrupt stoppte. »Shit!« Die Farbe wich aus seinem Gesicht, als er bemerkte, dass er aus purem Instinkt reagiert hatte und kein Fluchtversuch der Welt jetzt noch helfen würde. »Sie weiß ja eh schon alles! Oh Gott… Sie weiß ja eh schon alles…«
Seine Augen suchten nach Kai, welcher die Fäuste ballte, die Gesichtsmuskeln so fest angespannt, dass die Adern an seinen Schläfen pulsierten, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er vollkommen von der plötzlichen Wendung überfordert war.
Auch Aoi war fix und fertig mit den Nerven, und Uruha, der panisch im Zimmer auf- und abzulaufen begonnen hatte, half ihm dabei kein bisschen! Das war zu viel für ihn! Er hatte vor nicht einmal dreißig Minuten erfahren müssen, dass seine Freunde einen Deal mit der PSC abgeschlossen hatten und er ihn mit Kai gebrochen hatte; hatte sie gehasst, ihnen verziehen; war durch einen Sturm an Emotionen gejagt wurden; hatte in einem Anfall von todesmutiger Kampflust den Entschluss gefasst, notfalls gegen die gesamte Welt anzutreten – und nun verlangten sie von ihm, dass er sich ohne Vorbereitung der nächsten Konfrontation stellte?! Das war zu viel!
»Das ist zu viel! Ich kann das nicht!«, hauchte er und fühlte, wie auf einmal ohne jegliche Vorwarnung Tränen in seine Augen traten und seine Atmung und seine Hände zu zittern begannen. Jetzt weinte er?! Ausgerechnet jetzt?! Konnte sich sein Körper keinen besseren Zeitpunkt aussuchen, um ihn in den lange überfälligen Nervenzusammenbruch zu stoßen?!
Er wusste, dass er dem Gespräch mit der Managerin nicht ewig aus dem Weg gehen können würde, aber er hatte zumindest gehofft, die Zeit zu haben, sich annähernd etwas wie einen Schlachtplan überlegen zu können! Herrgott, er wollte es wenigstens nicht in dem Zimmer tun, in dem sie noch vor wenigen Stunden Sex gehabt hatten! Die Spuren waren nicht beseitigt, er hatte noch immer nichts an, Kai war mit einem Bettlaken bekleidet, und Uruha durchquerte zum zehnten Mal mit drei Schritten das Krankenzimmer.
Es war Kazuki, der ihre Panik abrupt zu einem Ende brachte.
»Sie weiß nicht, was passiert ist.«
Uruha erstarrte, die Hände in den zerrauften Haaren, Aoi klappte die Kinnlade herunter und Kai wäre beinahe das Laken entglitten. Ein paar Sekunden starrten sie ihn in einer Mischung aus Verwirrung und Argwohn an, dann zog Aoi die Stirn in Falten.
»Wie, sie weiß nichts?«, fragte er, sicher, dass dies nur wieder einer von Kazukis Tricks war.
Der Rothaarige schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen, und obwohl er vermutlich nicht einmal die Absicht dazu hatte, fühlte sich Aoi durch diese kleine Geste, als wäre er soeben in eine Falle getappt.
»Ich habe den Security bestochen, nachdem ich die Kamera entdeckt hatte«, erklärte der Gitarrist mit ruhiger Stimme. Er schien der einzige von ihnen zu sein, der die Ruhe bewahren konnte, während Aoi vor ohnmächtiger Anspannung am liebsten laut aufgeschrien hätte. »Ich wusste nicht, wer sie in Auftrag gegeben hat, aber um es herauszufinden, habe ich alles abgefangen und es als technische Störung tarnen lassen. Ich bin der einzige, der weiß, was in diesem Krankenzimmer geschehen ist. Wenn ich ihr die Videobänder nicht gebe, wird es niemals jemand erfahren. Ihr könntet den Deal zu Ende führen und hättet den Schutz des Labels.«
Sein Blick wanderte von einem zum anderen, nachdem er die letzten Worte mehr zu sich selbst als zu ihnen gesprochen hatte, und blieb schließlich auf Uruha hängen, die Sehnsucht deutlich in seinen dunklen Augen. Und während Uruha ein paar Sekunden brauchte, bis er realisierte, welche Bedeutung in seinen Worten lag, wurde Aoi augenblicklich schlecht.
Er hatte die Drohung verstanden. Eine eisige Hand umfasste sein Herz, als er mit Grauen realisierte, das das Schlimmste eingetreten war, was ihnen hätte passieren können. Was taten Menschen in Filmen, wenn ihnen so etwas passierte? Könnte er Kazukis Leiche und mit ihm ihr Geheimnis innerhalb der nächsten fünf Minuten unauffällig verschwinden lassen?
Aoi hätte beinahe über sich gelacht, doch obwohl ihm der Gedanke mehr gefiel, als er sich eingestehen wollte, verwarf er ihn sogleich wieder. Er war darauf eingestellt gewesen, mit einer oder mehreren Personen verhandeln zu müssen, mit ihrer Managerin, dem Label, – mit schlechter Ausgangslage, keinem Ass im Ärmel und der Aussicht auf schmerzhafte Verluste. Doch Kazuki war ein noch viel gefährlicherer Verhandlungspartner.
Aoi spürte, wie sich sein Magen umdrehte und ihm bittere Galle durch die Kehle jagte, als er sich eingestehen musste, dass er in dieser Situation nicht nur mit ein paar Blessuren davonkommen würde. Er sah nicht einmal die geringste Möglichkeit, Kazuki nach all dem, was er ihm in den letzten Wochen und vor allem in der letzten halben Stunde an den Kopf geworfen hatte, auf seine Seite zu ziehen. Ihr Kampf würde blutig werden, sehr blutig!
Ihr Schicksal lag in der Hand seines Erzfeindes. Und sein Erzfeind wollte nur eines: Uruha.
tbc.
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Vielen Dank, dass ihr so lange auf dieses Kapitel gewartet habt! Wer mein Twitter liest, weiß, dass ich nach Berlin umgezogen bin und deshalb unglaublich viel zu tun hatte.
Aber wir nähern uns dem Finale! Dies ist eines der letzten Kapitel (vielleicht sogar das vorletzte)! Einerseits freue ich mich, dass ich die Geschichte bald vollenden kann, andererseits ist es traurig, Abschied nehmen zu müssen. Ich kann noch nicht sagen, was ich danach plane. Ich möchte mir jemanden suchen, der meine Webseite überarbeitet. Und ein paar alte Sachen von mir überarbeiten, bevor ich etwas Neues anfange.
Ich habe so wenig Zeit ;__; Ich wünschte mir, ich könnte mir mal ein Jahr frei nehmen und nur schreiben.
Vielen Dank an alle, die mich bis zum letzten Kapitel begleiten! <3 <3 <3
Ich schaffe es nicht immer, auf Kommentare zu antworten, aber ich freue mich unglaublich über jedes einzelne!!!!! Vielen, vielen Dank!