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Heartbeat

Kyman, Stenny, Creek, Tyde u. a. (KAPITEL 12 IST DA!!!)
von

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The Dark Angel: 2. Akt - Something Wicked

Hallo, liebe Leser! Ja, ich bin zurück. Wie sich ein paar von Euch vielleicht noch erinnern, habe ich im Vorwort des letzten Kapitels davon erzählt, dass ich endlich ein Praktikum ergattert hätte. Ich habe mich nach meiner monatelangen Suche wahnsinnig darüber gefreut - nur leider hat sich das Ganze als Riesenfehler entpuppt. Nicht wegen des Teams (generell Kollegen und andere Praktikanten), das war echt prima...aber die Chefin? Nun, sie war ein Drachen. Ich glaube, ich bin noch nie in meinem Leben einer so eingebildeten, rücksichtslosen, scheinheiligen, unzuverlässigen und verantwortungslosen Person begegnet. Ihre Lieblingsbeschäftigung bestand darin, ihre gesamte Belegschaft auszubeuten und zu mobben, eine Angestellte und eine Praktikantin hatte sie schon vorher rausgeekelt und nach dem Anwalt meines einen Kollegen zu schließen, ist der Arbeitsvertrag ein Knebelvertrag von so unglaublicher Frechheit, dass die Dame eigentlich mit einem Bein im Knast steht. Inzwischen hat sie drei Arbeitsklagen am Hals. Sie selbst hält sich natürlich für das Beste vom Besten, sie ist niemals an irgendetwas schuld (natürlich nicht, Schuld haben immer nur die dummen Praktikanten!), und ihre emotionale Reife ist irgendwo bei dreizehn anzusiedeln - sie ist über vierzig. Einen Monat Schikane habe ich mir bieten lassen, dann habe ich die Reißleine gezogen. Ich habe sehr dringend ein Praktikum gesucht, aber ich bin nicht bereit, mich ausnutzen und mies behandeln zu lassen, ohne halbwegs vernünftige Bezahlung oder auch nur mal ein Lob. Also habe ich gekündigt (wie nachfolgend dann auch nach und nach der Rest der Belegschaft). Jetzt soll die Drachenlady mal sehen, wie sie den Karren allein aus dem Dreck zieht, anstatt uns davor zu spannen! Ich habe das Ganze unter "schlechter Erfahrung" abgelegt, aber ich hoffe, es erklärt, warum ich nach diesem Fiasko erstmal nichts geschrieben habe. Ich war fertig mit den Nerven. Aber genug von mir, viel Spaß beim Lesen!
 

Kapitel 9: The Dark Angel: 2. Akt - Something Wicked
 

Double, double, toil and trouble/Fire burn and cauldron bubble. [...]

By the pricking of my thumbs/Something wicked this way comes.

- William Shakespeare: Macbeth, 4. Akt/1. Szene
 

Eric öffnete die Augen. Er spürte einen dumpfen, pochenden Schmerz am Hinterkopf und langsam erinnerte er sich daran, dass man ihn niedergeschlagen hatte. Um ihn herum herrschte Finsternis und es lag ein ekelerregender Geruch in der Luft, der ihn an Chemikalien oder Textilfarbe denken ließ. Er saß auf einem Stuhl, seine Arme auf den Rücken gedreht und die Hände gefesselt. Vor ihm stand ein Tisch mit etwas darauf, dessen Umrisse einer Flasche zu gehören schienen. Eine Art Stäbchen ragte aus der Flasche, bis Eric aufging, dass es sich um einen Strohhalm handeln musste. Seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt und so tastete er mit dem Mund vorsichtig nach dem Strohhalm und nahm einen winzigen Schluck. Mineralwasser. Sein Entführer hatte also nicht vor, ihn verdursten zu lassen. Das war schon mal beruhigend.

»Ich frage mich, wie spät es ist. Wie lange war ich wohl bewusstlos? Wo bin ich hier!? Und warum zum Teufel muss das ausgerechnet mir passieren?! Ich schwöre, wenn das irgendein verdammter Penner war, der Geld für ein Saufgelage aus mir rauspressen will, dann ramme ich ihn ungespitzt in den Boden!«

Er versuchte, sich zu befreien, merkte aber bald, dass es sinnlos war, die Stricke waren zu fest. Vielleicht konnte er sie an einer Tischkante aufdröseln? Er stand auf und drehte sich hüpfend mitsamt dem Stuhl um, manövrierte sich an eine Kante und begann, seine Fesseln zu lockern. Außer dass die Stricke ein klein wenig nachgiebiger wurden, erreichte er jedoch nichts. Er wuchtete sich zurück in seine Ausgangsposition und grübelte. Was sollte er tun? Er hatte nicht die Absicht, dumm herumzusitzen und Däumchen zu drehen, bis sein Entführer auftauchte! Nach und nach konnte er auch seine Umgebung besser erkennen; er sah die Umrisse großer Maschinen und mehrere Reihen Fließbänder, außerdem etwas, das ein Kran zu sein schien. Die ganz oben angebrachten Fenster waren mit Jalousien oder Brettern verschlossen, sodass kein Funken Licht eindringen konnte. Selbst wenn es inzwischen Tag war, er konnte es nicht sehen.

Immerhin wusste er jetzt, dass er in einer stillgelegten Fabrik war. Wie klischeehaft.

Plötzlich ging das Licht an und Schritte ertönten. Eric verdrängte seine aufkeimende Angst und nahm noch einen Schluck Wasser, um seine Anspannung zu verbergen. Der Mann, der durch eine Seitentür hereingekommen war, sah nicht wie ein Obdachloser aus. Er sah vielmehr erschreckend gewöhnlich aus, fast bieder. Er war etwas untersetzt, trug einen grauen Jogginganzug und Turnschuhe und wirkte wie der nette ältere Herr von nebenan, den man gern zu einem Kaffeekränzchen einlud.

„Oh, du bist zu dir gekommen, mein Junge?"

Seine Stimme und sein Tonfall hätten wunderbar zu einem Kindergartenonkel gepasst. Eric hätte ihn lächerlich gefunden, wenn sein schmerzender Kopf nicht gewesen wäre. Der Kindergartenonkel hatte ihn niedergestreckt und ihn hierhergetragen, er musste also körperlich fit und sehr kräftig sein, schließlich war Eric nun wirklich kein Fliegengewicht.

„Wer sind Sie?! Und was wollen Sie von mir?!"

„Warum willst du das wissen?"

„Warum!? Weil sie mir eins übergezogen und mich an einen Stuhl gefesselt haben!! Ich habe das verdammte Recht, den verdammten Grund dafür zu erfahren!!"

Der Kindergartenonkel schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht, ich habe noch nicht alles vorbereitet, was ich dir zeigen möchte. Deshalb wirst du jetzt erst einmal ein kleines Nickerchen machen, um dich zu entspannen."

Er holte eine Spritze aus seiner Jogginghose und verabreichte dem fluchenden Eric ein Schlafmittel.

„Es wird schnell wirken und dann wirst du brav schlummern."

„Sie Arschloch!! Lassen Sie mich frei!! Ich... will... nicht..."

Er spürte, wie ihm die Lider schwer wurden und trat wild nach seinem Entführer, doch seine Sicht verschwamm und er hörte hämisches Gelächter in seinen Ohren. Einbildung? Wirklichkeit? Was sollte dieser Scheißdreck!? Was wollte er ihm zeigen? Warum musste er es vorbereiten? Was dachte dieser Spinner, wen er hier vor sich hatte!?

»Ich... ich darf nicht einschlafen... Wer weiß, was dieses Schwein mit mir anstellt, während ich nicht bei Bewusstsein bin?! Ich darf... ich darf nicht... einschlafen...«

„Gute Nacht, Eric. Süße Träume."

»Er... kennt meinen Namen? Wer ist dieser Kerl? Fuck, mein Kopf...! Scheiße, Scheiße, Scheiße...! Ich bin so müde... ich darf nicht...«

Es wurde dunkel um ihn.
 

Als Eric wieder aufwachte, hatte er einen noch größeren Brummschädel als vorher, seine Kehle war trocken und seine Gliedmaßen steif von der unbequemen Haltung, in die man ihn gezwungen hatte. Die Flasche Wasser stand immer noch auf dem Tisch und er sog die Flüssigkeit gierig ein. Es schmeckte abgestanden, aber das kümmerte ihn nicht. Moment, abgestanden? Wie lange war er diesmal k.o. gewesen? Er suchte nach dem Kindergartenonkel, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Das elektrische Licht schmerzte in seinen Augen und für eine bange Minute dachte er schon, er würde halluzinieren, bis er merkte, dass der Diaprojektor neben ihm echt war. Es war auch eine Leinwand aufgebaut worden und Erics Magen verkrampfte sich vor Entsetzen, denn dieses Szenario erinnerte ihn an Michael Deets, den „Left Hand"-Killer, von dem er als kleiner Junge gefangengenommen worden war... damals, als er sich als Medium ausgegeben hatte. Deets glaubte, er wäre schuld daran, dass sein „Genie" nicht erkannt wurde und quälte ihn tagelang mit hoffnungslos öden Diashows, bevor er sich dazu entschied, ihn zu töten, was die Polizei verhindern konnte. Aber die Diasutensilien waren nicht das Problem. Das Problem war, dass dies ein Indiz dafür war, dass sein neuer Entführer ein Nachahmungstäter war. Nicht nur im Bezug auf Dias. Vielleicht auch im Bezug auf Mordtaten, bei denen man den Opfern eine Hand abgeschnitten hatte.

Schritte.

Eric unterdrückte ein Würgen. „Sie sind der ‚Right Hand‘-Killer, nicht wahr?"

Der Mann klatschte beifällig. „Sehr gut, Eric. Ich muss sagen, genau das habe ich von dem berühmten Kindermedium erwartet, das den genialsten Killer dieses Jahrhunderts entlarvt hat. Zu schade, dass du deine Fähigkeiten inzwischen eingebüßt hast, sonst hättest du das hier auch vorhersehen können."

„Was reden Sie da?! Ich hatte nie irgendwelche Fähigkeiten! Ich habe allen nur was vorgespielt! Ich habe mir die Dummheit der Leute zunutze gemacht, um Vorteile daraus zu ziehen! Und was soll das heißen, ‚genialster Killer dieses Jahrhunderts‘!? Deets?! Der war so offensichtlich, dass es wehtut! Unsere Polizei ist katastrophal inkompetent, das ist der einzige Grund, warum er überhaupt so viele Menschen umbringen konnte!"

„Unsinn. Niemand hätte ihn je geschnappt, wenn du nicht gewesen wärst! Gib doch zu, dass du mit Sergeant Yates telepathisch Verbindung aufgenommen hast, um ihn zu Michael zu führen! Wie sonst hätte mein Idol so jämmerlich enden können?"

„Telepathische Verbindung? Sind Sie blöd?! Ich habe gelogen!! Ich hatte keine Visionen und keine besonderen Kräfte, ich war nichts weiter als ein kleiner Schwindler! Und Deets war ihr Idol!? Damit ist es amtlich: Sie sind krank!"

„Aber nein, ich bin völlig vernünftig. Ich habe damals im Gefängnis seine Taten sehr genau verfolgt. Seine Vorgehensweise war bewundernswert, seine Pläne unglaublich clever! Seine Morde steckten voller hingebungsvoller Details, sie waren Kunstwerke! Natürlich hat niemand außer mir das verstanden... ich war zutiefst erschüttert, als ich von seinem Tod erfuhr."

„...Im Gefängnis? Sie saßen im Gefängnis?!"

„Ja, wegen Betrugs. Und wegen versuchten Mordes. Mein Chef war mir auf die Schliche gekommen und das ärgerte mich. Leider war ich damals noch nicht der Genialität von Michael Deets ansichtig geworden, so dass ich bei diesem Verbrechen reichlich plump vorging und erwischt wurde. Und mein Chef überlebte noch dazu. Dilettantisch, scheußlich dilettantisch."

„Warum sind Sie dann auf freiem Fuß? Sind Sie abgehauen?"

„Nein. Aber dank guter Führung und dem hirnverbrannten Resozialisierungsprogramm unseres Waschlappengouverneurs wurde aus meiner dreißigjährigen Haftstrafe eine zehnjährige. Ich hatte bereits ein Jahr abgesessen, als Michaels Kunst in mein Leben trat. Ich wurde ganz offiziell entlassen, Eric. Mir ist durchaus klar, dass ich ein Kandidat für den elektrischen Stuhl bin, falls ich diesmal geschnappt werde, aber bis dahin werde ich meine Rache genossen haben, ich werde also wenigstens zufrieden sterben."

„...Sie wollen sich dafür rächen, dass Deets meinetwegen erschossen wurde?!"

„Du hast die Polizei zu ihm gebracht. Ohne dich würde er noch leben und dieses Land in Angst und Schrecken versetzen, wie es sich für einen Verbrecher seines Kalibers geziemt. Seine Kunst hätte eine Inspiration sein können für so viele andere unverstandene Seelen wie mich!"

Eric brach der kalte Schweiß aus. Dieser Typ war vollkommen irre. Nicht genug, dass er unter einer fehlgeleiteten Obsession litt, er war genau das, wofür er sein Vorbild hielt: Er war ein erfolgreicher Killer, der kaum Spuren hinterließ und der Polizei auf der Nase herumtanzte. Und dann, ganz plötzlich, fiel ihm etwas ein, das alles noch schlimmer machte. Es stimmte, er hatte nach seinem dummen Flugversuch vom Dach keinerlei hellseherische Fähigkeiten besessen.

Er nicht... aber Kyle.
 

Stan hatte ihm nach seiner Befreiung erzählt, dass Kyle das Äußere des Killers beschrieben und seine exakte Adresse genannt hatte. Es war Kyle gewesen, der Sergeant Yates auf die richtige Spur gebracht und somit Deets‘ Ende herbeigeführt hatte. Wenn dieser Verrückte das erfuhr... Erics Herz schien sich zu verknoten, er würgte erneut.

„Wir werden heute mit meiner Diashow beginnen. Sie besteht aus zwei Teilen und wird ein paar Tage in Anspruch nehmen. Ich hoffe, das stört dich nicht, aber es muss sein. Ich möchte nämlich versuchen, dir meine Kunst zu erklären. Das erste, was du sehen wirst, ist eine Reihe von Gemälden, die ich während meiner Gefangenschaft angefertigt habe. Nicht alle, denn dazu fehlt uns die Zeit, nur meine besten. Malen war Teil des Resozialisierungsprogramms und ich hatte Talent dafür, was mich sehr überraschte. Ich habe viel experimentiert und ausprobiert."

Er zeigte das erste Dia, eine Art postapokalyptische Landschaft in düsteren Farben, mit einem schwarzen Himmel und einem See aus Blut, in dem tote Körper schwammen.

„Mein Lehrer fand dieses Bild zu deprimierend und schlug mir vor, etwas fröhlicheres zu versuchen. Das nächste Bild ist das Ergebnis meines Versuchs."

Es war ein typisches Stilleben, die Darstellung einer Schale Obst mit einem Blumenstrauß in einer Vase direkt dahinter. Es wirkte allerdings kaum „fröhlicher", alles war in modrigen Braun- und Grautönen gehalten - und als Eric genauer hinsah, entdeckte er, dass Obst und Blumen im Verfaulen begriffen waren.

„Das ist Ihre Idee von fröhlich!?"

„Na ja, das war nur mein erster Versuch. Das hier ist überzeugender, meinst du nicht auch?"

Diesmal warf der Projektor eine Gruppe junger Frauen an die Leinwand, die im Kreis tanzten. Sie trugen bunte Kleider, der Himmel leuchtete blau und die Wiese unter ihren Füßen war grün und blühte. Dominierend war jedoch die Rückansicht eines in Schwarz gekleideten Mannes, der sich den Tänzerinnen näherte, mit einem blutigen Beil in der Hand.

„Wenn Sie das unter ‚fröhlich‘ verstehen, will ich Ihre Interpretation von ‚traurig‘ niemals zu Gesicht kriegen!"

„Genies werden oft verkannt, das ist mir nicht neu. Mein Lehrer war auch nicht besonders entzückt. Er hatte kein Verständnis für meine Kunst, dabei war er sonst ein so aufgeschlossener Geist. Tod und Gewalt sind allgegenwärtig in unserer Gesellschaft, Eric! Sie begegnen uns jeden Tag, im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen, im Internet! Sie umgeben uns überall, aber wir ziehen es vor, die Augen davor zu verschließen und uns und diese Welt für ewig zu halten! Aber wir und diese Welt sind endlich, mein Junge... und meine Kunst rückt dies ins Bewusstsein!"

Es folgten noch sieben weitere Bilder, ebenso drastisch-makaber wie ihre Vorgänger, die der „Right Hand"-Killer mit sich steigernder Liebe zum Detail umgesetzt hatte. Eric hätte ihnen jede noch so langweilige Diashow vorgezogen, außerdem bekam er allmählich Hunger und das Wasser ging auch zur Neige. Als sein Magen knurrte, beendete der Mann die Vorführung.

„Wie unhöflich von mir, du wirst hungrig sein. Geistige Nahrung allein ist nun mal leider nicht ausreichend. Ich habe dir natürlich etwas mitgebracht!"

Er hatte beim Chinesen eingekauft und stellte eine Schachtel mit Hähnchen Süßsauer auf den Tisch, wechselte die Wasserflasche und machte Anstalten, Eric zu füttern.

„Was soll der Mist!? Binden Sie mich los, damit ich selbst essen kann! Ich werde nicht weglaufen, ich verspreche es!"

„Selbstverständlich wirst du nicht weglaufen", erwiderte der Killer lächelnd, angelte einen kleinen Revolver aus einer Innentasche seiner Joggingjacke und schoss seinem Opfer in den linken Unterschenkel. Eric stieß einen Schmerzensschrei aus. Er fühlte, wie warmes Blut sein Bein hinunter rann und biss die Zähne zusammen.

„Was... was zum Teufel...!?! Sie verdammtes Arschloch...!!!"

„He, kein Grund, ausfällig zu werden. Ich wollte nur sicherstellen, dass du wirklich nicht laufen kannst. Man soll kein Risiko eingehen. Jetzt darfst du allein essen."

Er band ihn los und Eric packte die Stäbchen, die wie das Hähnchen Süßsauer so gnadenlos und brutal normal waren, dass er in hysterisches Schluchzen hätte ausbrechen mögen. Er musste sich zu der Mahlzeit überwinden; in seinem Mund vermischte sich der Geschmack des Fleisches mit dem Geruch seines Blutes, sein dröhnender Kopf und der pochende Schmerz in seinem Bein erzeugten eine brennende Übelkeit. Nachdem er gegessen hatte, geleitete ihn sein Entführer zu einem Toilettenraum. Eric humpelte mit aller Verachtung, die er aufbringen konnte, an ihm vorbei, rettete sich in eine der vier Kabinen und übergab sich. Zwischen den Fliesen wucherte Schimmel und es stank nach Urin und alten Reinigungsmitteln. Während er sich die Hände wusch, merkte er, dass das Fenster von innen zugemauert war. Eric starrte eine ganze Weile auf diesen Wall aus Ziegeln. Kein Fluchtweg! Und selbst wenn, wie hätte er mit seinem Bein da durchklettern sollen? Vielleicht hätte er auch gar nicht erst durch gepasst! Es war eben manchmal von Vorteil, klein und leicht zu sein. Das Klo konnte er also abhaken. Er setzte sich auf den Boden, schob das Hosenbein nach oben und untersuchte die Wunde. Der Jeansstoff hatte einen Teil des Bluts aufgesaugt und mit Klopapier und Speichel versuchte er, sich ein wenig zu säubern und zu desinfizieren. Seine Jacke, die seine persönlichen Habseligkeiten enthielt, hatte ihm der Kerl wohlweislich abgenommen. Wo hatte er sie hingetan? Konnte er sie finden und mit seinem Handy um Hilfe rufen?

„Willst du dadrin übernachten, Eric? Wenn du nicht gleich herauskommst, komme ich rein."

Der junge Mann antwortete nicht und kehrte, eine ungerührte Miene zur Schau stellend, zu seinem Platz zurück. Die Stäbchen lagen unschuldig auf dem Tisch und einem plötzlichen Gedanken folgend, schnappte er sich eines davon und attackierte den Verbrecher. Er zielte auf dessen Gesicht, doch der Killer trat hart gegen sein verletztes Bein und drückte den kleinen Revolver gegen seine Schläfe. Der schreckliche Schmerz zwang Eric auf die Knie, aber der kalte Stahl auf seiner Haut war noch schrecklicher. Er hörte das Klicken des Hahns. Es war laut wie ein Donnergrollen. Er erinnerte sich wieder an das Sommercamp, wo ihm klargeworden war, was Kyle ihm bedeutete. Er erinnerte sich daran, wie es war, allein in der Dunkelheit zu sein.

„Ich muss schon sagen, mein Junge, du bist aus außergewöhnlichem Holz geschnitzt. Was hattest du denn mit dem Stäbchen vor?"

„Ich wollte Ihnen das Auge ausstechen. Eigentlich hatte ich sogar gehofft, ich könnte es so tief in Ihren Schädel hineinstoßen, dass es Ihr Gehirn erreicht."

„Oho." Ein anerkennendes Zungenschnalzen. „Nun, deine körperliche Kraft hätte vielleicht für das Ausstechen ausgereicht, trotz des stumpfen Gegenstands. Nein wirklich, ich habe dich unterschätzt. Ich schieße dir ins Bein und du hast genug Nerven, um mich anzugreifen? Und es war noch nicht einmal ein dummer Angriff - wäre ich unbewaffnet gewesen, hättest du mir dieses Ding mit der Kraft der Verzweiflung tatsächlich bis ins Hirn rammen können, wer weiß? Ich gebe es nur ungern zu, aber ich bin beeindruckt. Und so etwas im zarten Alter von siebzehn Jahren! Meinen Respekt, Eric. Nun sei ein liebes Kind und setz dich."

Den Revolver immer noch an der Schläfe, ließ er sich auf den Stuhl fallen. Der Killer verzichtete diesmal auf herkömmliche Fesseln und legte Eric Handschellen an.

„Was soll das? Warum denn jetzt Handschellen?"

„Spart in der Zeit. Außerdem sind sie ästhetischer als diese groben Stricke."

„Und was haben Sie nun mit mir vor?"

„Im Moment? Nichts weiter. Unsere erste Session ist vorüber und für die nächste musst du frisch und ausgeruht sein. Ich werde dir ein Narkosemittel spritzen, so wie das letzte Mal."

„Ein... ein Narkosemittel!? Soll das heißen, Sie haben mich nicht einfach nur eingeschläfert, sondern mich in Narkose versetzt!?"

„Exakt. Wie sagt man doch? Augen zu und durch, Eric."
 

Ein gleißendes Licht hüllte ihn ein. Er wusste, dass er träumte, aber er hatte nicht den Wunsch, aufzuwachen und wieder mit seiner grausigen Lage konfrontiert zu werden. Dieses Licht war so viel angenehmer... so warm, so schützend, so voller Kraft und Hilfe...

„Eric", sagte eine vertraute Stimme, „Kannst du mich hören?"

„Kyle? Bist du das?"

Er schlug die Augen auf. Das hier war definitiv ein Traum, denn er lag in seinem Bett, nur mit seinen Boxershorts bekleidet und neben ihm...neben ihm...!

Kyle räkelte sich genüsslich in den weichen Laken und blinzelte zu dem anderen hinauf, der sich aufgesetzt hatte und ihn mit einer Mischung aus Verlegenheit und Faszination anstarrte.

„Wieso trägst du auch bloß Shorts? Was soll das werden?"

„Das ist deine Fantasie, Eric, woher soll ich das wissen?"

„Und warum bist du hier?"

Traum-Kyle sah ihn überrascht an. „Warum ich...? Aber ich bin immer da, Eric. In deinen Erinnerungen, deinen Gedanken... und manchmal eben in deinen Träumen. Du weißt, dass du auf mich zählen kannst. Mein reales ‚Ich‘ kann dich nicht leiden, das stimmt, aber hat er dich jemals im Stich gelassen, wenn du wirklich in Not warst?"

Eric ließ sich auf das Bett zurücksinken und streichelte Traum-Kyle durch die roten Locken.

„Nein... nein, seltsamerweise war er immer für mich da. Er hat mich vor dem Ertrinken gerettet, und vor diesem Snooki-Etwas aus New Jersey... ganz von sich aus, ohne dass ich ihn darum bitten musste. Ich glaube, er weiß selbst nicht so genau, was er eigentlich mit mir anfangen soll... Wenn er da ist, habe ich keine Angst. Wenn er da ist, habe ich das Gefühl, alles bewältigen zu können. Ich will noch nicht sterben. Nicht, bevor ich ihm nicht wenigstens meine Liebe beweisen konnte... und dann habe ich mich auch noch nicht für den Mist entschuldigt, den ich ihm früher angetan habe. Ich muss diese Scheiße überstehen, irgendwie..."

Traum-Kyle lächelte und küsste Eric auf die Stirn.

„Du wirst es überstehen, solange du an dich glaubst und deinen Freunden vertraust. Ich bin sicher, sie werden alles versuchen, um dich zu finden und zu befreien. Besonders Kyle. Er kann nicht mit dir, aber ohne dich kann er erst recht nicht. Kenny ist dein bester Freund und Stan... nun, Stan würde dich wohl auch einen Freund nennen. Keinen sehr geschätzten Freund, zugegeben, aber im Sommer hat eure Clique fünfzehnjähriges Jubiläum. Stan wäre die letzte Person auf der Welt, das zu ignorieren. Fürchte dich nicht, Eric. Euch vier kann nichts aufhalten, nicht wahr? Ihr seid unschlagbar?"

„Ja. Ja, wir sind unschlagbar."
 

Eric blinzelte. Das warme Licht des Traums wich dem erbarmungslos grellen Leuchten der Glühbirnen und er hörte, wie der Mann, der ihn gefangen hatte, am Projektor herumhantierte. Er war zurück in seinem persönlichen Horrorfilm.

„Showtime, mein Junge! Wir sind noch nicht fertig! Heute zeige ich dir ein paar Bilder aus meiner Porträtphase! Du wirst es lieben!"

Erics leerer Magen füllte sich mit Ekel und Entsetzen. Hätte ihn der „Right Hand"-Killer bedroht, hätte er darauf reagieren können, doch diese absurde, beinahe kindliche Heiterkeit war weitaus verstörender. Selbst als er ihm ins Bein geschossen hatte, war er so... so unbekümmert gewesen, als hätte er ihm lediglich Stubenarrest erteilt. Auch hatte Eric jegliches Zeitgefühl verloren und fragte sich, wie viele Stunden oder Tage zwischen seinen Wach- und Schlafphasen vergangen sein mochten. Vor ihm standen die unvermeidliche Flasche Wasser und ein Plastikteller mit zwei großen Pizzastücken.

„Ah, ja, dein Essen, diesmal vom Italiener. Ich hoffe, heute behältst du es bei dir, schließlich will ich, dass du meine Kunst in wohlversorgtem Zustand würdigst! Ich habe sogar deine Wunde verbunden! Gut, die Kugel steckt noch drin, aber das ist allenfalls ein Kollateralschaden. Du wirst ohnehin sterben, habe ich nicht recht?"

Er löste Erics rechte Handschelle, schloss sie aber gleich darauf wieder um eine Strebe der Stuhllehne, damit sein Opfer nur eine Hand frei hatte. Der Siebzehnjährige aß in eisigem Schweigen seine Pizza, während eine neue Reihe Dias vor ihm abrollte.

„Hier habe ich meinen Lehrer porträtiert. Sieht er nicht sensationell aus?"

Die Züge des Lehrers waren naturgetreu wiedergegeben worden, aber der „Künstler" hatte allerlei Insekten hinzugefügt, die über sein Gesicht oder aus Ohren und Nase krochen. Sie wirkten widerlich real und Eric schüttelte sich.

„Sehr schmeichelhaft. Was hat denn Ihr Lehrer dazu gesagt?"

„Er fand, es sei zu morbid und war insgesamt etwas enttäuscht. Vielleicht hätte ich lieber einen Strick um seinen Hals malen sollen..."

„Ja, das hätte er sicher nicht morbid gefunden!"

„Sarkasmus, mein Junge? In deiner Lage? Ich bin begeistert! Es wird richtig Spaß machen, dich zu töten. Du wirst das Meisterwerk meiner Sammlung!"

Als nächstes folgten verschiedene Porträts von Gefängnisinsassen oder Wachleuten. Alle waren ihren Vorbildern gut nachempfunden (soweit Eric das beurteilen konnte), doch seinem Entführer war es immer wieder gelungen, die Darstellung zu verunstalten. Einer der Porträtierten sah wie ein Zombie aus, ein anderer wie ein Pestkranker, übersät mit schwarzen Beulen.

„Tod und Verwesung über alles, das ist wohl Ihr Credo, he?"

„So könnte man es formulieren. Schön, nicht wahr?"

„Ich wünschte, Sie würden tot umfallen."

Der Killer lachte. „Warte unsere kommende Sitzung ab, Eric. Dann erst wirst du das Ausmaß meiner Kunst begreifen können. Und in der darauffolgenden Sitzung... nun, wirst du die Ehre haben, bei der Erschaffung eines neuen Werkes dabei zu sein."

„...Es gibt nur noch zwei Sitzungen?"

Der Mann nickte bedächtig. „Ja. Es wird dir gefallen."

Es hätte nicht viel gefehlt und Eric hätte seine Pizza hochgewürgt. Er trank ein paar hastige Schlucke Wasser, um den Brechreiz zu unterdrücken und bekam nur halb mit, wie seine rechte Hand wieder angekettet wurde. Kalte Angst presste ihm das Herz zusammen. Er würde sterben. Wenn ihn hier niemand herausholte, würde er sterben. Sterben!

„Oh, und Eric?" Er wandte sich der schmeichlerischen Stimme zu, die er zu hassen gelernt hatte.

„Ich habe ein bisschen in deinen Sachen gewühlt und zwei hübsche Fotos in deinem Portemonnaie gefunden. Wer ist denn der süße Rotschopf? Ein Freund von dir?"

„WAGEN SIE ES NICHT, IHN ANZUFASSEN, SIE PERVERSES ARSCHLOCH!!!!"

„Na, na, na, was für eine böse Reaktion. Das lässt tief blicken. Du magst diesen Jungen?"

„..."

„Wer ist er?"

„..."

„Nun rede schon! Auch meine Geduld ist begrenzt, mein Bester. Ich könnte ihn zu unserer letzten Session einladen, weißt du? Leider muss ich noch einmal kurz weg, weil mir das Narkosemittel ausgegangen ist. Ich wusste, ich hätte mehr besorgen sollen, das habe ich jetzt davon. Ich werde dich also einen Moment allein lassen. Wenn ich zurück bin, solltest du etwas gesprächiger sein und mir den Namen des Rotschopfs verraten. Ich interessiere mich für ihn und kann es absolut nicht ausstehen, wenn mir Informationen vorenthalten werden. Bis später!"

Das Licht wurde ausgeschaltet und Eric saß erneut in undurchdringlicher Finsternis. Irgendwo öffnete sich eine Tür und fiel schwer ins Schloss. Der Bastard „interessierte" sich für Kyle.

»Nein...! Nicht Kyle...! Nicht Kyle!! NICHT KYLE!!!«

Eric ließ den Kopf sinken und fing an zu weinen.
 

***
 

Es war immer noch der siebte Tag seit Cartmans Verschwinden. Es war immer noch der Vormittag, an dem die Freunde es erfahren hatten. Es war immer noch der 26. Oktober, kurz vor halb elf, und die Gruppe hockte teilnahmslos auf einer Bank am Ufer von Stark‘s Pond und schien nichts mit sich anfangen zu können.

„Also, die Story?", fragte Kenny in die Stille hinein.

„Welche Story?"

„Die von dir und deiner Untergrundorganisation, Stan. Leg los."

„Ach so... wenn‘s dir Spaß macht. Ihr erinnert euch noch an die Rivalität zwischen den Goths und den ‚Vampiren‘? Während ich Anführer war, habe ich beide Parteien an einen Tisch gebracht und ihnen erklärt, dass es sinnlos ist, sich zu bekämpfen, besonders, wenn man sich so ähnlich ist. Zuerst hagelte es Proteste von allen Seiten, aber dann bin ich... bin ich laut geworden und habe ihnen meine Idee beschrieben."

Stan wurde nicht im klassischen Sinn „laut". Er hob zwar die Stimme, wenn er verärgert war, doch er blieb dabei nach außen völlig ruhig. Was sich statt dessen deutlich verstärkte, waren seine sarkastischen Spitzen, die er so treffsicher und schnell abschießen konnte wie ein Schütze seinen Pfeil. Niemand war sehr glücklich, wenn Stan Marsh „laut" wurde.

„Und deine Idee war, Schnüffler aus ihnen zu machen?"

„Ja. Das ist nicht so weit hergeholt, wie es klingt. Wo du gehst und stehst, kann es dir passieren, dass du über einen Goth oder Vampir stolperst. Der einzige Ort, wo sie höchstwahrscheinlich nicht sind, ist die Schule. Sie rauchen, trinken Kaffee oder Tomatensaft, beobachten Menschen, belauschen Gespräche und tauschen Klatsch aus, und das den ganzen Tag, im Falle der Goths begleitet von schwermütigen Versen, im Falle der Vampire begleitet von schwülstiger Prosa. Peitsch sie in Form und die graben dir in kürzester Zeit die geheimsten Informationen der Stadt aus, mit Garantieschein."

Kenny wurde etwas rot um die Nase. „Und du hast sie... äh, in Form gepeitscht?"

„Ohne Disziplin kann man so einen Job nicht professionell angehen. Es war aber nicht wirklich schwierig, sie zu überzeugen, da ich ja im Grunde nur von ihnen verlangt habe, das zu tun, was sie sowieso am liebsten tun: Herumspionieren. Außerdem war ich da schon mit Victor zusammen - und dass ich Mike gefiel, dem Anführer der Vampire, hat meinem Einfluss sicher auch nicht geschadet."

„Kein Wunder, dass du bei denen ‘ne regelrechte Legende bist... Du hast ihnen eine Aufgabe gegeben, die ihnen Spaß macht und mit der sie Geld verdienen können, ohne dass sie ‚Konformisten‘ werden müssen. Was sagst du dazu, Kyle? ...Kyle?"

Der Angesprochene hatte der Unterhaltung seiner beiden Freunde nur mit halbem Ohr zugehört. Er blickte auf den glitzernden See hinaus, ohne Augen für dessen Schönheit zu haben und spielte gedankenverloren mit einem Stück Pappe, das er in seiner Jackentasche gefunden hatte.

Es schien, als wäre er überhaupt nicht da.

„Was ist denn das?"

„Hä...?"

Stan nahm Kyle das Stück Pappe aus der Hand und studierte es. „Ein Probiergutschein vom ‚Weberstübchen‘? Seit wann magst du deutsche Konditorspezialitäten?"

„...Bitte? Oh... ach ja, ich erinnere mich... Cartman hat mir den Gutschein geschenkt. Auf der Party. Er hat gesagt, die Tochter des Eigentümers will mich kennen lernen. Sie ist mit ihm befreundet. Ich habe das Kärtchen erst in meine Hosentasche und später in meine Jacke gesteckt... mit der Absicht, es dort zu vergessen."

„Schäm dich. Denkst du etwa, bloß weil sie Deutsche ist, ist sie ein Nazi? Wisst ihr was? Wir gehen da jetzt hin! Meine Eltern waren schon öfter dort und beide finden es ‚zauberhaft‘. Was meint ihr?"

„Ich bin dabei, Alter... und für Süßkram bin ich immer zu haben!"

„...Muss ich wirklich mitkommen, Stan? Ich habe Angst, dass ich mich vielleicht danebenbenehme... Und was ist mit Cartman?"

„Dem können wir im Moment nicht helfen, wir haben getan, was wir konnten. Bis ‚Nevermore‘ Informationen für uns hat, können wir gar nichts unternehmen. Sei kein Feigling, die Tochter wird dich bestimmt nicht beißen."

Kyle seufzte und stand auf. „Also gut."

„He, wenn sie ‘n steiler Zahn ist, dann lasst mich ran, okay?"

„Wieso? Hältst du dich für unwiderstehlich, oder was?"

„Nun, ich wackle ein wenig mit meinen Augenbrauen und warte auf deine Antwort", entgegnete Kenny mit charmantem Grinsen. Stan blieb ungerührt.

„Jetzt komm schon, Kumpel! Diesem Blick kann niemand widerstehen! Du könntest ruhig etwas mehr Begeisterung zeigen!"

Der Schwarzhaarige musterte ihn und sagte schließlich so gelangweilt wie nur irgend möglich: „Woohoo, extra hoo. War‘s das? Wenn du glaubst, dass ein bisschen Augenbrauenwackeln etwas bei mir auslöst, hast du recht. Es reizt mich zum Gähnen."

Sogar Kyle musste schmunzeln. Stan hakte ihn unter und Arm in Arm machten sich die Freunde auf den Weg. Kenny trottete angesäuert hinterdrein.

»Ich schwöre bei Gott, das ist einer dieser Momente, wo ich nicht weiß, ob ich Stan jetzt umbringen oder ihm das Gehirn rausvögeln soll... nein, stop! Falscher Gedanke, ganz falsch!!«
 

Das Weberstübchen war um diese Uhrzeit vornehmlich ein Treff für Senioren und so staunte Petra erst einmal, als drei junge Kerle die Konditorei betraten. Der erste trug ein auffälliges schwarzes Lederensemble, der zweite einen orangefarbenen Parka und der dritte hatte prächtiges rotes Haar... he, rotes Haar...? Oh, das konnte nur Kyle Broflovski sein - und das bedeutete, die anderen waren Stan Marsh und Kenny McCormick. Petra überprüfte den Sitz ihrer Schürze und steuerte auf die Burschen zu, die inmitten der gemütlichen Einrichtung reichlich deplatziert wirkten.

„Herzlich willkommen im Weberstübchen. Was kann ich für euch tun?"

„Oh, guten Tag. Haben Sie noch einen Tisch frei?"

„Wegen des schönen Herbstwetters haben wir auch draußen gedeckt. Möchtet ihr rausgehen oder lieber hier drin bleiben?"

„Wir möchten lieber drinnen sitzen, danke."

Das war ungewöhnlich für Gäste in diesem Alter, die normalerweise frische Luft bevorzugten, solange draußen noch keine arktischen Temperaturen herrschten. Sie machten einen betrübten Eindruck, als hätte ihnen irgendetwas gründlich die Laune verdorben.

„Ihr habt Glück, wir haben noch einen freien Tisch in dieser Nische da drüben. Er liegt etwas abseits, so dass ihr nicht zu sehr den Gesprächen der anderen Leute ausgesetzt seid. Folgt mir."

Sie führte sie an den beschriebenen Tisch und die Jungen nahmen Platz.

„Wir... wir haben einen Gutschein", sagte Kyle schüchtern. „Können wir den einlösen?"

„Natürlich, er ist sechs Monate lang gültig. Darf ich mal sehen?"

Während sie so tat, als untersuche sie die Gültigkeit des Gutscheins, spürte sie Kyles Blick auf sich. Sie wollte ihm Gelegenheit geben, sie ausgiebig zu betrachten, damit er ein erstes Urteil über sie fällen konnte. Ihre Anwesenheit, oder, richtiger, ihre Nationalität, verunsicherte ihn.

»Hm... groß, blond, blauäugig. Perfekt arisch. Warum sieht sie ausgerechnet so aus? Sie lächelt ganz nett, aber das muss nichts heißen... ah, was denke ich da?! Ich kenne sie überhaupt nicht und sie hat mir nichts getan!«

„Der Gutschein ist in Ordnung. Ihr könnt alles aus der Karte auswählen, das euch anlacht, nur die Getränke müsst ihr bezahlen. Was wollt ihr trinken?"

„Ich hätte gern einen Pfirsich-Eistee."

„...Ich weiß nicht genau... Ein Glas Mineralwasser erstmal. Mit Kohlensäure, bitte."

„Ich krieg ‘ne Cola... und kann ich Ihre Handynummer haben?"

Petra hielt im Notieren der Bestellungen inne und zwinkerte Kenny vergnügt zu. „Wenn du acht Jahre älter wärst, könnten wir darüber reden, aber so...? Hast du keine Freundin, die du becircen kannst, du Charmebolzen?"

„Ich binde mich nicht."

„Oho... so einer bist du. Na, ich hole euch jetzt eure Getränke. Bis gleich."

Nachdem sie davongeeilt war, meinte Kenny: „Die gefällt mir, sie ist kess. He, schau nicht so angefressen, Kyle. Du bist total verkrampft. Du benimmst dich, als ob Miss Weber auf dem Grab deiner Großmutter getanzt hätte. Gib ihr ‘ne Chance, verdammt nochmal!"

„Er hat recht, Kumpel. Ich finde sie sympathisch. Ich verstehe ja, dass das nicht leicht für dich ist, eure Völker haben eine schlimme gemeinsame Vergangenheit, aber wer die Vergangenheit nicht ruhen lassen kann, ist in meinen Augen ein Idiot."

„Das ist mir auch klar. Trotzdem fühle ich mich ein bisschen unwohl, ich kann‘s nicht ändern. Werden wir ihr von Cartman erzählen?"

„Wenn sie fragt..."

Petra fragte, als sie ihre Getränke servierte. „Ihr seid Stan, Kyle und Kenny, nicht wahr? Eric ist ein guter Kunde und ein Freund von mir, er hat mir viel von euch erzählt. Warum ist er nicht bei euch, wenn ihr gemeinschaftlich die Schule schwänzt?"

„Wir schwänzen nicht, wir wurden vom Unterricht befreit. Cartman ist seit dem 19. Oktober, also seit meiner Geburtstagsparty, verschwunden. Die Polizei vermutet, dass er vom ‚Right Hand‘-Killer entführt wurde."

Die junge Frau wurde blass. „Aber... aber das ist ja schrecklich! Und was heißt hier, die ‚Polizei vermutet‘? Ich wohne schon lange genug in dieser Stadt, um zu wissen, dass sich die hiesige Polizei Inkompetenz auf die Fahnen geschrieben hat. Sergeant Yates hat geraten, oder?"

„Sie kennen Sergeant Yates?"

„Bei uns wurde vor zwei Jahren eingebrochen. Es war kaum Geld in der Kasse, der Sachschaden war jedoch beträchtlich. Yates hat den Täter nie gefunden und hat uns statt dessen irgendwelche halbgaren Theorien und Vermutungen um die Ohren gehauen, die vielleicht sehr kreativ, aber ansonsten völlig nutzlos waren. Armer Eric. Wie geht es denn seiner Mutter?"

„Sie ist total mit den Nerven fertig, obwohl sie bis heute damit gewartet hat, ihren Sohn als vermisst zu melden. Okay, ‚gewartet‘ ist das falsche Wort - sie hat es verdrängt, bis sie keine Ausreden mehr hatte. Saufen und Kiffen ist ja so viel wichtiger als die eigenen Kinder."

Der resignierte, bittere Ton in Kennys Stimme erinnerte Petra an Eric, wenn er von seiner Mutter sprach. Sie sah, wie Stan seine Hand tröstend auf die des Blonden legte. Kyle nippte verlegen an seinem Wasser.

„...Na, dann braucht ihr etwas, um euch zu stärken, damit ihr Eric retten könnt. Wollt ihr, dass ich euch einen Probierteller zusammenstelle, oder wollt ihr einzeln aussuchen?"

„Warum glauben Sie, dass wir vorhaben, Cartman zu retten?"

„Weil es das ist, was ihr eben so tut, falls Erics Geschichten über eure Kindheitsabenteuer auch nur ein Körnchen Wahrheit enthalten. Ihr seid daran gewöhnt, die Initiative zu ergreifen. Nun? Probierteller oder Einzelbestellung?"

„Wir nehmen den Probierteller... he, was ist ein ‚Kalter Hund‘?", erkundigte sich Stan, der sich in die Speisekarte versenkt hatte. „Ich kenne nur Hot Dogs..."

„Lass dich überraschen."

Der Probierteller entpuppte sich als ein großes, üppig ausgestattetes Tablett mit allerlei Kuchen und Gebäck. Jedes Stück war mit einem kleinen beschrifteten Fähnchen versehen, damit die Gäste wussten, um welche Spezialität es sich handelte. Es gab „Kalter Hund", Baumkuchen, Nussschnecken, Marmorkuchen, Gugelhupf (dieses Wort verursachte spontane Heiterkeit am Tisch), „Granatsplitter" und verschiedene Sorten von Krapfen und anderem Schmalzgebäck, sodass keine Wünsche offenblieben. Sie schmausten, bis sie stöhnend kapitulieren mussten.

„Hat es euch geschmeckt?"

„Absolut... aber es ist noch so viel übrig...", jammerte Kenny und betrachtete verzweifelt die leckeren Sachen, die er nicht mehr essen konnte.

„Ich kann euch den Rest einpacken. Jeder eine Portion zum Mitnehmen?"

„Oh ja, bitte!"

Während Petra hinter der Theke drei zuckergussrosa Kartons bestückte, bot Kyle sich an, die Rechnung für die Getränke zu übernehmen. Er zählte den Betrag ab, den Petra ihm nannte und sein Blick fiel dabei auf ein schwarzweißes Bild hinter ihr an der Wand, das einen glücklich lächelnden Mann zeigte, der einen Säugling auf dem Arm hatte.

„Ein hübsches altes Foto. Wer ist das?"

„Mein Großvater, das Baby ist mein Dad. Er war auch Konditor und hat uns viele von seinen Rezepten hinterlassen. Leider habe ich ihn nie kennen gelernt. Er half seinen jüdischen Nachbarn bei ihrer Flucht und wurde von den Nazis erwischt. Sie haben ihn erschossen."

„..."

Kyle war zu bestürzt, um etwas zu sagen. Sie reichte ihm seinen Karton und er griff mechanisch danach, bewegte tonlos die Lippen. Sie lächelte.

„Es hat mich gefreut, dich persönlich zu treffen, Kyle. Falls du mal jemanden zum Reden brauchst oder Eric dir auf die Nerven geht, kannst du gerne zu mir kommen. Ich drücke euch die Daumen für eure Rettungsmission. Viel Glück!"

Er war schon fast an der Tür, da drehte er sich noch einmal um. „...Danke."
 

Die nächsten Tage waren erfüllt von ängstlicher Erwartung. Jeden Moment fürchteten die Freunde, dass man im Radio oder Fernsehen vom Fund einer Leiche berichten und sie als Eric Cartman identifizieren würde. Sergeant Yates strapazierte die Geduldsfäden aller Beteiligten und Unbeteiligten mit albernen Fragen, die offenbar nur der Befriedigung seiner Klatschsucht dienten und war dabei wie gewöhnlich so taktlos, dass Liane Cartman erneut einen hysterischen Anfall erlitt, Kyle kurz davor war, ihm eine reinzuhauen und Direktor Sinclair ihm verbot, jemals wieder das Schulgelände zu betreten. Das Verschwinden des Star-Quarterbacks war zum Gesprächsthema Nummer 1 avanciert und Stan, Kenny und Kyle konnten kaum einen Fuß in die Park High setzen, ohne sofort von einer neugierigen Meute umringt zu werden. Die meisten waren nur an der Sensation interessiert; diejenigen, die Cartman persönlich kannten, wie zum Beispiel Butters, Wendy oder Patty, hielten sich diskret zurück. Niemand von ihnen brachte es so richtig über sich, sich auf die alljährliche Halloweenparty der Schule zu freuen, wo immer das beste Kostüm prämiert wurde.

Schließlich kam der 31. Oktober heran. „Nevermore" hatte sich noch nicht gemeldet, was insbesondere Stan allmählich beunruhigte. Er saß zusammen mit Kenny und Kyle in seinem Zimmer und half dem Blonden bei seinem neuen Geschichtsaufsatz, während sein bester Freund über seinem Laptop brütete und Gesetzestexte für AP Recht studierte. Plötzlich klopfte es und Sharon öffnete die Tür. „Du hast Besuch, mein Schatz."

Neben Stans Mutter stand ein junger Goth, etwa dreizehn Jahre alt, mit Piercings und Ketten überall. Der ehemalige „Kindergoth", der sich inzwischen in „Punk Goth" umbenannt hatte und mit Ike in eine Klasse ging.

„Punk? Was tust du hier?"

„Ich habe einen Auftrag. Das hier ist für dich, Raven. Mit einem schönen Gruß von Curly."

Er drückte ihm einen USB-Stick in die Hand, verbeugte sich leicht und entschwand. Sharon blickte ihm kopfschüttelnd nach und kehrte zu ihrem Fernsehfilm zurück. Manchmal konnte sie sich über die seltsamen Bekanntschaften ihres Sohnes nur wundern.

„Sind das unsere Infos?"

„Sieht ganz danach aus. Los, ab in den Laptop damit."

Auf den USB-Stick waren mehrere Dateien gepackt worden. Die erste war „Curlys Notiz", die Stanley sofort anklickte.
 

Lieber Raven,
 

wir haben getan, worum du uns gebeten hast. Ich fürchte sehr, ich habe schlechte Nachrichten für dich und deine Freunde. Alle Spuren führen zum „Right Hand"-Killer. Im Gegensatz zu Sergeant Yates kann „Nevermore" dies auch beweisen. Michael Deets, der „Left Hand"-Killer, zog mit seiner „Mordkunst" einen Häftling im Park County Gefängnis in seinen Bann. Dieser Häftling hatte zehn Jahre abzusitzen (ursprünglich dreißig, bevor unser dämlicher Gouverneur die Resozialisierungsnummer aus dem Boden stampfte) und sprach immer wieder offen über seine Bewunderung und Verehrung für Deets. Sein Name ist Owen Everett, 61, ehemals wohnhaft in North Park, Colorado, zur Last gelegt werden ihm: Betrug und versuchter Mord. Jetzt hat er sich zum waschechten Mörder entwickelt und versucht wohl, Deets‘ Taten zu wiederholen. Ja, er ist ein Nachahmungstäter. Der Tod seines Idols hat ihn tief getroffen. Der Gefängnispsychiater sagt aus, dass Everett in einen regelrechten Trauerzustand verfallen sei, nachdem Deets erschossen wurde.

Wie euch sicher bekannt ist, galt Eric Cartman zu dieser Zeit als Medium. Er wurde von Deets entführt, weil er ihn in der „Ausübung seiner Kunst" gestört hatte (Aussage des achtjährigen Eric Cartman, aufgenommen nach seiner Befreiung). Deets hatte die feste Absicht, ihn zu töten, was jedoch durch die Polizei verhindert werden konnte. Die Identität des Killers und seine Adresse wurden Yates durch ein echtes Medium mitgeteilt: Durch Kyle Broflovski, der nach einem Sturz vom Dach tatsächlich mit der Gabe des zweiten Gesichts gesegnet war. Diese Gabe hat er inzwischen verloren. Da es um Kyle keinen Medienrummel gab, ist seine Beteiligung an der Aufklärung dieses Falles unter den Teppich gekehrt worden - ganz davon abgesehen, dass sich Yates nicht von einem Achtjährigen den Rang ablaufen ließe.

Meine These ist, dass Everett wirklich an Cartmans Kräfte glaubt und deshalb überzeugt ist, er habe die Polizei zu Deets geführt und sei indirekt für seinen Tod verantwortlich. Er will Rache. Wenn er sich als Deets‘ geistiger Nachfolger versteht, betrachtet er seine Morde wahrscheinlich als Kunstwerke und wird Cartmans Tod als solches zu inszenieren wünschen. Die Leichen des „Right Hand"-Killers wurden bisher immer an öffentlichen Orten gefunden. Zwischen dem Verschwinden seiner Opfer und ihrer Wiederentdeckung vergehen im Schnitt zehn bis zwölf Tage. Rechnen wir vom 20. Oktober an, ist heute der zwölfte Tag. Wir können vermuten, dass Cartman jetzt noch lebt, aber seine Chancen verringern sich mit jeder Stunde. Anbei findest du eine Datei mit Everetts biographischen Daten und sein Foto aus der Gefängniskartei. Die dritte Datei enthält Spekulationen zu seinem Aufenthaltsort. Wir haben vier mögliche Orte ausgewählt, die seinen Zwecken dienlich wären und wo die Anwohner in den letzten Monaten umherstreifende Unbekannte gemeldet haben.

Ich hoffe, dass dir diese Informationen etwas nützen und es dir gelingt, Cartman zu retten. Aber dir gelingt eigentlich alles.
 

In treuer Verbundenheit,
 

Curly
 

„Gut. Wir drucken alles aus, was ‚Nevermore‘ uns geliefert hat. Dann ziehen wir uns unsere Kostüme an und suchen diesen Geisteskranken!"

„Wolltest du deshalb, dass wir unsere Kostüme mitbringen? Denkst du nicht, dass wir damit zu sehr auffallen?"

„Heute ist Halloween, Kenny, und die Schule veranstaltet eine große Party. Kinder gehen hinaus, um Süßigkeiten zu sammeln. Die halbe Stadt wird unterwegs und verkleidet sein. Wir würden ohne Kostüm auffallen!"

Eine halbe Stunde später hockte Kyle auf dem Wohnzimmersofa und wartete auf seine Kameraden. Wieder und wieder las er Curlys Botschaft und seine Schuldgefühle schnürten ihm fast die Kehle zu. Er war derjenige, den Everett wirklich wollte, er hatte Deets in den Untergang getrieben, nicht Cartman! Und trotzdem... trotzdem war es nun Cartman, der sich in den Händen eines Verrückten befand und Angst um sein Leben haben musste! Was mochte ihm dieses Scheusal angetan haben? Hatte er ihn gefoltert? Hatte er ihn hungern lassen? Hatte er ihn vielleicht sogar... angefasst!? Kyles Magen rebellierte und er begann, tief und gleichmäßig zu atmen, um den bitteren Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben. Was, wenn sie zu spät kamen? Was, wenn Cartman bereits...

»Nein, das wird nicht passieren! Es darf nicht passieren! Ich könnte seiner Mutter nicht mehr in die Augen sehen! Ich könnte niemandem mehr in die Augen sehen, nicht einmal mir selbst! Aber Cartman... ist zäh, nicht wahr? Er hat die Sache mit Deets überstanden, also warum sollte er das hier nicht auch überstehen? Er ist eine Kämpfernatur, oder nicht?! Er lässt sich von nichts unterkriegen! Er gibt nie auf! Er darf nicht aufgeben...!«

Ein Rascheln schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Es war Kenny, der einen zerrissenen schwarzen Umhang mit Kapuze trug, der so lang war, dass er am Boden schleifte. Eine grausige Totenkopfmaske verbarg sein Gesicht.

„Was stellst du denn dar? Den Grim Reaper?"

„Genau den. Und wer bist du, ein irrer Zahnarzt?"

Kyle steckte in einem hochgeschlossenen Laborkittel; schwarze Gummistiefel und schwarze Gummihandschuhe sowie eine toupierte schwarze Perücke mit zwei weißen Haarstreifen links und rechts vervollkommneten das Kostüm.

„Ich bin ein verrückter Wissenschaftler. Oder ein wahnsinniges Genie, was dir lieber ist. Von mir aus auch ein irrer Zahnarzt."

„Wahnsinniges Genie? Na, von deinem Genie habe ich noch nicht viel gesehen..."

„Mach so weiter, Ken, und du siehst eine Menge von meinem Wahnsinn."

„Ui, da grusel‘ ich mich aber ganz furchtbar!"

„Kitzelt mich mal, damit ich lachen kann", erscholl Stans Stimme. „Wir haben keine Zeit für Scherze, Cartmans Leben ist in Gefahr." Er war als klassischer Vampir verkleidet, stilecht mit französischem Mantel in Königsblau, Rüschenmanschetten, Halstuch, Stiefeln und schwarzem Cape. Kenny stieß einen bewundernden Pfiff aus.

„Bist du gerade von Anne Rice überfallen worden oder wo hast du das her?"

„Aus dem Kostümverleih. Auf geht‘s, Jungs - wir müssen einen Freund befreien!"

Es war zwar erst sieben Uhr, aber schon dunkel. Die Straßenlaternen wetteiferten mit den Kürbislaternen um das unheimlichste Licht und fast jedes Haus war schaurig dekoriert, mit Knochengirlanden, Fledermäusen, Spinnennetzen oder sogar Blutflecken für den besonderen Horroreffekt. Einige Wände sonderten grünen oder lila Schleim ab, manche Vorgärten zierten Grabsteine oder Gespenster und wieder andere sahen aus wie Draculas Zweitwohnsitz oder Frankensteins Ersatzlabor. Die bunten, düsteren, schrillen, harmlosen oder furchteinflößenden Maskierungen, die die Menschen angelegt hatten, verwandelten South Park in einen surrealen Ort, der Tim Burtons Gehirn hätte entsprungen sein können (obwohl bereits das „normale" South Park dazu neigte, in jede Menge surrealen Kram verwickelt zu werden). Auf ihrem Weg begegneten sie auch etlichen ihrer Mitschüler: Butters etwa, der als Vampirjäger verkleidet war und sogleich einen Pflock zückte, als er Stan bemerkte; Craig, der als Zombie durch die Gegend wankte, begleitet von einem Seemonster (Tweek), Dr. Frankensteins neuestem Experiment (Clyde) und der Mumie eines ägyptischen Prinzen (Token); Jimmy und Timmy waren beide Werwölfe, während Gregory als Phantom der Oper und Pip als Kopfloser Reiter die Straßen unsicher machten; Bradley spukte als Geist und Wendy und Bebe schwangen ihre Zauberstäbe, um ahnungslose Passanten zu verhexen. Damien schließlich, kam einfach als er selbst - allerdings in seiner wahren, teuflischen Gestalt, komplett mit Schwanz, blutroter Haut, krallenartigen Fingernägeln, geschwungenen Hörnern und imposanten Fledermausflügeln.

„Guten Abend, Luzifer", flüsterte ihm Kenny beim Vorbeigehen zu.

„Guten Abend, mein Freund. Was für ein passend gewähltes Kostüm. Ich hoffe, du wirst heute keine echten Todeskräfte bemühen müssen."

Der Jüngere blieb stehen und starrte Satans Sohn ernst an. „Was weißt du?"

„Nicht mehr als du, glaub mir. Aber der Typ, mit dem ihr es aufnehmen wollt, ist jemand, der zu seinem Vergnügen mordet. Er wird sich nicht von drei High-School-Schülern aufhalten lassen. Wenn er wirklich entschlossen ist, Cartman zu töten, wird er nicht davor zurückschrecken, euch mit ins Jenseits zu befördern. In deinem Fall wäre das unproblematisch, du würdest wieder auferstehen, aber Stan und Kyle haben nur ein Leben."

„Und ich werde alles tun, um diese Leben zu schützen, Luzifer, denn sie sind mir kostbar. Ich bin kein gewöhnlicher High-School-Schüler, ebensowenig wie du."

„...In der Tat. Nun, Kenneth, vergiss nicht: Du hast Flügel. Benutze sie."

„Das werde ich."
 

Er verabschiedete sich von Damien und schloss zu seinen Freunden auf. Stan hatte die Unterlagen mit den möglichen Aufenthaltsorten aus einer Tasche seines Mantels gezogen und las sie nun gründlich durch.

„Vier Alternativen! Welche ist die richtige? Ich glaube nicht, dass wir noch lange herum probieren sollten!"

„...Und was ist, wenn es schon längst zu spät ist?", meldete sich Kyle zu Wort und seine Stimme klang verzagt und ängstlich. „Was ist, wenn Everett sein krankes Spiel längst beendet hat? Was ist, wenn wir nur noch Cartmans Leiche bergen können?! Was ist, wenn unsere Bemühungen sinnlos sind und wir auch noch draufgehen?!"

„Kyle!!" Stan packte ihn an den Schultern und fixierte ihn. „Ich weiß, du machst dir jetzt Vorwürfe, weil du derjenige bist, dem Everetts Rache gelten sollte! Ja, wir wissen nicht, ob Cartman noch lebt, aber wenn wir aufgeben, nur weil wir vielleicht zu spät kommen, verschenken wir die letzte kleine Chance, ihn doch zu retten! Du hast Angst? Ich auch. Wir wären Dummköpfe, wenn wir keine Angst hätten. Aber wir haben zusammen schon so viel Scheiße durchgestanden, dass wir auch das hier schaffen können! Es ist an uns, Kyle - es ist immer an uns, so ist das nun mal! Cartman braucht uns! Und so verrückt es sich anhört, wir brauchen Cartman auch! Er war stets an unserer Seite, egal, wie sehr die Kacke am Dampfen war! Er war an unserer Seite... mehr als zehn Jahre lang! Es gibt Freundschaften, die an Kleinigkeiten zerbrechen, doch es gibt auch Freundschaften, die jede Katastrophe überleben! Und ob es uns gefällt oder nicht, Cartman ist unser Freund! Wir sind es ihm schuldig, ihm zu helfen! Selbst wenn wir scheitern, was sollen wir sonst tun? Uns abwenden und sagen: Das geht uns alles nichts an? Das betrifft uns nicht? Das kann ich nicht. Wir können es nicht. Cartman ist ein waschechtes Arschloch, aber er vertraut uns! Er liebt dich! Er ist Kennys bester Freund! Er... verdammt, er mag mich, obwohl ich keine Ahnung habe, wieso! Wir können ihn nicht im Stich lassen, Kyle! Er zählt auf uns!"

Kenny sah den Schwarzhaarigen bewundernd an. Wie schaffte er es bloß immer, so direkte, schonungslos offene Worte zu finden? Wenn man ihm zuhörte, fühlte man sich plötzlich viel mutiger, als würde man von innen heraus gestärkt. Stan konnte überzeugen, motivieren, mitreißen... oder jemanden mit dem gleichen Elan und einer Salve Sarkasmus auseinander nehmen. In seinem eleganten Kostüm erinnerte er Kenny an in Seide gehüllten Stahl, weich und sanft nach außen, aber innen hart und unbeugsam. Es stimmte, die Zeit lief ihnen davon. Sie konnten nicht auch noch untersuchen, wo Cartman eventuell gefangengehalten wurde, nachdem sie schon so lange auf ihre Informationen hatten warten müssen (obgleich man nicht vergessen durfte, dass Yates nach wie vor nichts zustandegebracht hatte). Aber sie mussten natürlich vorher wissen, mit wem sie es zu tun haben würden. Er konnte die Suche sofort entscheiden, doch durfte er seine Kräfte einfach so zeigen?
 

»Das ist ein Notfall, Kenneth.«

»Gott? Das heißt, du erlaubst mir...?«

»Ja, das ist nur vernünftig. Du bist, wer du bist, also handle danach. Ich erteile dir hiermit offiziell den Auftrag, Eric Cartman zu retten und Owen Everetts sündige Seele zu richten. Bestrafe ihn mit dem Fegefeuer.«

»Und wenn er bereut?«

»Du wirst ihn fragen. Du wirst ihn prüfen. Lügt er, wird die Sense herniederfahren. Sagt er die Wahrheit, wird er geschont und der weltlichen Justiz überliefert. Du kennst die Prozedur, du machst es nicht zum ersten Mal. Viel Glück.«

»Danke, Herr.«

Die majestätische Stimme verschwand aus Kennys Kopf und er sagte: „Gib mir die Papiere, ich werde herausfinden, wo Eric steckt."

„Ach ja? Und wie?"

Der Blondschopf schob die Totenkopfmaske nach hinten, griff sich die vier Seiten und legte sie vor sich auf den Boden. Er kniete sich hin, breitete die Arme aus und versank in einer Trance. Stan und Kyle wollten schon gegen diesen nutzlosen Unsinn protestieren, aber es verschlug ihnen fast im selben Moment die Sprache, als Kennys ganze Gestalt von einem bläulich-weißen Licht umstrahlt wurde. Es erfasste die Papiere, sie begannen zu glühen und drei von ihnen lösten sich plötzlich auf. Die übriggebliebene Seite landete wie selbstverständlich in der ausgestreckten Hand des Beschwörers.

„Eric befindet sich in der stillgelegten Farbenfabrik, im alten Industriebezirk kurz vor der Stadtgrenze, der in ein neues Wohn- und Freizeitgebiet umgebaut werden soll. Die Ecke ist voller Baustellen und außer den Arbeitern verirrt sich fast keiner mehr dahin, am allerwenigsten die Polizei. Wir brauchen ein Auto."

„Kenny... was... was hast du gerade gemacht...?"

„Ich kann euch das jetzt nicht erklären, Jungs. Wir müssen los!"

Niemand erhob Einwände. Sie rannten zurück zu Kyles Haus und sprangen in seinen Wagen. Der Motor zündete, Kyle trat das Gaspedal durch und sie rauschten hinaus in die Dunkelheit. Stan, der neben seinem besten Freund saß, beobachtete ihn eine Weile und stellte zufrieden fest, dass die Unentschlossenheit und Zweifel von ihm abgefallen waren. Sein Gesicht wirkte beinahe grimmig, so konzentriert war er auf ihr Ziel. Stans Blick wanderte auch nach hinten zu Kenny, dessen Züge mit einem Mal von einem Ernst und einer Reife gekennzeichnet waren, die er bisher nur selten an ihm hatte bemerken können. Bei all den perversen Sprüchen und albernen Witzen, die er so gerne vom Stapel ließ, vergaß man leicht, dass er heldenhaft und selbstlos sein konnte. Zum Beispiel war er einst freiwillig in die Hölle hinabgestiegen, um die Welt zu retten. Und in seiner Rolle als „Mysterion" hatte er Ungerechtigkeiten zu bekämpfen versucht und war damit sogar erfolgreich gewesen. Aber magische Kräfte? Das war neu. Ob das mit seinen ständigen Todesfällen zusammenhing? Kenny war anders, doch da in South Park so vieles anders war, fiel seine Sterben-und-wiederauferstehen-Nummer nicht besonders ins Gewicht. Außer für ihn selbst, natürlich. Nun jedoch schien es, als gäbe es da ein größeres Geheimnis, das er heute mit ihnen teilen würde.

„Alles in Ordnung, Stan?"

Er erschrak, weil er nicht damit gerechnet hatte, von dem anderen angesprochen zu werden und fühlte sich erröten, als ihn ein intensiver Blick aus Kennys himmelblauen Augen traf. Er drehte sich verlegen um und starrte auf die Straße. Sie fuhren an lachenden Kindern vorbei, die für „Trick or Treat" an den Haustüren klingelten, vorbei an einer Gruppe schaurig verkleideter Teenager, die auf dem Weg zur Schulparty waren und Erwachsene erschreckten, vorbei an Kürbissen, Grabsteinen, Geistern und Fledermäusen. Halloween hatte begonnen.
 


 

Puh... es war nicht einfach, Everett zu schreiben und ich hoffe, er kam creepy genug rüber. Das nächste Kapitel wird voraussichtlich "The Dark Angel: 3. Akt - All Hollows' Evening" heißen und Ihr werdet endlich erfahren, was es mit dem Titel auf sich hat...falls Ihr es nicht schon erraten habt! Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit und bis zum nächsten Mal!^^



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Moonie-chan
2014-02-06T19:32:01+00:00 06.02.2014 20:32
Naaaaain T____T Ich will wissen, wie es weitergeht!! ;___;
Bitte schreib schnell weiter, ich kann das nächste Kapitel kaum erwarten!!
Von:  YuriUsagi
2013-11-13T22:44:56+00:00 13.11.2013 23:44
Tolles Kapitel. Das Halloweenthema ist passend und ich mag die jeweiligen Kostüme^^ Ich liebe Kenny und freue mich schon auf seinen großen Auftritt. Die Stelle mit Traumkyle hat mir besonders gut gefallen, da ich (selbst nach der katastrophalen neuesten Folge -_-') Kymanfan bin. Weiter so ^^
Von:  -Nox-
2013-11-10T17:14:19+00:00 10.11.2013 18:14
Das mit deinem Praktikum klingt echt heftig >< Gut das du jetzt von dort weg bist~ Und ich freue mich das es weiter geht.

Wieder sehr spannend geschrieben. Noch hält sich der Wahnsinn in Grenzen aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich sehr in diesem Sinne abgehärtet bin. Kenny ist mir wieder einmal noch sympathischer geworden und ich bin gespannt darauf wie es weiter geht~ :3
Ich weiß nicht wie du es schaffst mich so zu binden doch ich verneige mich davor und ziehe meinen imaginären Hut. <3



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