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Krähen

Bryan/BorisxBrooklyn?
von

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Dienstag

Diese Tür sah eigentlich genau so aus, wie alle anderen in ihrem Haus. Sie war nachlässig mit einer hellen Lackfarbe gestrichen worden, sodass an einigen Stellen noch uralte Pinselborsten klebten und sich überall kleine Partikel von der glatten Oberfläche abhoben. Die Klinke und das Schloss waren ziemlich neu, glänzten silbergrau und passten nicht zum Stil der Tür selbst.
 

Es half nichts. Wenn Boris sich noch länger Gedanken über die Beschaffenheit einer Tür machte, würde er noch vor Betreten der Wohnung dahinter verrückt werden. Er streckte die Hand aus und drückte mit der äußersten Spitze des Zeigefingers die Klingel. Von drinnen kam ein hohes Schrillen. Danach musste er nur einige Augenblicke warten, bis ihm geöffnet wurde; seltsam, dabei hatte er gar keine Schritte gehört. Vergeblich versuchte er, den Gedanken zu verscheuchen, die alte Hexe hätte schon hinter der Tür stehend auf ihn gewartet. „Komm rein“, brummte sie und wandte ihm den Rücken zu. „Und zieh die Schuhe aus!“
 

Ihre Haut war sehr dunkel und ledrig. Falten, die wirkten wie gemeißelt, überzogen das ganze Gesicht vom Haaransatz über die runden, geröteten Wangen bis hin zu dem kleinen Kinn. Sie trug einen langen Rock, eine Bluse und ein geblümtes Kopftuch, sodass sie ihn an diese Babuschka erinnerte, die einem am Anfang und Ende der Märchenfilme aus ihrem Fenster sehend ein paar Worte sagte. Über die weiche, aber deutliche Krümmung ihres Rückens hinweg konnte er den Flur entlang spähen und dann in das Wohnzimmer hinein, in das sie ihn führte. Zwischen zwei zerschlissenen Sesseln stand ein runder Tisch, ganz so, wie man es von modernen Medien, Kartenlegern und was es nicht sonst noch gab kannte. Es roch deutlich nach Opiumräucherstäbchen. Er kannte den Geruch, weil Ivan im letzten Sommer welche gekauft hatte, um die Mücken zu vertreiben, die durch die geöffneten Fenster in ihre Wohnung gelangt waren.
 

Sie setzten sich, und augenblicklich fand Boris sich dem forschenden Blick der Hexe ausgesetzt. In einer Ecke des Zimmers, hinter ihm, raschelte irgendetwas, er wollte gar nicht wissen, was genau das war. „Du ziehst die Krähen an“, sagte sie schließlich. Boris fiel aus allen Wolken. „Ähm, klar“, sagte er, „Tu ich doch immer, wenn ich von der Arbeit komme. Der Fisch, wissen Sie…“

Sie winkte unwirsch ab. „Davon rede ich nicht, durak! Hast du keine Augen im Kopf? Die Krähen sind überall vor dem Haus.“

„Klar weiß ich das“, brummte Boris, dessen Respekt vor der Alten mit der Beleidigung ein ganzes Stück geschwunden war. „Und? Was hat das mit mir zu tun?“ Daraufhin seufzte sie schwer, als wäre er nicht ganz bei Verstand. Natürlich wollte sie sich damit nur wichtig machen; warum hatten eigentlich alle solche Angst vor ihr? War doch bloß eine Schwindlerin, wie alle…

„Nah! Das hat was zu tun mit der Aura, Freundchen, hat gar nix zu tun mit dem dummen Fisch.“

Boris hob nur die Augenbrauen. Sie seufzte wieder und deutete dann mit ihrem knochigen Zeigefinger auf ihn. „Du ziehst die Krähen an. Irgendwas stimmt mit dir nicht.“
 

Die Stille, die dann einsetzte, weil Boris auf die Schnelle keine passende Erwiderung einfiel, wurde abermals durchsetzt von dem seltsamen Rascheln hinter ihm. Seine Nackenhaare stellten sich auf, aber er zwang sich, sich nicht umzudrehen.

Das war doch bescheuert. Wie bei „Wächter der Nacht“, nur schlechter. Sollte wohl ein Witz sein.

„Okay“, meinte er schließlich, „Und jetzt sagen Sie mir mal, wie teuer Sie sich diesen Humbug bezahlen lassen.“

„Ich will kein Geld“, fauchte die Alte. „Ich will nur sehen, was passiert.“

„Das ist doch absurd!“

„Ist es nicht. Tiere spüren Dinge, von denen wir Menschen nicht einmal etwas ahnen. Oder hast du noch nie davon gehört, wie eine Katze, die sich sonst von keinem anrühren lässt, zu einem kranken Menschen geht und sich schnurrend an ihn drückt? Sie spüren das, die Tiere. Sie wissen mehr über uns, als wir selbst.“

„Aha. Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun, um die Viecher loszuwerden?“

Sie hob die Schultern. „Bring deine Aura in Ordnung.“ Boris schnaubte. Was folgte, war ein längeres Blickduell, bei dem die Alte ihre letzte Bedrohlichkeit verlor. Sie war ein einfaches Großmütterchen. Warum sollte sie ihm etwas antun wollen?
 

„War das alles?“, fragte er daher. „Nein“, antwortete die Alte prompt, und innerlich verdrehte Boris die Augen. Sie erhob sich schwerfällig und schlurfte aus seinem Blickfeld hinaus. Als sie wiederkam, hielt sie den Grund für das Rascheln in der Hand: einen winzigen Käfig, in dem eine Taube saß. Boris begriff sofort: „Das ist die, die gestern Abend zwischen den Krähen saß.“

„Genau.“ Sie drückte ihm den Käfig in die Hände, „Bring sie zurück zu den anderen.“

„Warum ich?“

„Du bist verantwortlich für die Krähen. Du bist verantwortlich für sie. Und jetzt verschwinde.“

„Hä?! Aber –hey, warten Sie!“ Doch die Alte war schon wieder hinausgegangen und er hörte, wie sie die Tür öffnete. Kopfschüttelnd rappelte er sich auf und ging hinaus. Prompt fiel die Tür hinter ihm ins Schloss und alles war wie immer, als gäbe es die Hexe gar nicht. Doch dann fiel sein Blick auf den Taubenkäfig. Das Tier gurrte leise. „Was zur Hölle war das eben…?“, murmelte er, während er den Käfig auf Augenhöhe hob. Wusste die Alte denn nicht, wie viele verdammte Tauben es in dieser Stadt gab?
 


 

Er stellte den Käfig dekorativ auf dem Küchentisch ab, bevor er wieder nach draußen ging, um ein wenig durch die Stadt zu laufen. Bis zu seinem Seminar hatte er noch ein paar Stunden Zeit. Es war kühl und still; die Straßen füllten sich erst langsam, während er sich der Innenstadt näherte.
 

In Städten wie Paris oder London hatte er gesehen, wie sich aberduzende Cafés an die Ufer der gezähmten Flüsse drängten, wie dort die feinen Touristen saßen und bei Kaffee und Tellergroßen Tortenstücken über asoziale Fastfoodkettenstammgäste tratschten. Ein lächerliches Schauspiel, aber es trug sicher dazu bei, diese Städte reich zu machen. In seiner Heimat war der Tourismus noch nicht angekommen. Die Gäste im „Druschba“ kamen fast ausschließlich wegen der Kongresse, die dort stattfanden, oder aus dem näheren Umland für eine Party; Hochzeiten sollte man dort gut feiern können. Aber ansonsten wohnte man hier ruhig und von der Globalisierung abgeschnitten. Nun, die Stadt war auch hässlich. Boris hatte schon öfter darüber nachgedacht, ob die Mentalität hier eine praktisch veranlagte war und auf Ästhetik verzichten konnte, mehr jedenfalls, als in Westeuropa. Es gab, bis auf das „Druschba“ natürlich, und das war mehr als ein Streitfall, keine architektonisch bedeutenden Gebäude. Die wenigen Cafés, die sich halten konnten, befanden sich weitab vom Wasser, denn beinahe die gesamte Uferlinie wurde von der Industrie beansprucht: Es gab eine Werft, einen Containerhafen, eine Fabrik, in der Fisch verarbeitet wurde, die Lagerhallen, in denen auch der Fischmarkt stattfand und ein paar abgesicherte Kais für stahlgraue Militärschiffe weiter außerhalb. Direkt am Wasser entlanggehen konnte man nur an vereinzelten Stellen, und selbst da gab es nichts, als die übertrieben breite, übertrieben leere Promenade und die schmutzigen Wellen, die an ihr leckten. Nur einmal hatte man sich etwas Kultur gegönnt, und zu jener Stelle zog es Boris jetzt hin, einfach, weil sie so schön weltfremd war.
 

Zwischen den Militärkais und der Fischfabrik verlief also der längste Teil der tristen Promenade, und ziemlich genau auf der Mitte dieser Strecke erweiterte sie sich zu einem kleinen, nach hinten ummauerten Platz. Auf der Stirnseite dieses Platzes, den Blick gen Wasser gerichtet, erhob sich ein Kriegsdenkmal, die vielfach überlebensgroße Statue eines Rotarmisten mit wallendem Uniformmantel und Kalaschnikow im Anschlag. Das Ding war wirklich riesig, sein behelmter Kopf ragte vollständig über die Bäume in seinem Umfeld hinweg. Vom Meer aus war es bei Tag besser zu sehen als jeder andere Orientierungspunkt an der Küste.

Boris setzte sich zu seinen Füßen auf die oberste der fünf groben Stufen, die durch steigbare kleinere Treppen verbunden waren. Er spähte kurz hoch zu dem harten Gesicht des Soldaten, der mit der gleichen stoischen Entschlossenheit aufs Meer hinausblickte, wie sie die meisten Denkmäler zeigten. Von hier unten konnte er nur ein Stück des Kinns sehen, aber er wusste ganz genau, wie dieses Gesicht aussah. Bartlos, jung und kräftig, mit einem herb-männlichen Kinn und einer scharf gezeichneten Nase. Und trotz allem mit vollen, sogar in Stein gehauen weich wirkenden Lippen.

„Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend.“

Nein, dachte Boris nur, bevor er sich umwandte. Nein.
 

Brooklyn stand auf der Treppe, die hinauf zur fünften Stufe führte, und grinste ihn unschuldig an. In den Händen hielt er einen Fotoapparat. „Was für ein Zufall“, sagte er, „Darf ich mich zu dir setzen?“ Boris wollte nicht ganz an einen Zufall glauben, jedoch fiel ihm spontan keine andere, weniger esoterische Erklärung ein, also sagte er erst einmal nichts und wartete ab. Natürlich ließ Brooklyn sich von seinem Schweigen nicht im Mindesten stören und kraxelte zu ihm hinauf, wobei er sich an zwei Falten des sich bauschenden Soldatenmantels vorbeischlängeln musste, ehe er seine Beine ebenfalls über den Rand der Stufe hängen ließ. „Wunderbare Aussicht“, kommentierte er und hob die Kamera ans Auge.

„Willst du mir erzählen, dass du noch nie hier warst?“, brummte Boris.

„Oh nein, bis jetzt musste ich immer arbeiten und hab kaum was gesehen. Aber jetzt habe ich Zeit, bin krankgeschrieben, hab mir irgendwas eingefangen. Pass auf, ich bin ansteckend.“ Er lachte, und als ob jemand einen Schalter umgelegt hatte, veränderte sich das Licht. Boris war verwirrt, er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass der Wind einfach nur die Wolken ein kleines Stück weiter geschoben hatte, sodass die Sonne frei am Himmel stand. Die Temperatur schien sofort ein wenig zu steigen.
 

„Einfach herrlich!“, seufzte Brooklyn neben ihm und drückte ab.

Boris hüllte sich fortan in Schweigen, aber sein Gegenüber schaffte es natürlich, immer wieder kleine Monologe zu halten. Er schien diesen Platz hier regelrecht gefressen zu haben, denn er machte keine Anstalten, seinen Weg fortzusetzen und Boris endlich, endlich allein zu lassen. Schließlich hätte er fünf einsame Minuten zum Nachdenken bitter nötig gehabt. Die Begegnung mit der Hexe lag ihm schwerer auf dem Gemüt, als er es wahrhaben wollte. Er hasste Menschen, die mit einem analysierenden Blick sahen, was an seiner Persönlichkeit nicht stimmte, aber genau diese Menschen konnte er dann meistens nicht ignorieren. Also sollte er an seiner Aura arbeiten, ja? Das war doch lächerlich!
 

Eine Bewegung in seinem Augenwinkel ließ ihn den Kopf drehen. Am Ende der Stufe saß eine Taube, ruckte mit dem Kopf und sah ihn schief an. Boris hob die Augenbrauen, doch schon kündigte das Geräusch von schnellen Flügelschlägen weitere Vögel an. „Oh“, machte Brooklyn neben ihm, „Nicht schon wieder.“ Um sie herum ließen sich immer mehr Tauben nieder, weiß bis dunkelgrau gefärbt. „Was meinst du?“, fragte Boris und machte eine halbherzig-scheuchende Bewegung mit der rechten Hand. Brooklyn hingegen streckte die Finger lockend aus. „Sie verfolgen mich“, sagte er, „Das geht schon seit ein paar Jahren so. Immer mal wieder.“

„Ach so…?“

„Tja, ich ziehe sie wohl magisch an“, meinte Brooklyn gedehnt. Inzwischen hatte ein regelrechter Schwarm sie eingeschlossen. Die Viecher gurrten und pickten nach unsichtbaren Körnern auf dem Beton. An Boris trauten sie sich nicht so recht heran, aber zu Brooklyn kamen sie, zupften an seiner Kleidung, und ihm schien das gar nichts auszumachen. Innerlich schüttelte sich Boris, denn für ihn waren Tauben einfach nur schmutzige Tiere, die zu nichts nütze waren, außer Krankheitsübertragung. Und das als Koch, schoss es ihm durch den Kopf. Er zog die Ärmel seines dunklen Pullovers über die Hände. Der Stoff hatte sich durch die Sonnenstrahlen aufgeheizt, sodass angenehme Wärme auf seinen Armen lag. Komisch, sogar die kahle Promenade sah in diesem Licht ein wenig freundlicher aus. Er ließ den Blick wandern, versuchte die Tauben zu ignorieren und bemerkte kleine Menschengrüppchen aus zwei oder drei Leuten, die sich plötzlich hier herumtrieben. Ältere Laute, die alle irgendwie schick aussahen, jedenfalls für ihre Verhältnisse.

„Ach herrjeh!“, ächzte Boris, als ihm der Grund dafür einfiel. Brooklyn zuckte erschrocken zusammen, und mit einem Mal erhoben sich sämtliche Tauben in die Luft. Ein lautes Rauschen hob an, als sie alle gleichzeitig mit den Flügeln schlugen. Boris konnte eine Zeit lang nichts sehen, außer grauweißem Gefieder überall, doch dann war der Schwarm über ihren Köpfen und stieg als diffuse Einheit zum Himmel auf. Zurück blieb eine ungewöhnliche Stille. Er spürte Brooklyns Blick auf sich und wandte sich zur Seite, um ihn zu erwidern; sie sahen sich stumm und ausdruckslos und wahrscheinlich das erste Mal wirklich an. Brooklyn passte nicht hierher, fand er, er wirkte wie jemand, der vollkommen entwurzelt worden war. Warum ausgerechnet Russland?, fragte er sich erneut.
 

Noch mehr Alte strömten auf den kleinen Platz, und das riss sie aus ihrer gegenseitigen Betrachtung. „Was passiert denn jetzt?“, fragte Brooklyn neugierig.

„Tanztee“, brummte Boris, „Wahrscheinlich haben sie es vorverlegt, weil es nach Regen aussieht.“ Zwei Musiker, eine Geige und ein Cello, stellten sich in einer Ecke auf. Wenige Minuten später krochen die ersten Töne, leicht verzerrt vom Wind, auf sie zu. Unten auf dem Platz fanden sich die Paare und begannen, sich langsam zu wiegen.

„Das ist schön“, murmelte Brooklyn und verfolgte sie mit Blicken. Sein Körper geriet darüber selbst in kaum wahrnehmbare, schaukelnde Bewegungen. „Ich meine, wie viele Leute in unserem Alter können denn tanzen? Nicht so viele. Einen Disko Fox vielleicht, aber mehr auch nicht. Aber die da unten…die treffen sich schon seit Jahrzehnten zum Tanzen, die brauchen nicht einmal auf ihre Schritte achten, das ist für die wie Laufen. Und sie haben ja auch ihre Partner, meistens schon genauso viele Jahre. Ich finde das schön, wenn zwei Menschen sich nach so langer Zeit immer noch so zugetan sind.“ Seine Worte verloren sich und wurden schließlich von der Musik übertönt. Boris runzelte die Stirn, ihn beschlich der Verdacht, dass Brooklyn sich allein fühlte, dass er ihm deswegen so auf die Nerven ging. Na das hatte doch gerade noch gefehlt: Ein Typ ohne Freunde, der in diesem großen, weiten Land nur einen Ansprechpartner hatte, und zwar ihn selbst. Als hätte er nicht schon genug Probleme. Kurz überlegte er, wie er Brooklyn schnellstmöglich an Ivan abtreten konnte, verwarf diesen Gedanken aber schnell, denn Ivan kannte grausame Methoden, um sich zu rächen. Und er würde nicht noch einmal fein gemahlenes Rindenmulch anstatt von Kaffee aufbrühen.
 

„Was laberst du für einen Mist, hm?!“, brummte er also und erhob sich. Er würde dieser Szene jetzt ein Ende bereiten. Brooklyn sah zu ihm auf, die Augenbrauen zusammengezogen. Er wirkte eher angepisst als mitleiderregend, und das war Boris schon fast wieder sympathisch. Aber es spornte ihn gleichzeitig nur noch mehr an, einfach wegzugehen. „Weißt du, wenn du es hier nicht aushältst, dann solltest du deinen Arsch wieder dahin bewegen, wo du hergekommen bist!“, meinte er leichthin und wusste, dass er damit das Messer noch einmal in der Wunde drehte. Brooklyns Augenbrauen zuckten kurz, und für einen kleinen Moment entstanden zwei scharfe Falten an seinen Nasenflügeln, die sich jedoch gleich darauf wieder auflösten. Boris hob die Schultern, steckte die Hände in die Taschen und grinste noch mal auf ihn hinab, bevor er leichtfüßig die Treppen nahm. Er schlängelte sich zwischen den sich wiegenden Paaren durch und wagte erst einen flüchtigen Blick zurück, als er schon die Promenade entlang ging. So wie es aussah, verfolgte Brooklyn ihn nicht.
 


 

Beim Anblick der Taube auf dem Küchentisch an diesem Abend überkamen ihn erste Zweifel an seinem Tun. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und starrte das Tier brütend an. Ab und an hörte er das Quietschen von Yuriys Drehsessel oder das Klappern der Tastatur, denn wie immer waren alle Türen geöffnet, sobald die Räume hinter ihnen durch irgendwen besetzt waren. Manchmal schliefen sie sogar bei geöffneten Türen, weil sie einfach vergaßen, diese zuzumachen. Eine Ausnahme war natürlich das Badezimmer, aber selbst wenn dort einer von ihnen in der Badewanne lag oder duschte, konnte es vorkommen, dass ein anderer sich gleichzeitig rasierte oder die Wäsche in die Maschine stopfte. Einmal hatte Ivan sich über eine Aktion der BBA aufgeregt und das nur bei Yuriy tun können, der jedoch gerade ein Bad genommen hatte. Im Verlauf ihres Gesprächs waren auch Boris und Sergeij aus verschiedenen Gründen hereingekommen und gleich dort geblieben, um sich an der Diskussion zu beteiligen. So hatten sie ihre erste Teambesprechung im Bad abgehalten.
 

Boris schmunzelte amüsiert, als er sich daran erinnerte, wie Ivan auf der Waschmaschine und er auf dem Klo gesessen hatten und Sergeij am Waschbecken gelehnt hatte, während der Schaum in der Wanne erst immer dünner geworden war und sich dann langsam aber sicher in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Als das Wasser zu kalt geworden war, hatte Yuriy sie schließlich alle hinausgeworfen.

Die Taube gurrte leise. Boris wurde aus seinen Gedanken gerissen. Schwerfällig erhob er sich und lehnte einen Augenblick später schon in Yuriys Türrahmen. Er musterte den Rothaarigen, wie er, eine dezente Lesebrille auf der Nase, pausenlos mit allen zehn Fingern auf die Tastatur einhackte, während sein Blick auf dem Manuskript ruhte, das rechts neben ihm lag. Seine Arbeit nahm scheinbar langsam Gestalt an. Boris räusperte sich und erhielt einen fragenden Blick über den Brillenrand hinweg. „Brauchst du zufällig gerade eine Pause?“, fragte er, woraufhin Yuriy die Hände von der Tastatur nahm und sich zurücklehnte. „Ist das deine Taube da in der Küche?“, stellte er die Gegenfrage.

„Indirekt“, antwortete Boris.

„Okay, ich frage nicht weiter. Was ist los?“
 

„Brooklyn“, sagte Boris und konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen. „Er geht mir auf die Nerven. Und andererseits…verdammt, er schafft es irgendwie, dass ich mich mies fühle, wenn ich ihn abserviere.“ Er fasste in Kürze seinen Vormittag zusammen und erwähnte seinen Verdacht, dass Brooklyn eine ganz schön einsame, arme Sau war. „Kurz: ich hab keine Ahnung, wie ich mit ihm umgehen soll. Und ich wette mit dir, dass es nicht lange dauern wird, bis er wieder vor mir steht.“ Yuriy hatte sich seinen Monolog geduldig angehört und verzog jetzt nachdenklich den Mund. „Tja, Boris…so, wie ich das sehe, meldet sich da gerade dein Gewissen zu Wort, auch wenn es ziemlich kurios ist, dass du überhaupt eins besitzt.“

„Ja, danke für die Blumen. Und weiter?“

„Also ich verstehe nicht, wo dein Problem liegt“, meinte Yuriy, „Warum greifst du ihm nicht einfach ein bisschen unter die Arme? Okay, unser aller Kennenlernen stand nicht gerade unter einem guten Stern, aber im Grunde hattet ihr auch nie so wirklich was miteinander zu tun. Er hat ja nur zur falschen Zeit auf der falschen Seite gestanden, und das Gefühl dürften wir ja nur allzu gut nachvollziehen können!“
 

„Aber Yuriy, dank BEGA hast du damals…“

„Aber es war nicht seine Schuld!“, unterbrach Yuriy ihn laut. „Verstehst du nicht? Ihn trifft keine Schuld. Nicht einmal Garland würde ich einen Vorwurf machen. Der einzige, der das zu verantworten hat, ist Volkov! Was würdest du denn sagen, wenn immer noch alle Blader darauf herumhacken würden, was wir damals im Namen von Biovolt für Scheiße gemacht haben?“

„Naja, manche hacken tatsächlich noch darauf rum…“, murmelte Boris beleidigt, doch selbst in seinen Ohren klang das billig. Er bewunderte seinen ehemaligen Teamchef für seine Einstellung. Er musste irgendwann, von allen unbemerkt, mit der Sache abgeschlossen haben und hatte Boris so etwas voraus.
 

„Du weißt ganz genau, wie gut Volkov darin ist, dich von etwas zu überzeugen“, fuhr Yuriy fort, „Und im Gegensatz zum Borg-Team haben sich die BEGA-Blader aufgelöst, sobald ihre Organisation gestürzt wurde. Brooklyn hat auf einen Schlag sein Team verloren. Was würdest du denn tun, wenn Ivan, Sergeij und ich von heute auf morgen in alle Winde verstreut leben würden?“ Er sprach damit die Gedanken aus, die schon den ganzen Tag lang durch Boris‘ Gedächtnis geisterten, und sein schlechtes Gewissen meldete sich, stärker als zuvor. „Aber ich mag ihn nicht“, begehrte er ein letztes Mal auf, „Ich kann ihn einfach nicht ausstehen! Das positivste Gefühl ihm gegenüber ist Mitleid.“

„Naja, aber das zeigt doch, dass du trotzdem ein gewisses Interesse an ihm hast, oder?!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2011-12-13T20:38:12+00:00 13.12.2011 21:38
Also, die Begegnung mit dieser Frau war ... strange ... Aber auch wahnsinnig interessant, wie du das beschrieben hast.
Besonders hat mir dieser Vergleich mit der Katze gefallen ...

Ach, jetzt hab ich während dem Lesen glatt vergessen, am Kommi weiterzuschreiben DX
Dein Schreibstil fesselt mich einfach zu sehr.
Ich freue mich wirklich waaahnsinnig auf eine Fortsetzung und bin natürlich beim nächsten Kapitel wieder dabei <3
Von:  FreeWolf
2011-09-25T20:49:15+00:00 25.09.2011 22:49
Wieder eine kleine Entjungferung, hehe ;)

Und wieder ein tolles Kapitel, mir wird die Metapher Bryan - Krähe, Brooklyn - Taube immer sympathischer. Die alte Hexe erinnert tatsächlich etwas an eine Babuschka, da gebe ich Borja recht, aber auch nur ein wenig ;)
Aber ich verstehe auch, dass er denkt, alles sei Humbug: mir ginge es nicht anders, würde vor mir jemand mit einer Taube im Käfig auftauchen. XD *lach*

Ich möchte gerne wissen, wie das Foto, das Brooky geschossen hat, aussieht.
Und oh, der Tanztee.. *lach* Die Situation ist so absurd, dass sie herrlich hineinpasst. Und dummer, dummer Boris, du solltest die Zeichen des SChicksals doch richtig deuten! (Man stelle sich nun ein Oberlehrergesicht vor bitte ;) *lach*)
Die erste Teambesprechung mit Yura in der Badewanne.. Warum konnte ich da nur nicht Mäuschen spielen? xDD

Yuriys Haltung gegenüber Volkov trifft es sehr genau: sie alle sind - auf die eine oder andere Weise - bloß Opfer. Wobei sie bestimmt auch selbst nicht so ganz unschuldig sind. Hmm

Wie auch immer ;)

einen schönen Abend noch
lg
FreeWolf




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