Der Apfel fällt nicht weit vom Grab
Sanft wog der Wind die dünnen Äste des Apfelbaumes hin und her, umspielte die feinen Blüten und brachte die dunkelgrünen Blätter zum Tanzen. Die warmen Sonnenstrahlen spiegelten sich hell auf der Oberfläche des klaren Baches wieder, der sich laut plätschernd über die Lichtung und durch den Wald zog. Nur schwach drang das Licht durch das dichte Blätterwerk der Baumkrone des großen Apfelbaumes und warf unzählige Lichtpunkte auf das helle Gras. Das laute Zwitschern von Amseln, Rotkelchen und Meisen erklang auf der kleinen Lichtung und verhallte zwischen den Bäumen des Waldes, nichts deutete mehr auf den Sturm der vergangenen Nacht hin. Seufzend blickte ich wieder in das Tagebuch auf meinem Schoss. Der blass-blaue Ledereinband war an einigen Stellen abgegriffen und fühlte sich unter meinen Fingern rau und rissig an. Eselsohren und dunkle Flecken sammelten sich in den Ecken und an den Rändern der einstmals weißen Seiten, die sich über die Jahrzehnte gelblich verfärbt hatten. Die dunkle Schrift war bereits Stellenweise so stark verblasst, dass ich sie kaum noch als solche erkennen konnte. Nur mit Mühe schaffte ich es die geisterhaften Striche und Schnörkel als Buchstaben zu identifizieren und die düsteren Worte in einen sinnvollen Zusammenhang zu setzten. Es waren die Berichte eines jungen Mädchens, das in unregelmäßigen Einträgen von einer Tragödie berichtete, die 1902 nicht nur ihre eigene Familie sondern auch die ganze Stadt in Panik versetzt hatte. Berichte über eine mysteriöse Mordserie, in der die Opfer nichts zu verbinden schien, außer ihrem Fundort.
Zwölf Menschen im Alter von Fünf bis Sechsundsiebzig starben innerhalb eines Jahres. Entweder wurden ihre Leichen zwischen den Wurzeln von Apfelbäumen gefunden oder an einem spröden Hanfseil in den Baumkronen hängend. Das erste Opfer war der damalige Hauptkommissar in Herbstburg, der Vater des Mädchens, das dieses Tagebuch geschrieben hatte. Mein Ururgroßvater. Man hatte ihn unter dem Apfelbaum im Garten seiner Familie gefunden. In unnatürlich nüchternen Worten beschrieb meine Urgroßmutter das Szenario. Ein breites Jagdmesser, dessen kunstvoll gearbeiteter Griff aus Hirschhorn bestand, steckte zwischen seiner dritten und vierten Rippe, auf der rechten Seite seines Körpers. Meine Urgroßmutter vermutete damals, dass der Täter eine ungeheure Kraft aufgewendet haben musste, da das Messer bis zum Anschlag im Körper ihres Vaters versunken war. Einen Monat später wurde der Leichnam einer Hebamme und einen weiteren Monat darauf der eines fünfjährigen Mädchens erhängt in den Wipfeln zweier Apfelbäume aufgefunden. So zog sich die blutige Spur des Mörders von Monat zu Monat durch das Jahr. Und immer auf den Fersen des Täters, meine Urgroßmutter Henriette.
Nicht viel wies darauf hin, dass sie die Verfasserin dieser grauen Zeilen war, nur der in goldenen Lettern auf den Einband gestanzte Name:
Henriette Degenhardt.
Seit ich denken konnte, hatten mein Vater und mein Großvater sie als stille, in sich gekehrte Frau bezeichnet, die Angst vor dem Leben hatte. Sie ging nie aus, hatte keine Freunde und nach dem Tod ihres Mannes hatte sie bis zu ihrem eigenen Tod vor über vierzehn Jahren kein Wort mehr gesprochen. Aber nichts von alledem passte zu der jungen und neugierigen Kommissarstochter, die auf eigene Faust versucht hatte, den Mörder ihres Vaters zu finden und in detaillierten Berichten alles was ihr wichtig zu sein schien, niedergeschrieben hatte! Niemand konnte die damals Sechzehnjährige davon abhalten Fragen zu stellen. Weder der Bürgermeister, der versuchte den Ruf der Stadt zu wahren, noch ihre eigene Familie, die es für 'pietätlos' und 'unschicklich' hielt, dass sie wie ihr Vater den Spuren eines grausamen Mörders nachging. Wieso hatte sie sich so verändert? Was hatte sie herausgefunden, dass sich ihr Charakter beinahe um hundertachtzig Grad drehte und sie ihrem Heimatort für den Rest ihres Lebens den Rücken zu wandte und nie wieder einen Fuß in Herbstburg setzte? Und wieso bestand der letzte Eintrag nur aus der Zeichnung eines kleinen Apfelbaumes? Sie hatte zwar immer wieder von Ereignissen geschrieben, die selbst eine gestandene Polizistin erschrocken hätten, aber es schien sie nie davon abzuhalten weiter zu ermitteln! Nicht einmal der Brief, der sie kurz nach dem siebten Mord erreicht hatte konnte sie abhalten weiter unangenehme Fragen zu stellen.
Kurz blickte ich auf das dunkle Briefpapier, das zwischen den Seiten des Tagebuches geklemmt war. Selbst nach über hundert Jahren konnte man erkennen, dass die mahnenden Worte mit Blut geschrieben wurden. Kalt lief mir ein Schauer den Rücken runter, als ich die warnenden Worte erneut las:
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm,
Die Tochter ist bald wie ihr Vater dran.
Du solltest verschwinden
Oder dich unter der Krone winden...“
Ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus und wandelte sich langsam in ein unangenehmes Drücken, als ich wieder zur Baumkrone hinauf blickte und die wenigen dunkelroten Früchte bemerkte, die sich dort drohend im Wind wiegten. Jemand hatte versucht meine Urgroßmutter aufzuhalten und wie es schien, hatte dieser Jemand großen Erfolg damit gehabt. Nur wer war das? Langsam legte ich den Brief wieder zwischen die vergilbten Seiten und klappte das alte Buch zu. Es gab nur eine Möglichkeit Antworten auf all diese Fragen zu finden. Ich musste wie Henriette all meinen Mut zusammennehmen und mich auf Spurensuche begeben.
Eilig packte ich das Buch zurück in meine Tasche und sprang übermütig auf. Ich hatte das Gefühl, als würde mich Henriettes Geist führen wollen. Und zwar zur Lösung des Rätsels, das sich in den dunklen Mauern des alten Familienanwesens versteckt hielt und nur Gott allein wusste, ob ich es heil überstehen würde.