15. Juli
Ich hatte den kompletten Samstag ganz originell mit einer Schachtel Eiscreme und einer Decke auf dem Sofa verbracht, während ich mir auf RTL unrealistische Familiendramen ansah, hin und wieder einen Heulanfall bekam, und nur aufstand, um ins Badezimmer zu gehen. Oder um eine neue Eispackung zu holen. Ich habe vollstes Verständnis für all die unglücklich verliebten Mädchen, die sich ihre Trauer mit Eis wegessen, denn ich weiß, dass diese Technik einfach funktioniert. Jedenfalls hatte ich eigentlich geplant, meinen Sonntag genauso zu nutzen, doch dann kam jemand, der mir einen Strich durch die Rechnung machte.
Es war etwa zwölf Uhr mittags, ich saß wieder auf der Couch und verfolgte eine Gerichtssendung, als es auf einmal an der Tür klingelte. Ich ignorierte das erste Klingeln, da ich niemanden sehen wollte. Auch das zweite Klingeln nahm ich nicht wahr. Schließlich wurde gerade das Urteil gesprochen. Doch als die Person vor der Tür sich auch nach fünf Minuten nicht weg bewegte, erhob ich mich schließlich. Grummelnd schlurfte ich zur Tür. Der kann was erleben, mich beim Hausfrauenfernsehen (wie ich es getauft hatte) zu stören, den mach' ich fertig, dachte ich genervt und öffnete die Haustür, in der Absicht, mein Gegenüber mental zu vernichten. Doch als ich Augenkontakt aufbauen wollte, starrte ich nur auf einen gut gebauten Brustkotb. Ich richtete meinen Blick weiter nach oben, bis ich das Gesicht schließlich einige Centimeter höher fand. Nun gut, dachte ich mir schließlich, ich habe heute einen guten Tag, da will ich nicht gemein sein. Da hat er nochmal Glück gehabt.
»Ähm, bist du...Tobias?«, fragte der Mann und ich war überrascht, was für eine sanfte Stimme er hatte.
Ich blinzelte ein paar Mal. Irgendwie kam mir der Mann bekannt vor. »Äh, ja. Und Sie sind...?«
Er lächelte und schien nach einer Antwort zu suchen. »Nun, wie soll ich sagen... Ich bin dein Vater.«
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Mein Gehirn, eingerostet vom wochenendlichen Fernsehprogramm, versuchte, die erhaltene Information zu verarbeiten. Es dauerte eine Weile, bis ich in der Lage war zu antworten, und dann noch nicht einmal besonders geistreich: »Wie jetzt?«
Der Mann stammelte etwas herum, er war sichtlich aufgeregt. »Ich habe von dem Unfall von Mari, äh, also, d-deiner Mutter, gehört und dass du jetzt alleine bist und ich wollte... also...«
In meinem Kopf drehte sich alles. Es gab nur wenige Personen, die meine Mutter bei ihrem Spitznamen nannten, da sie ihren vollen Namen ›Maren‹ bevorzugte. »Kommen Sie doch erstmal rein...«, bat ich ihn, damit wir uns besser unterhalten konnten.
Als er den Raum betrat, fiel sein Blick auf die zerknüllte Decke auf dem Sofa und das halb aufgegessene Eis. Auf dem Boden zerstreut lag etwas Müll. Er lächelte und murmelte so etwas wie ›ganz mein Sohn...‹, ich hörte ihn jedoch nicht deutlich. Die ganze Situation kam mir seltsam vor. War das wirklich mein Vater? Ich spähte zu ihm herüber. Er war viel zu riesig, um mit mir verwandt zu sein! Obwohl, meine Mutter war eher klein, so wie ich. Ich grübelte weiter und suchte nach irgendwelchen Ähnlichkeiten, doch ich fand keine.
Der Mann fand sofort die Küche und setzte sich. Scheint so, als hätte er hier früher wirklich mit meiner Mutter gewohnt, dachte ich mir. Vielleicht war er aber auch nur einmal aus irgendeinem anderen Grund hier gewesen. Wäre alles möglich.
»Wollen Sie Kaffee?«, fragte ich. Irgendwie musste ich die Situation auflockern.
»Nein, danke«, antwortete er lächelnd, »von Kaffee werde ich nervös, den vertrage ich nicht.«
Genau wie ich, schoss es mir durch den Kopf. Ich weiß noch genau, wie ich vor etwa zwei Jahren eine Stunde länger wach bleiben wollte, um für eine Arbeit zu lernen. Aus der Stunde ist dann eine ganze Nacht geworden. Und so aufgekratzt wie ich war, konnte ich das Lernen vergessen. Seitdem habe ich mir vorgenommen, kein Koffein mehr anzurühren. Trotzdem war ich weiterhin misstrauisch.
»Äh-ähm, wie wäre es dann mit...«
Ich überlegte kurz.
»Kamillentee?«, sagten wir beide schließlich gleichzeitig.
Wir sahen uns überrascht an. Dann lachte der Mann.
»Das musst du von mir geerbt haben. Mari hat Tee immer gehasst... Wie hat sie immer gesagt? ›Tee ist nur‹...«
» ›...heißes Wasser mit scheiß Geschmack‹ «, stieg ich mit ein.
Wieder tauschten wir einen überraschten Blick aus. Und da fiel mir etwas auf. Wenn ich in seine Augen sah, war es, als würde ich in einen Spiegel blicken. Das schimmernde Grün mit dem bräunlichen Rand. Diese Unsicherheit, die man in seinem Blick erkennen kann. Wie konnte mir das nur entgehen, als er vor der Tür stand?
Die Zweifel daran, dass dieser Mann tatsächlich mein Vater war, verschwanden immer mehr. Irgendetwas in mir vertraute ihm und gab mir das Gefühl, ihn schon mein Leben lang zu kennen. Mein Herz pochte vor Aufregung. Dieser Mann, der da vor mir saß, war mein Vater. Und er hatte mich gesucht, weil er sich Sorgen gemacht hatte. Bei dem Gedanken wurde mir ganz warm ums Herz. Irgendwie fühlte ich mich... wie beschreibt man das? Ich fühlte mich wie zu Hause. Als hätte ich einen Platz gefunden, wo ich hingehöre.
Nachdem ich zwei Tassen Kamillentee fertig hatte, setzte ich mich gegenüber von meinem Vater und schob ihm eine davon herüber. Er bedankte sich kurz. Wir wussten nicht genau, wo wir anfangen sollten, was wir uns erzählen sollten, und so trank jeder still seinen Tee. Eigentlich gab es so vieles, was wir nicht voneinander wussten. Na gut, eigentlich wussten wir überhaupt nichts voneinander. Aber es war trotzdem schwer, einen Anfang zu finden.
Ich beschloss, einfach eine Frage zu stellen, um die Stille zu durchbrechen: »Als was arbeitest du eigentlich?«
Als ich ihn duzte, sah mein Vater mich erst leicht überrascht an, doch dann lächelte er. »Ich bin Kunst- und Englischlehrer an einem Gymnasium.«
Für eine Weile konnte ich nichts erwidern, ich war einfach zu erstaunt. Wie konnte ich bei diesem Vater nur so ein Versager werden?
»Wie läuft es eigentlich in der Schule bei dir?«, fragte er mich auf einmal.
Ich zögerte. Sollte ich ihm wirklich die Wahrheit sagen? Dass ich gemobbt werde und mein einziger Freund ein Junge ist, der in Röcken herumläuft? Ich schäme mich nicht für David oder so, auf gar keinen Fall, aber wenn man das so hört, klingt es doch schon ziemlich seltsam, oder? Und ich wusste auch nicht, was mein Vater davon halten würde. Wäre er enttäuscht, dass ich es nicht zu etwas bringe, im Gegensatz zu ihm? Nicht zu vergessen, dass ich schwul bin. Das begeistert ihn sicher nicht, dachte ich mir.
»Es läuft eigentlich ganz gut, also... es gibt kaum Probleme oder so.« Ich konnte ihm die Wahrheit einfach nicht sagen. Ich schämte mich zu sehr und hatte Angst vor seiner Reaktion. Dass er mich schlussendlich doch verachten könnte, jetzt, wo ich ihn endlich, nach all den Jahren, bei mir hatte. Ich brachte es nicht einmal fertig, ihm in die Augen zu sehen.
»Du musst mich nicht anlügen«, hörte ich ihn auf einmal sagen.
Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum. In seiner Stimme schwang so ein trauriger Unterton mit. Wahrscheinlich enttäuschte es ihn am Ende doch mehr, von mir angelogen zu werden. Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und wollte ihm alles erzählen, doch da meinte er: »Wenn du nicht darüber reden willst...«
Ich lächelte. Er war so verständnisvoll, so ziemlich das Gegenteil meiner Mutter. Wie diese beiden Gegensätze wohl zusammen gefunden hatten?
»Nein, ich möchte dir gerne die Wahrheit erzählen. Du verdienst es, alles zu wissen«, sagte ich verlegen.
Mein Vater schwieg. Er ließ mir die Zeit, die ich brauchte, um mit meiner Erzählung zu beginnen. Ich atmete einmal tief durch und versuchte krampfhaft, einen angemessen Anfang zu finden.
»Naja, wie soll ich sagen... Ich bin nicht gerade der beliebteste Typ an meiner Schule.«
Mein Vater lächelte. »Das habe ich auch gar nicht erwartet. Coole Leute passen irgendwie nicht in unsere Familie.«
»Wohl eher nicht«, stimmte ich schmunzelnd zu und musste unweigerlich an Aksel denken, für den ›cool‹ ja schon fast untertrieben war.
Ein paar Sekunden herrschte unangenehme Stille, bis mein Vater mich fragte, ob ich gemobbt werde.
Als ich ihn leicht überrascht fragte, woher er das wüsste, murmelte er: »Der Nasengips...«
Ich lächelte traurig. »Wie ein Extremsportler sehe ich nicht gerade aus, was?«
»Gib' die Hoffnung nicht auf, Tobias«, sagte mein Vater aufmunternd, »mir ist es damals genau so ergangen. Und ich habe alles über mich ergehen lassen, habe nie Widerworte von mir gegeben. Als ich schließlich dachte, ich würde mein ganzes Leben lang ein Versager bleiben, tauchte Mari auf einmal auf und hat mich durchgeboxt. Ihre impulsive Art und ihre Selbstsicherheit haben auch mir ein paar Gramm Selbstbewusstsein gegeben und ich habe mein Leben in die Hand genommen. Und jetzt stehe ich hier, als Lehrer, der versucht, Schülern das Leben zu erleichtern, und kann behaupten, dass ich ein glückliches Leben führe.«
Ich blinzelte ein paar Mal. So eine mitreißende Rede hatte ich eigentlich nicht erwartet.
Mein Vater räusperte sich verlegen, als er merkte, wie viel er geredet hatte. »Nun, was ich damit sagen will... Ähm...«
»Ich soll an mich selbst glauben und mich wehren?«, riet ich.
»Vielleicht solltest du damit noch etwas warten«, sagte mein Vater und betrachtete meine gebrochene Nase, »und dir erstmal Verstärkung suchen. Hast du zufällig gute Kontakte zu Sportlern oder anderen harten Typen?«
Ich zögerte kurz. »Naja, da gibt es einen. Der hilft mir aber auch nur, wenn er richtig gute Laune hat.«
»Und wie oft ist das?«
»Eigentlich nie«, gab ich ehrlich zu. »Er mag mich wahrscheinlich nicht.«
Mein Vater lächelte mich aufmunternd an. »Bestimmt ist er nur launisch. Hast du ihn schon mal darauf angesprochen?«
Ich lief rot an. »N-Nein, da-da-das würde ich nie schaffen, ich meine...«
Ein breites Grinsen schlich sich auf das Gesicht meines Vaters. »Ach, so ist das!«
Mein Herz pochte wild und in mir stieg noch mehr Hitze auf. »Naja, also, äh...« Ich stammelte alle Wörter, die mir so in den Sinn kamen, leider ohne dabei eine passende Ausrede zu finden. Grandios, jetzt weiß mein Vater, dass ich schwul bin, dachte ich panisch. Diese Tatsache beruhigte mich nicht gerade. »Äh, t-tut mir Leid...«, stotterte ich.
Er sah mich verwundert an. »Wofür entschuldigst du dich?«
Ja, wofür eigentlich genau? Es war mir einfach so herausgerutscht, weil ich einfach davon ausgegangen war, dass es ihn enttäuschen würde. Welcher Vater macht schon Freudensprünge, wenn sein Sohn ihm sagt, dass er niemals ein Mädchen mit nach Hause bringen wird?
»Tobias, hat Maren dir je erzählt, warum wir uns getrennt haben?«
Ich schüttelte den Kopf. Dass sie mir immer eingetrichtert hatte, dass er ein Arschloch sei und nach Schottland ausgewandert wäre, musste er ja nicht unbedingt wissen.
»Ich habe sie wegen einem Mann verlassen.«
Hätte ich gerade einen Schluck Tee genommen, hätte ich ihn quer über den Tisch wieder ausgespuckt. Ein Glück, dass mein Mund leer war, so musste ich nur meine Kinnlade wieder schließen und niemand wurde verletzt.
»Denk' jetzt bitte nichts Falsches von mir«, sagte mein Vater verlegen, »ich weiß, dass das falsch war. Aber ich war ernsthaft verliebt.«
»...Du warst?«, fragte ich zögerlich nach.
Es herrschte für eine Weile Stille und ich bereute es, nachgefragt zu haben. Ich nahm meine Teetasse in beide Hände und wollte gerade daraus trinken, doch dann erklärte mein Vater: »Er hatte Krebs und ist vor zwei Monaten daran gestorben.«
Mein Griff, mit dem ich die Tasse umschloss, wurde automatisch stärker. Ich spürte ein leichtes Zittern in meinen Händen und sah, dass meine Knöchel bereits weiß hervortraten. Mit viel Mühe gelang es mir, dass die Tränen in meinen Augen blieben, wo sie waren. Wie konnte ein Mensch so viel Pech haben, dass er gleich zwei Menschen, die er liebte, auf einmal verlor, und dabei trotzdem den Lebensmut behalten? Mir wurde gleichzeitig aber auch eines klar: Ich kam ganz definitiv nach meinem Vater. Die Ähnlichkeiten waren schwer zu übersehen.
Bis zum Abend sprachen wir zwei uns aus. Ich konnte ihm sogar von Aksel erzählen und er machte mir Mut, ihn einfach mal anzusprechen. Vater erzählte mir auch, wie er und sein Freund zueinander gefunden hatten. Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass ich endlich meinen Vater kennengelernt habe. Es scheint langsam doch bergauf zu gehen. Irgendwie freue ich mich auf morgen. Hoffentlich kann ich mit Aksel reden...