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Yoru no tenshi

Engel der Nacht
von

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Über Zuneigung und Abneigung

„R-Ren-kun?“, stotterte Natsuki. Augenblicklich schoss ihr das Blut in den Kopf und sie wurde rot wie eine Tomate. Das war einfach nur phantastisch. Die Fünfzehnjährige hätte vor Glück platzen können.

„Hör zu...“, begannen beide gleichzeitig, in den Hörer zu sprechen. Dann mussten sie lachen. Natsuki war froh. Es war ein lockeres, erleichterndes Lachen.

„Du zuerst“, meinte Ren.

„Ok“, das Mädchen holte tief Luft und fasste Mut. „Weißt du... ich-ich wollte fragen, ob wir unsere Verabredung auf morgen verschieben können. Ich habe erst heute erfahren, dass meine Eltern eine Überraschungs-Geburtstagsparty für mich planen...“

„Ja richtig, du hast heute Geburtstag“, unterbrach der Junge sie überrascht. „Entschuldigung. Alles Gute wünsch ich dir.“

„D-danke“, die Fünfzehnjährige wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Ren-kun hatte ihr gratuliert. Ren-kun hatte ihr gratuliert! Unglaublich!!!

„Und natürlich können wir die Verabredung verschieben. Ich bin ehrlich gesagt auch froh darüber. Ich wollte dich dasselbe fragen, weil ich heute Abend auf meinen kleinen Bruder aufpassen muss“, fuhr der Junge fort.

Natsuki seufzte erleichtert auf. Er war so sensibel. So verständnisvoll.

„Also treffen wir uns morgen?“, fragte sie. „Vielleicht um vier Uhr? Im Café Umineko?“

„Am letzten Ferientag?“, fragte Ren belustigt. „Gerne. Ich verbringe Zeit mit dir, wann immer du möchtest, Natsuki-san.“

Wenn Natsuki nicht schon vorher die Farbe einer Kirsche angenommen hatte, dann tat sie es jetzt. Sie konnte sich Ren-kuns süßes Lächeln am anderen Ende der Leitung perfekt bildlich vorstellen. Er war einfach zum verlieben toll.

„I-in Ordnung“, meinte die Fünfzehnjährige, „bis morgen.“

„Bis morgen“, erwiderte der Junge. Dann legte er auf.

Natsuki seufzte. Er hatte so eine schöne Stimme. Und sah so gut aus. Und war so lieb. Konnte es sein... war sie vielleicht sogar verliebt?

„Mit wem willst du dich morgen treffen?“, ruckartig wurde das Mädchen aus ihren Gedanken gerissen. Wer hatte das gesagt? Langsam drehte Natsuki den Kopf. Shinji hatte ihr Zimmer betreten.

„Duuu!“, fauchte sie. Aus irgendeinem Grund stieg ihr wieder die Röte ins Gesicht. „Hast du mich belauscht? Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Misch dich gefälligst nicht ein, das geht dich nämlich nicht im Geringsten etwas an!“

„Und ob mich das etwas angeht“, beleidigt verschränkte der junge Mann die Arme vor der Brust, „ich muss schließlich wissen, mit wem meine Zukünftige sich morgen um vier Uhr nachmittags im Café Umineko trifft!“

„Deine Zukünftige?!?“, tobte Natsuki. Es war einfach unglaublich! Was erlaubte sich dieser Idiot eigentlich? Eine bodenlose Frechheit! „Du spinnst ja wohl! Verschwinde gefälligst aus meinem Zimmer und lass mich in Ruhe!“

Wütend sprang das Mädchen auf und stampfte auf Shinji zu. Mit Wucht boxte sie dem Achtzehnjährigen in den Bauch und schubste ihn weg. „RAUS HIER!“, donnerte sie.

„Au!“, jaulte der junge Mann und flüchtete aus Natsukis Zimmer. Dann musste er grinsen. „Eine Amazone warst du ja schon immer.“

„Was weißt du schon?“, zischte die Fünfzehnjährige.

Shinji blickte auf den Boden und schwieg eine Weile. „Ich weiß mehr, als du denkst“, sagte er schließlich. Verdutzt blickte das Mädchen ihn an. „Was...?“ Mit klaren, durchdringenden Augen sah er sie an. „Ich muss mit deiner Mutter reden. Bitte entschuldige mich.“ Der Violett-Haarige wandte sich um und ging zurück in Richtung Wohnzimmer. Natsuki starrte ihm nach. Was war das denn eben gewesen? Und dieser Blick... was hatte Shinji damit gemeint?

Ärgerlich und energisch schüttelte die Fünfzehnjährige den Kopf. Was interessierte sie schon dieser Typ? Tatsache war, dass sie sich morgen mit Ren-kun traf, und das waren mindestens fünfzig Luftsprünge wert. Mittlerweile waren die Gäste schon gegangen.

Was tat Shinji bloß noch hier?

„Natsuki-chan“, ihre Mutter rief laut ihren Namen.

„Was ist denn?“, antwortete das Mädchen gut gelaunt. Ihre Vorfreude konnte ihr nichts und niemand nehmen.

„Würdest du bitte den Müll nach unten zu den Mülltonnen bringen?“, fragte Marron.

Müll nach unten bringen? Dazu gab es doch Personal des großen Wohnhauses, welches dies erledigte. Was sollte das?

„Bitte, Liebes, ich habe vergessen, den Müll nach draußen zu stellen, damit die Leute ihn abholen können. Unser Mülleimer läuft bald über“, flehte die Mutter.

„Na gut“, erwiderte Natsuki. Wie gesagt. Nichts und niemand konnte ihr heute die Laune verderben.

Sie stapfte fröhlich in die Küche, schnappte sich die Müllsäcke und trat damit aus der Wohnung. Ein langer Gang erstreckte sich dort. An dessen Ende befand sich der Fahrstuhl. Eilig ging das Mädchen darauf zu.

Aber ein bisschen merkwürdig war das schon, nicht wahr? So viel Müll hatten sie gar nicht, dass man diesen jetzt so dringend loswerden musste. Und Natsuki hätte schwören können, dass der Müllmann erst morgen kommen würde. Hatte sie etwas verwechselt?

Sie drückte auf den Erdgeschoss-Knopf im Fahrstuhl. Unten angekommen, verließ das Mädchen die große Vorhalle mit den vielen Briefkästen und ging nach draußen, wo die großen Mülltonnen des Orleans standen. Mit Schwung warf die Fünfzehnjährige die Beutel hinein.

Dann auf einmal fiel es ihr ein. „Ich muss mit deiner Mutter reden“, murmelte die Grünhaarige vor sich hin. Das hatte Shinji doch gesagt. Wollten sie etwa nicht... dass Natsuki zuhörte?!?

Hatte Marron sie deshalb nach unten geschickt? Seltsam. Was sollte diese Heimlichtuerei?

Die ganze Fahrstuhlfahrt zurück in den siebten Stock dachte das Mädchen darüber nach, was wohl ihre Mutter und der Nachbarsjunge zu bereden hatten, was sie selbst nicht hören durfte. Dann fiel es ihr wieder ein. Miyako hatte in einem Monat Geburtstag. Bestimmt berieten sie sich, was sie der Mutter, beziehungsweise besten Freundin schenken sollten und wie die Party verlaufen sollte. Genau, das musste es sein. Shinji hatte ja schon immer einen guten Draht zu Natsukis Eltern gehabt.

Aber dann blieb noch eine Frage offen: Warum um alles in der Welt durfte die Fünfzehnjährige nicht zuhören? Dachten die etwa, sie würde aus Versehen etwas ausplaudern? Eine Frechheit!

Ärgerlich stampfte das Mädchen den Gang entlang. Denen würde sie jetzt erst einmal die Meinung geigen. So unzuverlässig war sie nun ja nicht, dass man ihr nichts anvertrauen konnte!

„Mom...“, rief Natsuki, als sie energisch die Wohnungstüre aufriss. Marron stand vor ihr und trank seelenruhig ein Weinglas aus. „Was soll die Heimlichtuerei?“, zeterte ihre Tochter wütend. „Heimlichtuerei?“, ihre Mutter blickte sie fragend an. „Was ist denn, Liebes?“

„Ach... Ihr - wisst genau, was ich meine!“ Die Fünfzehnjährige schnaubte, rannte in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Sie schüttelte den Kopf und verbannte ihre Eltern und Shinji aus den Gedanken. Sie hatte Wichtigeres zu entscheiden. Zum Beispiel, was um alles in der Welt sie morgen bei ihrem Date mit Ren-kun anziehen sollte...
 

Natsuki quietschte fast vor Aufregung. Unfassbar. Sie würde sich in einer halben Stunde mit Ren-kun treffen. Oh mein Gott! Das war unglaublich.

Schon den halben Tag hatte das Mädchen damit verbracht, mit Aoko zu telefonieren und sich beraten zu lassen, was sie am besten anziehen sollte. Nun hatte Natsuki sich für ein weißes Top, eine kurze Jeanshose und rote Schuhe entschieden. Schnell legte die Fünfzehnjährige sich nun ihre Kette, in der der Ohrring verborgen war, um, ohne welche sie nicht aus dem Haus ging.

Eilig sprang das Mädchen nun auf und rannte aus dem Zimmer. Zu dieser Verabredung wollte sie auf keinen Fall zu spät kommen. „Mom, ich gehe“, rief sie schnell, und bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, hatte Natsuki auch schon die Wohnungstüre wieder zugeschlagen.

Schnell rannte die Fünfzehnjährige den Flur entlang, an den vielen Türen vorbei. Als sie an dessen Ende angelangt war, ging gerade die Fahrstuhltüre auf. Ohne zu sehen, wo sie hinrannte, prallte das Mädchen gegen eine alte Dame, die eben mit zwei großen Einkaufstüten im Arm die Kabine verlassen wollte.

Die beiden braunen Tüten platzten auf und der Inhalt verstreute sich auf dem Boden.

Das Blut schoss Natsuki in den Kopf. „E-entschuldigung, das tut mir wirklich leid!“, nervös bückte sie sich auf den Boden und sammelte hastig die Lebensmittel ein, die dort verstreut lagen. „Ich... ich habe sie nicht gesehen, wirklich.“

Bevor die alte Frau etwas entgegnen konnte, hatte die Fünfzehnjährige alle Waren wieder in die Tüten gepackt und drückte sie ihr in die Hand. „Wirklich, tut mir leid, ich muss jetzt weiter!“, rief das Mädchen noch, zwängte sich in den Fahrstuhl und drückte auf den Erdgeschoss-Knopf.

Verdutzt und kopfschüttelnd blickte die Dame ihr nach.

Natsuki stürzte aus der Kabine und rannte durch die Vorhalle nach draußen. Rasch warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Durch diesen Vorfall hatte sie ganze fünf Minuten verloren. Jetzt musste die Fünfzehnjährige sich wirklich sputen. Bis zum Hafen, wo der Treffpunkt lag, war es noch ein weiter Weg.

Aber Natsuki würde es schaffen. Das wusste sie einfach. Das Mädchen rannte die Straße entlang. Die Sonne strahlte an einem klaren, blauen Himmel und ein sanfter Wind wehte durch die belebten Straßen. Der perfekte Tag für ein Date.

Die Fünfzehnjährige hastete über eine Brücke, wo gerade eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter an der Hand vorbeispazierte. Alles schien so friedlich zu sein heute.

Oder doch nicht? „Hilfe!“ Natsuki drehte ruckartig den Kopf zur Seite, um zu sehen, woher der Schrei gekommen war. Mehrere Grundschüler hatten sich versammelt. In ihrer Mitte sah das Mädchen einen kleinen Jungen auf dem Boden sitzen. Er hatte Tränen in den Augen.

„Gib uns sofort dein Lunchpaket!“, drohte einer der Grundschüler und hob die Faust.

„Aber das hat Chiyo mir gemacht“, schniefte der kleine Junge verzweifelt. „Lasst mich doch in Ruhe!“

Die älteren Kinder lachten. „Wehr dich doch!“, tönten sie spöttisch.

Nun hob der Junge die Hände vor das Gesicht und begann, zu weinen. Wütend schnappte Natsuki nach Luft. Sie stapfte entschlossen auf die Grundschüler zu. „Verschwindet!“, fauchte sie die Kinder an. „Das ist nicht fair, alle gegen einen!“

„Sagt wer?“, der größte der Jungen verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Die kenne ich!“, rief ihm einer seiner Kumpels zu. „Die ist im gleichen Kendo-Verein wie mein Bruder. Die hat schon den zweiten Dan. Hau lieber ab, Nobu-kun!“

Nobu-kun schnaubte. Er wandte sich schon zum Gehen, drehte sich aber hastig wieder um, riss Natsuki ihre Kette vom Hals und warf sie auf den Boden, wo der Anhänger zerbrach. Dann rannten die Grundschüler eilig davon.

„Bleibt sofort stehen, ihr...“, die Fünfzehnjährige hob drohend die Faust, doch die Kinder waren schon längst hinter der nächsten Straßenbiegung verschwunden. „Oh nein.“ Das Mädchen bückte sich und schaute nach dem Anhänger. „So eine Gemeinheit“, fluchte sie.

„D-danke“, der kleine Junge hatte sich langsam aufgerichtet. „Du bist nett.“

„Ist schon in Ordnung“, Natsuki musste lächeln. „Warum haben sie dich angegriffen?“

„Das sind Nobu-kun und seine Bande“, erklärte das Kind. „Sie terrorisieren alle anderen Grundschüler, weil sie sich für die Größten halten, wo sie doch nächstes Jahr schon auf die Mittelschule gehen dürfen. Sie wollten mein Lunchpaket stehlen. Das hat meine große Schwester Chiyo mir als Abschiedsgeschenk gemacht, weil sie für ein Jahr nach Europa fliegt.“

„Gemein sind diese Kerle“, die Fünfzehnjährige nickte dem kleinen Jungen aufmunternd zu. „Lass dir von ihnen bloß nicht zu viel gefallen. Geh zur Lehrerin, wenn sie dir wieder blöd kommen.“

„Das werd ich machen“, das Kind strahlte. „Auf Wiedersehen.“ Fröhlich rannte er davon. „Wiedersehen“, murmelte Natsuki und kicherte.

Dann richtete sie den Blick wieder auf den Boden. Als der Anhänger zerbrochen war, war der Ohrring herausgefallen. Wo lag er denn nur? Das durfte nicht wahr sein, sie konnte den Ohrring nicht verlieren! „Nein, nein, nein“, murmelte das Mädchen verzweifelt.

Jemand lachte vergnügt. „Du bist süß, wenn du dich so für Kinder einsetzt!“ Natsuki zuckte zusammen. „Nicht DU schon wieder!“, schnaubte sie und versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken. Sie blickte Shinji wütend ins Gesicht, der an einer Mauer lehnte und ihrer Meinung nach ziemlich blöd grinste. „Misch dich nicht ein!“, schnaubte das Mädchen.

Der junge Mann öffnete seine Hand. Etwas Kleines, in der Sonne Glitzerndes befand sich darin. „Ich denke, du suchst das hier, oder?“, fragte er. Ihr Ohrring!

Natsuki rappelte sich auf und ging mit festen Schritten auf den Violett-Haarigen zu. „Her damit, das geht dich nichts an!“, zeterte sie und griff nach dem Schmuckstück, doch Shinji verschloss die Hand wieder und zog sie weg. „Sag mir zuerst, mit wem du dich heute triffst!“

Einen Moment lang blickte die Fünfzehnjährige ihn verdutzt an. „Was?!?“ Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und eine steile Falte des Zorns bildete sich auf Natsukis Stirn. „DU IDIOT!“, donnerte sie und schlug dem jungen Mann mit der Faust ins Gesicht. „Lass mich bloß zufrieden!“ Sie schnappte sich den Ohrring und stampfte wütend davon.

Kopfschüttelnd, doch grinsend schaute Shinji ihr nach... und hielt sich die blutende Nase.
 

Was sollte Natsuki bloß tun? Nachdenklich blickte sie den kleinen, schwarzen Ohrring an, welcher in ihrer offenen Hand lag. Ohne diesen ging sie nirgendwo hin. Aber die Kette war kaputt gegangen. Wo sollte sie das Schmuckstück hintun? Fürs Erste verstaute das Mädchen ihren Ohrring in der Hosentasche. Sozusagen eine Notlösung. Später würde sie sich genauer darum kümmern. Jetzt galt es, sich auf das Date mit Ren-kun zu konzentrieren.

Schnell ermittelte Natsuki die Uhrzeit mithilfe ihrer Armbanduhr. Oh nein! Sie hatte ziemlich viel Zeit durch diesen Vorfall mit dem kleinen Jungen verloren. Ihr blieben nur noch fünf Minuten. Fünf Minuten Zeit, um schnellstens zum Hafen und von dort zum Café Umineko zu gelangen.

Die Fünfzehnjährige beschleunigte ihre Schritte. Sie konnte es schaffen! Da... in der Ferne konnte Natsuki ein blaues Glitzern zwischen den Hausdächern erkennen. Es konnte nicht mehr weit sein. Der Weg wurde steiler, das Mädchen rannte eine Anhöhe hinunter und zwischen den nun immer enger werdenden Gassen hindurch. Kleine Hafenhäuser, Bars und Läden reihten sich aneinander. Momokuri war eigentlich eine sehr schöne Stadt.

Nun war Natsuki am Hafen angelangt. Sie blieb stehen und schnappte nach Luft. Der leichte Wind, der vom Meer hinüberwehte, schmeckte nach Salz. Nur vom Rauschen der am Ufer aufschäumenden Gischt übertönt, hörte man in der Ferne das laute Rattern eine Fähre, die auf das Festland zusteuerte. Am blauen Himmel kreisten Möwen um die warme Sonne, die mit ihren sanften, spätsommerlichen Strahlen über die unendliche, sich am Horizont ausbreitende, blaue Fläche strich.

Das Café Umineko war ein kleines, in hellem blau gehaltenes Gebäude, welches direkt am Meeresufer stand. Davor standen viele, zierliche, weiße Tischchen und Stühle. Auch kleine, blau-weiß-farbene Schirmchen waren aufgestellt. Hinter den Schaufenstern waren viele, leckere Kuchen und Torten zu sehen, die direkt den Appetit ansprachen.

Aufgeregt hielt Natsuki dort nach Rens rotem Schopf Ausschau und tatsächlich. Er saß an einem kleinen Zweiertisch und studierte ein wenig nervös die Karte. „Wie süß“, murmelte das Mädchen. Eilend ging sie auf den Jungen zu. Als die Fünfzehnjährige schließlich neben Ren stand und er sie immer noch nicht bemerkt zu haben schien, räusperte Natsuki sich leise und begann vorsichtig:

„Re...Ren-kun?“

Der Rothaarige schaute auf und seine Miene erhellte sich, als er sie erblickte. „Natsuki-san“, rief er erleichtert. Ruckartig richtete der Junge sich auf und schob der Fünfzehnjährigen den Stuhl gegenüber seinem eigenen Sitzplatz hin. „Setz- setz dich doch, bitte.“

Natsuki errötete und ließ sich auf das weiße, feingliedrige Möbelstück sinken. „Ja.“ Er war ein echter Gentleman. Sie seufzte.

„Hm?“, Ren blickte das Mädchen fragend an. „Was ist denn, Natsuki-san?“

„Ich...äh“, sie schüttelte den Kopf. „N-nichts.“

Natsuki wandte den Blick ab. Sie gab sich wirklich Mühe, woanders hinzuschauen. Die Möwen, die sich auf einer kniehohen Mauer zu einem Schwarm ansammelten, waren auf einmal sehr interessant, ebenso wie ein kleines Kind, dessen Eis auf den Boden gefallen war und welches nun fürchterlich zu schreien begann.

Als das Mädchen bemerkte, dass Ren sich ähnlich verhielt wie sie, blickte sie ihm vorsichtig in die Augen. Er erwiderte den Blick, worauf beide etwas rot um die Nasenspitze wurden.

„Ehm - schönes Wetter haben wir heute“, der Rothaarige fasste sich mit der rechten Hand an den Hinterkopf, eine klassische Geste der Unsicherheit, und lächelte ein wenig schief. Er hätte sich innerlich verfluchen können. Fielen ihm denn keine besseren Sätze oder Gesprächsthemen ein?

„Stimmt“, erwiderte Natsuki zaghaft. Wie süß er doch aussah, wenn er sie so anschaute. Das Mädchen hätte dahinschmelzen können.

„Äh... was willst du denn essen?“, vorsichtig schob Ren ihr die Karte hin, die er bis gerade eben fixiert hatte. „Ich bezahle natürlich.“

„Also, eh... such du dir etwas aus. Wir können uns ja etwas teilen. Die Portionen hier sind so riesig, ich schaffe das nicht alleine“, erklärte die Fünfzehnjährige. Der Junge nickte. „In Ordnung. Ich würde den Momokuri-Becher nehmen.“

„Momokuri-Becher?“, rief Natsuki überrascht, „der ist doch riesig!“

„Das schaffen wir schon“, Ren grinste freundlich. Das Mädchen errötete wieder. Dieses Lächeln. Einfach phantastisch. „Ok“, sie nickte und schloss die Augen, um die sanfte Meeresbrise einzuatmen. Sie roch salzig, und trotzdem trug der Wind einen süßen Duft herbei.

Ren rief die Bedienung zu sich und orderte den großen Eisbecher. Dann wandte er sich wieder Natsuki zu.

„Es ist eigentlich unfassbar, oder?“, fragte der Junge nun vergnügt und stützte den Kopf auf den Händen ab.

„Was?“, wollte die Fünfzehnjährige erstaunt wissen.

„Also...“, der Rothaarige blickte auf die Tischkante. „Ich- habe mich, ehrlich gesagt, noch nie getraut, ein Mädchen auf eine Verabredung einzuladen. Ich hätte nicht gedacht, dass das jemals passieren wird... dann habe ich dich getroffen.“ Er schwieg eine Weile, dann setzte Ren vorsichtig an. „Du...du bist wirklich ein besonderes Mädchen.“

Auf einmal begann Natsukis Herz, wie wild zu hämmern. Bis zum Hals spürte sie das rasende Pochen. Sie... war etwas Besonderes? Die Grünhaarige legte die Hand auf ihre Brust, direkt über das Herz. Sie musste Lächeln. Dieses Gefühl war unglaublich schön. War sie verliebt?

„Das... ist sehr nett, dass du das sagst“, erwiderte Natsuki leise.

Wieder breitete sich ein Mantel scheinbar endlosen Schweigens über den beiden aus. Ren starrte auf seine Hände. Was sollte er als Nächstes sagen? Oder tun? Er war absolut ratlos. Mit Mädchen hatte er relativ wenig Umgang. Zum Glück hatte Natsuki das bis jetzt scheinbar nicht bemerkt. Sie war wirklich hübsch. Er konnte tatsächlich kaum glauben, dass so ein hübsches Mädchen sich wirklich mit ihm treffen wollte.

„Der Momokuri-Becher“, die Stimme der Bedienung holte die beiden wieder in die Realität zurück. „Bitte sehr, die Herrschaften.“ Ein großes Tablett mit einem Glas voller verschiedener, bunter Eiskugeln wurde auf den Tisch gestellt.

Zwei Löffel lagen daneben. Als Natsuki und Ren beide danach griffen, berührten sich ihre Hände kurz. Eine ungewöhnliche Energie durchdrang das Mädchen.

„Ehm... Guten Appetit“, sagte der Rothaarige schüchtern. „Ich hoffe, du magst es. Ich gehe gerne hierher.“

„Also... ich gehe auch gerne hierher“, Natsuki lächelte.
 

Er lehnte an einer Hauswand und spähte vorsichtig zur gegenüberliegenden Straßenseite hinüber. Da, vor diesem Café. Da saß sie. Mit diesem ...Typen...

Was er selbst hier zu suchen hatte? Er wusste es nicht, es war ihn eben einfach überkommen. Ja, er war eifersüchtig. Natürlich war er eifersüchtig. Wie könnte es auch anders sein? Er musste schließlich andauernd an sie denken. Daran, ob Natsuki es wirklich nicht bemerkte, oder ob sie nur so tat. Ob sie ihn wirklich hasste, oder ob das nur gespielt war. Warum konnte sie nicht erkennen, wie sehr er sie liebte? Wie lange wartete er nun schon darauf, auf ihre Einsicht... seit sie lebte und länger. Würde Natsuki jemals verstehen? Aber wenigstens war es ihm möglich, in ihrer Nähe zu bleiben. Er konnte sie einfach nicht vergessen. Was hatte er einmal zu Chiaki gesagt? Daran erinnerte er sich noch, als wäre es gestern gewesen:

„Mir ist es lieber, wenn sie mich hasst, als wenn sie einen Anderen liebt.“

Nur sah es im Moment leider verdammt danach aus. Er könnte diesen Kerl, mit dem sie an einem Tisch saß, verfluchen. Er könnte... nein, lieber nicht an solch unschöne Dinge denken. Doch es war natürlich kein Wunder, dass er eine enorme Abneigung gegen den Jungen hegte.

Wie Natsuki dasaß... so zart, so zierlich. Sie sah aus wie eine Elfe. Die großen, runden Augen strahlten Fröhlichkeit, Glück und Sanftmut aus... und das beneidenswerte Geschenk der Ahnungslosigkeit. Wie gut sie es doch hatte, ohne die Erinnerung leben zu müssen. Manchmal war ihm selbst die Last so schwer, dass er sich wünschte, zu vergessen.

Doch diese Unschuld, die der doch sonst ziemlich temperamentvollen Natsuki innewohnte, machte sie wahrscheinlich auch so angreifbar. So verletzlich. Deshalb war er hier. Egal, ob sie ihn in diesem Leben jemals wenigstens mögen würde oder nicht, er musste immer auf sie Acht geben. Das war er ihr schuldig. Nie wieder würde er zulassen, dass Natsuki irgendetwas passiert.

Moment mal! Er zuckte zusammen und schaute genauer hin. Dieser Junge- mit dem roten Haar. War er etwa...? Oh nein!
 

Natsuki lachte. Ihr gefiel die Verabredung wirklich gut. Ren-kun war ein freundlicher Junge und konnte sehr gut zuhören. Sie unterhielten sich über die verschiedensten Dinge, während die beiden nach und nach ihren Momokuri-Becher löffelten. Die Fünfzehnjährige war glücklich.

„Und du sagst, du kommst nach diesem Schuljahr auf die Oberschule?“, fragte der Rothaarige neugierig und leckte sich etwas Eis von den Lippen.

„Genau“, Natsuki nickte. „Ich werde auf die Momokuri-High gehen. Vorausgesetzt, ich bestehe die Aufnahmeprüfung.“ Sie kicherte.

„Schade. Meine Eltern wollen mich auf die Biwa-High schicken, dann kann ich dich dort gar nicht sehen“, Ren seufzte.

Biwa-High. Das Mädchen dachte nach. Das war doch die Schule, welche Kimi und Daisuke Anataki besuchten, oder? „Dort gibt es bestimmt auch Mädchen, oder nicht?“, fragte sie ein wenig spöttisch.

„Natürlich gibt es dort Mädchen, aber...“, der Junge begann, zu stottern, „es... also... dort sind- äh... keine Mädchen wie du!“ Er musste nach Luft schnappen, so laut hatte er die letzten Worte zum Himmel gerufen. Einige Leute an benachbarten Tischen musterten den Rothaarigen mit hochgezogenen Augenbrauen und skeptischem Blick.

Natsuki errötete. Wie süß Ren-kun doch war, wenn er so etwas sagte. „Das ist...“, sie beendete den Satz nicht und blickte den Jungen an. In seinen klaren, braunen Augen konnte man förmlich versinken. Sie strahlten einen beruhigenden Glanz aus. Bildete das Mädchen sich das nur ein oder beugte der Rothaarige sich wirklich nach vorne über dem Tisch und näherte sich mit seinem Gesicht immer mehr ihrem? Natsukis Herzschlag beschleunigte und hämmerte rasend gegen ihren Brustkorb. Das würde er sein, ihr erster Kuss! Die Fünfzehnjährige schloss die Augen. Es konnten nur noch wenige Zentimeter sein, die ihre Lippen jetzt voneinander entfernt waren.

Nach ein paar Sekunden, in denen nichts geschehen war, öffnete das Mädchen langsam und verwirrt wieder die Augen. Was zum...?

Jemand war dazwischen getreten, hatte Ren-kun am Kragen gepackt und funkelte ihn zornig an. Aber das konnte doch nicht wahr sein. Shinji! Natsuki war so geschockt, dass sie sich keinen Zentimeter rühren konnte. Was tat dieser Typ bloß hier? Warum bedrohte er Ren-kun?

„Du...“, knurrte der junge Mann den Rothaarigen an. „Du wirst Natsuki nicht anrühren, verstanden? Verschwinde sofort!“

Was war dieses Licht, das in Ren-kuns Augen aufgeflackert war? Hatte das Mädchen sich das eingebildet? Jetzt wandte der Junge sich zu ihr um und blickte sie traurig und wütend zugleich an. „Warum tust du das, Natsuki-san? Warum triffst du dich mit mir, wenn du schon einen Freund hast? Willst du mein Herz brechen?“ Dann drehte er sich auf der Stelle um und rannte davon.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, fluchte Shinji mit erhobener Faust und wollte Ren schon hinterherlaufen, doch Natsuki packte ihn am Ärmel.

Verwundert schaute der junge Mann ihr ins Gesicht und traf auf einen Ausdruck tiefer Trauer und rasender Wut. „Shinji... Shinji Minazuki...“, keuchte die Fünfzehnjährige atemlos. Die Tränen stiegen ihr in die Augen und sie schrie: „Ich hasse dich!“

Dann rannte sie los. Weg von ihm. Weg vom Café. Weg von den Menschen. Natsuki rannte einfach, egal wohin. Bloß weg. Ihre Beine trugen sie automatisch. Anders wäre sie zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht imstande gewesen, sich fortzubewegen. Warum hatte er das getan? Er hatte alles zerstört. Ihre Verabredung, Ren-kuns Vertrauen zu ihr und ihren ersten Kuss. Sie hatte zuvor gar nicht richtig wahrgenommen, wie sehr sie Shinji eigentlich hasste. Doch jetzt wusste sie es, ja, sie hasste ihn mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt.

Natsuki blieb stehen. Die Tränen flossen nun unaufhörlich. Sie konnte es einfach nicht verhindern, sie musste jetzt weinen. Dieses schreckliche Gefühl, wo kam es nur her?

Es war alles Shinjis Schuld. Er wollte ihr Leben zerstören. Er tat es mit Absicht, um sie zugrunde zu richten.

„Fräulein?“ Natsuki zuckte zusammen. Wo war diese Stimme hergekommen? Sie kam ihr bekannt vor.

Der kleine Junge, dem sie heute Nachmittag geholfen hatte, gegen die Grundschüler zu bestehen, kam angelaufen. „Bitte weine nicht“, rief er aufgeregt.

„Was ist denn mit dir?“, die Fünfzehnjährige wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Was war los?

„Ich- ich möchte mich gerne bedanken, weil du mir geholfen hast, Fräulein“, erklärte das Kind. „Ich möchte dir etwas schenken.“

Der kleine Junge legte eine Halskette in Natsukis Hand. „Weil Nobu-kun doch deinen Anhänger kaputtgemacht hat.“ Bevor das Mädchen etwas erwidern konnte, war er auch schon wieder davongerannt. „Bis bald.“ Verdutzt blickte die Fünfzehnjährige ihm nach.

Dann musste sie ein wenig lächeln und blickte die Halskette an. Diese hatte einen roten Anhänger, in den ein Herzförmiges Muster eingraviert war. An der Seite ragten kleine, weiße Engelsflügel heraus.

Natsuki legte ihn sich fröhlich um den Hals und machte sich auf den Weg nach Hause. Ein neues Versteck für ihren Ohrring hatte sie nicht gefunden, dafür hatte sie eine sehr hübsche Halskette geschenkt bekommen. Ein kleines bisschen ihrer Trauer war gelindert. Das Mädchen war auf einem guten Weg.
 

~~~~~~~~~~
 

Fortsetzung folgt am 30.05.2011

Kurze Vorschau:

„Fynn Fish!“, rief auf einmal eine Stimme.

Die Fünfzehnjährige blickte ihn mit Augen, zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, an. „Ich hasse dich!“

Natsuki fixierte ihren Gegner. Es war ein großer, stämmiger Junge in ungefähr ihrem Alter. Er schien zuversichtlich, den Trainingskampf zu gewinnen. Der musste wohl neu sein.



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