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Der Zirkusjunge

Von Seiltänzern und schwarzen Haaren ...
von

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Familie

Viel Spaß! :)
 

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Familie
 

Der nächste Morgen beginnt mit Kopfschmerzen. Hinter mir liegt ein Albtraum und das Shirt, das ich zum Schlafen trage, klebt schweißnass an meinem Oberkörper. Scheiße. Ich fürchte, eine Kopfschmerztablette lässt sich wohl nicht vermeiden. Von dem Traum weiß ich nichts mehr, nur noch, dass ein Monster mit Scheren statt Händen darin vorkam. Welch schöne Erinnerung an die letzte Nacht …

Seufzend schwinge ich die Beine aus dem Bett, kneife die Lider zusammen, als mir kurz schwarz vor Augen wird, und laufe dann in Richtung Bad. Ohne in den Spiegel zu schauen, streife ich mir die Klamotten vom Leib, drehe die Dusche auf und stelle mich darunter. Mein Gesicht muss aussehen wie Sau, wenn man bedenkt, dass ich nicht nur schlecht geschlafen, sondern auch noch festgestallt hab, dass ich gestern vergessen habe, mich abzuschminken.

Das Wasser tut gut, doch es reicht nicht, um mich komplett auf den harten Boden der Realität den weichen Teppich zu legen, den ich jetzt echt gebrauchen kann – eigentlich. Müde torkle ich in mein Zimmer zurück, ziehe mehr oder weniger wahllos eine Ansammlung von Klamotten aus meinem Schrank. Vielleicht sollte ich mir Gedanken darum machen, dass wahllose Outfits meist ungefähr die modische Qualität eines Müllsackkleides (obwohl das laut Sabrina aka Cleo ja wirklich der letzte Schrei ist) hat, doch ich bin so verwirrt in den oberen Körperregionen, dass ich das Wort „nachdenken“ momentan wahrscheinlich im Duden nachschlagen müsste, würde es mir überhaupt in den Sinn kommen.

Auf dem Weg in die Küche renne ich beinahe gegen den Türrahmen, stolpere anschließend über meine eigenen Füße und kann mich gerade noch abfangen, bevor ich mit dem Kinn auf dem Tisch aufschlage. Aua, das war knapp! Vor meinen Augen liegt verloren und klein ein gelbes Klebezettelchen auf dem ich mehr oder weniger lesbar Jessis Handschrift erkennen kann:

Gut, wenn du das hier liest, bist du wenigstens wach. Solltest du noch Zeit fürs Frühstück haben: Mama hat Brötchen gekauft (Gott weiß, wann sie das gemacht hat); stehen neben dem Toaster. Guten Appetit und bis nachher.

Grinsend schüttele ich den Kopf und werfe einen Blick auf die Uhr über dem Kühlschrank. Wenn man bedenkt, dass meine erste Stunde heute ausfällt und die zweite als „Vertretung ohne Lehrer“ auf dem Vertretungsplan steht, dann hab ich noch so ungefähr 20 Minuten, bevor ich mich auf den Weg machen muss, um den letzt möglichen Bus zu kriegen. Himmel, wie lange schlafe ich eigentlich! Ich seufze und greife neben den Toaster. In der Tüte sind noch zwei kleine Brötchen zu finden, die nicht gerade aussehen, als ob sie einen halbwegs normal essenden Menschen satt bekommen würden – welch ein Glück, dass ich so gut wie keinen Hunger habe.

Mein Essen verläuft schneller als ich es je für möglich gehalten hätte und so verlasse ich das Haus fünf Minuten bevor es problematisch mit dem Bus geworden wäre. Ich sehe auf meine Füße, auf die weißen Kappen meiner giftgrünen Turnschuhe. Cleo hat sie irgendwann mal vollgekritzelt, jetzt grinst einen ein Edding-Grinsekatzen-Gesicht an, das dem Original aus Alice im Wunderland erstaunlich ähnlich sieht. Seit meine beste Freundin diesen Film gesehen hat, kann sie gar nicht genug von Fantasy bekommen, obwohl sie vorher nicht besonders viel damit anfangen konnte.

Ich gähne und stelle fest, dass es viel zu kühl ist dafür, dass wir rasant auf die Sommerferien zusteuern. Der erste Tag seit Längerem, wenn ich mir das recht überlege. Innerlich danke ich der Macht, die sich irgendwo da oben ganz eventuell ums Wetter kümmert, noch mehr Hitze wäre unerträglich. Es reicht mir vollkommen, einen Jerome mit übertriebener Reaktion, eine beste Freundin mit Modewettbewerb und eine kleine Schwester mit rosaroten Fantasien in meinem Leben zu haben – auch, wenn besagte Fantasien sich momentan ein wenig abkühlen.
 

Jerome würdigt mich keines Blickes, als er an mir voreiläuft und sich zu Cleo auf die Fensterbank setzt.

„Guten Morgen“, grüße ich freundlich, woraufhin er verächtlich schnaubt und seine Stirn gegen die Scheibe lehnt. Anscheinend hat er wenig Lust, unsere Probleme aus dem Weg zu räumen.

Jamil, der neben mir steht, zieht eine Augenbrauche hoch und nickt fragend in Jeromes Richtung. Ich zucke die Schultern. Was weiß ich, was der hat. Wenn weder er noch Nessa mit mir redet, kann ich dazu auch nichts sagen … Leider. Es ist wirklich unglaublich. Morgen ist es genau eine Woche her, dass ich ihn im Zirkus zum ersten Mal gesehen habe – eine sehr ereignisreiche Woche. Wer hätte gedacht, dass sie so endet? Mit einem Streit. Wegen gar nichts. Wegen einer Sache, die so unwichtig ist, dass man es schon fast als lächerlich bezeichnen könnte. Fast, wenn ich mich nicht Hals über Kopf in diesen Jungen verliebt hätte. Selbst jetzt, wo er kein Wort mit mir wechselt, kann ich nicht anders, als ihn toll zu finden. Mein Herz flattert wie ein Schmetterling auf Speed und am liebsten – würde ich eine höhere Wahrscheinlichkeit sehen, meinen Kopf nach dieser Aktion noch behalten zu dürfen – würde ich ihm um den Hals fliegen.

Letztendlich ist es Cleo, die die peinliche Stille zwischen uns löst: „Sagt mal Jungs, was macht ihr denn so am Wochenende?“

Jerome reagiert nicht, doch Jamil grinst. „Keine Ahnung, mal sehen, was sich so ergibt. Sag bloß, du hast uns schon wieder für eines deiner tollen Modeprojekte eingeplant!“

„Neeein, darum geht’s echt nicht …“, meine beste Freundin macht eine bedeutungsschwere Pause, „… viel eher möchte ich euch jemanden vorstellen.“

Bei dem Wort ‚jemanden‘ werde ich hellhörig. Geht es bei diesem ominösen ‚jemand‘ vielleicht um diesen. „… Er heißt Mo“, bestätigt Cleo meinen Verdacht. Oho, spannend, spannend.

Ich grinse breit und frage: „Ach, woher der plötzliche Sinneswandel?“

Meine beste Freundin seufzt resigniert und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich hatte Unrecht, als ich gesagt habe, er hätte kein Interesse daran, euch kennen zu lernen. Ganz im Gegenteil: Er meint, ihr wärt ein wichtiger Teil von mir, den er sich nicht entgehen lassen dürfe.“

Man sieht ihr deutlich an, wie sehr ihr dieser Umstand wiederspricht. Mein Grinsen wird noch eine Spur breiter. Ehrlich gesagt kann ich sie sogar ein bisschen verstehen – wie ihr bereits wisst, bin ich nicht die Person, die man seinem Schwarm vorstellen sollte. Und Jamil? Jamil wahrscheinlich auch nicht. Er ist zwar weniger peinlich, aber manchmal ist sein Humor etwas eigenwillig. Ich weiß noch, wie er Yannik damals alle möglichen Scherzfragen gestellt hat, über die nur er wirklich lachen konnte. Yannik hat mich anschließend gefragt, was ich denn für seltsame Freunde hätte. Aber peinlich hin oder her: Ich will diesem Mo unter allen Umständen treffen – immerhin geht es hier um den potentiellen ersten Freund meiner besten Freundin seit zwei Jahren! Und ihre letzte Beziehung hat (nicht zuletzt wegen mir, Schande über mein Haupt) gerade mal einen Monat angehalten.

„Also ich“, meint Jamil, „hab wohl Zeit. Wann denn?“

„Morgen. Morgen um fünf. Wir treffen uns bei mir und holen ihn dann ab. Daniel, was ist mit dir? Hast du auch Zeit?“

Ich, Zeit? Was für eine Frage! Natürlich habe ich Zeit! „Klar.“

„Sehr gut, dann ist das ja …“ Cleo bricht mitten im Satz ab und wendet sich ein wenig zur Seite. „Sag mal, Jerome, willst du auch mitkommen?“

Der Angesprochene hebt den Kopf, scheint kurz Cleos Worte in seinem Hirn verarbeiten zu müssen, verneint dann aber. „Ne, lass mal. Ich habe keine große Lust, irgendwelche Mos kennen zu lernen.“

Zwar kann man es aus seinem Tonfall nicht heraushören, doch an dem vernichtenden Blick, den er mir zuwirft, ist unschwer zu erkennen, dass wohl eher ich der Grund bin, aus dem er ein Treffen verweigert. War ja klar. Diese Erkenntnis versetzt mir einen Stick ins Herz, der sich anfühlt, als hätte man mir eine von Cleos fiesen riesigen Nähnadeln mitten hineingerammt. Ich beiße mir auf die Unterlippe, versucht, den inneren Schmerz auf meine Lippe zu konzentrieren, um die Tränen zurückzuhalten, die sich in meinen Augen zu sammeln drohen. Nicht heulen, Daniel, nicht heulen. Vollkommen unnötig, bisher hast du’s auch überstanden!

„Schade …“ Cleo zieht einen Flunsch, zuckt dann aber die Achseln und rutscht von der Fensterbank. Im gleichen Moment ertönt hinter mir die Stimme unseres Religionslehrers.
 

Constantin beugt sich zu ihm herüber, deutet auf irgendeinen Satz in unserem Musikbuch. Jerome lacht, streicht sich mit einer Hand ein paar widerspenstige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich beobachte, wie er die feingliedrigen Finger an den Mund legt, um sein Lachen abzudämpfen. So verdammt schön! Man glaubt nicht, was ich gerade dafür geben würde, mich direkt vor ihn setzen zu dürfen, nur um das Funkeln in seinen Augen beobachten zu können, das immer da ist, wenn er lächelt, lacht oder grinst.

Vorne steht unsere Musiklehrerin Frau Winter und holt gerade einen Stapel Zettel aus ihrer Tasche. „So“, sagt sie fröhlich, hebt den Kopf und strahlt uns an, „da ich in euch eine so besonders singstarke Klasse gefunden habe, dachte ich mir, wir könnten uns heute mal einen Song aus der modernen Musikszene aussuchen.“ Oh je, was diese Frau unter modern versteht, empfinge ich schon seit Längerem als fragwürdig. Ich meine, jetzt mal ganz ehrlich: So ein paar Jährchen haben die Songs von Paul Simon und Bryan Adams jetzt auch schon auf dem Buckel. Der Zettelstapel mit dem ‚modernen‘ Song kommt bei mir an, desinteressiert greife ich mir einen – und stutze. Welcome To My Life, Simple Plan. Okay, das ist jetzt mal echt modern – zumindest so ziemlich … Wer zum Teufel ist das da vorne und was hat sie mit Frau Winter gemacht?? Anscheinend bin ich nicht der Einzige, den diese Songwahl verdutzt, denn die Hälfte der Klasse starrt ungläubig nach vorn. Eine Freundin von Sabrina fängt sich als erstes wieder und quietscht begeistert auf, ihr folgen weitere und innerhalb weniger Sekunden steht Frau Winter vor einer vollauf begeisterten Klasse. Glückwunsch an sie, das hat sie bisher noch nie geschafft!

Ihrem strahlenden Lächeln nach zu urteilen, ist ihr das auch sehr wohl bewusst.

„Wunderbar“, freut unsere Lehrerin sich und klatscht in die Hände. Ihr Blick streift langsam über die Klasse, wandert durch die Reihen – und bleibt an mir hängen. Nein, bitte nicht. Nicht schon wieder! Alles, nur das nicht. „Daniel!“ Oh nein, bitte, bitte … „Wie wär’s wenn du deinen Mitschülern zeigst, wie man das anständig zu singen hat?“

Fuck! Kurz überlege ich, ob ich einen Rückzieher machen kann, indem ich behaupte, Aliens hätten mir gestern Nacht meine Stimmbänder geklaut, doch leider bräuchte ich allein dafür besagte Stimmbänder. Und wenn ich einfach so tue, als wäre ich heiser?

Ja, das wäre bestimmt eine gute … „Klar, das macht er doch gerne!“, meldet sich Cleo neben mir zu Wort und augenblicklich steigt das dringende Bedürfnis in mir auf, ihr den Hals umzudrehen. So richtig schön mit ganz viel Schwung, damit …

„Na dann komm doch mal nach vorne, Daniel.“

Sag mal, kann man hier nicht mal seine Gedanken zu Ende führen?! Resigniert stehe ich auf, werfe Cleo einen vernichtenden Blick zu, woraufhin sie mir lediglich verschwörerisch zuzwinkert und mir die Zunge rausstreckt. Super. Hab ich erwähnt, dass ich sie gerade umbringen könnte?

Unsicher trete ich neben die vor Freude strahlende Frau Winter, die Schultern hochgezogen. Die Blicke der kompletten Klasse kleben förmlich auf mir, als ich mich räuspere, jedoch keine Anstalten mache, zu singen zu beginnen. Eigentlich war es echt klar, dass wiedermal ich hier lande. Seit unsere werte Frau Musiklehrerin nämlich von meinem Singtalent erfahren hat, war sie hellauf begeistert. Ich bin ihr Vorzeigeschüler, wenn es darum geht, sich vor irgendwen zu stellen und diesen gewissen irgendwen mit einer engelsgleichen Stimme vom Hocker zu hauen – obwohl ich nicht klinge wie ein Engel, sondern eher wie geschmirgeltes Schmirgelpapier, vorausgesetzt natürlich, sowas existiert. Ums kurz zu machen: Gott und die Welt ist davon überzeugt, ich kann wunderbar singen, abgesehen von mir selbst. (Insgeheim weiß ich aber, dass Gott und die Welt Recht haben: Ich kann singen, jedoch bin ich einer der Menschen, die das nicht unbedingt Gott und der Welt unter die Nase reißen müssen.)

„Daniel?“ Ich zucke erschrocken zusammen, schüttele kurz den Kopf und sehe meine Lehrerin verwirrt an.

„Öhm … ja?“

„Würdest du dann anfangen?“

Frau Winter setzt sich ans Klavier, lächelt mich aufmunternd an und beginnt zu spielen – und ich? Ja, ich beginne zu singen:

„Do you ever feel like breaking down?

Do you ever feel out of place?

Like somehow you just don't belong

And no one understands you“

Mein Blick wandert durch die Klasse. Cleo sieht mich verträumt an, tippt im Takt auf ihren Tisch, Jamil hat einen Mundwinkel nach oben gezogen. Ein Teil der Jungs hockt kopfschüttelnd und völlig offensichtlich gelangweilt an, Sabrina lackiert sich die Fingernägel. Wow, sind die alle respektvoll und aufmerksam …

„Do you ever want to run away?

Do you lock yourself in your room?

With the radio on turned up so loud

That no one hears you screaming“

… Und wie aufmerksam! Sabrina pustet gerade ihre Nägel trocken, ihre Freundin Lisa kritzelt gedankenverloren auf ihrem Block herum.

„No you don't know what it's like

When nothing feels alright

You don't know what it's like

To be like me...“

Okay, reg dich nicht über sie auf, Daniel. Sing einfach. Du willst doch nicht einmal, dass sie dir zuhören. Jetzt kommt der Refrain, aufpassen!

„To be hurt, to feel lost

To be left out in the dark

To be kicked when you're down …“

Und jetzt begehe ich den entscheidenden Fehler: Ich wage es, zu Jerome hinüber zu schielen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht, dass er mich verächtlich ansieht. Vielleicht, dass er wie Lisa auf seinem Block rumkritzelt. Aber das, was er wirklich tut, tut noch viel mehr weh: Er sieht mich nicht an, sein Blick richtet sich auf eines der Fenster, und in dem mir zugewandten Ohr steckt ein Ohrstöpsel seines iPods. Mein Herz pulsiert schmerzhaft, meine Augen beginnen zu brennen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, ignoriere, dass Frau Winter noch immer die Melodie weiterspielt. Erst, als mir die erste winzige Träne aus dem Augenwinkel rinnt und der Refrain zu Ende geklimpert ist, hat meine Lehrerin anscheinend bemerkt, dass ich nicht mehr singe. Überrascht hält sie inne, zieht eine Augenbraue und sieht mich an. „… Daniel?“

Ich antworte nicht. Stattdessen schüttele ich den Kopf und gehe an Sabrina vorbei, die mittlerweile auch festgestellt hat, dass die Nägellackierstunde hiermit beendet ist, die missbilligend schnaubt und setze mich auf meinen Platz. Ich beobachte, wie Jerome seinen Kopf nach vorn wendet, in einer flüssigen Bewegung sein Ohr von dem Ohrstöpsel befreit. Schluckend versuche ich, Frau Winter zu ignorieren, die mich mit einer nicht enden wollenden Wortkette belabert, die ich weder hören noch verstehen will. Was er wohl gehört hat? Gehört hat statt mir?
 

„Das ist so respektlos!“ Erbost funkelt Cleo mich an, als wäre ich Jerome, an den sich diese Schimpftirade eigentlich richtet. Zu meinem Leidwesen hat meine beste Freundin den Ohrstöpsel nämlich auch gesehen und – siehe da, welch Überraschung – muss ihrer neu erworbenen schlechten Meinung Luft machen. Und da der Auslöser zurzeit nicht zur Verfügung steht, bin ich halt der Arme. Dabei habe ich eigentlich wenig Lust, mich mit dem Thema Jerome auseinander zu setzen. Ganz im Gegenteil: Jedes Wort über ihn ist ein weiteres Salzkorn in der offenen Wunde. „Wie kann er nur? Erst versteht ihr euch so toll und dann ist er sauer, WEIL DU VERGESSEN HAST, IHN ANZURUFEN?! Und dann, obwohl das je eigentlich schon alles schlimm genug ist, hört er auch noch einfach Musik?! Viel beschissener kann man doch gar nicht zeigen, dass man einem am Arsch vorbeigeht!“

Danke, Cleo … Das war jetzt verdammt aufmunternd. Anscheinend hat sie ihren Fehler auch bemerkt, denn sie lächelt mich schief an und setzt hinzu: „Nicht, dass du ihm am Arsch vorbeigehst. Er mag dich, echt.“

Wenig überzeugt ziehe ich eine Augenbraue hoch. Davon habe ich wirklich viel gemerkt – vor allem heute. Anscheinend bemerkt sie meine Skepsis, denn ihre Augen werden noch eine Spur größer und ihr zweiter Mundwinkel biegt sich auch noch nach oben, sodass das Lächeln mehr oder weniger gerade wirkt; „Daniel, ich mein das ernst! Er mag dich, glaub mir!“

Aufmunternd klopft sie mir auf die Schulter und setzt sich in Bewegung, ich folge ihr. Wir haben beschlossen, dass ich sie nach Hause bringe und anschließend weiterlaufe zu mir. Zwar ist das für mich ein Umweg, doch was tut man nicht alles für die beste Freundin?

„Und woher willst du das wissen?“, frage ich, als ich Cleo endlich eingeholt habe, doch ich erhalte keine Antwort.
 

Bereits als ich die Haustür öffne und mich in den Flur schiebe, kommt mir Jessi entgegen, einen Finger auf die Lippen gepresst. Mit der freien Hand balanciert sie einen Teller mit Pfannkuchen.

„Schhhhht!“, zischt sie mir entgegen, „Leise! Mama ist da und …“

Überrascht runzle ich die Stirn, während ich meine Schultonne von der Schulter gleiten lasse. „Mama ist da? Schon wieder?“

Meine kleine Schwester nickt, doch anstatt eine gewisse Freude in ihren Augen zu lesen, dass unsere Mutter endlich mehr Zeit für uns zu haben scheint, lese ich eher Besorgnis und Verzweiflung aus ihrem Blick.

„Ja“, bestätigt sie mit erstickter Stimme. „Gott, Daniel, ich bin so froh, dass du da bist!“

Erschrocken bemerke ich die kleinen Tränen aus Jessis Augen lösen und wie kleine wässrige Diamanten ihre Wangen hinunter Richtung Kinn rinnen. Etwas verwirrt nehme ich meine kleine Schwester in die Arme, streiche ihr leicht über den Rücken.

„Was ist denn los?“

„Sie … sie hat geweint! Mama hat geweint! Und ich … ich weiß nicht wieso … Ich … sie wollte nicht, … dass ich es sehe und hat … im Wohnzimmer gesessen. Sie dachte … ich … ich wäre auf meinem Zimmer und …“

„Hey, beruhig dich erst mal.“ Ich schiebe Jessi ein Stück von mir weg und sehe in ihre verheulten Augen.

„Beruhigen?“, fragt sie ungläubig. „Mama hat geweint! Sie hat noch nie geweint!“

„Jessi, wir kriegen das hin, okay? Wir reden mit ihr.“ Meine kleine Schwester hat Recht: Meine Mutter hat noch nie geweint – nicht, dass ich mich erinnern könnte. Bestimmt hat sie in den letzten Jahren mal geweint, aber wenn, dann haben wir beiden Kinder davon nie irgendwas mitbekommen. Der Umstand, dass sie es getan hat, ist also wirklich ein großer Grund zur Sorge … Super. Das fehlt mir noch! Stress mit Jerome, eine verpatzte Musikstunde und jetzt auch noch das! „Vielleicht ist sie ja einfach nur überarbeitet. Da werden Menschen empfindlich, reizbar und emotional.“

„Und wenn es doch was Schlimmes ist?! Wenn Papa was passiert ist oder sie ihren Job verloren hat?“

Oh bitte, Jessi, jetzt pflanz mir nicht solche Gedanken ein! Bitte!

„Jetzt mal mal nicht den Teufel an die Wand! Das wüssten wir längst – zumindest, wenn’s um Papa geht. Und wenn sie ihren Job verloren hätte, hätte sie zumindest dir das schon erzählt. Hör auch, dir Sorgen zu machen. Ich rede mit ihr. Wo ist sie?“

„Sie ist mit Anette verabredet und hat gesagt, sie kommt erst heute Abend wieder.“

Anette. Anette ist die so ziemlich einzige Freundin meiner Mutter, von der ich weiß. Mama ist kein besonders kontaktfreudiger Mensch, und wenn man so drüber nachdenkt, ist es schon ein Wunder, dass sie so jemanden wie meinen Vater gefunden und sich in ihn verliebt hat. In eine der kommunikationsfreundlichstesn, aufgeschlossensten und abenteuerlustigsten Personen, die mir je untergekommen sind.

„Okay, dann rede ich heute Abend mit ihr.“
 

… Das ist leichter gesagt, als getan. Ich stehe vor der Wohnzimmertür und traue mich partout nicht einzutreten. Es ist, als wäre vor mir eine große, böse, imaginäre Wand aufgebaut, die ich weder sehen, noch überschreiten kann. Ich weiß, dass sie da ist, habe aber keine Ahnung, was ich gegen sie tun kann. Mama sitzt auf dem Sofa, ein Buch auf den Knien, im Fernsehen läuft irgendeine Castingshow, die ich noch nie gesehen habe. Ihre dünnen Beine hat sie angewinkelt und eine Decke darüber gelegt, ihre Augen springen zwischen den Buchseiten und dem Fernseher hin und her, zwischendurch schiebt sie sich ein Gummibärchen aus der Tüte auf dem Tisch in den Mund.

„Daniel“, sage ich leise zu mir selbst. „Du hast es Jessi versprochen! Jetzt geh da rein und rede mit ihr, du wirst schon nicht krepieren! Immerhin ist das deine Mutter!“

Noch einmal atme ich tief durch, dann gebe ich mir einen Ruck und trete in den Raum.

„Hi, Mama.“

Überrascht sieht sie hoch, streicht sich mit einer müden Bewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Lächeln wirkt mehr schlecht als recht. „Ach, hallo Daniel. Schön, dass ich dich heute auch noch sehe, als ich von Anette kam, warst du schon oben … Wie war dein Tag so?“

Gute Frage. Hätte ich ehrlich geantwortet, hätte ich ihr jetzt wahrscheinlich einen ganzen Vortrag gehalten. Doch erstens habe ich wenig Lust auf Erklärungen und zweitens weiß ich nur zu gut, dass meine Mutter ihre eigenen Probleme hat und nicht die Zeit, mir mit meinen zu helfen – obwohl ich das im Übrigens auch gar nicht wollen würde. Diese Frau ist auf keinen Fall der richtige Mensch, um mit pubertärem Liebeskummer aufzukreuzen. Stattdessen beschränke ich mich lieber auf die altbewährte Methode: „Och, ganz gut. Schule halt. Und dir?“

Zu meinem Glück fragt sie nicht weiter nach und nickt nur bedächtig. Fast erwarte ich, dass sie jetzt mir einer ihrer alten Geschichten kommt, wie sie es früher getan hat, doch sie schaut mich nur an und sagt: „Dann ist ja gut. Bei mir ist auch alles in Ordnung. Die Arbeit ist nur ein bisschen stressig.“

Unsicher, was sie nun tun soll, sieht Mama zum Fernseher hinüber, als könne er ihr aus dieser misslichen Lage helfen. Doch diese Hoffnung zerstöre ich schnell, indem ich mir die Fernbedienung greife und die Flimmerkiste kurzerhand abschalte. Ich habe mir vorgenommen, mit ihr zu reden und jetzt ziehe ich das auch durch. Als das Bild schwarz wird, zuckt meine Mutter zusammen, damit hat sie anscheinend nicht gerechnet. Ihr Blick wirkt wie der eines verschreckten Rehs, als sie mich ansieht und in derselben Bewegung ihr Buch zuschlägt.

„Mama“, sage ich leise, „ich muss mit dir reden.“

Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen, als würde jemand versuchen, ihn zusammenzuschnüren.

„Was gibt es denn?“ Ihre dünnen Finger tasten nach dem Schalter der Leselampe neben dem Sofa, die bisher ausgeschaltet war – weiß Gott, wie sie so gelesen hat – und Licht flammt aus. Dieses gemütliche Schummer-Wohnzimmer-Licht, das normalerweise immer eine gemütliche Samstagabendatmosphäre schafft und augenblicklich bewirkt, dass man sich wohlfühlt. Nur fühle ich mich nicht wohl. Ganz im Gegenteil: Heute erscheint mir das Licht kalt, erdrückend und dunkel.

Kurz beiße ich mir auf der Lippe herum, dann beschließe ich, mit der Tür ins Haus zu fallen, weniger aus taktischen Gründen, eher, weil ich keine Ahnung habe, wie ich sonst in die richtige Richtung kommen soll. „Du siehst nicht gut aus in letzter Zeit.“

„Ich weiß.“ Träge fährt meine Mutter sich mit dem Handrücken über die Stirn und lächelt matt. „Momentan gibt es sehr viel zu tun und …“

„Wir machen uns Sorgen, Mama. Jessi hat dich heute im Wohnzimmer gesehen – du hast geweint.“

In Sekundenschnelle weiten sich ihre Augen verräterisch, sie atmete hart ein. „Das .. das war nicht wichtig.“

„Es muss aber wichtig gewesen sein. Du weinst sonst nie.“

Dieses Argument scheint Mama ziemlich aus dem Konzept zu bringen. Sie schluckt, spielt mit den Seiten ihres Buchs herum. „Daniel, es ist alles in Ordnung. Du und Jessi, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.“

Zweifelnd hebe ich eine Augenbraue. „Und du bist dir sicher, dass da nichts ist? Kein Unfall bei Papa, deinen Job hast du noch …“

„Mein Gott, ja! Natürlich habe ich meinen Job noch!! Und mit Papa ist auch alles in Ordnung!“

„Dann sag mir endlich, was wirklich los ist!“, schnaube ich wütend, bin kurz davor, die geöffnete Gümmibärchentüte gegen die Wand zu pfeffern.

„Also gut …“ Mama schluckt noch einmal, lächelt dann und verkündet: „Das, was Jessi gesehen hat, waren nichts anderes als Freudentränen. … Euer Vater kommt früher als erwartet wieder, nächste Woche Samstag landet sein Flieger. Ich freue mich einfach so, verstehst du?“

Ich nicke, obwohl mir glasklar ist, dass sie lügt. Jessi wird wohl noch Trauer von Freude auseinanderhalten und Mamas Lächeln sah auch mal besser aus. Ich fürchte, da habe ich noch einiges herauszufinden.
 


 


 

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Ich entschuldige mich vielmals für die lange Wartezeit und hoffe, ihr hattet jetzt Spaß beim Lesen!

Das nächste Kapitel wird nicht ganz so lang hin ein da ich selbst sehr gespannt bin, wie ihr auf zwei sehr interessante neue Charaktere reagieren werdet ;)
 

Ich glaaaaube das war's dann auch schon wieder von meiner Seite :D
 

Über Rückmeldung eurerseits würde ich mich sehr freuen, immerhin seid ihr es, die das hier lesen, ich schreibe ja nicht ausschließlich für mich selbst :)
 

... Und genau das beweisen mir auch ein paar Favo-Leute mehr! Dankeeee!! <3 :

- -karuto-

- AngelHB

- Eminimu

- eunhae

- Hi-chaan

- Lizerce

- mayu-saya

- Nubiee
 

Und jetzt noch - nicht zu vergessen - meine Kommentarbeantwortung (oder wie auch immer man das nennen soll :P):
 

@ Jeschi: Das mit dem schnell hat nciht so ganz geklappt ... Was unter anderem mit den erwähnten Veränderungen zu tun hat, die ich in die Geschichte einbauen musste - wovon ihr nichts mitbekommen werdet, aber in meinem Kopf hat das einiges wieder durcheinandergeworfen.
 

@klene-Nachtelfe: Freut mich wie immer, dass du begeistert bist :)

Tjaaa, das mit Jeromes Verhalten löst sich noch auf - irgendwann ... ^^ :D
 

Ganz lieben Gruß und bis zum nächsten Mal!!

LG,

lady <3



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  klene-Nachtelfe
2012-04-22T20:06:52+00:00 22.04.2012 22:06
Ich liebe es!!!
Einfach genial!!!
Sehr aufwülend!
Bin unglaublich gespannt was aus Jerome Daniel wird....und was mit Daniels Mama ist und und und und überhaupt....einfach toll!!!
WEITER SO!!!
LG -^.^-


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