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Die Zitrone und der Rabe

und andere Geschichten
von

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Winterschmetterlinge

⌠ORANGE CAFE⌡Winterschmetterlinge
 

I. Grauäugige Schmetterlinge

Sie trat hinaus auf die Straße, die dunkler war als der Rest der Stadt, denn die nächste Laterne leuchtete erst hinter der Ecke Richtung Bahnhof. Leuchtete auf ihrem hohen hellgrauen Pfahl grellweißes Licht in die Welt. Lovalis rückte ihr Mütze zurecht, in ihren Augen spiegelte sich der Lichtschimmer der Ferne, doch dann wandte sie sich um, ging tiefer in den Schatten der einen Kellertür, vor der still jemand saß und atmete in regelmäßigen Abständen und sehr leise und sie nicht beachtete. Aber hatten seine Haare die Farbe eines dunklen Flieders und seine Augen waren rötlich-braun. Die Uhr an seinem rechten Handgelenk tickte unwürdig leise, die schwarzen Sachen bildeten eine Einheit mit dem Hintergrund.

»Fare«, sagte das Mädchen und ein wenig später: »Severin und Rochee haben dich vermisst.«

Der andere senkte den Blick, der stets still zu sein schien, ganz still, obgleich doch etwas fehlte. Und er sagte nichts, sondern erinnerte sich bloß an die schönen silbergrauen Haare Severins. Grau, so weiß wie Schnee.

»Was passiert ist, war nicht deine Schuld.«

»Was weißt du schon davon.«

Keine Antwort mehr, stattdessen eine lange atemlose Pause. »Tschüs«, sagte sie noch kurz kaum hörbar und schon wieder in Richtung der Laterne laufend, da schaute er plötzlich auf.

»Lovalis.« Sie stoppte. »Gehst du nach Hause?«

Sie nickte, zog ihre Mütze tiefer über die Ohren. »Ich muss noch Hausaufgaben machen. Mathe.«

»So.«
 

II. Frühling (1)

Draußen zog gerade ein Sonnenblumenfeld vorbei, als Régis auf den silberhaarigen Jungen traf. Der Zug ratterte unüberhörbar durch die hitzegetränkte Luft und Severin setzte ein kaltes Lächeln auf. Die silbergrauen frisch abgeschnitten Haare, graue Augen, zur Hälfte geschwärzte Lippen, die blasse Haut schimmerte matt im unwirklichen Licht. »Du musst der Postjunge sein«, sagte er und einen Augenblick lang erweiterten sich Régis’ Pupillen. Ein lauter Herzschlag. Severin spürte die Bodenvibration. Er schob sich vorbei an dem anderen, ein vergnügtes Gesicht, spöttisch. Der Ältere hielt ihn fest.

»Und du bist?«

Der Junge strich sich die Haare von der Stirn, neigte den Kopf zur Seite. »Bist du verliebt?«

»Severin.«

»Severin, mein Name, jawohl, der dich willkommen heißt« Er legte seine Hand auf diejenige von Régis, löste sie sanft von seinem Ärmel. »weil er Zauberer mag. Jedoch ...« Die Bremsen quietschten, die Menschen schaukelten, nahmen ihre Taschen auf. »das Mädchen, das dein Herz begehrt, wirst du wohl nicht bekommen.« Er hatte aufgehört zu lächeln, denn schon strömte die stickige Luft der kleinen Stadt in das Abteil und zog sie nach draußen, den Postjungen und jenen anderen Fremden. Eine gefährliche Stimmung legte sich über die Gebäude, getragen von Sonne und Wind. Severin kniff die Augen zusammen. Willkommen, willkommen. Er wünschte sich zu schreien und mit den nackten Fäusten gegen das heiße Metall zu schlagen. Er wusste, mit der Zeit würde es leichter werden. Aber Zeit schien hier vernachlässigt. Einzig auf dem Kirchendach saß die einzelne Krähe.
 

III. Frühling (2)

Die CD drehte sich. Eine schwarze Scheibe mit grauer Schrift. Nur neun graue Buchstaben, am Ende des Wortes leicht rötlich eingefärbt. ‘Chou Rouge’ stand dort und drehte sich. Drei Jahre alt, seit drei Jahren zum ersten Mal. Das schwarzhaarige Mädchen saß daneben. Durch das offene Fenster zirpten die Grillen. Damals hatte sie mit dieser Musik nichts anfangen können, ein Geschenk von jemandem. Heute jedoch fühlte sie noch immer das Loch, das er hinterlassen hatte. Seine Augen hatten sich tief in ihre Seele gebohrt, grausam und rücksichtslos. Aber Schmerz kannte sie nicht und ihre nackten Füße wippten im Takt. Allein die weiße Nacht neigte sich dem Ende. Übermorgen lächelte sie entgegen. In ihren Händen lag die CD-Hülle und ein Gedanke schlich sich herein, schloss die Tür hinter sich ab.
 

IV. Raison d’être

Ich spiele nicht mit Puppen. Ich möchte nur ein wenig so sein wie sie, die mit den lebendigen spielt, die Meisterin des Spiels, die Prinzessin der Puppen mit ihrem leuchtend roten Haarschopf, dem feurigen Blick, mit dem schönen Namen und dem Stolz des Künstlers.

*

Sie saß auf der Couch gegenüber dem Dach der Turmuhr, die gerade fünf geschlagen hatte. Es war ein ungewohnter Anblick, denn es war Nabus Wohnzimmer, in dem sie sich befand, wie es auch sein Plüschhase war, den sie im Arm hielt. Und hinter der durchsichtigen Scheibe fiel vor dämmerblauem Himmel eine Schneeflocke nach der anderen, deren Wolken man ignorierte. Sterne sehen. Heute. Die Tür öffnete sich, wurde leise wieder geschlossen. Es war eine schöne Tür, sehr schön, Nabus Mama hatte sie ausgesucht. Wandte man die Ohren in ihre Richtung, hörte man die Falten des Stoffs und die Schnürsenkel der schwarzen Schuhe. Aus der anderen drangen nur Autoreifen und Benzin. Nicht einmal ein kleiner Vogel mit einer Schneeflocke. Ein sanfter Windzug bewegte die Gardinen. Der Junge trat ein. Seine schönen langen schwarzen Haare mit den blaugefärbten leicht gewellten Spitzen kamen im Halbdunkel nicht zur Geltung. »Du bist hier, Simone?«, fragte er erstaunt.

»Hier bin ich.«
 

V. Sommer (1) oder Graugeflügelte Schmetterlinge im Friedhofsgras

Der Geruch von frischem Gras. Oder war es Blut? Rochee öffnete die Augen nicht. Er wollte es nicht wissen. Es war kalt und dicht über dem Boden schwebte eine dünne Nebelschicht. Man sah sie nicht, aber spürte sie an den Fingern. Von einem nahen Grab war bis vor kurzem ein eigenartiger Trauergesang ertönt. Verstummt. Das Schattenvolk war weitergezogen. Nur der alte Grabwächter verweilte noch dort, setzte das Lied für sich allein fort mit seiner tiefen rauen Stimme. Ein Husten zwischendurch und ein Husten auch neben dem Jungen. »Es ist verdammt kalt«, sagte Severin und rieb sich die Hände. Die Kamera schlief ins Gras gebettet wie auf ein Kissen, die Brille, der graue Schlüsselbund, an dem sich eine Soichiropuppe und eine Furiperupuppe in die Augen sahen, wie es schien, denn in Wirklichkeit waren sie blind wie die Welt. Rochee wandte den Kopf nach rechts. Der Geruch von frischem Gras. Und auf seinen Händen lagen die des anderen. Kalt, aber seine Hände waren warm und er beugte sich zu ihm herunter und flüsterte etwas. Der Jüngere lachte, schob Severin beiseite. Die Welt zeigte sich jetzt verschwommen und umrisslos, aber das Gras war grün und weit weit entfernt stand Fanon auf der Brücke über den Fluss und spielte Violine. Es war dasselbe Lied. Dasselbe ein wenig glücklicher. Aber das Gras ist grün trotz der Kälte, sagt er noch einmal. Und Severin bindet sich seine Haare zusammen und freut sich.

Die Kamera surrt und der Atem wird zu Nebel wie weiße Gespenster. Man denkt an den Sommer, denn die Finger schmerzen. Man denkt an die Öllampe mit den schmutzigen Gläsern, die Nacht für Nacht wie ein Irrlicht zwischen den Gräbern umherwandert.
 

VI. Sommer (2)

Draußen war es still, kein Windhauch wehte durch die kahlen Bäume, aber der Himmel war blutrot und selbst durch die Fensterscheibe spürte man die Kälte des Winters. Azisan neigte den Kopf zur Seite, lauschte auf die Musik, denn Severin spielte Klavier. „L’est est près“ hatte man das Lied genannt, im Kopf ein anderes. Es erinnerte ein wenig an einen warmen Sommerabend und die verwelkten orangefarbenen Blüten rochen noch immer, erfüllten den gesamten Raum. Der Blick des Jungen blieb an ihrem Rücken haften. Das netzartige Oberteil, schwarz mit Muster, ein noch schwärzeres darunter, ein ganz weißer Hals, ihre Haare zum Teil hochgebunden, zum anderen vor den Schultern und ein schöner weißer Hals, ganz weiß gegenüber der tiefschwarzen Umgebung. Dass er aufgehört hatte zu spielen, bemerkte er erst, als sie sich umwandte. Große dunkelblaue Augen. Sie kniff sie zusammen in einer Art, die nur Severin zu deuten wusste. Er schob sich die Haare aus dem Gesicht und lächelte vergnügt. Seltsam war, dass sie kurz waren, vom Sonnenlicht nur wenig gefärbt. Azisan trat an den Flügel, stützte sich auf das Holz. Sie lachte. Es war wie damals zwischen den Kleeblättern oder im gelben Sonnenblumenfeld. Es war dieselbe Melodie, ebenso strahlend und lebendig, wie Wind lüftete sie den Nebel und vertrieb den Regen, obgleich die Sonne gerade erst unterging, noch kein Stern am Himmel. Er verschloss die Tasten unter dem Deckel. Die Schatten fielen an die Wand. Eine blutige Staubschicht. Lange war niemand mehr hier gewesen. Aber die Blumen rochen noch. Er senkte den Kopf. Das Licht war sehr wenig geworden und ließ ihn wieder blass und fast krank wirken. Aber, sagte er, solange sie riechen, und er meinte es so, ist der Sommer nicht vorbei. Eine vibrierende Saite.
 

VII. Sieben (Winterschmetterlinge)

Ich möchte ein Vogel sein, sagt er. Und.

Nico öffnete die Tür. Es hatte nicht geklingelt, aber er öffnete sie, weil er wusste, dass jemand auf der anderen Seite stand, welcher niemals klingeln würde, denn es war mitten in der Nacht. Er hatte Steinchen ans Fenster geworfen und war dann die Treppe hinaufgerannt und hatte gewartet bis Nico aufgestanden und angezogen war. Es war mitten in der Nacht. Sein Gesicht war leicht gerötet, ungeschminkt, die Lippen hatten ihre natürliche blassrote Farbe, die Haare waren kurz und zerzaust. Sie waren selten kurz, aber diese Nacht fiel es auf, denn der Wind hatte sie durcheinander gebracht. Sein Atem ging schnell und laut, die Schultern hoben und senkten sich im Takt. Anstelle von seinen schwarzen Stiefeln trug er Sportschuhe. Er hatte einige Paar Schuhe und Sportschuhe nur für die Schule. Sie waren weiß mit schwarzen Streifen und den Füßen fiel es schwer stillzuhalten und er blickte den anderen fest an. Er dachte nicht.

»Was ist?«, fragte Nico, strich sich mit dem kleinen Finger die schwarzen Haarsträhnen hinters Ohr und legte die Hand zurück auf die Klinke.

»Dieses Brennen«, sagte der silberhaarige Junge und seine Mimik blieb unverändert, die großen Augen und der atmende Mund. »Es brennt so heiß.«

»Und was willst du von mir? Um diese Uhrzeit?«

Severin senkte den Kopf, sodass sein Haar vor die Augen fiel. Seine Fäuste spannten sich an. »Wenn ich tanzen könnte, würde ich tanzen, aber …«

»Du kannst nicht tanzen.«

»Ich kann laufen.« Seine Füße wippten wie zum Absprung bereit. Sechs Sekunden noch herrschte Stille, die wusste, was sie sagte. Plötzlich drehte er sich um und rannte los, die Stufen hinunter.

»Severin!!«, brüllte Nico und es war ihm egal, ob das ganze Haus aufwachen würde, und er stürzte zurück in sein Zimmer, zog sich eilig seine Schuhe an, griff sich seinen Hut und lief hinterher. Die Wohnungstür knallte und als er über die Geländer sprang, machte die Landung dumpfe Geräusche, aber es war gleichgültig. Die Luft war kalt und der Wind wehte vom Meer. Die Straße hart und dunkel, denn es war die Zeit, zu der sich selbst die Großstadt beinah unbeleuchtet gab, um Energie zu sparen.

Severin rannte voraus. Er wusste nicht, wohin, es spielte keine Rolle. Er spürte den Luftwiderstand und den Wind, der an ihm zerrte, und er war glücklich, denn dieses Gefühl hatte er spüren wollen und hinter sich hörte er Nico rufen und schimpfen. Wenn man die Stadt langsam betrachtete, sah man jedes Detail, jeden Makel. Erhöhte man das Tempo, blieb einzig das Schöne übrig. Vereinzelte vorbeirauschende Lichter, verschwommene Bilder, unklare Eindrücke, sodass man dachte, man hatte jenes Etwas noch nie zuvor wahrgenommen. Die Brücke erschien höher und schmaler und viel länger, obgleich man schneller war als sonst. Und die Luft war so kalt, trotzdem es fast Sommer war, so kalt, sie besänftigte das Feuer, dieses quälende Ziehen im Herzen.

Irgendwann fühlte er etwas Weicheres unter seinen Füßen. Er ließ sich fallen, schloss die Augen. Nur Sekunden später legte sich Nico neben ihn. »Hundert Meter mehr und ich hätte dich gehabt«, keuchte er.

»Haha«, machte Severin. Er blickte in den Himmel, eine schwarze Kuppel, an die jemand ein paar Sterne geheftet hatte. Der Gedanke stimmte ihn lustig. »Und wenn der Kleber sich löst, fällt der Stern als Sternschnuppe zur Erde und ich fange ihn auf.«

»Dann brauchst du einen großen Regenschirm.«

»Ich fange ihn mit bloßen Händen. Ich strecke ihm meine Arme entgegen und wenn er kommt, halt ich ihn fest. Einfach so.« Er machte eine Pause. Das Gras roch stark. »Kennst du das? Du möchtest etwas tun, du weißt, dass du es kannst, und du willst es unbedingt und trotzdem tust du es nicht, weil du nicht darfst, weil es gegen die Ordnung ist oder deinem Ansehen schaden könnte oder so?« Nico antwortete nicht. »Oder wenn du etwas tun willst, weil du es liebst, aber nicht kannst, aber nur die Ausübung dieser Tätigkeit dir Erfüllung geben kann?« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Ich hasse das. Eine Gesellschaft, die die Persönlichkeit einschränkt, oder eine Persönlichkeit sich selbst. Das ist widerwärtig.«

»Deswegen läufst du.«

»Weil ich ja nicht tanzen kann und das Ergebnis dasselbe ist. Fanon macht das jeden Morgen, am Hafen, wenn er geigt wie ein Besessener.«

»Er ist ein Besessener«, meinte der Junge mit dem Hut und sein Freund musste lächeln.

»Ja. Und es ist gut so.« Die Luft war laut. Sogar die Stille machte ein Geräusch und vielleicht das Meer in der Ferne. »Ich möchte ein Vogel sein, Nico«, sagte er in seinem eigenen Tonfall. »Ein großer Vogel mit starken schwarzen Flügeln, die Wind machen können, wenn sie schlagen, der einem hart ins Gesicht weht. Ich tue immer so als wäre ich einer, lasse die Leute glauben … In Wirklichkeit bin ich auch nur ein kleiner Schmetterling und nicht einmal ein bunter wie Simone, sondern ein grauer, der im grauen Winter fliegt, weil er der Meinung ist, dass man Kälte besser spürt als Wärme. Acht Wochen eine dicke Raupe, drei Tage ein kleiner grauer Schmetterling und dann …«

»Dann schlägst du einmal mit den Flügeln und auf der anderen Seite der Welt entsteht ein Taifun. Sie ist zu einfach gestrickt für dich, Sev.« Er setzte sich auf und blickte den anderen an. »Aber schau nicht so traurig. Große schwarze Vögel sieht man das ganze Jahr. Dagegen ein Schmetterling im Winter und ein grauer …das ist was Besonderes … Du bist, was du bist, Sev, und wenn du nicht weißt, was du bist, kannst du sein, was du glaubst, du bist.« Er sank zurück ins Gras. »Oder so ähnlich und jetzt lass mich schlafen.«

»Du willst hier schlafen?«

»Zu müde zum Nachhauselaufen. Außerdem ist es Sommer und warm genug. Gute Nacht.« Er zog den sich den schwarzen Hut über sein Gesicht und rührte sich nicht mehr.

»Sommer«, echote Severin irgendwann für sich selbst und dachte ohne zu denken. Er dachte an die Wolken, die sich in Regen auflösten und eins mit dem Meer wurden, und Schiffe, die auf diesen Wolken fuhren, fast nah an den Sternen. Danach blieb immer ein bisschen Leere, nach dem Feuer. Die Asche war grau. Platz für neue Dinge und Eindrücke. Wie feuchtes Gras zwischen den Fingern.
 

[Winterschmetterlinge] - Ende



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