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Die Zitrone und der Rabe

und andere Geschichten
von

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Der Stern über dem Weg des Schicksals

⌠ORANGE CAFE⌡Der Stern über dem Weg des Schicksals

Durch den dünnen Nebelschleier sah man die Sterne nicht. Der Junge fröstelte. Der kalte Hauch einer Novembernacht. Er war müde, aber das Geländer und das darunter liegende Meer ließen ihn nicht gehen. Er legte den Kopf in den Nacken, die silbergrauen Haare schimmerten wie frischer Schnee. Schmetterlinge sah man zu dieser Jahreszeit nicht, am Hafen nur die schwarzen Raben, deren Schwingen die Schneeflocken aufwirbelten, deren schwarze Federn sanft die blasse Wange streichelten. »Guten Morgen, Severin.«

Er blickte dem anderen ins Gesicht. »Es ist kalt«, sagte er bloß in gewohntem Tonfall.

Der andere trat einen Schritt zurück, betrachtete den Jüngeren. »Du bist groß geworden seit dem letzten Mal.«

Ein nicht ernst zu nehmendes Lachen und eine Handbewegung, die die Haare von der Stirn strich. »Was willst du erwarten nach mehr als elf Jahren?« Er löste sich von seinem Platz. »Warum bist du gekommen, Ba...«

»Für dich und heute Enlil Eo.«

Severin schwieg einen Moment. Seine Augen wurden kalt. »Herr Windeshauch ... Willst du mir Leb wohl sagen, oder was?«

»Meine Zeit geht zu Ende. Schicksal.«

Das letzte Wort hallte in seinem Kopf wider und er entgegnete: »Tout marche mystérieusement vers un destin. Ich weiß. Aber selbst wenn du nur noch einen Schritt entfernt bist, zwingt dich niemand diesen zu gehen. Ich will ...« Eine Nebelwolke schob sich zwischen sie, verschluckte ihre Gesichter. »Ich will nicht, dass du gehst.« Und dann: »Du bist auch nur ein Rabe, Herr Windeshauch. Und man hat dir deine Stimme genommen wie allen anderen.« Niemand hört dich mehr. Niemand nimmt dich wahr. Einzig geblieben ist ein leichter Wind ohne Temperatur, dem niemand Beachtung schenkt. Nicht einmal das große Meer lässt sich noch von dir bewegen. Kein Stern am Himmel erleuchtet deinen Weg.

»Geh nach Hause, Severin. Ich gehe auch. Es ist besser, wenn du mich vergisst. Dann bin ich zufrieden.«

»Du musst nicht gehen. Hier ist viel Platz.« Durch das weiße Geflecht aus Wassertröpfchen konnte man nur erraten, wohin er zeigte.

»Zum Glück ist es Nacht, sonst müsstest du mich so in diesem Zustand sehen.«

»Ich habe bessere Augen als du. Ich soll dich so oder so vergessen, wo liegt der Unterschied?«

Die Brücke zitterte unbemerkt. Jemand entfernte sich. Und die Lichter der Stadt waren gelb. »Du bist der einzige«, sagte der Ältere.

»Ich bin der einzige«, echote Severin und wusste, dass es nicht stimmte. »Du hättest ein Vogel sein können, stattdessen ...«, murmelte er und er wollte schreien, doch der Name, den er kannte, war nie der wirkliche gewesen und er durfte ihn nicht sagen. Und das Wasser rauschte so gleichgültig und die Lichter schienen ohne Bedeutung. Aber er glaubte Regen zu hören, über dem Geruch des Windes denjenigen des Regens zu sehen. Also legte er die Hand auf das harte Geländer und ging den Weg zurück zum Festland, zum Hafen, wo er aus einer der leeren Lagerhallen seinen gelben Regenschirm holte und von den feuchten Pflastersteinen die feinen schwarzen Federn einsammelte um, sie ins Wasser zu tragen. Es war eine kalte Nacht und er saß regungslos am Rand der Brücke über den Fluss wie die Raben auf ihren Stromleitungen wachten. Das kleine graue Windrad aus Papier war es, das er vermisste. Ein Windrad so grau wie der Schmetterling im Winter.
 

[Der Stern über dem Weg des Schicksals] - Ende



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