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Paranoia

von

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Wandel

Röchelnd strich Shiho sich die verklebten Haarsträhnen aus dem verschwitzten Gesicht. Sie hielt die Luft um an, um nicht ein weiteres Mal ihren Mageninhalt abzugeben. Doch es half nichts.

Sie hörte das leise Knarren der Tür und schloss erschöpft die Augen. Warum musste er ausgerechnet in diesem Moment auftauchen?
 

„Bitte komm nicht näher, Shinichi, bitte!“
 

Sofort war er bei ihr und strich der jungen Frau mit warmen Händen beruhigend über den Rücken.
 

„Es geht schon wieder ...“, flüsterte Shiho heiser und stand auf, um die Toilettenspülung zu betätigen. Etwas beschämt und von sich selbst angewidert, beugte sie sich über das Waschbecken.

„Du hast dir doch hoffentlich nichts eingefangen!?“, fragte Shinichi besorgt und musterte sie aufmerksam. Befangen schüttelte sie den Kopf. Wenn Shinichi sie doch nicht so anblicken würde. Wahrscheinlich sah sie furchtbar aus und mit Sicherheit roch es ekelerregend in dem kleinen Badezimmer.

„Vielleicht hab’ ich gestern einfach etwas Falsches gegessen.“

„Oder vielleicht zuviel?“, erwiderte der junge Mann spöttisch und sie blickte ihn empört an. Lachend umarmte er seine Freundin.

„Also du brauchst dir wirklich keine Sorgen um deine Figur zu machen ...“, Er kicherte leise und sie rümpfte die Nase.

Nachdem sie Nachts kaum noch diese Alpträume hatte und nicht mehr ganz so stark von ihren Ängsten geplagt wurde, verspürte sie auch wieder mehr Appetit. Aber vielleicht sollte sie es einfach langsamer angehen ... vielleicht war ihr Körper noch nicht soweit ...
 

Nach der letzten Panikattacke vor zwei Monaten, hatte Shinichi wie versprochen mit Jodie telefoniert. Und tatsächlich gab es keine Hinweise darauf, das Gin oder andere geflüchtete Organisationsmitglieder sich in Tokyo oder Umgebung befanden. Jodie betonte mehrmals, dass sie sich mit Sicherheit im Ausland aufhielten und nicht nach Japan zurückkehren würden.

Diese Aussage beruhigte Shiho zwar etwas, doch sie blieb weiterhin skeptisch.

Ihr blieb jedoch nicht allzu viel Zeit um über diese Sache nachzudenken, denn Ran hatte sie völlig in ihre Hochzeitsvorbereitungen eingeplant.

Es war eine angenehme Abwechslung gewesen, über fast belanglose Dinge wie die Farben der Dekoration oder die Auswahl der Blumen nachzudenken.

Die erste Hochzeit, auf die sie eingeladen gewesen wurde, war die von Sato und Takagi gewesen. Aber selbst an den Vorbereitungen beteiligt zu sein, war verdammt anstrengend gewesen und so war sie am Tag der Trauung selbst ganz nervös gewesen.

All das hatte ihr geholfen, um einen weiteren, wertvollen Abstand zu der Vergangenheit zu bekommen. Sie dachte nicht mehr so oft zurück. Shiho fühlte sich ein Stück weit normaler. Und auch wenn sie nun vom Alltag der Universität wieder eingeholt wurde, war sie froh darüber. Sie wollte doch nur ein ganz normales Leben und sie hatte endlich das Gefühl, das es fast soweit war.
 

Nachdem sie geduscht und ein wenig Make Up aufgelegt hatte, lief Shiho nach unten, um noch rasch eine Tasse Kaffee zu trinken. Das Telefon klingelte und sie seufzte auf. Wahrscheinlich wartete wieder einmal ein weiterer Fall auf den großen Meisterdetektiv ...

Genervt nahm sie den Hörer ab.
 

„Miyano hier, wer ist da bitte?“

Sie glaubte, sofort Takagis nervöse Stimme hören zu müssen. Doch sie irrte sich.

Einzig ein leises Rauschen war zu hören.

„Hallo?“

Noch immer gab der Anrufer keine Antwort und sie legte kopfschüttelnd auf.

„Und?“ Shinichi stand im Flur und zupfte vor dem Spiegel seinen Hemdkragen zurecht. Mit der anderen Hand strich er sich lässig durch die Haare.

Bei seinem Anblick unterdrückte Shiho ein Seufzen.

„Ich weiss nicht, wer das war ... derjenige hat Nichts gesagt, ich hab nur ein Rauschen gehört.“ Sie zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme.

„Sicherlich hat sich da irgendein Handy in der Hosentasche entsperrt und die Person merkt’s nicht ...“

Shiho griff gerade nach dem Telefon, um die Nummer zu überprüfen, als es ein weiteres Mal klingelte.

„Unbekannt.“, murmelte sie und ging erneut dran.

Wieder ertönte nur ein Rauschen.

„Wie eben ...“, antwortete sie leise und reichte das Telefon an Shinichi.

Kurz lauschte er stirnrunzelnd, bevor er mehrere Male laut ins Telefon rief.

Lachend fasste Shiho sich an die Stirn und er legte das Telefon beiseite.

„Da wird jemand eine ganz schön hohe Rechnung bekommen ...“
 

„Haben sie schon einen Schwangerschaftstest gemacht, Frau Miyano?“

Bei diesen Worten zuckte sie zusammen. „Bitte? Ich dachte, ich habe eine Grippe ..“

Sie konnte einfach nicht schwanger sein, ihr war doch nur übel gewesen. Aber da es ihr nach drei Tagen nicht besser ging, war sie zum Arzt gegangen.

„Das ist ausgeschlossen, meine Periode habe ich letzten Monat wie gewohnt gehabt.“, erwiderte sie nervös.

Die Ärztin blickte sie durch die dicke Brille hindurch an. „Haben sie Veränderungen bemerkt?“

Kurz überlegte sie. Es war doch alles wie immer gewesen, oder? Sie achtete eigentlich nicht besonders drauf ...

„Nein, eigentlich nicht ... okay, es war weniger als sonst, aber ...“

Shiho verstummte. Ihr Herz begann zu rasen. Es konnte doch nicht wirklich sein, dass sie ...

„Ich schlage vor, sie machen einen Test oder lassen sich bei ihrem Gynäkologen untersuchen. Falls es keine Schwangerschaft ist, dann kommen sie wieder.“
 

Wie betäubt verließ sie die Praxis und steuerte geradezu automatisch die nächstliegende Apotheke an. Die pharmazeutische Fachangestellte musterte sie seltsam, als sie einen Schwangerschaftstest forderte. Doch darauf achtete sie nicht.

In dem nächstbesten Café ließ sie sich nieder und bestellte ein Wasser. Die junge Frau saß lange dort, bevor sie die Toilette betrat und den Test aus der Verpackung nahm.

Die Prozedur war ihr nicht unbekannt und die Situation ließ sie unweigerlich an Damals zurück denken. Das beklemmende Gefühl in ihr wuchs. Als das Ergebnis sichtbar war, hielt sie den Atem an.

Der Test war positiv. In ihr wuchs ein Kind.

Sie stopfte den Test zurück in die Verpackung, steckte alles in die Tasche und setzte sich zurück an den Tisch. Die junge Frau war dermaßen fassungslos, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Geschockt ließ sie sich ein weiteres Glas Wasser bringen, welches sie jedoch nicht anrühren würde.

Sie hatte lange und vor allem hervorragend verdrängt, dass sie ihr Kind hatte töten müssen. Doch nun sickerten die Erinnerungen durch, tauchten aus der Tiefe des Unterbewusstseins hervor.

Ein innerlicher Ruck durchfuhr sie, als sie die braunrote Schmiere vor sich sah, wie sie langsam und mit einem widerlich – schmatzenden Geräusch den Abfluss herabsickerte.

Panisch schüttelte sie den Kopf und versuchte die Tränen wegzublinzeln. Erst als sie sich hektisch im Raum umblickte, bemerkte sie es. Ihre Fingernägel gruben sich in die Handfläche ihrer geballten Faust.

Sie saß in dem Café, in dem sich das letzte Mal mit Akemi getroffen hatte.

In diesem Moment brachen alle Dämme.
 

Etwa eine Stunde später saß Shiho zu Hause auf dem Sofa und starrte in die Leere. Irgendwann hatte sie das Geld auf den Tisch geknallt und fluchtartig das Café verlassen.

Nun saß sie im Wohnzimmer. Weinen konnte sie schon lange nicht mehr, stattdessen hatte sich bereits eine lähmende Erschöpfung in ihr breit gemacht. Eigentlich wollte sie aufstehen und nach all der Zeit endlich ihre Jacke ablegen. Sie wollte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht spritzen, um dem Zustand der inneren Betäubung zu entkommen.

Doch all das schaffte sie nicht. Sie dachte an das Kind in ihrem Bauch und an das Kind, das die Chance zu leben nie erhalten hatte.

Die Erinnerung an die Schmerzen und das viele Blut quälte sie. Nach der Abtreibung hatte sie Alpträume gehabt, schreckliche Träume, in denen rotbraune Pampe aus allen Abflüssen und Löchern kroch ...

Das Telefon läutete und riss sie aus ihren grausamen Gedanken. Sekundenlang starrte Shiho es an, bis sie sich einen Ruck gab und abnahm.
 

Rauschen. Schon wieder. Und kaum hörbar; der Atem einer Person.

Eine Gänsehaut breitete sich über ihren gesamten Körper aus.

„Was soll denn der Scheiss!? Lassen Sie uns in Ruhe, verdammt!“

Atemlos drückte sie den unbekannten Anrufer weg und schmiss das Telefon in die Ecke des Sofas.

Diese seltsamen Anrufe machten ihr Angst und begannen zu nerven, doch immerhin hatte es sie aus ihrer inneren Starre befreit.

Im Badezimmer betrachtete Shiho sich im Spiegel. Ihr Gegenbild zeigte eine junge, hübsche Frau, die ein wenig zu blass war und völlig erschöpft wirkte. Kein Wunder, dachte sie. Eigentlich war sie noch viel zu jung für ein Kind. Doch so jung fühlte Shiho sich auch nicht mehr. Wie würde es ihr erst im Alter ergehen?

Sie verzog das Gesicht. Dieses Lebewesen in ihr, erinnerte sie an eine furchtbare, qualvolle Zeit. Würde sie sich jemals vollkommen von der eigenen Vergangenheit lösen können? Die Erinnerungen schienen sie immer wieder einzuholen, wenn sie glaubte, ein Stück vorwärts gekommen zu sein.

Damals war dieses Kind von einem Mann gewesen, dem sie zum Ende hin nur noch Abscheu und Verachtung entgegeben gebracht hatte.

Wäre Shiho damals überhaupt in der Lage gewesen, dieses Kind zu lieben? Hätte sie es nicht auf ewig an diesen erbarmungslosen Killer erinnert?

War es besser so? War es nicht gut, dass sie es nie zur Welt gebracht hatte?

Ein schmerzhafter Stich durchzuckte sie. Der Gedanke schmerzte und sie biss sich auf die Lippen. Sie war schwanger. Von Shinichi. Von einem Mann, der sie liebte. Den sie liebte.

Sie musste es ihm sagen.
 

Als Shinichi nach Hause kam, saß sie noch immer auf dem Sofa. Eine ewige Zeit lang hatte Shiho über ihre Worte nachgedacht, doch es erschien ihr alles nur völlig idiotisch. Nur hatte sie sich verboten, zu weinen. Sie wollte mit ihren Gefühlen in der Gegenwart bleiben.

Als sein überraschter Blick sie traf, biss Shiho sich nervös auf die Lippen.

„Was ist los? Ist etwas passiert!?“

Entsetzt weiteten sich seine Augen und sie wusste, dass er an den Arzttermin dachte. Schnell schüttelte sie den Kopf.

„Nein, es ... es ist nicht so schlimm ... denke ich ...“

Mit besorgter Miene ließ der junge Mann sich auf dem Sofa nieder. Sie schluckte und suchte noch nach Worten, als er zu sprechen begann.

„Du bist schwanger.“
 

Wortlos starrte sie ihn an. „Woher zum Teufel ...?“

„Es sprach einfach ... vieles dafür, sagen wir es so.“

Voller Spannung wartete Shiho auf weitere Reaktionen seinerseits. Natürlich konnte er sich diese Tatsache erschließen. Es fing bei ihrer Übelkeit an, ging über ihr Verhalten, bis hin zu ihrer Körpersprache. Ihm konnte sie nichts vormachen.

„Wie alt ist es?“, fragt er leise und kaum hörbar.

„Vielleicht sechs, sieben Wochen alt ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß es nicht genau, ich war noch nicht beim Frauenarzt.“

Es war jedoch noch genügend Zeit um abzutreiben, dachte Shiho und erschauderte innerlich.

„Glaubst du, wir wären gute Eltern?“, fragte er nachdenklich und blickte dabei ganz abwesend auf ihren Bauch. Dabei war noch nichts von ihrer Schwangerschaft zu sehen.

Shiho lächelte, zum ersten Mal seit der Untersuchung beim Arzt. „Abgesehen davon, dass das Kind eine leicht verrückte Mutter und einen besessenen Detektiv als Vater hat!?“

Shinichi lachte auf und legte seinen Arm um sie.

„Du bist nicht verrückt. Du hast viel durchgemacht, ja ... aber, das macht dich nicht zu einem schlechten Menschen. Im Gegenteil. Irgendwie denke ich, das du eine wundervolle Mutter wärst.“, erwiderte er und Shihos Herz machte einen Sprung. Sie hatten nie über dieses Thema gesprochen, dafür war es eigentlich noch viel zu früh gewesen. Doch diese Worte machten ihr erst klar, wie viel er für sie empfand.

Trotzdem blickte sie ihn zweifelnd an.

„Das meine ich ernst, Shiho!“, sagte er zärtlich und strich ihr über die Wange.

„Denkst du, es würde mich glücklich machen?“ Sie griff nach seiner Hand und blickte nervös auf seine Finger.

„Diese Frage müsstest du dir doch selbst beantworten können, oder?“

Sie schüttelte den Kopf, suchte nach den richtigen Worten. „Ich kann es eben nicht. Ich hab’ einfach Angst, Shinichi. Ich will nichts ... nichts Falsch machen ...“

Er zog die junge Frau zu sich und hielt sie fest in seinen Armen. Vorsichtig drückte er ihr einen Kuss aufs Haar.

„Ich will nur, dass du weißt, das ich mich freuen würde.“

Wortlos, doch sehr berührt nickte sie und schlang die Arme um seinen Hals.
 

Als das Telefon an diesem Abend erneut klingelte, ignorierten sie es.



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