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The Art Of Magic

von

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"Es ist aber Naturgesetz, dass das Herz nicht ruht, bis es ans Ziel seiner Wünsche gelangt ist."

(Francesco Petrarca)
 

Sie hatten ihn Oliver getauft. Wie Oliver Twist, weil niemand wusste, wie er hieß und niemand wusste, woher er kam.

Er erinnerte sich nicht mehr - er erinnerte sich an gar nichts. Die Nacht, in der er gefunden wurde, war eine kalte gewesen. Eine Dezembernacht. Die Weihnachtsnacht. Das hatten sie ihm gesagt.

Er sah immer noch den Schneesturm vor seinem geistigen Auge, die viele unzähligen Schneeflocken, die im Wind herumwirbelten, kleine und große. Sie fielen auf den Boden und hinterließen eine weich aussehende, weiße Schicht auf der Erde. Überall waren Bäume, weiß verschneite Pflanzen, die hoch in den Himmel ragten, und um ihn herum war - nichts.

Das hatte er gesehen, als er die Augen aufschlug. Als er sich aufsetzte, tat ihm alles weh, und er wusste nicht, wo er war, wer er war und warum er hier war. Es war, als wäre er in eine unbekannte Welt hineingeschlittert, eine Welt, die ihm so fremd und zugleich doch so vertraut war, dass er keine Angst verspürte, sondern nur Verwirrung.

Die kalte Dezemberluft brannte ihn in den Lungen, seine Finger waren taub, fast unbeweglich, und es war nur der Mond, der den kleinen Fleckchen Erde erleuchtete, die kleine Lichtung, auf der er sich befand. Im Mondlicht tanzen die Schneeflocken um ihn herum und er schaute zu dem runden, gelben Trabanten auf, weil er die einzige Lichtquelle war, die er festmachen konnte.

Dann hörte er das Knacken eines Astes und drehte den Kopf herum. Eine Gestalt trat hinter einer Tanne hervor, gehüllt in einen langen, schwarzen Mantel und mit einem dunklen Zylinder auf dem Kopf, die Hände tief in die Manteltaschen vergraben.

Der Junge runzelte die Stirn und betrachtete den Fremden, der langsam auf ihn zukam, ohne etwas zu sagen. Er hatte keine Angst - wie sollte er Angst haben, wenn er nicht einmal wusste, wie sein Name war?

"Wer bist du?", flüsterte er in die Stille der Nacht hinein, und seine Stimme kam ihm laut vor, viel zu laut in dieser schweigenden Abgeschiedenheit. Wie ein Echo dröhnte seine Frage in seinem eigenen Kopf. Er glaubte, er müsste die Antwort kennen - irgendetwas in ihm drängte ihn dazu, sich zu erinnern, so sehr, dass sein Kopf sich anfühlte, als würde er gleich zerbersten, doch die Erkenntnis lauerte irgendwo unterhalb seines Bewusstseins und schaffte es nicht an die Oberfläche.

Er konnte das Gesicht des Fremden nicht erkennen, als dieser näher trat und schließlich stehen blieb.

"So jung", murmelte dieser abwesend.

"Wo bin ich?", wagte der Junge die nächste Frage zu stellen und versuchte, sich aus dem Schnee aufzuhieven und sich auf seine Beine zu stellen. Das erwies sich als schwieriger als gedacht, denn seine Gliedmaßen waren steifgefroren und er konnte sich kaum bewegen. Seine Nase war kalt, ebenso wie die Ohren, und erst jetzt bemerkte er, dass ihm ein Schuh fehlte. Seine Zehen fühlte er kaum noch. Waren sie überhaupt noch da?

"Es ist Weihnachten", sagte der Fremde mild, streckte seine Hand aus und fuhr dem Jungen sanft durch das nasse Haare. Schneeflocken fielen von seinen Stirnfransen herab. "Bald werden sie dich finden."

"Wo bin ich?", wiederholte der Junge noch einmal, dieses Mal verzweifelter, und zitterte am ganzen Leib. Er krallte sich in den Mantel des Fremden, seine Stimme bebend. "Warum... warum bin ich hier?"

Der Fremde ließ ihn gewähren, doch dann nahm er ihn bei den Schultern und hielt ihn eine Armeslänge von sich weg. "Sie kommen gleich.“

Dann betrachtete er den Kleinen genauer, runzelte die Stirn. "Du bist etwas Besonderes. Vergiss das nicht. Es wird dir gut gehen. Wir sehen uns an Weihnachten wieder. Bald."

Es dauert nur einen Augenblick, ein einziges Blinzeln - und der Fremde war verschwunden, noch ehe der Junge seine Worte begreifen konnte. Er wich vor Schreck zurück, stolperte und fiel wieder rücklings in den Schnee, der ihn weich auffing. Mit großen, schreckgeweiteten Augen starrte er auf die Stelle an der eben noch die schwarzgehüllte Gestalt gestanden hatte, doch sie war weg. Es waren nur die Schneeflocken, die weiterhin im Wind tanzten, im Winder der kalten, dunklen, mondbeschienenen Nacht.
 

Was danach folgte, waren Bruchstücke der Erinnerung. Menschen, Hunde, die ihn fanden, Krankenhaus. Menschen, die ihm sagten, seine Eltern seien tot. Menschen, die über ihn tuschelten. Begriffe, die er nicht kannte, Amnesie, Gedächtnisverlust, dauerhafter Schaden.

Schließlich hatte eine sehr beschäftigte Frau ihn an einem eisigen Winterabend vor einem großen Backsteinhaus abgeladen, wo er bereits von einer anderen Frau empfangen wurde.

Sie war jung und hatte ein so gütiges Lächeln im Gesicht, dass sich der Junge - mittlerweile schon Oliver genannt -, sie sofort auserkoren hatte. Nach mehreren Wochen Krankenhausaufenthalt und einer Menge fremder Menschen, die alle nur über ihn redeten, aber nie mit ihm, war es dieses Lächeln, dass ihm Hoffnung gab, es könnte auf der Welt doch noch einen Platz für ihn geben, jemanden, der sich seiner annahm und ihn nicht behandelte, als wäre er gar nicht da. Er wollte nicht mehr im Krankenhaus leben, und wenn dieses Gebäude und diese Frau die Alternative waren, dann sollte es ihm nur recht sein.

"Hallo, Oliver", sagte die junge Dame mit leiser, geduldiger Stimme und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter, um ihn hereinzugeleiten. "Ich bin Mary."

Bis jetzt hatten ihm alle gesagt, wie leid es ihnen tue, dass seine Eltern gestorben seien. Aber nicht Mary. Sie erwähnte seine Eltern mit keinem einzigen Wort, und das war auch gut so, denn er wusste ohnehin nicht, von wem alle sprachen. Er wusste, dass Kinder Eltern hatten - eine Mutter und einen Vater, zumindest meistens -, aber ihm waren die Begriff fremd. Er war alleine. Wie fühlte es sich wohl an, Eltern zu haben? War es ein ähnliches Gefühl wie das, wenn Mary ihm die Hand auf die Schulter legte?

"So heiße ich nicht...", sagte er leise und schaute auf den Boden.

Mary blickte ihn überrascht an. "Wie... wie heißt du denn?", wollte sie wissen - vielleicht dachte sie, er konnte sich endlich erinnern?

"Weiß ich nicht", gab er kleinlaut zu, "aber nicht so."

Mary überlegte kurz, während sie schweigend weitergingen. Sie hielt ihm die schwere Eingangstür auf und er folgte ihr eine Treppe hoch. Als sie vor einer weiteren Tür stehen blieb, wandte sie sich ihm wieder zu.

"Wie soll ich dich dann nennen?"

Er zuckte nur resigniert mit den Schultern. Sie hatten ihm gesagt, er käme in ein Heim. Wo viele andere Kinder wohnten. Er würde ein Zimmer und ein eigenes Bett bekommen und Leute würden da sein, die sich um ihn kümmerten. Es machte ihm nichts aus. Er war allein, ob nun hier oder irgendwo anders.

Mary steckte den Schlüssel ins Schloss, hielt aber dann inne. "Die anderen schlafen schon...", sagte sie, und fügte dann hinzu: "Wie wär's, wenn du dir überlegst, wie ich dich nennen soll, und bis dahin bleiben wir bei Oliver?"

Der Junge dachte kurz nach, befand das Angebot für fair und nickte schließlich.
 


 

Ein Jahr später
 

Als Oliver am Morgen des 24. - Heiligabend - aufwachte, fühlte er sich irgendwie... komisch. Er fand kein anderes Wort dafür. Etwas in ihm wusste, dass heute kein normaler Tag war, dass irgendetwas los war - aber er konnte es nicht zuordnen. Alles war wie immer.

Als er aufstand, war er vollkommen allein. Die anderen Kinder waren schon am Vortag abgeholt worden. Über die Feiertage durften viele zu ihren Familien, wenn auch nur für einen Tag. Da er keine Familie hatte, musste er dableiben. Mary hatte sich freiwillig dafür gemeldet, heute zu arbeiten, obwohl Oliver wusste, dass sie zu Hause einen Ehemann hatte, aber keine Kinder.

Aus der Küche strömte der Duft von frischen Pfannkuchen, und als er noch im Schlafanzug auf einen Stuhl kletterte, lächelte Mary ihm zu.

"Guten Morgen. Hunger?"

Oliver nickte.

"Ich dachte, dass wir zwei heute alleine sind, darf's auch mal etwas üppiger sein. Immerhin ist ja Weihnachten. Wozu hast du heute Lust?", wollte sie wissen, während sie gekonnt mit der Pfanne hantierte.

Oliver zuckte mit den Schultern. Er brauchte nichts. Solange Mary hier war, war er mit allem zufrieden.

"Ich muss noch ein paar Besorgungen machen in der Stadt. Wie wäre das?"

"Okay", sagte Oliver gleichmütig.

Mary lachte und stellte ihm einen Teller hin, auf dem sich ein großer Pfannkuchen befand. "Du bist so pflegeleicht, Ollie. Ich wünschte, alle wären so."

"Wo musst du denn hin?", fragte er sie und dann weiteten sich seine Augen in Erstaunen. "Zu deiner Oma", beantwortete er sich die Frage selbst, und wusste gar nicht, woher dieses plötzliche Wissen kam.

Mary warf ihm einen stirnrunzelnden Blick zu und nickte. "Ja. Hab ich dir schon einmal von ihr erzählt? Sie ist schon sehr alt und wohnt im Altenheim. Sie hat eine Krankheit, die nennt sich Alzheimer."

"Alzheimer..." Oliver probierte das Wort aus. Es klang seltsam. Viel zu seltsam für eine Krankheit. "Was bedeutet das?"

"Das heißt, dass man sich nach und nach an nichts erinnern kann. Oder dass die Erinnerungen manchmal verschwinden. Sie können aber auch wiederkommen, nur meistens nicht für sehr lange."

Oliver legte die Gabel weg und biss sich auf die Unterlippe. "Hab ich auch diese Krankheit?", fragte er besorgt.

Mary lachte überrascht auf, und fuhr ihm kurz mit der Hand zärtlich durch das Haar. "Nein, nein. Keine Sorge. Du bist nicht krank, das weißt du doch."

Oliver legte den Kopf schief und überlegte. "Die Ärzte sagen, mein Kopf ist beschädigt. Das heißt doch, ich bin nicht normal, oder?"

Marys Blick wurde weich, und sie kniete sich neben ihn, sodass sie mit ihm auf Augenhöhe war und ihm ins Gesicht schauen konnte. "Ollie. Du bist vollkommen normal. Es bedeutet nur, dass du einen furchtbaren Unfall hattest. Und du erinnerst dich nicht daran, weil dein Kopf diese furchtbaren Erinnerungen nicht zulassen möchte. Das passiert manchmal." Sie stand auf und verstrubbelte ihm die Haare. "So, und nun iss deinen Pfannkuchen, putz dir die Zähne und zieh dich warm an. Da draußen herrschen Minusgrade."

Gutgelaunt und ein Liedchen auf den Lippen ging sie summend aus der Küche in das Büro, während Oliver noch nachdenklich am Tisch zurückblieb und eine Weile lang nur seinen Pfannkuchen anschaute, ohne ihn anzurühren. Die Tasse Kakao, die Mary ihm kurz vorher hingestellt hatte, dampfte langsam vor sich hin.

"Wir müssen noch die Geschenke aus dem Kaufhaus abholen!", rief Mary ihm aus dem Nebenzimmer zu. "Du weißt schon, die Wunschzettel, die ihr geschrieben habt!"

Oliver erinnerte sich und wurde plötzlich ganz ungeduldig. Alle Kinder hatten einen Wunschzettel ausfüllen dürfen, die an den Riesenweihnachtsbaum im städtischen Kaufhaus gehangen wurden. Diejenigen, die dort vorbeikamen und Lust dazu hatten, konnten sich einen Wunsch aussuchen und ihn erfüllen. Die Geschenke wurden an Heiligabend dann immer dort abgeholt, hatte Mary ihm erzählt. Und er durfte dabei sein!

Schnell verspeiste Oliver seinen Pfannkuchen und spülte sich den süßen, angenehmen Nachgeschmack hastig mit Pfefferminzzahnpasta wieder aus seinem Mund. Mit den Gedanken war er schon bei seinem Wunschzettel. Er hatte sich ein eigenes Memoryspiel gewünscht, weil Mary ihm mal erzählt hatte, dass es gut für das Erinnerungsvermögen war.
 

Kaum waren sie in der Stadt, fühlte sich Oliver plötzlich noch seltsamer. Fiebrig und schwach. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume, fuhren Achterbahn - er hatte das Gefühl, er hatte sie gar nicht mehr unter Kontrolle. Als gehörten sie nicht mehr ihm. Was war nur los mit ihm?

Als er aus dem Auto ausstieg, schwankte er und traf auf den Blick eines kleinen Mädchen, das an der Hand der Mutter hinter dieser hergezogen wurde. Es starrte ihn mit großen Augen an, dann streckte sie die Hand aus, als wollte sie ihn berühren, aber die Mutter zerrte gnadenlos am Arm des Kindes und zog es ruckartig mit sich fort.

Hatte er vielleicht Schokolade im Gesicht?

Ein leises Murmeln, ohne erkennbare Quelle, war zu hören, aber es war anders als sonst, wenn er Menschen flüstern oder leise sprechen hörte. Es war, als würde er bloß denken, ohne seine Gedanken kontrollieren zu können, ohne überhaupt zu wissen, woran er dachte. Die Lautstärke stieg an, wurde zu einem permanenten Summen, und Oliver bekam Panik.

Er hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen fest zusammen. Woher kam das? Es war, als hörte er seine eigene Stimme in seinem Kopf, laut und überdeutlich. Sie schrie all das und noch viel mehr, alles ging ineinander über, bis er gar nichts mehr genau ausmachen konnte. Es dröhnte in seinem Kopf, und alles andere rauschte im Hintergrund, wie die Stimmen in einem Bus oder einem großen Saal, wenn viele sich unterhalten und kein einziges Gespräch wirklich herauszuhören ist. Oliver sah sich um, doch das waren nicht die Menschen um ihn herum, die redeten. Sein Kopf war beschädigt - das war die einzige Erklärung. Er musste etwas haben, was die Ärzte bisher nicht erkannt haben, oder sie hatten es ihm verschwiegen. Vielleicht war er ja auch verrückt geworden. Er kannte das aus Zeichentrickfilmen, und normalerweise fingen Personen, die verrückt waren, laut und wild an zu lachen und machten komische Sachen. Manchmal hörten sie auch Stimmen, die ihnen sagten, was sie tun sollten. Noch hörte Oliver gar nichts Bestimmtes, aber er verspürte plötzlich... Wünsche. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Liebe, Schokolade, Glücklichsein, Vergangenheit, Zukunft, Gesundheit, und viel, viel mehr. Viel zu viel, als dass er alles benennen konnte, viel zu viel für jemanden, der sich an nichts mehr erinnern konnte.

Er linste zu Mary herüber, die das Auto abschloss und ihm einen aufmunternden Blick zuwarf. Sie ahnte nicht von seiner Tortur und davon, wie krank es in seinem Gehirn aussah. Sie ahnte gar nichts.
 

Während Mary im Kaufhaus mit den Verkäufern plauderte und eine ganze Tüte voller kleiner Päckchen ausgehändigt bekam, versucht Oliver, diese vielen, seltsamen Stimmen in seinem Kopf zu verdrängen, ruhig zu stellen, doch es klappte nicht, und je mehr er hinhörte, desto mehr Details konnte er herausfiltern.

Er sah vor sich ein Krankenhausbett - er wusste, dass es ein Bett im Krankenhaus war, weil er vor genau einem Jahr auch in einem aufgemacht war -, und darin sah er ein kleines Mädchen, das komplett haarlos war. Er verspürte in sich den Wunsch, sie würde wieder aufstehen und lachen und ein fröhliches Kind mit einer blonden Mähne sein. Dieses Gefühl war so übermächtig stark, dass es in ihm brodelte und aufstieg, in seine Brust, wie kleine Luftbläschen sich ihren Weg durch das Wasser an die Oberfläche bahnten. Oliver schüttelte dieses Bild ab. Wo war es hergekommen? Wieso war das in seinem Kopf? Er kannte dieses Mädchen nicht und er kannte auch niemanden, der im Krankenhaus lag.

Aus Angst, mit ihm stimmte nun endgültig etwas nicht, schob er seine Hand in Mary's, die ihn überrascht anblickte, bevor sie ihre Finger um seine schloss. Ohne sie anzusehen drückte Oliver sich an sich, als könnte er sich hinter ihr vor diesen seltsamen Ereignissen, die ihn heute ereilt hatten, beschützen. Die Spielzeuge und Kuscheltiere in der Kinderabteilung interessierten ihn gar nicht mehr – er wollte einfach nur noch nach Hause.

Als sie wieder draußen waren, blieb Mary vor einem Café stehen, um ihre Taschen zu ordnen, die Handschuhe auszuziehen und den Autoschlüssel aus der Handtasche zu kramen. Oliver drehte sich um und schaute in das Schaufenster des Cafés. Auf den weichen, roten Polstern saßen Menschen an den Tischen, auf den Stühlen - der Laden war gerammelt voll. Durch die sich immer wieder öffnende Tür hörte er leise Weihnachtsmusik aus dem Inneren herausdudeln und er erschnupperte den Geruch nach Zimt, Orangen und Kaffee. Die Fenster waren von Innen mit Lichterketten geschmückt und auf jedem Tisch stand ein kleines Teelicht. Oliver seufzte. Zu gern hätte er einen von den Kuchen probiert, die er nur schlecht durch das Schaufenster an der Kasse sehen konnte. Dort gab es Schokoladenkuchen, Karottenkuchen, Muffins und Brownies und Donuts, Käsekuchen und unfassbar viele Schokoriegel. Plötzlich blitzte ein Bild in seinem Kopf auf, nur ganz kurz, sodass er schon dachte, er hätte es sich nur eingebildet. Eine verschneite Landschaft, wie in einem Bilderbuch. Eine tiefe Sehnsucht nach Kindheit, der Geruch von weißer Pracht.

"Stell dir vor, Ollie", lächelte Mary ihm zu, während ihr Arm bis zum Ellbogen in der Handtasche verschwunden war, "wenn es heute Abend schneien würde. Das wäre das perfekte Weihnachten, oder?"

Oliver wirbelte herum und starrte sie an, doch sie war wieder damit beschäftigt, den Schlüssel in den Tiefen ihrer Tasche zu suchen und murmelte stirnrunzelnd etwas Unverständliches vor sich hin.

Im Inneren des Cafés drehte sich ein Junge, etwa in seinem Alter, auf seinem Stuhl zu ihm um, als hätte er gewusst, dass Oliver ihn beobachtete. Ihre Blicke trafen sich, und der fremde Junge betrachtete Oliver, ernst und ruhig, hob dann die Hand und winkte. Verwirrt winkte Oliver zurück und der Duft von Orangen und Zimt und Kaffee und von künstlichem Weihnachtsaroma, nach Bratapfel und Nelken, nahm ihm fast die Luft zum Atmen und brannte in seiner Nase.

Mary richtete sich auf und zerstreute seine beunruhigten Gedanken ein wenig. "Komm, Ollie. Jetzt lernst du meine Grandma kennen." Sie hielt ihm die Hand hin und zaghaft ergriff er sie, die Augen noch immer auf den fremden Junge gerichtet, der ihn weiterhin nachdenklich musterte.
 

Das Altenpflegeheim war ein trostloser Ort - fand Oliver. Mitten auf der Fahrt hierhin hatte es tatsächlich zu schneien begonnen und Mary hatte sich minutenlang über die dicken, weichen Schneeflocken, die vom Himmel fielen, riesig gefreut. Oliver erinnerte das an die erste Nacht, die er bewusst miterlebt hatte - in seinem neuen, gedächtnislosen Leben. Es versetzte ihn zurück in den dunklen, mondbeschienenen Wald am Weihnachtsabend und der Mann mit dem Zylinder fiel ihm erst jetzt wieder ein. Der Mann, der ihn zuerst gefunden hatte. Der gesagt hatte, alles würde gut werden. Er hatte nicht gelogen, dachte Oliver, und schaute zu Mary hoch. Von allen Menschen auf der Welt hatte er sie am liebsten.

Oliver schaute sich um, roch den widerlichen Geruch von Desinfektionsmitteln und Zitronenreiniger, von alten Polstermöbeln und Salbe. Er wusste nicht, wieso er das alles so gut auseinanderhalten konnte, aber er konnte es. Während er neben Mary stand, die sich bei einer Pflegerin nach ihrer Großmutter erkundigte, betrachtete Oliver zwei alte Damen, die, beide in Rollstühlen, im Nebenraum fern sahen. Sie starrten mit gleichmütigen Gesichtern auf den Bildschirm, still und stumm, doch ihre Augen verfolgten schon lange nicht mehr das Geschehen, und Oliver überkam eine tiefe Traurigkeit, Resignation, sodass er sich abwenden musste.

"Jemand sollte die alten Leute hier besuchen", sagte er, einem inneren Impuls folgend, ohne darüber nachzudenken, "das wünschen sie sich doch so sehr."

Mary lächelte ihm zu und nickte. "Da hast du Recht. Ich bin sicher, an Weihnachten kommen auch die Familie der anderen vorbei."

Oliver war sich nicht ganz so sicher wie Mary, aber er schwieg. Dicht hinter ihr stieg er die Treppen hoch und trat schüchtern in das Zimmer von Mary's Großmutter, die in ihrem Bett lag und die Augen geschlossen hatte, doch er hatte das Gefühl, dass sie nicht schlief.

Mary nahm sich einen Stuhl, schob ihn zu dem Bett, und winkte Oliver heran. Die alte Dame öffnete die Augen und, als hätte sie etwas gespürt, als gäbe es da eine Verbindung zwischen ihnen, richtete sie sofort auf Oliver.

Mit glasigem Blick - sie war schon ganz woanders -, musterte sie ihn, dann streckte sie ihre zittrige, faltige Hand nach ihm aus und lächelte - ein zahnloses, müdes Lächeln.

Es war nur ein Lufthauch, als sie sprach. "Endlich."

"Grandma, das ist Ollie", plapperte Mary fröhlich dazwischen und setzte sich auf den Stuhl. "Ich hab ihn heute mitgebracht, damit du ihn kennen lernen kannst."

Die alte Frau lächelte ihn noch immer beängstigend an, doch konnte Oliver auch von ihr nicht die Augen lassen. Zaghaft hielt er ihr seine Hand hin, denn ihre war noch immer nach ihm ausgestreckt, und als ihre Finger sich berührten, riss Oliver erneut erschrocken die Augen auf.

Erlösung.

Geschockt taumelte er zurück und entriss der alten Frau seine Hand. Er wusste, was das bedeutete. Was das Bild, das er kurz gesehen hatte, bedeutete. Die Traurigkeit drohte ihn zu ersticken, ihn von innen aufzufressen, aber das Begehr war außerordentlich stark, und so sehr er versuchte, auch diese Stimme auszublenden, es gelang ihm nicht. Wie die Lava eines Vulkans, wie überkochende Milch, bahnte sich das Gefühl von Verzweiflung einen Weg bis ganz nach oben, bis zu seiner Brust, seinem Herzen, bis es ihm in der Kehle steckte, und er versuchte es zu unterdrücken, doch die alte Frau lächelte milde, lächelte ganz leise, als wüsste sie etwas, was er nicht wusste, und dann nickte sie verstehend, weise, als erlaube sie ihm etwas zu tun, was er lange Zeit nicht durfte. "Bitte", flüsterte sie.

Und weil er es nicht mehr aushalten konnte, rannte Oliver aus dem Zimmer, die Treppen herunter, und an die frische Luft, bis er nichts von all dem mehr fühlte, und nur noch das bekannte leichte, seichte Flüstern nach Liebe, Anerkennung und Gesundheit. Er nahm einen tiefen Atemzug von der Winterluft und versuchte, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu bringen.

Nicht lange dauerte es, bis Mary ihn gefunden hatte, und ihn halb tadelnd, halb besorgt auf die Couch im Foyer setzte, wo sich zum Glück niemand befand. Sie wies ihn an, dort sitzen zu bleiben, bis sie bei ihrer Großmutter fertig war.

Vollkommen ausgelaugt und erschöpft zog Oliver die Knie an seinen Körper und umschlang sie mit den Armen, vergrub den Kopf. Er saß noch lange so, bis Mary ihn wieder abholte. Er wollte am liebsten nicht reden, und sie fragte ihn auch nicht.
 

Einige Stunden später erreichte Mary ein Anruf ihrer Familie, der sie von dem Tod ihrer Großmutter in Kenntnis setzte. Sie hätte sofort gehen und jemand anderes von den Kollegen hätte kommen können, um die Nacht über auf Oliver aufzupassen, aber sie blieb.
 

Mitten in der Nacht erwachte Oliver aus seinem unruhigen Schlaf. Es war, als hätte ihn irgendetwas geweckt. Als wäre sein Wecker losgegangen, stumm und leise, sodass er ihn nur in Gedanken gehört hatte. Der Mond schien zu seinem Fenster herein und zwang ihn, einen Blick nach draußen zu werfen. Unten, neben einer Tanne auf dem Gelände, in der Auffahrt, wo er damals, vor einem Jahr, abgesetzt worden war, wo Mary ihn empfangen hatte, stand eine Gestalt in einem langen, schwarzen Mantel, mit einem Zylinder auf dem Kopf, die Hände in die Taschen vergraben. Der Fremde schaute auf, genau in Oliver's Augen. Ihre Blicke trafen sich und hielten sich für einige Sekunden fest.

Der Junge hatte keine Angst. Irgendetwas anderes trieb ihn in dieser Nacht nach draußen, doch er dachte noch daran, sich warme Schuhe und eine Jacke anzuziehen, bevor er sich aus dem Gebäude stahl, leise und klammheimlich.

Einige Meter vor dem Fremden, der ihm gar nicht mehr so fremd war, blieb er stehen. Der Zylindermann lächelte.

"Guten Abend, Cal. Fröhliche Weihnachten."

Der Junge bekam eine Gänsehaut. "Cal", wisperte er, mehr zu sich selbst, "das... ist mein Name." Es war so klar, so offensichtlich... er wusste nicht, warum ihm das nicht schon vorher eingefallen war!

Der Mann mit dem Zylinder warf einen interessierten Blick in den Himmel. "Einen ganz ordentlichen Schneefall hast du uns heute beschert."

Oliver - nein, Cal-, starrte ihn nur an. Und dann fiel ihm ein, was schon den ganzen Tag, den ganzen Abend an ihm nagte. "Mary's Oma, sie.. sie ist..."

Der Mann nickte nur leicht.

"Ich hab sie... umgebracht...", flüsterte Cal, doch seine Stimme war gar nicht mehr seine - sie war weit weg, meilenweit, Jahre entfernt.

"Nein." Der Mann kniete sich vor Cal in den Schnee. Die Luft roch frisch und weiß und kalt und es gab keine Stimmen mehr in seinem Kopf, kein Wissen, das nicht dort hinein gehörte, kein unterschwelliges Flüstern, kein schwelendes Begehren. "Nein. So etwas darfst du nicht denken. Du hast ihr ihren Wunsch erfüllt. Das ist, was wir sind."

Mit nassen Augen, kalten, geröteten Wangen, schaute Cal auf. "Was?"

Der Fremde nickte, sagte aber gar nichts mehr, sondern ließ es in Cal's Kopf arbeiten, rattern. Fiebrige Gedanken bildeten sich, und verschwanden doch gleich wieder, denn nichts ergab einen Sinn.

"Du hörst sie, nicht wahr? Und manchmal kannst du nichts dagegen tun. Wenn sie so stark sind, dann kannst du nicht anders."

Er stand auf und hielt dem Jungen die Hand hin, lächelte dann traurig. "Ich kann dir deine Erinnerung nicht wiedergeben, Cal. Aber irgendwann wird es sich lohnen. Das verspreche ich dir."

Unschlüssig warf Cal einen Blick zurück, auf das Gebäude, groß und dunkel, in dem Mary schlief - oder wahrscheinlich nicht schlief, sondern um ihre Oma trauerte. "Und Mary?", wollte er wissen. In seiner Jackentasche ertastete er einen kleinen Gegenstand. Eine Schneeflocke als Weihnachtsbaumschmuck. Mary hatte sie ihm geschenkt, um ihn aufzumuntern, nachdem er wie von der Tarantel gestochen aus dem Zimmer ihrer Oma gerannt war. Er umklammerte die Schneeflocke mit seinen Fingern. Dieses Mal würde er nicht vergessen.

"Es wird ihr gut gehen", sagte der Fremde voller Zuversicht, sodass Cal ihm einfach glauben musste.

Und dann nahm er die Hand des Zylindermannes. Als sich eine Wolke vor den Mond schob und die Welt für einen kurzen Augenblick verdunkelte, waren die zwei schon nicht mehr zu sehen. Nur ihre Fußspuren blieben, bis sie von dem fallenden Neuschnee auch bedeckt wurden.

Eine Sternschnuppe blitzte am schwarzen Nachthimmel auf.
 

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Hallo und danke für's Lesen. Wer mich schon kennt, dem wird vielleicht aufgegangen sein, dass das die Vorgeschichte zu "The Flavour Of Magic" ist.

Und wer FoM nicht kennt, bei dem habe ich, hoffentlich, für Verwirrung gesorgt. :)

Wenn ihr also wissen wollt, wie es weitergeht und was Cal ist, dann seid ihr bei "The Flavour of Magic" gut beraten.

Ich wünsche euch allen ein wunderbares Weihnachtsfest und im neuen Jahr viel Gesundheit. Mögen eure Wünsche alle in Erfüllung gehen. Vielleicht bekommt ihr ja ein bisschen magische Unterstützung dabei . :)



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  RhapsodosGenesis
2012-01-21T15:27:15+00:00 21.01.2012 16:27
Ich mag die Geschichte sehr gerne!

Du hast einen angenehmen Schreibstil und ich finde, dass du die Gefühle der Charaktere gut zur Geltung bringst. :)
Außerdem hast du eine gescheite Wortwahl und man kommt in weihnachtliche Stimmung, auch wenn es schon wieder ein Monat her ist!

Dass die Großmutter gestorben ist, hat mich ehrlich gesagt geschockt, obwohl ich damit gerechnet habe. An solchen Stellen muss man immer mit sterbenden Omas rechnen! :(

Ich weiß nicht warum, aber ich mag den Zylindermann. Kann sein, dass es daran liegt, dass ich Zylinder mag, aber der Kerl ist mir einfach sympathisch. :)

"Cal" ist ein hübscher Name. :) Er gefällt mir gut!

Und nachdem ich die hier gelesen habe, hab ich auch noch FoM gelesen, zu welchem ich dir bei Zeiten vielleicht auch einmal einen Kommentar da lasse. :)
Von:  WeißeWölfinLarka
2011-02-09T22:23:47+00:00 09.02.2011 23:23
Der Anfang kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich weiß nicht, aber hast du schon mal so eine Geschichte begonnen? Ich schau sicherheitshalber mal, ob ich die FF schon kommentiert hab. Kann eigentlich nicht, aber… ah, nein, hab ich nicht. Gut, weiter im Text! :D~
Das Kapitel mit dem Zitat von Petrarca zu beginnen, ist sehr professionell. Vom Layout her gefällt mir das auch sehr gut.
Der Beginn lässt sofort auf ein Waisenkind schließen. Erinnert mich ein wenig an diese alten Romane, ja eben Oliver Twist, John Irving usw. die von der Machart irgendwie kühl und distanziert wirken. Zunächst dachte ich auch, er sei als Baby gefunden worden, dass er aber durchaus älter war, ist für mich eine überraschende Wendung.
Die Person mit den Mantel – irgendwie musste ich an dieser Stelle an, das ist wie bei A Christmas Carol oder „Das Mädchen mit den Zündhölzern“ – es klingt alles so nach Tod und Verderben. Ein wenig schauerlich.
Es ist äußerst spannend, diesen plötzlichen Wechsel von einem Jahr zu sehen. Außerdem ist es total aufwühlend, nicht zu wissen, wie alt der Junge ist. Ich würde ihn so grob zwischen 8 und 12 schätzen.
Oh, und ich muss sagen, mir gefällt diese Mary sehr. Ich brauche einfach Geschichten, in denen solche gutmütigen Charaktere vorkommen. Die, die sich jenen annehmen, die sonst niemand haben will – wie in diesem Fall Waisenkind Oliver. Ich mag es irgendwie, wie du die Thematik Heimatlosigkeit und Weihnachten auf diese Art miteinander verbindest.
Die Tortur des Kleinen ist wirklich herzzerreißend. Wäre ich noch in Weihnachtsstimmung, würde ich vielleicht sogar weinen. Aber auch so hat deine Geschichte noch eine irre Wirkung.
An der Stelle mit der Großmutter habe ich mich gefragt, ob Oliver so etwas wie ein Todesbote oder Todesengel oder so was ist. Da das aber sonst nicht deine Art ist, war ich erstmal verwirrt. Gut, was heißt, ist sonst nicht deine Art – ich hab von dir ja sonst eher nur die realistischeren Geschichten gelesen. Es ist erstaunlich, wie gut du mit verschiedenen Genres umgehen kannst. Irgendwann werde ich vielleicht auch mal the Flavour of Magic lesen. Denn ich muss jetzt mal wissen, was Oliver – oder Cal – eigentlich für ein Wesen ist.
Die Figur vom Mann mit Zylinder ist auch toll. So ein herrlich mysteriöser Charakter!
Vielleicht kamen alle Ereignisse etwas Schlag auf Schlag, aber ich kann nicht sagen, dass es die Wirkung dieser Geschichte gemindert hätte. Irgendwie bleibt ein beklemmendes Gefühl. Ich weiß nicht so recht, ob ich mich jetzt für die Erlösung der Oma freuen oder wegen Mary traurig sein soll, die am nächsten Tag keinen Oliver mehr vorfindet. Außerdem bleibt so vieles ungeklärt! Tja, das heißt dann wohl, ich werde the Flavour of Magic lesen müssen, um all das, was noch offen ist, zu erfahren.
Zu deinem Bedauern muss ich dir mitteilen: Ich hab nichts zu meckern. xD

Von:  Foresight
2010-12-29T17:57:42+00:00 29.12.2010 18:57
*________*

Arghhh wie toll! So richtig stimmungsvoll, wenn auch irgendwie sehr traurig. Aber wundervoll geschrieben und umgesetzt!
Zwischendurch, als die Geschichte mit den Wünschen aufkam, kam mir schonmal den Gedanken an "FoM", aber so richtig sicher war ich mir nicht. Aber so richtig Klick hat es erst bei dem Namen "Cal" gemacht. ^^
Aber das ganze ist sehr mysteriös gehalten, das gefällt mir. Sehr. XD


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