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Whiskey und Schokolade

von

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Spiegelstaub Teil II

Lautes Gelächter dringt aus dem Innenhof in mein Zimmer, irgendwo im Wohnhaus läuft ein Fernseher auf Hochtouren, eine Tür fällt schwungvoll ins Schloss; Regen pocht gegen die Scheiben und der Wind heult ab und an auf. Dann ist es plötzlich wieder gänzlich still und meine eigene Atmung scheint die einzige Geräuschquelle weit und breit zu sein.
 

Das Rascheln der Bettdecke wirkt dann plötzlich wie ein tosender Orkan, der alles durcheinander bringt und mein Seufzen erscheint wie eine dumpfe Explosion. Ich fühle mich getreten, benebelt, so als hätte ich getrunken. Doch das habe ich nicht. Trotzdem schmerzt mein Kopf, so als würde jemand versuchen, meine Stirn zwischen zwei Betonplatten zu zerquetschen. In meiner Brust liegt ein Stein, dessen Gewicht an meinem ganzen Körper zieht und mich in Richtung Boden schleift.
 

Das Zimmer zu durchqueren dauert eine Ewigkeit und als meine Hand auf dem Türknauf ruht, halte ich inne – und lausche. Denn ich will Ben nicht über den Weg laufen, nicht in seine Augen sehen, ihm erzählen, alles sei in Ordnung, obwohl meine gesamte Welt gerade bröckelt.
 

Eine lange warme Dusche hilft nicht, etwas zu essen probiere ich erst gar nicht. Ich wandere zurück ins Bett und starre konsequent die Zimmerdecke an. Doch leider kann diese mir keinen Rat erteilen – allerdings weiß ich nicht, wen ich anderes fragen könnte.
 

Tina, um ihr zu beichten, dass ich Idiot schon wieder Scheiße gebaut habe und Leon daran gänzlich unbeteiligt war; bis auf die Tatsache, dass es zufällig seine Lippen waren, auf die eben meine getroffen sind? Schlechte Idee.

Anton? Den ich sowieso schon die ganze Zeit dicht gequasselt habe. Nach meiner Rückkehr über Leon, Monate danach über Leon, zwischendurch über Leon - und auch die ganze Zeit über Christian und meiner ach so großen Liebe für ihn und den Problemen des Nicht-Outens?

Karolina? Die selbst diesen Fehler begangen hat und mich zur Sau machen würde, dass ich nicht aus dem ersten Fehltritt gelernt habe?

Michi? Der gerade auf Wolke Sieben schwebt und dem ich das nicht kaputt machen möchte?

Mike, den die ganze Sache zu sehr belasten würde?

Ole, der nicht viel redet?
 

Ben?

Niemals.
 

Also bleibe ich bei der Zimmerdecke und berichte ihr nonverbal von meinen Taten. Die Decke schweigt. Und ich drehe beinahe durch.
 

Was ist das nur für ein lähmendes, an mir zerrendes Gefühl, das mich ganz kirre macht?
 

Ich erschrecke, als ich die Wohnungstür ins Schloss fallen höre. Ben läuft durch den Flur und ich höre dann seine Zimmertür nur wenige Momente später zufallen. Als wäre das eine Art Startzeichen, springe ich auf, als hätte mich eine Biene gestochen. Ich schnappe mir Jacke, Schuhe und Autoschlüssel und flüchte regelrecht aus meiner eigenen Wohnung.
 

Das ist erbärmlich.

Aber das ist mir egal.
 

Kalte Luft strömt in meine Lungen. Ich drehe die Heizung im Wagen auf, halte dann spontan beim nächsten Bäcker und würge mir, dem Autoradio lauschend, dann doch ein belegtes Brötchen rein, das nach gar nichts schmeckt. Natürlich versuche ich, ebenso an rein gar nichts zu denken, fokussiere mich sogar kurz auf das dumme Hörer-Spiel, dass im Radio läuft; irgendein brillanter Quizeinfall, der allerdings schon so oft auf so vielen Stationen gelaufen ist, dass man einfach nur brechen möchte. Irgendwann macht mich die viel zu gut gelaunte Stimme der Moderatorin so fertig, dass ich genervt auf den CD-Spieler wechsle und dazu übergehe, die Leute auf der Straße anzustarren.
 

Volle Einkaufstaschen und gelassenes Spazierengehen zeugen davon, dass heute Samstag ist.
 

Ich versuche mich abzulenken. Denn meine Gedanken sind wirr. Immerzu entführt mich mein eigenes Hirn in diese diffuse Fantasie, in der ich plötzlich wieder Leons Hand halte und er mir ein Lächeln schenkt – und genau in diesem Moment erscheint dann wieder dieser aus der brutalen Realität stammende harte Blick meines Ex, den ich beim Stadtfest über mich habe ergehen lassen müssen; und zur selben Zeit taucht vor meinem inneren Auge immerwährend das klare und stechende Gesicht Christians auf, das ein bedrückendes Stechen in meinem Brustkasten mit sich bringt.
 

Meine Kraft schwindet, ich kann mich gegen diese Filmchen nicht wehren. Noch schlimmer wird es, als ich in jedem blonden Kerl, der da draußen rumläuft Leon erkenne.
 

Und in jeder anderen Person Christian…
 

Ein unliebsamer Schauer erfasst mich und der heftige Drang, diese grausigen Fantasien loszuwerden überkommt mich und scheint mir neue Kraft zu verleihen.
 

Ohne nachzudenken lasse ich den Motor meines neuen Wagens aufheulen und rase wie ein Verrückter durch die Stadt. Dass ich nicht angehalten werde oder einen Unfall verursache, grenzt beinahe schon an ein Wunder.
 

Ich schwitze leicht, als ich die wenigen Meter im kalten Regen hinter mich bringe, und es wird auch nicht besser, als ich dann direkt vor der Haustür meines Ex-Freundes stehe und die kühle Luft des Treppenhauses mein Haupt streift. Ob ich aufgeregt oder einfach nur ängstlich bin, als ich nach meinem Treppenmarsch den dumpfen Schritten auf der anderen Seite lausche, das kann ich nicht sagen. Jedenfalls bin ich ein wenig nervös, als Leons Mitbewohner Florian mir die Tür öffnet und mich dann ein wenig skeptisch betrachtet.
 

„Ist Leon da?“, frage ich ihn also stumpf.
 

„Äh, ne, eigentlich nicht. Wart ihr verabredet oder so?“
 

„Ja, waren wir“, lüge ich. Und bevor Florian etwas Weiteres sagen kann, füge ich hinzu: „Ich warte einfach in seinem Zimmer, der sollte bald kommen.“
 

Was diese Farce von mir soll, das frage ich mich selbst im Nachhinein; aber da stehe ich schon mitten in Leons Zimmer und starre das Bett an; betrachte die säuberlich glatt gestrichene Bettdecke und das weiche Kissen, das vor wenigen Tagen bei unserem Zusammentreffen auf den Boden gedriftet war. Ich schaue den Schreibtisch an, auf dem nun Stifte und Blöcke ordentlich nebeneinander liegen und nichts mehr von den unanständigen Dingen zeugt, die wir auf ihm getrieben haben.
 

„Halt die Klappe, halt die Klappe, halt die Klappe!“, zische ich im Flüsterton meinem Spiegelbild zu, als ich so an dem Kleiderschrank vorbeilaufe und einen Blick in Leons Regal werfe. Diese Bilder unserer gemeinsamen Nacht lassen mich nicht in Ruhe. Sie haften sich an die Windungen meines Hirns und drängen alles andere in den Hintergrund. Und ich hasse es. Ich will es loswerden, möchte einen Schlussstrich ziehen und nicht mehr darüber nachdenken.
 

Wie oft habe ich jetzt eigentlich so einen „Schlussstrich“ gezogen?
 

Mein Blick streift die kleine Pinnwand, die einst in unserer Küche hing und ich erstarre. Dort am rechten Rand hängt ein Polaroid-Foto von Leon und Surferboy; und mit einem roten Edding steht dort kitschig-süß geschrieben: „Für immer“; garniert mit einem fetten, dummen Smiley.
 

Endlich gelingt es mir, die Bilder von unserer Nacht die nicht hätte sein dürfen zu verdrängen; denn vor meinem inneren Auge erscheint plötzlich dieser tief dunkle, kalte Blick, den Leon mir gestern zugeworfen hat. Ein arktischer, fieser, zu tiefst beschuldigender Blick. Ein Blick, der mir deutlich gesagt hat: Du hast alles zerstört.
 

Aber wieso hat er mich dann im Rainbow's geküsst, als ich nur rumgealbert habe?! Wieso hat er mich aus dem Klub geholt? Wieso hat er mich zu sich gebeten? Wieso hat er mit mir geschlafen?!
 

Ich zücke mein Handy und rufe ihn an; ohne weiter darüber nachzudenken, lasse es so lange klingeln, bis die Mailbox angeht und rufe danach gleich wieder an, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Hartnäckig, so könnte man mein Vorgehen wohl beschreiben. Es ist ungefähr mein zehnter Versuch, als es plötzlich an meinem Ohr raschelt und ich wenige Sekunden später Leons ziemlich genervte Stimme am Ende der Leitung hören kann, die mich mit folgenden Worten begrüßt: „Was willst du?“
 

Kurz muss ich schlucken und antworte ihm ebenfalls wenig charmant: „Wir müssen reden.“
 

„Jetzt nicht“, zischt er und will noch etwas sagen, aber ich unterbreche ihn.
 

„Ich bin in deinem Zimmer und warte auf dich. Kommst du?“
 

Es wird ganz still am Ende der Leitung. „Wie?“, japst mein Ex dann.
 

Ich seufze leicht genervt. „Ich sagte: ich bin gerade in deinem Zimmer, denn Florian hat mich reingelassen und würde jetzt gern mit dir sprechen. Also wäre es toll, wenn du es einrichten könntest, jetzt hierher zu kommen. Geht das?“
 

Abermals ist es ganz still an meinem Ohr, sodass ich für einen kurzen Moment überzeugt bin, mein Ex hätte aufgelegt. Doch das hat Leon nicht. „Ich... bin gleich da“, sagt er. Dann erst legt er auf.
 

Die nächsten 20 Minuten gehe ich unruhig auf und ab in seinem Zimmer und sehe Dinge, die ich so gut kenne; sehe Bilder aus der Vergangenheit und Abdrücke der Gegenwart; starre erneut das Bild von Leon und Surferboy an – das wohl nun auch der abgelaufenen Zeit angehört. Und das verwirrt mich irgendwie. Alles verwirrt mich und ich bin mir absolut nicht sicher, was ich Leon gleich sagen soll; was ich ihm an den Kopf werfen könnte und für was ich mich entschuldigen müsste. Und was aus Christian und mir wird.
 

Wann immer das Bild von seinen grünen Augen und seinem kecken Grinsen auftaucht, wird mir schlecht und meine Hände werden schwitzig und ich fühle mich so, als würde ich im nächsten Moment einfach in Ohnmacht fallen; mir wird schwarz vor Augen und wenn ich mir vorstelle, wie ich ihm wahrscheinlich schon heute vor die Augen treten soll, könnte ich einfach nur losheulen.
 

Ich bin einfach so verwirrt.
 

Es poltert plötzlich und nur wenige Augenblicke später geht Leons Zimmertür auf und niemand anderes als mein Ex steht vor mir. Seine Wangen sind leicht gerötet, so als wäre er gerannt, hergeeilt. Seine blonden Strähnchen sind nass, wahrscheinlich hatte er keinen Schirm dabei, als die kalten Tropfen unablässig vom Himmel gefallen sind.
 

„Hey“, begrüße ich ihn knapp und meine Stimme klingt brüchig, nicht fest und bestimmt, wie ich es eigentlich geplant hatte. Die Zimmertür fällt krachend ins Schloss und lässt mich zusammenzucken. Und da ist er auch schon wieder: dieser eiskalte, fürchterliche Blick, mit dem Leon mich betrachtet. Ich öffne meinen Mund, doch es ist seine Stimme, die den Raum erfüllt.
 

„Was fällt dir eigentlich ein, einfach so aufzukreuzen und dich hier breit zu machen?!“, fährt er mich an und nimmt mir damit den Wind aus den Segeln.
 

„Das…. Ach, Mann, was hätte ich denn tun sollen?! Denkst du, ich kann jetzt einfach so tun, als wäre nix passiert zwischen uns, oder was? Ich halt das nicht mehr aus!“, entgegne ich und mein verzweifelter Ton verrät meine aufkeimende Nervosität.
 

„Ach?“, zischt er kühl und verschränkt die Arme vor seiner Brust. Sein Grinsen ist verletzend. „Sieh an…“
 

Ich lasse die Arme hängen. „Es tut mir Leid, Leon…“, erkläre ich ihm dann, eine ganze Spur milder und ebenso leiser.
 

„Und was genau meinst du damit?“ Mein Ex bewegt sich keinen Millimeter und starrt mir weiterhin direkt in die Augen.
 

„…das gestern war eine… Gott, ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist gestern nach dem Stadtfest. Wahrscheinlich wollte ich dich aufmuntern oder so…“ Leon schnaubt verärgert und das steigert meine Verwirrung ebenso wie meine Wut. Auf alles. Und auf jeden. Vor allem auf… keine Ahnung. Natürlich ist das mit dem Aufmuntern gequirlte Scheiße – anders kann man es gar nicht ausdrücken.
 

„Mann!“, schimpfe ich also. „ich weiß auch nicht, wie ich dir das von gestern erklären kann oder diese dumme Aktion von mir nach der Beerdigung von Hans. Aber jetzt tu auch nicht so, als sei das all einzig und allein meine Schuld. Ich meine“, fahre ich angeregt fort und stampfe dabei auf und ab. „wer hat mich denn im Klub geküsst und wer hat mich gebeten, mit nach oben zu kommen? Du bist an dieser ganzen Sache auch nicht so unschuldig, also leb deinen Frust wegen Surferboy jetzt auch nicht an mir aus. Außerdem bist du es, der die ganze Zeit einem Gespräch aus dem Weg geht – kein Wunder, dass mich das so kirre macht und ich mich total idiotisch verhalte und mir Sorgen mache und keine Ahnung habe, was jetzt eigentlich ist und wie wir damit in Zukunft umgehen sollen.“
 

Ich muss Luft holen, mein Kopf ist mittlerweile wahrscheinlich rot wie eine Tomate. Wie Leons Kopf aussieht, das weiß ich in diesem Augenblick nicht, denn ich lasse meinen Blick gekonnt über alle anderen Gegenstände im Raum wandern, nur um meinem Ex nicht in die Augen sehen zu müssen; denn das würde mich höchstwahrscheinlich aus dem Konzept bringen und meinen Wortfluss unterbrechen – und mein Monolog ist noch nicht vorbei.
 

„Das im Rainbow’s, das war… das ist halt voll blöd gelaufen. Ich hab dich halt angetanzt, weil ich dich wohl irgendwie wütend machen wollte, ich wollte halt n bisschen mit dir, sagen wir mal, spielen. Das war nicht ernst gemeint und dann war da noch der Alk im Spiel und als du dann auf mich zugegangen bist, dann… keine Ahnung, dann hab ich halt mitgemacht, wie so ein Roboter ohne Hirn, oder eher ein Tier, das irgendwelchen Instinkten folgt. Was weiß ich!“ Wild fuchtele ich mit meinen Armen rum. „Das mit Surfer… mit Martin tut mir echt Leid, das ist scheiße gelaufen. Ich hätte gehen sollen, dann hätte er uns nicht erwischt, dann hättest du das regeln können. Ich wünschte, ich könnte das rückgängig machen für dich, aber das kann ich nicht. Für mich ist es auch nicht unbedingt einfach, das vor Christian geheim zu halten, das kannst du mir echt glauben! Aber, ich meine, wir können das jetzt auch nicht mehr rückgängig machen. Es ist halt passiert und… ich hoffe jetzt, wir können die Sache irgendwie beilegen und irgendwie… weitermachen, ohne da jetzt irgendwen mit reinzuziehen?“
 

Einige Sekunden schweigen wir beide, nachdem ich meinen Vortrag beendet habe. Meine Hände zittern leicht und meine Kehle fühlt sich trocken an. Vorsichtig richte ich meinen Blick auf meinen Ex-Freund - und erstarre regelrecht. Das sonst so wunderschöne Karamell erscheint wiederholt rabenschwarz und es beraubt mich geradezu meiner Kraft; meine Knie verwandeln sich in bibbernden Wackelpudding und ich würde in diesem Moment am liebsten einfach im Erdboden versinken, um dieser schrecklichen Stille zu entfliehen, die uns jetzt umgibt und diesem finsteren Blick den ich nicht ertragen kann.
 

Ich öffne gerade meinen Mund, um diese bedrückende Still zu brechen und beschwichtigend auf Leon einzureden, damit seine Gesichtszüge sich wieder entspannen können und dieser furchtbare Blick verschwindet. Doch genau in diesem Augenblick pfeffert Leon mir schon seine Antwort um die Ohren.
 

„Du bist doch wohl völlig übergeschnappt!“, brüllt er so laut, dass meine Ohren fast schon von seiner zornigen Stimme wehtun. Er macht einen Schritt auf mich zu, seine Gesichtszüge von purer Wut gezeichnet. „Du spinnst doch wohl!“, wiederholt er energisch. „Hier einfach so aufzutauchen und dann mir auch noch diese gesamte Scheiße in die Schuhe zu schieben. Das ist so typisch! Du bist das Unschuldslamm – du kannst mich mal, Manuel! Falls du es nicht kapierst wir beide – wir beide - haben Scheiße gebaut. Der einzige Unterschied ist: ich bin wieder alleine, wie ich es verdient habe. Das ist die Konsequenz und glaub’ mir, ich hätte es Martin sowieso gesagt. Nur nicht auf diese Weise!“ Leons Stimme ist harsch. „Du hast immer noch Christian und wie es scheint, bist du zu so einem Arschloch geworden, dass du ihn tatsächlich weiter belügen willst – ich meine, hast du es ihm gesagt? Ne, oder?“
 

Ich bin wie gelähmt. „Hast du es ihm gesagt, oder nicht?!“, wiederholt er zischend seine Frage, als ich noch immer nichts gesagt habe.
 

„…nein…“, bringe ich endlich meine Antwort zustande.
 

Leon schnaubt und lacht bitter. Er schüttelt den Kopf und dreht mir den Rücken zu, macht einige Schritte durch den Raum, so als würde er sich beruhigen müssen, und ich habe keinen blassen Schimmer, was ich jetzt sagen oder denken soll. Mein Herz rast und ich fühle mich elendig.
 

„Leon…“, starte ich einen schwachen Versuch, doch Leon schnaubt und nimmt mir abermals meine Kraft.
 

„Ey…“, setzt er an und dreht sich wieder zu mir und scheint in seinem aufgebrachten Zustand nach den richtigen Worten zu suchen; wenn es in diesem Moment überhaupt die richtigen Worte gibt. „Weißt du was?!“, sagt er dann und starrt mir wieder direkt in die Augen. „Hau ab.“
 

„…was?“
 

„Hau ab!“, schreit er, stampft durch den Raum und reißt seine Zimmertür auf. „Verschwinde!“, macht er seine Aufforderung erneut deutlich.
 

Die Zeit scheint still für mich zu stehen.
 

Es ist nicht so, als wäre dies hier unser erster, richtiger Streit. Schon als Kinder hatten wir uns gestritten, wegen irgendwelcher Aufkleber oder wer den größeren Pott Eiscreme bekommt; als wir größer wurden wegen irgendwelchen Meinungsverschiedenheiten, leichter Eifersucht, wegen des Haushalts. Manchmal waren es verletzende Worte, die wir uns gegenseitig an den Kopf geworfen hatten, oft waren es diese dämlichen Ignorier-Strategien, die wir an den Tag legten. Es ist auch nicht so, als hätten wir uns nie angeschrien.
 

Und doch ist dieser Streit so anders, dass er mich innerlich gefrieren lässt.
 

Es ist nicht nur die Tatsache, dass wir längst kein Paar mehr sind, die diesen Streit so beängstigend macht. Es ist etwas gänzlich anderes, das ich erst begreife, als ich mich wie in Zeitlupe in Bewegung setze und, den Kopf gen Boden gesenkt, an Leon vorbeigehe; noch einmal seinen Duft einatme und ihm abermals leise beteuern will, wie leid mir alles tut. In jenem Augenblick erreichen mich seine kalten Worte: „Ich hasse dich, Manuel.“ Dann schlägt die Tür zu und ich stehe zitternd im dunklen Flur.
 

Ich brauche fast eine ganze halbe Stunde ehe ich mich soweit beruhigt habe, dass ich ins Auto steigen und den Motor anlassen kann. Ich laufe Ben im Flur über den Weg und lüge ihm wie so oft vor, ich würde mich krank fühlen. Wobei es dieses Mal nicht einmal eine allzu große Lüge ist. Ich fühle mich wirklich wie gelähmt. Als hätte mir jemand eine runtergehauen. Als wäre ich gegen eine Wand gelaufen.
 

Denn jetzt ist es offiziell.

Ich habe Leon verloren.

Endgültig.
 

Keine Beziehung mehr. Keine Freundschaft.

Was übriggeblieben ist, ist einzig und allein sein Hass auf mich. Ich selbst finde mich im Moment auch nicht gerade berauschend. Ich würde sogar sagen, ich finde mich selbst mal wieder zum Kotzen. Und was mich noch mehr ankotzt ist die Tatsache, dass das langsam zu einem Dauerzustand mutiert; dieser Selbsthass. Hinzukommt, dass die von Leon gelieferten Argumente auch noch dafür sprechen, für diesen Gemütszustand.
 

Es ist früher Abend als mein Magen knurrt und im selben Moment mein Handy klingelt. Ich will das Gespräch nicht annehmen, aber ich muss: es ist Christian. Seine Stimme ist viel zu fröhlich und sein Angebot niederschmetternd. „Willst du nicht etwas mit meinen Kommilitonen und mir in der Stadt essen, wir sind gerade hier unterwegs?“
 

„…ich kann nicht.“
 

Es folgt eine weitere Serie von Lügen: Kopfschmerzen und Dauermüdigkeit, zu viel Arbeit, verfeinert mit einer Prise Stress. Christian hat Verständnis, auch wenn deutliche Enttäuschung in seiner Stimme mitschwingt. Das fühlt sich für mich wie eine weitere, saftige Ohrfeige an – und die habe ich mir auch verdient.
 

Die Stille, die mich nach unserem kurzen Gespräch umgibt, ist kaum auszuhalten. Sie zwingt mich buchstäblich dazu, mich mit allen auseinander zu setzen. Mit all den Fehltritten meinerseits, mit all den erzeugten Bildern, mit dem Teufelskreis, in den ich mich selbst manövriert habe.
 

Ich kann ES Christian nicht sagen – Tinas Worte sind einleuchtend und ich kann es kaum übers Herz bringen. Aber irgendwo ist mir bewusst, dass ich Christian meinen Seitensprung beichten muss. Dass wir… Schluss machen müssen? Will ich das? Sagte ich nicht erst zu Tina, dass ich ihn liebe und zeugt auch nicht davon mein schlechtes Gewissen und dieses Herzrasen in meiner Brust?
 

Ich bin einfach so verwirrt.
 

Wahrscheinlich ist es auch die Angst, die mich in die Sackgasse treibt. Leon trägt das Geheimnis mit sich und es könnte seine Wut – und sein Hass – sein, der ihn dazu bringt, Christian alles zu offenbaren. Schließlich habe ich Leons Beziehung zerstört. Wieso sollte er nicht auch meine Liebe zerstören wollen? Verdient hätte ich es doch!
 

Meine Gedanken überschlagen sich. Wie ich einschlafe, bleibt mir ein Rätsel. Ich wache in meinen Klamotten auf, mein Schädel dröhnt, auf meinem Handy erwartet mich eine Nachricht von meinem festen Freund – der wissen will, ob er heute vorbeikommen kann. Ich antworte nicht. Stattdessen setze ich mich an den PC und beginne, irgendwelche Bilder zu bearbeiten; ohne klares Ziel, einfach so. So etwas nennt man wohl Beschäftigungstherapie.
 

Natürlich schaffe ich es auch heute nicht, meinem Mitbewohner nicht über den Weg zu laufen. Ben erwischt mich in der Küche, als ich mir gerade ein Nutella-Sandwich reinstopfe. Er setzt sich zu mir, erzählt mir ein wenig von seinem Tag, dass ihn das Wetter ankotzt, dass Ole und Mike sich mal wieder gezofft hätten. Dann kommt schließlich die unausweichliche Frage: „Sag mal, bei dir alles in Ordnung?“
 

Wie gut, dass ich gerade noch ein bisschen Brot im Mund habe und so langsam es geht zu Ende kauen kann. „Du siehst in letzter Zeit echt, ähm, ein bisschen scheiße aus“, fügt Ben an und grinst entschuldigend.
 

„Ja, ich weiß“, sage ich und gebe Ben eine Teilwahrheit. „Ich hatte in letzter Zeit irgendwie n bisschen Stress. Und hab mich nach dem Stadtfest mit Leon, ähm, gestritten. Als ich ihn nach Hause bringen wollte.“
 

„…worum ging’s denn?“
 

„Ach“, sage ich. „um alles und um nichts, bisschen wegen Christian und so.“
 

Ben nickt nachdenklich und erwidert dann: „Leon mag ihn nicht besonders, das sieht man.“ Nach dieser Antwort bin ich baff.
 

„W-was? Die kommen doch gut miteinander klar!“, wende ich ein, als ich mich wenige Sekunden später wieder gefangen habe.
 

„Naja, das ist wie bei dir und Martin“, meint Ben nur grinsend und schaut mir in die Augen. „Eigentlich findest du ihn zum Kotzen, aber du machst gute Miene zum bösen Spiel und versuchst ihn zu tolerieren und tust auch noch so, als könntest du dich ganz gut mit ihm unterhalten, dabei geht dir eigentlich am Arsch vorbei, was er dir erzählt. Und das weißt du – und er auch und ihr spielt dieses Spielchen trotzdem, genauso wie Leon und Christian es eben spielen.“
 

Ben geht raus, mit Michi essen, er fragt mich, ob ich mitkommen will. Doch meine Antwort lautet nein. Nachdenklich lässt mein Mitbewohner mich zurück in unserer Küche.
 

Leon mag Christian nicht? Am Anfang – ja, da hat mein Ex ihn als seltsamen Vogel gesehen; aber ich doch auch. Weil wir ihn beide kaum kannten. Aber… wenn ich so an all die vergangenen Treffen mit meinen, mit unseren Freunden denke, dann zeichnet sich da ein gänzlich anderes Bild ab. Ebenso wie ich erkannt hatte, dass Martin nicht mein Feind ist.
 

Und trotzdem.
 

Je länger ich darüber nachdenke und alles Revue passieren lasse, wird mir klar: ich hasse Surferboy immer noch ein bisschen, auch wenn er nun passé ist. Der Penner. Und wenn das so ist, dann…
 

Meine Gedanken werden von dem Kratzen im Türschloss unterbrochen. Es passiert das Unausweichliche: Christian steht plötzlich vor mir, sein typisches, keckes Grinsen liegt auf seinen Lippen und sein Haar ist ganz nass vom Novemberregen.
 

„Hallo, hübscher Mann!“, begrüßt er mich und stellt eine weiße Tüte auf den Küchentisch, ehe er mir einen leichten Kuss auf den Mund drückt, der mich erzittern lässt. Es riecht ganz köstlich nach Sojasauce und würzigem Fleisch. „Ich war eben beim Chinesen und dachte, ich komme mal vorbei.“
 

Ich kann mich gar nicht rühren. Ich war nicht vorbereitet auf dieses Zusammentreffen. Wie schockgefrostet beobachte ich Christian dabei, wie er Teller auf den Tisch verfrachtet und mir von dem asiatischen Gericht auftut, wie er mir das Besteck reicht und sich mir dann gegenüber setzt, bereits von seinen Seminaren berichtend.
 

„Ist was?“, fragt er, als ich keinen einzigen Bissen zu mir genommen habe.
 

„Ich habe keinen Hunger.“
 

„Oh….“ Fast schon ein wenig enttäuscht wirkt Christian.
 

„Aber danke“, füge ich deswegen eilig an und versuche zu lächeln.
 

„Bist du immer noch krank?“, will mein Freund daraufhin wissen.
 

Wir führen holprigen Smalltalk und alles an diesem Abend fühlt sich einfach nur falsch an. Die Nähe zu ihm, sein Lächeln, seine unschuldigen Worte mir gegenüber. Alles ist so… unangebracht. Es ist unangebracht, dass er in meinem Zimmer ist, dass er mich zudeckt, dass er fragt, ob er mir etwas bringen könnte. Ich rücke ab von ihm und versuche immerzu, wenigstens die Decke zwischen unsere Haut zu bringen. Immerzu fragt Christian mich, ob wirklich alles in Ordnung sei, als wir einen Film gucken.
 

Er versucht mich zu küssen und ich verkrampfe mich. Doch er macht weiter und ich kneife die Augen zusammen.
 

„Was zum Teufel ist denn mit dir?!“, fährt er mich schließlich an, der Verzweiflung nahe. „Du hast doch was! Mann, du führst dich auf wie ein Weib. Jetzt mach doch einfach mal den Mund auf.“ Entrüstet starrt er mich an und ich zucke mit den Schultern.
 

„Ich bin einfach nicht in Stimmung heute…“
 

Christian seufzt genervt. „Es geht mir aber nicht nur darum, dass du heute so frigide bist“, witzelt er kalt. „Du weichst mir aus. Hast du dich immer noch nicht beruhigt wegen der Sache in Rostock?“
 

„Ach!“, zische ich angriffslustig. „Ich soll mich also wieder beruhigen und dann machst du einfach mal so weiter, als offizieller Single bei deiner Mami und deinen hetero-Macho-Kumpels vor denen du den dicken Macker raushängen lassen musst?!“
 

Mein Freund blinzelt. „Alter… ich geh jetzt wohl besser. Was ist nur…?“ Doch er spricht nicht weiter, sondern nimmt seine Sachen und geht tatsächlich. Und ich heule mir die Seele aus dem Leib. Diese Nacht kann ich nicht schlafen und die darauffolgenden auch nicht. Schwarze Augenringe zieren mein Gesicht und meine schlechte Laune geht vor allem Anton auf den Sack. Wir liegen uns in den Haaren und brüllen einander sogar an. Nina und Sören schweigen betroffen und sortieren Fotos, ohne uns anzusehen.
 

Ich ignoriere Tinas SMS, die mich fragt, wie es mit Christian läuft – und ob ich schon mit Leon gesprochen hätte. Auch Ben lässt mich in Ruhe. Wahrscheinlich gibt er sich damit zufrieden, dass Leon und ich uns ein bisschen gezofft haben. Dass Christian in dieser Woche kein einziges Mal auftaucht, lässt mein Mitbewohner unkommentiert. Dennoch zucke ich jedes Mal ein bisschen auf, wenn Ben mich anspricht; schließlich scheinen die beiden ja doch recht offen im Sportstudio miteinander zu sprechen und ich frage mich, ob Christian Ben von unserem Streit erzählt hat. Dass ich so komisch war und er einfach nicht dahinter kommt…
 

Als ich am Donnerstag nach Hause komme und es draußen längst dunkel und bitterkalt ist, läuft Musik im Wohnzimmer. Mit klopfendem Herzen betrete ich den Raum und darf zu meiner eigenen Erleichterung feststellen, dass es nur Ole ist, der da mit Ben auf dem Sofa sitzt. Er war da, um ein paar alte Sachen für seinen Shop zu holen, die mein Mitbewohner eh loswerden wollte.
 

Ich sage den beiden kurz hallo und verschwinde in meinem Zimmer. Ich bin müde. Der Tag war hart. Mein Bett ist einladend, so weich und fluffig; ich schließe kurz die Augen. Wie lang ich so daliege, das weiß ich nicht. Das sanfte Klopfen an meiner Tür holt mich zurück in die Gegenwart.
 

„Hm? Herein!“, rufe ich und räuspere mich, weil ich mich heiser anhöre. Es ist Ole.
 

„Na, wie geht’s?“, will er wissen und nimmt auf dem von mir nicht angebotenen Sessel Platz. Widerwillig richte ich mich auf und lehne mich gegen das Kopfteil des Bettes, seufze.
 

„Geht so“, sage ich schließlich. „Bin in letzter Zeit etwas gestresst. Und dir?“
 

„Ich kann nicht klagen, hab jetzt ganz viele neue alte Klamotten, die ich verscherbeln kann“, scherzt er und deutet auf die riesige Tüte, die zu seinen Füßen steht. Ich grinse leicht.
 

„Ich muss demnächst auch mal gucken, ob ich was für dich finden kann“, entgegne ich und schaue die Bettdecke an.
 

„Wie läuft's eigentlich mit Christian?“, fragt Ole mich dann plötzlich und ein kleiner, unsichtbarer Pfeil schießt durch mein Herz; ich räuspere mich.
 

„Gut“, lüge ich und zwinge mich zum lächeln. Genau dann überrumpelt Ole mich.
 

„Hast du ihm schon gesagt, dass du mit Leon geschlafen hast?“
 

„...“ Mein Herz bleibt beinahe stehen, als Ole diese spitzen Worte mit einem gar bösartigen, besserwisserischen Grinsen äußert und sich seine grünen Augen, die fast so intensiv wie die von Christian wirken, in die meinigen bohren. Meine Nackenhärchen stellen sich auf und mein Herz beginnt nun, da es sich von dem ersten Schock erholt hat, viel zu schnell zu pumpen. Ich schlucke, suche nach Worten; und alles was ich zustande bekomme ist: „W-woher...?“
 

„Hm“, macht Ole und verzieht das Gesicht und faltet seine Hände ineinander, die er dann eine Weile lang fast schon in Gedanken betrachtet. „Er hat's mir gesagt, was sonst?“
 

Erneut weiß ich nicht, was ich erwidern soll, denn mein Hirn arbeitet bereits auf Hochtouren und kann zusätzlich zu den ganzen Gedanken, die mir so durch den Kopf schwirren, nicht auch noch eine verbale Antwort formulieren.
 

Leon hat es Ole gesagt. Ole wird es Mike sagen; wenn Leon ihm das nicht schon selbst erzählt hat. Leon wird es allen sagen; und dann wird auch Christian davon erfahren, wenn er es nicht schon längst weiß...
 

„Im Vertrauen“, fügt Ole dann schließlich an seine vorige Äußerung an. „Nur mir“, betont er, so als hätte ich es nicht kapiert, aber wahrscheinlich starre ich ihn gerade wie ein Vollidiot an, der so aussieht, als müsste man ihm in der Tat alles zweimal und so simpel wie es nur geht erklären. „Ihr habt euch gestritten, oder?“, meint er dann, eine ganze Spur milder und ich nicke. Leons harsche Worte spielen sich im dem Innern meines Kopfes ab und jagen unangenehme Schauer über meinen Rücken; ich kriege Schüttelfrost und in meinem Hals formt sich schon wieder so ein ekeliger Kloß.
 

„Er hasst mich“, gelingt es mir letztendlich heiser zu äußern; Ole in die Augen schauen schaffe ich allerdings nicht.
 

Ole seufzt. „Rede doch noch mal mit ihm, in Ruhe, geplant und nicht so... sagen wir spontan.“ Ole scheint alles zu wissen. Alles.
 

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, gestehe ich ihm und zwirbele an der Bettdecke herum. „Ich meine... er war echt sauer und-“
 

„Das allerdings völlig zu Recht“, fällt Ole mir ins Wort. Unsere Augen treffen sich schließlich und ich halte inne. Oles Gesichtsausdruck ist hart und ernst. „Ich meine nur: red noch mal mit ihm“, wiederholt er seinen Rat. „in Ruhe. Und sag es Christian.“ Mit diesen Worten steht er auf, packt seinen Sack voller Ben-Klamotten und schaut mich noch einmal an. „Wenn du's deinem Christian nicht sagst – wird Leon das sicherlich tun“, fährt er bestimmt fort – und mein Herz bleibt an diesem Tag ein zweites Mal beinahe stehen; mein Mund klappt auf und ich bekomme keinen einzigen Ton heraus.
 

Dann ist Ole fort und ich sitze wie schockgefrostet auf meinem Bett und starre den leeren Sessel an.
 

Was fällt ihm denn ein?!

Ausgerechnet Ole, der sich ständig mit seinem Göttergatten streitet, der doch scheinbar auch mal eine Affäre gehabt hat – oder wie war das noch mal mit diesem ganz besonderen Kunden, von dem Mike mir erzählt hatte – spielt jetzt die Moralapostel und den Nachrichtenjungen für Leon?!
 

Wutentbrannt stürme ich die Treppen hinunter, doch Ole ist längst fort und ich stehe bibbernd in der Kälte, meine Hände zu Fäusten geballt. Am liebsten würde ich schreien, ganz laut, und irgendwen verprügeln. Ole oder Leon. Nein. Am besten mich selbst.
 

Am nächsten Tag nehme ich mir frei. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Anton ist sauer, aber das ist mir egal. Denn das bin ich auch. Obwohl ich mir selbst eingestehen muss, dass meine Wut sich eher in Panik verwandelt hat. Denn Ole hat einfach nur das laut ausgesprochen, was ich die ganze Zeit befürchtet habe: dass Leon unser Geheimnis preisgeben wird.
 

…wenn ich an seiner Stelle wäre, hätte ich es wahrscheinlich längst getan. Oder?
 

Den gesamten Tag lang wandere ich durch die leere Wohnung und denke nach. Über Leon, über Ole, über Christian, über mich selbst, über Ben, über die vergangenen Monate.
 

Es ist schon Nachmittag, als ich weinend auf dem Sofa mit einem Glas Whiskey in der Hand eine wichtige Entscheidung treffe. Ich wähle die Nummer, die ich viel zu gut kenne.
 

„Ja?“ Leon klingt ebenso am Boden zerstört, wie ich mich fühle.
 

„…ich weiß, du willst mich wahrscheinlich nicht hören, aber… ich muss unbedingt nochmal mit dir sprechen. In Ruhe. Bitte…!“, flehe ich ihn regelrecht an und lausche. Stille. Dann höre ich ihn seufzen. Tief und laut.
 

„Okay“, willigt er schließlich ein in einem so milden Ton, der mir so bekannt vorkommt, dass es fast schon schmerzt. „Aber nicht heute.“
 

„Wann immer du willst…“
 

Leon denkt nach und ich höre ihn ein weiteres Mal seufzen. „Komm morgen vorbei. So gegen zwei. Passt dir das?“
 

„Zwei? Klar. Danke. Und noch mal: es tut mir echt leid, ich…“
 

„Wir reden morgen, Manuel. Okay?“, hackt er mir etwas verärgert das Wort ab.
 

„…klar. Sorry.“
 

Dann schon ist es still am anderen Ende der Leitung.
 

Ich lege das Telefon beiseite und starre aus dem Fenster.
 

Will ich, dass Leon seine hasserfüllten Worte zurücknimmt?
 

Dass unsere Freundschaft keinen Sinn mehr macht, das müsste ich doch auch ich langsam begreifen; dennoch bleibt scheinbar ein kleiner Funken Hoffnung; vielleicht möchte ich auch einfach ein angenehmeres Ende erzwingen, dass wir, wie man so schön sagt, im Frieden auseinander gehen. Und nicht... so.
 

Auch in dieser Nacht bekomme ich kein Auge zu.
 

Der Samstag ist verregnet und bitter kalt und ich fühle mich schon direkt nach der morgendlichen Dusche irgendwie seltsam. Auf der kurzen Fahrt zu Leon fühle ich mich teilweise, als würden Leon und ich gleich Schluss machen. Das ist so erbärmlich, dass ich sogar bitter auflachen muss, kurz bevor ich den Wagen parke und mich auf den Weg mache, die Treppen erklimme und schon wieder vor dieser bescheuerten Tür stehe, vor der ich in letzter Zeit viel zu oft gestanden habe.
 

Wie lange bin ich jetzt schon wieder in Deutschland? Knapp ein halbes Jahr? Hat sich in dieser Zeit überhaupt etwas verändert zwischen uns? Scheinbar sind wir ja immer noch irgendwie in der Trennungsphase und stehen einander im Weg als „Freunde“. Schließlich habe ich ja Leons Beziehung mit Martin kaputt gemacht; und gleichzeitig wird Leon ja morgen auch irgendwie doch meine Beziehung kaputt machen, wenn ich es meinem Freund beichte. Alles. Denn genau das ist meine große Entscheidung.
 

Ich presse die Lippen zusammen und klingel.
 

Dieses Mal ist es nicht Leons Mitbewohner, der mir die Tür öffnet, sondern Leon höchstpersönlich. Ich halte die Luft an, als er mir gegenübertritt. „Hey…“, begrüßt er mich schwach. Ich atme aus. Sein Blick ist zwar ernst und irgendwie getrübt; aber nicht mehr so eiskalt, dass mir der Atem stockt.
 

„Hi…“
 

Schweigend betreten wir sein Zimmer und er bedeutet mir ebenso stumm, mich auf seinen Schreibtischstuhl zu setzen. Er selbst lässt sich auf sein Bett nieder.
 

„Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?“, fragt er nach einer Weile, in der wir beide den Fußboden angestarrt haben.
 

„..nein, danke.“
 

Dann sind wir schon wieder still und ich merke, wie unbeholfen ich eigentlich bin, wenn es um ernsthafte Gespräche geht. Ich habe Leon um dieses Treffen gebeten, das Klarheit schaffen soll, und ich weiß nicht, wie ich es angehen soll. Seufzend richte ich meinen Blick auf ihn und muss erkennen, dass Leon mich schon seit einer längeren Weile still betrachtet. Ich versuche ihm sanft zuzulächeln - und daraufhin entspannen sich auch endlich seine Gesichtszüge etwas; auch seine Lippen gleiten in dieses vage Lächeln. Ein trauriges Lächeln. Aber alles ist besser als dieses von Wut und Hass verzerrte Gesicht.
 

Ich räuspere mich, hole zum gefühlt zehnten Mal Luft und krame in meinem Kopf nach den richtigen Worten. Doch dort ist einfach nur diese eine Frage, die der eigentlich Schlüssel zu einem wahren, neuen Kapitel ist, das ist bis jetzt nicht habe aufschlagen können, denn einen Schlussstrich habe ich noch längst nicht gezogen.
 

„Warum hast du damals mit mir Schluss gemacht?“, höre ich mich selber Fragen und meine Worte scheinen durch den gesamten Raum zu hallen.
 

Leon rührt sich nicht. Nur seine Augen weiten sich. Er blinzelt, einige Male, nur um dann seinen Blick von mir abzuwenden. Er fokussiert einen für mich nicht einsehbaren Punkt und auf seinem Gesicht entdecke ich plötzlich so etwas wie Verwunderung und… leichte Wut. Oder ist das Enttäuschung?
 

Er lacht plötzlich auf. Irgendwie bitter und auch ein wenig traurig. Er schüttelt den Kopf. Er fährt sich mit beiden Händen durch sein blondes Haar, streicht über sein Gesicht, presst die Lippen aufeinander; und schaut mich dann wieder an.
 

„Ich kann nicht mehr“, sagt er. „Ich kann einfach nicht mehr“, wiederholt er mit Nachdruck. „Du bist unglaublich.“ Seine letzten Worte klingen bitter. „Weißt du eigentlich, wie fertig ich war, als wir uns getrennt haben?“
 

Stille umgibt uns. Nur mein Herzklopfen ist furchtbar laut.
 

Leon seufzt und faltet die Hände ineinander, starrt seine eigenen Finger an, bevor er weiter spricht. „Ich war psychisch so fertig, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Das letzte Jahr, nein - die letzten zwei Jahre mit dir - waren so furchtbar schwer für mich. Ich wollte dich nicht verlieren, aber du hast mich immer weiter von dir geschoben. Ich wollte das nicht wahrhaben, ich hab versucht zu kämpfen, aber du hast einfach auf nichts reagiert.“
 

„…w-was… wovon redest du?“, stottere ich. Leons Augen bohren sich in die meinigen.
 

„Weißt du, du… du…“, er sucht nach den richtigen Worten und streicht sich immerzu nervös durch sein Haar, starrt die Decke, den Boden, die Möbel nacheinander an. „Du…“, er seufzt und sieht mich wieder an. „Du läufst einfach total vielen Konflikten aus dem Weg und irgendwann… weißt du, es war immer ich, der den ersten Schritt nach einem Streit oder sonst was auf dich zu gemacht hat. Und ich war auch immer derjenige, der überhaupt mal etwas Problematisches in unserer Beziehung angesprochen hat. Du hast nie was gesagt, die Sachen immer so lang in dich reingefressen, bis ich sie nach und nach mit ner Pinzette oder so aus dir rausholen musste, damit dein Problem überhaupt mal ans Licht kommt. Weißt du, wie anstrengend das ist?!“
 

Ich bin nicht imstande, etwas zu erwidern.
 

„Ich habe immer gehofft, du taust irgendwann soweit auf, dass du auch einfach mal zu mir kommst, wenn etwas ist. Aber irgendwie hast du echt immer versucht, diese scheiß rosarote Brille aufzuhaben und uns als das perfekte Pärchen zu sehen. Das ist auch… echt anstrengend. Ich meine: ich wollte auch immer, dass bei uns alles gut läuft. Nicht perfekt – schließlich gibt es nichts Perfektes – aber…“
 

Leon seufzt und lehnt sich gegen die Wand, winkelt die Beine an und umschlingt sie.
 

„Ich weiß, dass du extrem sensibel bist und, nimm’ mir das jetzt nicht böse, aber was deine eigene Person angeht, bist du manchmal, nein, eigentlich so gut wie immer echt blind. Ich meine, das beweist doch genau diese Situation gerade; diese Frage, die du mir jetzt, knapp 1,5 Jahre nach unserer Trennung stellst…“, fügt er säuerlich an. „Mann, Manu…“, fast schon ein wenig wehleidig schaut er mich an und ich kann mich immer noch nicht bewegen, geschweige denn, etwas dazu sagen.
 

„Ich hab immer alles getan, damit wir nicht in den Alltagstrott abdriften. Unser gemeinsames Samstagsfrühstück war mir zum Beispiel total wichtig. Oder das wir uns immer einen Abschiedskuss geben – so Kleinigkeiten halt, die aber eben das meiste ausmachen. Oder… weißt du, diese kleinen Notizen an unserem Kühlschrank….“ Mein Herz beginnt noch wilder in meiner Brust zu pochen und in meinem Hals zieht es sich schmerzvoll zusammen. „Das hat mir alles so viel bedeutet“, fährt Leon fort. „aber als deine Eltern dann mit dem Aufbau in Berlin anfingen und ihr euch nicht sicher wart, ob Anton und du dann wirklich den Laden hier übernehmen könnt und du so gestresst warst, ist das zum Beispiel echt in den Hintergrund gerutscht. Ich meine, ich hab schon verstanden, dass du Stress hattest, aber… du warst so abweisend und kühl. Du hattest so oft schlechte Laune und hast mich angepampt und ich hab mir immerzu gesagt: ‚hey, Manu hat Stress, hab Nachsicht und nimm’ das nicht ernst’. Aber… es ist ja nicht besser geworden…“
 

Mein Ex stoppt seinen Monolog kurz. Um Luft zu holen, um sich zu beruhigen. Er schließt kurz die Augen. Wir schweigen. Meine Unterlippe schmerzt.
 

„Du hattest total oft keine Lust mit mir am Samstag zu frühstücken, weil du so müde warst vom Arbeiten, dabei haben dich deine Eltern schon so oft am Wochenende nicht ins Studio bestellt, damit du frei hast… Ich war auch müde, mein Studium war von Anfang an hart aber… das ist noch so ein Ding. Du hast es nie wirklich als Arbeit angesehen, mein Studium. Du kamst abends total kaputt nach Hause, hattest oftmals total schlechte Laune und ich durfte dich bloß nicht wegen etwas Ernsthaftem ansprechen. Weil du keine Kraft mehr hattest. Aber als ich von der Uni kam, durfte ich dann ‚mal eben’ noch die gesamte Küche sauber, oder eben noch den Großeinkauf machen, weil du das nicht auf die Reihe bekommen hast. Das ist dir nie aufgefallen! Ich hatte so oft das Gefühl, dass du mein Studium nicht ernst nimmst, dass du dachtest, ich sitze da nur rum uns surfe auf Facebook!“
 

„…das…. Ich hab dein Studium ernst genommen!“, werfe ich kläglich klingend ein, doch Leon seufzt nur.
 

„Schade nur, dass du mir das nur nicht immer zeigen konntest.“
 

„…das… das tut mir leid.“
 

„Ja, mir auch“, erwidert Leon fast im Flüsterton und presst seine Lippen abermals zusammen. „Weißt du… du bist echt kein leichter Freund. Ich habe dich wirklich geliebt, aber… du warst irgendwann so apathisch, so… lethargisch irgendwie. Ich konnte dich einfach auch nicht erreichen und irgendwann hatte ich auch keine Lust immer derjenige zu sein, der auf dich zugeht. Ich hab dann auch aufgehört diese dämlichen Notizen auf den Kühlschrank zu pinnen, weil ich gehofft hatte, du wachst auf. Ja, ich war dann auch total zickig, weil ich dich dann auch irgendwie damit verletzten wollte, provozieren, was weiß ich!“
 

Er seufzt und ich sitze da wie eine Salzsäule.
 

Ja. Der Stress mit meinen Eltern. Das hatte ich ganz verdrängt. Damals hätten sie sich fast getrennt. Mein Vater hatte eine Affäre. Das Geschäft in Berlin sollte ein Neuanfang werden. Die Planung war lang. Anton und ich hatten damals so Angst, dass unsere Eltern sich trennen würden. Wir sind oft spazieren gegangen an jenen Abenden nach der Arbeit. Ich kam übermüdet und mit strapazierten Nerven nach Hause. Ja, plötzlich sind diese Erinnerungen wieder da, an den tiefen Schlaf und die Kopfschmerzen am Morgen.
 

„Weißt du…“, fährt Leon fort und ich erschrecke regelrecht, denn seine Stimme ist zittrig und so unheimlich brüchig; und als ich ihn wieder ansehe, dann weiß ich auch wieso. Tränen schleichen unauffällig über seine Wangen. „Als ich damals zu dir gesagt habe, dass es doch eigentlich keinen Sinn mehr mit uns macht – da hatte ich wirklich gehofft, du würdest aufwachen“, fährt er schluchzend fort. „Ich hatte gehofft, du würdest aufspringen und mir sagen, ich sei ein Idiot und wir gehörten zusammen und so etwas wie ‚hey, wir kriegen das schon wieder hin!’. Aber alles, was du gesagt hast, war: ‚du hast recht’. Das hat mir das Herz gebrochen…!“
 

Leon vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. Sein tiefes Schluchzen frisst sich in meinen Gehörgang und verursacht dieses unangenehme Prickeln auf meiner Haut und ebenso den stechenden Schmerzen in meiner Brust. Ich kann nicht glauben, was ich da höre… und doch weiß ich, dass all das keine Lüge ist.
 

„Ich hatte diese Hoffnung sogar noch, als ich meine Sachen aus unserer Wohnung geholt habe!“, schreit mein Ex mich nun regelrecht an. „Mann, weißt du eigentlich wie MIR das alles weh getan hat?! Und dann, als ich mir diesen einen Kerl da angelacht habe und ihn dir vorstellen wollte, selbst da hatte ich noch Hoffnungen!“, brüllt er und streicht sich die Tränen mit seinen Handflächen aus dem Gesicht, als er nach Luft holt, um weiter zu reden. „Aber was machst du Idiot?!“, zischt er jetzt. „Du haust ab, um die Welt zu erkunden, um irgendwen kennenzulernen und lässt mich hier mit all diesen Erinnerungen zurück! Als den Bösewicht, der alles kaputt gemacht hat!“
 

Als ich schlucke, fühlt es sich so an, als wären Glasscherben in meinem Hals, solche Schmerzen empfinde ich. Mir ist so kalt, ich könnte schwören, in Leons Zimmer herrschen Minustemperaturen. Und doch spüre ich etwas verdammt Warmes in meinem Gesicht. Meine eigenen Tränen, die unkontrolliert aus meinen Augen gespült werden.
 

Meine Welt bröckelt. Alles versinkt in einem Chaos. Erinnerungen erdolchen mich. Leons Worte sind wie Steine, die auf mich nieder fallen.
 

Mein Ex erzählt mir von der Zeit, in der ich fort war. Dass er versucht hatte, sich zu entlieben, dass er mich gehen lassen wollte, sich selbst befreien wollte, dass er sauer auf mich war, enttäuscht von mir und immer noch so viel Respekt und Wohlwollen für mich empfand, dass er es nicht hätte übers Herz bringen können, endgültig mit mir zu brechen. Ich war ihm so wichtig, dass Leon es sogar über sich hat ergehen lassen, als derjenige dargestellt zu werden, der den Schlussstrich gezogen hat. Der böse Ex.
 

„Als du zurückgekommen bist, ist die Hoffnung, dass aus uns beiden noch etwas werden könnte, noch einmal aufgeflammt. Aber ich wusste, das geht nur, wenn DU auf MICH zukommst – nicht so wie immer. Doch das bist du nicht. Kurzzeitig dachte ich, du würdest einen Schritt auf mich zugehen. Aber dann bist du mit Elias ins Bett gegangen. Das war für mich das Ende“, sagt er.
 

Und ich kann nicht aufhören zu weinen.
 

Leon sagt mir, es gab eine Zeit, da dachte er tatsächlich, er würde Martin wirklich lieben, er hat es versucht, aber als Surferboy herziehen wollte, da wurde ihm klar, dass keinen Sinn hatte und dass er Martin nur weh tun würde.
 

„Und… und dann küsst du mich, als wir bei meiner Oma waren. Und dann tanzt du mich an und flirtest mit mir… und schläfst mit mir und… machst trotzdem mit Christian weiter rum und ich bin nur ein nichtbedeutender Seitensprung, den du noch nicht einmal beichten willst…“, fasst er die aktuellen Ereignisse mit kühler Stimme zusammen und schnaubt.
 

„Weißt du, wie degradiert ich mich fühle?“, fragt er mich kalt und schaut mir lange Zeit direkt in die Augen. „Ich fühle mich schon wieder wie ein Stück Scheiße und glaub mir, ich hab keine Lust mehr, dein Boxsack für alles zu sein. Zu einer Trennung gehören immer zwei, Manuel. Ich habe auch meine Fehler, da hast du ganz recht. Meine Eifersucht, die dann und wann zu sehr in den Vordergrund geraten ist, meine Vorliebe für ruhigere Abende, anstatt für Party, die uns auch ab und an Steine in den Weg gelegt hat und noch andere Kleinigkeiten, von denen wir beide wissen. Aber ich hab keinen Bock mehr, dass du dich weiter als Opfer darstellst und ich dauerhaft der böse Ex bin - für fast alle in unserem Freundeskreis.“
 

„…ich…. Es tut mir leid.“ Das ist alles, was ich darauf erwidern kann. Mein Tränenfluss will nicht versiegen und in meinen Kopf wütet immer noch ein unbarmherziger Sturm.
 

Das kann nicht sein, sage ich mir immer wieder. Und doch weiß ich: es ist so. So und nicht anders.
 

Die Tatsache, dass Leon mich die gesamte Zeit über geliebt hat, als ich dachte, er wäre längst über mich hinweg und unsere Zeit wäre ihm egal, bringt mich fast um. Dass ich ihn hätte wiederhaben können – hätte ich nur um ihn gekämpft – ist niederschmetternd. Dass ich mit meiner jetzigen Aktion unsere letzte Chance verspielt habe, lässt mich weiter schluchzen.
 

Leon sagt nichts mehr, wischt frische Tränen weg.
 

„…hasst du mich jetzt eigentlich wirklich?“, bringe ich stotternd und beinahe wispernd hervor.
 

Langsam richtet mein Ex seinen Blick auf mich. „Ich wünschte, das könnte ich. Das wäre leichter“, sagte er. „Aber ich kann nicht.“
 

Ich will etwas sagen, doch Leon legt seinen Fingen auf seine Lippen und macht „Schhh.“ Er sieht mich an. „Ich will nicht, dass du jetzt etwas sagst. Nimm’s mir nicht übel, aber du brauchst einige Zeit, um dir Dinge, die man dir sagt, durch den Kopf gehen zu lassen. Ich will dir die Zeit geben. Du solltest nach Hause gehen. Und, so sehr ich es eigentlich tun sollte, ich werde Christian nichts sagen. Egal, was Ole dir erzählt haben mag. Ich hoffe, das nimmst du mir auch nicht übel, aber… ich brauchte jemanden zum Reden…“
 

„…das verstehe ich“, flüstere ich und nicke.
 

„Du… findest den Weg raus, oder?“, kommt es schwach von Leon und ich nicke. Ich drehe mich nicht mehr um, schaue ihn nicht noch einmal an, sage nichts mehr, so wie er mich gebeten hat, sondern verlasse seine Wohnung umgehend.
 

Ich fahre in einer Art Schockstarre nach Hause.
 

Erst als meine Zimmertür hinter mir ins Schloss fällt, schalte ich mein Gehirn wieder ein. Und all das, was Leon mir gesagt hat, gemischt mit frischen und alten Erinnerungen, prasselt auf mich nieder wie ein unbarmherziger Regenschauer. Wut keimt in mir auf, ebenso wie Verzweiflung. Trauer und Angst, Entrüstung und Panik. Ich stürze mich ins Aufräumen. Ich muss etwas tun, aktiv sein – sonst drehe ich durch.
 

Ich schrubbe das Bad, die gesamte Küche, ordne Geschirr und Besteck, wische den Flur, ordne meinen Schreibtisch neu, staubsauge und ordne meine Klamotten. Ich schnappe mir ein Tuch und befreie meinen Spiegel von der feinen Staubschicht, die sich auf ihm gebildet hat. Bis er blitzt und blinkt. Und dann plötzlich starre ich mir selbst in die Augen und während ich mein eigenes, unverfälschtes Abbild betrachte, passiert etwas.
 

Das erste Mal seit langer, langer Zeit bin ich absolut ehrlich zu mir selbst.
 

Leon hat Recht. Ich laufe vor allen Problemen weg. Hier bin ich, zwei Stunden am Schrubben und Polieren, anstatt mich hinzusetzen und mich mit meinen Taten auseinander zu setzen.
 

Ich blicke meinem wahren Ich endlich wieder in die Augen.
 

Ich bin ein Arschloch.

Ich bin ein Lügner.
 

Ich habe mir meine Märchengeschichte so lange selbst erzählt, bis ich selbst an sie geglaubt habe; bis ich die wahren Tatsachen so weit in die Dunkelheit gedrängt hatte, dass ich sie selbst nicht mehr sehen konnte. Sie waren in Vergessenheit geraten – und ich habe mich immer weiter in mein Lügenkonstrukt verstrickt.
 

Weil es einfacher war.
 

Eine Genugtuung für mein Gewissen, das Aus dieser Beziehung nur Leon in die Schuhe zu schieben. Weil es einfacher ist als Opfer durchzugehen und nicht als Mittäter. Weil ich es mir vielleicht auch so gewünscht habe, weil ich nicht darüber nachdenken wollte, was ich alles falsch gemacht habe. Weil ich zu ängstlich war, etwas zu unternehmen; ich war zu schwach um zu kämpfen.
 

Und jetzt? Und jetzt…?
 

Jetzt habe ich das, was ich verdiene und ich werde noch so viel mehr bekommen von dem, was mir gebührt.
 

Ich kann nicht fassen, was ich getan habe. Wie die Dinge gelaufen sind. Wie ich sie verdreht habe. Wie ich so lange so leben konnte. Wie Leon all das ausgehalten hat… Ich wünschte, ich wäre nie von meiner Weltreise zurückgekommen.
 

Ich wünschte, ich hätte gekämpft.
 

Doch nun ist es zu spät und ich habe nicht nur mein eigenes Herz in Stücke gerissen, sondern auch das von Leon, dem wichtigsten Menschen in meinem Leben; der mir alles bedeutet hat und immer noch bedeutet. Und auch Christians Herz, das Herz eines völlig unbeteiligten und unschuldigen Mannes, werde ich zerquetschen.
 

Alles durch meinen Egoismus, durch meine Egozentrik und das unheimliche Talent des Einredens und Verdrängend.
 

Herzlichen Glückwunsch, Manuel.

Du bist wirklich ein Arschloch.

Samstag, 1. Dezember



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  jyorie
2014-09-17T20:59:00+00:00 17.09.2014 22:59
Hey ฅ ̳͒•ˑ̫• ̳͒ฅ

was ein schlag, jetzt ist irgendwie noch mal alles anders, nachdem was Manuel bei Leon erfahren hat, das er die ganze Zeit noch eine Chance hatte und das er auch schuld ist am Schluss machen und sich sogar das schön geredet hat – eigentlich kein wunder das er die ganze Zeit nicht abschließen konnte.

CuCu Jyorie

Von:  Luca191
2012-04-18T18:09:00+00:00 18.04.2012 20:09
Oh man, wieder ein langes und super tolles Kapitel.
Manu hat es echt nicht leicht. Aber es gibt viele Menschen, denen der Alltag enfach nicht auffällt, bzw die es nicht stört. Da tut mir Leon schon Leid, besonders wenn man bedenkt, das er immer gehofft hat Manu kämpft um ihn. Die Story ist einfach wahnsinnig toll und extrem spannend. Was wird nur Christian dazu sagen und wie entscheidet sich Manu?
Soviele Fragen und noch keine Antworten, man kann überhaupt nichts vorraussehen. Das ist toll und wurmt einen trotzdem ein bisschen.:D
Kann das nächste Kapitel gar nicht erwarten. Einfach klasse.
LG Luca
Von:  kaya17
2012-04-16T21:14:40+00:00 16.04.2012 23:14
Oh ein sehr krasses Gespräch. Aber es war auch absolut
wichtig, dass es Manu mal alles bewusst wird. Er muss sich
jetzt wirklich mal ordnen...ich bin gespannt
Von: abgemeldet
2012-04-16T21:03:40+00:00 16.04.2012 23:03
Ich habe in kurzer Zeit die ganzen bereits bestehenden Kapitel verschlungen und muss gestehen, dass ich wahnsinnigen Respekt davor habe, dass du Kapitel schaffst, die mal eben 25 Seiten umfassen - und dazu inhaltlich top sind.
Ich bin momentan sehr gespannt, wie es mit Manu weiter geht, kann mir aber auch nicht vorstellen, welche Beziehung (wenn überhaupt) er weiterführt.
Daher kann ich kaum erwarten das nächste Kapitel zu lesen! =)

LG
Von:  RockFee
2012-04-16T16:40:41+00:00 16.04.2012 18:40
Ich bin ziemlich erschüttert über dieses Kapitel. Endlich ist das Geheimnis um die Trennung von Leon und Manu gelüftet und wieder schneidet Manu nicht gut ab.
Mir gehen so viele Sachen durch den Kopf wegen Christian und Ben und Ole.
Aber eigentlich will ich nur wissen: Was macht Manu jetzt aus der Erkenntnis? Er hat ziemlich viele Leute ziemlich verletzt.
Wird er endlich kämpfen und um wen? Ich kann ihn mir im Moment in keiner Beziehung vorstellen.

lg
Von: abgemeldet
2012-04-16T13:29:04+00:00 16.04.2012 15:29
Ich fühle mich noch ganz erschlagen von den Geschehnissen in diesem Kapitel und inzwischen habe ich die Stelle mit Leons Geständnis sicherlich an die zehn Mal gelesen. Kurzum, wow!

Da waren immer wieder Andeutunge, Momente in denen ich geglaubt habe, dass Leon noch etwas für Manu empfindet und ich mich gefragt habe, ob die Trennung vielleicht eine Art von Taktik war, um ihn aufzurütteln. Aber jedesmal bin ich sofort wieder unsicher geworden und habe den Gedanken verworfen. Du hast das so extrem geschickt verpackt, es war vor dem Geständnis unmöglich sicher zu wissen, ob die Vermutungen richtig sind.

Wunderbar war auch Oles Rolle. Er ist ein schwer einzuschätzender Charakter, wortkarg und verschlossen. Man kriegt immer nur Bruchstücke über ihn zu sehen, meist wenig gute Bruchstücke. Seine Eifersucht, seine vermeintliche Affäre, die finsteren Blicke, mit denen er Manu bedenkt. Aber es war schön zu sehen, dass er Leon ein wahrer Freund ist. Etwas, was vorher ebenfalls nur angedeutet war, damals durch die Küchenszene und durch die Blicke. Aber nun wirkt er ein ganzes Stück einfühlsamer und ich würde mich freuen, wenn er und seine Beziehung zu Mike näher beleuchtet werden.

Traurig stimmt mich allerdings, dass Manus und Bens Freundschaft irgendwie zu zerbrechen droht. Die eine Nacht steht zwischen ihnen und Manu kann sich ihm schwer anvertrauen. Ich bin gespannt, wie lange die beiden noch zusammen wohnen werden. Ich habe das Gefühl, als würde dort ein Bruch stattfinden müssen, aber ich hoffe, die Freundschaft bleibt bestehen. Ben ist ein toller Freund.

Ansonsten, uff, ich würde am liebsten sofort weiter lesen. Manu sieht sich im Spiegel und gesteht sich ein, dass er eine Menge Fehler gemacht hat. Und wie geht es jetzt weiter? Wie kann es überhaupt weiter gehen? Er hat den Nullpunkt erreicht, würde ich mal meinen, ab jetzt müsste es aufwärts gehen, oder? Ich bin wahnsinnig gespannt, wie die Lösungen für seine Probleme aussehen, auch wenn klar ist, dass die Probleme sich so leicht nicht werden lösen lassen. Wie gesagt, mir ist schwindelig wenn ich an den Haufen von Mist denke, der irgendwie abgetragen werden muss xD

Bitte veröffentliche schnell das nächste Kapitel °-°


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