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Whiskey und Schokolade

von

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Scar Tissue

„Hey, wach endlich auf“, wispert Leon. Seine Stimme klingt sanft und kitzelt in meinem Ohr. Ich drehe mich auf die Seite. Das Kissen ist wundervoll weich. „Komm schon, Manu. Steh endlich auf, ich will schwimmen gehen“, sagt Leon. Er streicht mir durchs Haar. Dann fängt er an, mir das Kissen einfach weg zu ziehen. Mein Kopf sackt auf die Matratze.
 

„Leon!“, schimpfe ich. Erst als ich meine Augen öffne und blinzele, erfasst mich die Realität.

Leon ist nicht hier.

Die gestrigen Erinnerungen fließen langsam in mein Gedächtnis und ich sehe mich in meinem sonnenerfüllten, neuen Zimmer um. Die Wände sind weiß und kahl. Auf dem Parkettboden liegen meine drei Koffer, allesamt geöffnet, weil ich meine Zahnbürste nicht finden konnte. Von draußen dringend die gemäßigten Geräusche der entfernten Hauptstraße zu mir, ich kann Ben kurz im Flur lachen hören. Wahrscheinlich telefoniert er mit irgendwem.

Ich gähne ausgiebig und strecke mich, meine Knochen knacken leicht und ich angele mir das Kissen vom Fußboden zurück, schmiege mich erneut in meine Bettwäsche. Schnell muss ich jedoch einsehen, dass der Schlaf mich endgültig verlassen hat. Das ist jedoch ein Verlust, den ich ohne weitere Probleme akzeptieren kann. Vor allem, als mir einfällt, dass ich jetzt eine ziemlich große Badewanne besitze, in der ich mein Relaxen im wachen Zustand einfach noch ein bisschen verlängern kann.
 

Barfuß spaziere ich den Flur entlang. An Bens Zimmer horche ich kurz, da dringt Musik aus dem Wohnzimmer in mein Ohr. „Hey, mein Lieblingsfotograf ist ja endlich wach!“, begrüßt er mich, als ich die Tür öffne. Er trägt ein weißes Muskelshirt, eine schwarze Sporthose.
 

„Wie spät ist es?“
 

„Schon 10 Uhr!“, ruft er energisch aus.
 

Schon zehn?! Mein Gott, ich geh wieder ins Bett… Seit wann bist du denn wach?“
 

„Seit sechs.“
 

„Warte. Es ist Samstag.“ Ich bin etwas stutzig.
 

„Ja… das ist richtig.“
 

„…“ Ich bin weiterhin stutzig.
 

„Joggen? Arbeit? Ich geb' später noch nen Kurs, also will ich so schnell wie möglich fit sein!“, erklärt er grinsend.
 

„Du bist furchtbar.“
 

„Nein, mein Lieber, ich achte nur auf meine Gesundheit und setze mich komplett für meinen wundervollen Job ein.“
 

„Ich auch. Und deshalb geh ich jetzt baden.“
 

„Was hat denn Baden mit Fotografie zu tun?“, fragt er und hebt in Skepsis seine Augenbraue.
 

„Halt die Klappe.“

Ben lacht.
 

Das Rauschen des Wassers ist irgendwie beruhigend. Nach und nach füllt es die weiße Badewanne. Auf der Oberfläche wächst der knisternde, cremige Schaum langsam zu einem imposanten Berg heran. Ein Vanille-Duft kitzelt wohlig meine Nase. Ich streife mir T-Shirt und Boxershorts ab. Dann bleibt mein Blick auf dem massiven Spiegel haften, der sich über den beiden Waschbecken erstreckt und die gesamte Länge der Wand in Anspruch nimmt. Unwillkürlich muss ich seufzen.

Es sind zwar nicht viele, aber die wenigen Extra-Kilos machen sich doch minimal bemerkbar. Die bin ich mit Sicherheit schnell wieder los, rede ich mir ein - sobald ich endlich wieder deutsches Essen zu mir nehmen kann und einen geregelten Tagesablauf habe. Diese „Pfündchen“ habe ich mir ja auch lediglich in der letzten Woche in den Staaten angefuttert. Wie konnte ich 'nein' zu Steak und Burger sagen? Vollkornbrot kennt da niemand. Weight Watchers ist da was für Pussies.

...vielleicht war es auch eine Art des Frustessens? Ich möchte nicht mehr darüber nachdenken.
 

Mit meinen 1,80m bin ich mittlerweile mehr als zufrieden. Ich kenne nun genügend kleinere Männer, die ein gesundes Ego besitzen. Ich hab kapiert, dass ich nicht zwei Meter groß sein muss, um attraktiv zu wirken. Allerdings sollte ich mir unbedingt einen Termin bei Mike holen, um meine Haare zu bändigen. Meine Flausen reichen mir ja schon fast bis zu den Wangen. Durch die Sonne scheinen sie aber wirklich irgendwie heller geworden zu sein. An Kastanie kommen sie noch lange nicht heran, aber dieser schwarze Stich hat sich wohl verabschiedet.
 

Das warme Wasser umschließt mich. Ich lehne den Kopf zurück, strecke die Beine aus, schließe die Augen.

Eine halbe Stunde vergeht.

Der Schlaf klopft doch noch ein weiteres Mal an.

Gleichzeitig pocht jedoch auch Ben gegen die Badezimmertür:

„Hey, lebst du noch? Ich muss echt dringend pinkeln!“
 

„Moment!“
 

„Beeil' dich!“, lacht er.
 

Ich hülle mich in mein großes Handtuch und Ben schlüpft erfreut ins Badezimmer. Während ich mich abtrockne, erleichtert er sich und stößt beinahe schon anrüchige Geräusche aus.

„Uhhhh, das tut so gut!“

Er bringt mich zum grinsen.
 

„Alter, ist das ein Tattoo?“, fragt er mich plötzlich.
 

„Nein, das hab ich mir heute Nacht nur aus Spaß mit Edding rauf gemalt“, scherze ich grinsend und er schnaubt amüsiert.
 

„Hey, das sieht ja total nach Bollywood aus.“
 

„Ist das Kritik?“
 

„Nur das laute Aussprechen meiner Gedanken.“ Er tritt näher und ich drehe ihm weiter den Rücken zu, damit er mein rechtes Schulterblatt ansehen kann.
 

„Wow, sieht echt gut aus. Wusste aber gar nicht, dass du auf Elefanten stehst.“
 

„Das ist eine indische Gottheit, Ganesh“, erkläre ich ihm. „Das ist eine der beliebtesten Gottheiten überhaupt, so ne Figur darf da in keinem Haus fehlen.“ Ich grinse und Ben hört mir aufmerksam zu. „Also, Ganesh steht vor allem für Veränderung oder den Anfang von etwas. Und er verkörpert Intelligenz, Weisheit. Und, naja, das Tattoo soll mich daran erinnern, dass ich nun etwas Neues anfange. Verstehst du?“ Ben nickt. Er lächelt.
 

„Finde ich cool. Das sieht aber echt aus, wie… Wie heißt dieses Zeugs, was die Inder sich immer auf die Haut malen, was kein Tattoo ist?“
 

„Du meinst Henna?“
 

„Genau.“
 

„Das ist auch im Mendhi-Stil, so wird das eben auch bezeichnet“, sage ich ihm. „Ich hab dieses Bild auch ehrlich gesagt auf einer Hand von einer Inderin gesehen und es abfotografiert. Ich liebe diese Körperbemalung. Das ist alles so fein.“
 

„Ja, so viele kleine Punkte…“, sagt Ben und betrachtet mich fasziniert. Dann runzelt er die Stirn. „Mann, Manu, du hast echt kaum Muskeln“, bemerkt er dann plötzlich. Ich seufze.
 

„Hättest du nicht wenigstens noch einen Tag lang nett zu mir sein können?“, ziehe ich ihn auf.
 

„Du bist echt ne Sahneschnitte, wenn du doch nur ein bisschen mehr für deinen Körper tun würdest!“, fährt er unbeirrt fort, so als hätte er mich nicht gehört. Ich rolle demonstrativ mit den Augen.
 

„Mache ich noch, mache ich noch…“, murmele ich, um ihn zum Schweigen zu bringen.
 

„Du kannst doch mal ne Trainingsstunde im Bodypoint machen“, schlägt er dann ernsthaft vor. „Da ist es echt total toll!“
 

„Hey, ich hab keinen Bock auf PR jetzt“, witzele ich und nun verdreht er die Augen.
 

„Das ist keine PR.“
 

„Was ist es dann?“
 

„Ein gut gemeinter Rat?“
 

„Wenn du mir sagen willst, ich seh' hässlich aus, dann tu' es einfach und red' nicht um den heißen Brei herum“, zicke ich und Ben schüttelt resigniert den Kopf.
 

„So war das nicht gemeint, Manuel.“
 

Ich seufze. „Ja, ich weiß. Ich weiß auch, dass ich mehr Sport machen muss. Ich hab ja auch ein bisschen zugenommen.“
 

„Ja, das stimmt. Aber es ist nicht schlimm! Man sieht es kaum!“, versichert er mir energisch.
 

„Jahaaaa, ist doch egal. Ich muss doch momentan eh niemandem gefallen“, antworte ich und beiße mir im nächsten Moment auf die Zunge. Gott, ich will jetzt nicht mit Ben über Leon reden. Noch nicht. Irgendwann bestimmt wieder. Aber nicht jetzt. Wieso streue ich mir eigentlich Salz in die Wunden?
 

„Doch. Du musst dir selbst gefallen!“, fährt mein Mitbewohner einfach fort und ich bin wirklich froh, dass er das Leon-Thema zunächst ignoriert.
 

„Jaha, ist ja gut jetzt. Verschwinde aus dem Bad, ich will mich weiter hübsch für mich selbst machen.“
 

„So will ich das hören. Hey, soll ich dir frische Brötchen holen?“, fragt er dann. „Hier nebenan ist ein ganz toller Bäcker. Du wirst die Croissants lieben!“
 

„Nix da Croissants“, schnaube ich im französischen Akzent. „Vollkornbrot will ich haben!“ Ben fängt an zu kichern.
 

„Sehr gute Wahl. Die haben hier auch Schwarzbrotbrötchen. Willste eins haben?“
 

„Dafür würde ich dich anbeten.“
 

„Gut, dann bau' schonmal den Altar, bin gleich wieder da!“
 

Es ist gut, dass er da ist. Allein die Vorstellung an eine leere kleine Wohnung hier in Deutschland macht mich wahnsinnig. Mir würde die Decke auf den Kopf fallen. Ich schaue erneut in den Spiegel. Gib es zu, Manuel, denke ich mir.

Als Leon gegangen ist, ist die Decke sofort eingestürzt. Du wolltest das nur nicht zugeben. Aber wieso sonst hattest du dich für so eine lange Reise entschlossen, solch einen spontanen und doch gigantischen Schritt?

Gib es zu, Manuel. Gib's zu.
 

Ich wühle in meinen Koffern. Dass ich das alles bald auspacken muss, verursacht mir Kopfschmerzen. Noch mehr Sachen liegen bei Anton im Keller. Darum muss ich mich heute auch noch kümmern. Als ich in meine ausgewaschene Jeans und das erste T-Shirt das ich finde schlüpfe, fallen mir die ersten kleinen Souvenirs in die Hände, die ich meinen Freunden mitgebracht habe.

Oh, Schreck.

Ich hatte es schon wieder fast vergessen.

Ben hat Ende August Geburtstag.

Ich darf ihm auf gar keinen Fall sein eigentliches Geschenk schon vorher geben. Erst das kleine Souvenir – eine kleine Popeye-Statue – dann erst das richtige, die zwei großen Dosen von diesem Ami-Eiweißpulver, die hier so viel kosten und die Ben so abgöttisch liebt. Vielleicht sollte ich mir das lieber noch mal aufschreiben?
 

Mein Mitbewohner hat die Küche genau so krass gestaltet, wie wir es über Skype besprochen hatten. Eine breite, weiße Küchenzeile erstreckt sich über die Länge der linken Wand. Eine dunkle Marmorarbeitsplatte kontrastiert mit dieser Helligkeit und fließt in eine große runde Spüle; die Wände sind giftgrün gestrichen. Gegenüber der Küchenzeile steht ein massiver Holztisch mit vier Stühlen. Genügend Platz für ein Dinner mit Freunden. Daneben der silberne und imposante Kühlschrank.
 

Den hatte meine Mutter uns geschenkt. Leon und mir.

Er wirkt momentan so leer. Nicht, weil er nicht gefüllt ist, sondern weil an ihm keine Notizen kleben, keine Fotos. Ich erinnere mich noch genau an die vielen kleinen Nachrichten, die Leon und ich uns an diesem Ding geschrieben haben, die wir mit kleinen Magneten befestigten. Zum Teil wichtige Infos über den Verbleib des anderen, zum anderen kleine, witzige, liebevolle Aussagen, um dem Partner einen schönen Morgen zu bereiten.

Im letzten Jahr unserer Beziehung wurden es immer weniger.

Und nun ist das Silber mit nichts mehr bedeckt.
 

„Bin wieder da!“, ertönt es schon und Ben betritt die Küche. Erst beim Essen merke ich, wie hungrig ich eigentlich bin und wie sehr mir dunkles Gebäck überhaupt gefehlt hat.
 

„Sag mal, hast du morgen vielleicht Zeit, mir mit meinem Zimmer zu helfen?“, frage ich meinen Mitbewohner beim zweiten Brötchen. „Würd' gern noch ein paar Sachen von Anton dazu holen und ein wenig umdisponieren.“
 

„Na klar“, willigt er sofort ein. „Ich gehe nur morgens joggen. Aber da schläfst du sicherlich eh noch wie ein Baby.“
 

„Allerdings.“ Ich grinse. „Ich hoffe, Anton hat überhaupt Zeit. Ansonsten hole ich mir einfach den Schlüssel raus und wir fragen Ole oder so.“
 

„Hast du Anton überhaupt schon angerufen?“
 

„Ne, ich hab ihm gestern nur ne SMS geschickt, dass ich sicher gelandet bin. Wollte mich gleich mal bei ihm melden. Montag geht ja der Ernst des Lebens wieder los“, gebe ich schmunzelnd hinzu. Ehrlich. Ich freue mich. Ich brauche Arbeit. Ich will diesen geregelten Arbeitstag haben. Nicht nur, um meine Mini-Kilos zu verlieren, sondern auch, um endlich wieder ein normales Leben führen zu können.
 

Kein Weglaufen mehr.
 

„Los, geh und ruf Anton an, ich räume die Küche auf. Aber gewöhn' dich bloß nicht an diesen Service!“, feixt Ben.
 

Anton freut sich extrem über meinen Anruf. Umgehend schlägt er vor, zusammen zum Lunch zu gehen. „Hier in der Nähe hat ein richtig guter, preiswerter Italiener aufgemacht. Ich warte im Laden auf dich!“, verkündet er und ich packe meine kleine Umhängetasche und mache mich auf den Weg. Meinen geliebten, alten Klapper-BMW hole ich morgen erst bei Anton ab. Mein Bruder war so gut, sich um ihn zu kümmern und wie das Schicksal es wollte, war Anja ohne Wagen, als die beiden sich kennen lernten, sodass Anton ihr sein Auto zur Verfügung stellte, während er mein Baby fuhr.
 

Es ist seltsam, plötzlich wieder mit dem Bus durch eine deutsche Stadt zu fahren. Irgendwie genieße ich sogar die deutschen Tonbandansagen bei jeder einzelnen Haltestelle. Die Klimaanlage das Busses funktioniert zwar auch in diesem Land nicht so, wie sie es sollte, aber verglichen mit den alten rumänischen Bussen, in dem alte Frauen gerne mal umkippen, ist das wirklich nur eine Nichtigkeit. Auch wenn in Bukarest solch moderne Fahrzeuge unterwegs sind, das man denken könnte, man befinde sich im 22. Jahrhundert. Ich liebe solche Kontraste.
 

Ich atme die bekannte Luft des Fotoladens ein. Ein Meer aus Erinnerungen überkommt mich. „Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“, begrüßt mich die junge Frau mit roten Haaren und Sommersprossen im Gesicht freundlich.
 

„Du musst Wiebke sein“, sage ich und lächele. Wiebke ist Modedesign-Studentin, die ein Faible für Fotografie hat und in meiner Abwesenheit spontan ein Praktikum bei meinem Bruder absolviert hat und seitdem hier nebenbei jobbt. Anton leiht ihr manchmal Equipment aus, wenn sie Party-Fotos machen will – oder Aufnahmen mit ihren Freundinnen in der Natur, auf Burgruinen. Wiebke ist Gothic-Fan. Eine interessante Subkultur. „Ich bin Manuel. Manuel Koschinski“, stelle ich mich vor und Verständnis breitet sich ihn ihrem Gesicht aus.
 

„Ah, mein zweiter Boss!“, bemerkt sie lachend und ruft sogleich nach Anton. „Er wartet schon auf dich. Äh, 'du' ist doch in Ordnung, oder?“, hakt sie umgehend etwas verunsichert nach.
 

„Na klar, ich hab dich doch eben auch geduzt.“
 

„Manuel!“, ruft Anton aus und nimmt mich sofort in den Arm. „Herzlich Willkommen zu Hause und in deinem neuen Reich!“
 

„Schon das zweite, ich fühle mich wie ein König“, scherze ich. Mein Bruder ist zwar vier Jahre älter als ich, 31, aber dafür gleich fünf Zentimeter kleiner. Ich habe ihn schon im Teenie-Alter damit aufgezogen. Heute mache ich das nur noch im Stillen. Wieso spielt Größe überhaupt für mich eine Rolle? Anton hat ebenso dunkle Haare wie ich, aber er rasiert sie immer auf drei Millimeter runter. Zugegeben, längere Haare stehen dem Guten einfach nicht.

Ob das nur so aussieht, oder ob sein Bäuchlein wirklich wieder ein bisschen gewachsen ist? Seine Haut jedenfalls ist immer noch so blass, wie meine es vor meiner Reise war. Somit habe ich etwas Neues gefunden, um ihn in Zukunft aufziehen zu können.
 

„So, Wiebke, Mittagspause“, sagt Anton zu ihr und sie huscht mit ihrer Handtasche sofort an uns vorbei.
 

Der Italiener ist wirklich nur eine Straße weiter. Wir bestellen Pizza und ein Glas milden Rotwein. Anton fragt mich über John aus, die beiden kennen sich ja noch von der Schule. Ich erzähle ihm, dass ich John in Berlin treffen werde und dass er uns in einem halben Jahr besuchen wird und Anton ist total froh darüber. Er fragt mich über die Staaten aus, da will er kommenden Jahr mir Anja hin. Für morgen sagt er mir sofort zu, bietet mir sogar an, noch seinen Nachbarn zu fragen, der von Beruf aus Möbelpacker ist. Der Hauptteil meiner Möbel liegt ja bei Anton im Keller. Mein Bruder besitzt ein kleines Haus, er hat viel Platz. Ich habe einfach alles dorthin gekarrt, was mir geblieben war.
 

Leon und ich hatten alles aufgeteilt.

Es war kein Rosenkrieg.

Wir haben diese Sache so trocken über den Tisch gezogen, wie es nur ging.

Leon zeigte absolut keine Gefühlsregung, als wir unser gemeinsam angelegtes Heim aufteilten. Als würden wir eine Einkaufsliste erstellen und festlegen, wer was einkaufen würde.
 

Erneut frage ich mich: Wie schafft Leon das nur, solch eine trockene Distanz zu mir aufzubauen? Ich wünschte, ich könnte diese ganzen Gefühle, die mit unseren gemeinsamen Erinnerungen zu tun haben, auch einfach so das Klo runterspülen, denn immer, wenn ich meine, ich wäre über ihn hinweg, tauchen diese Emotionen wieder auf, die mir die Wunden aufreißen. Stimmen hallen dann durch meinen Kopf und sagen zu mir: „Ah, Manuel. W a r t e !“ oder fragen mich: „Bist du dir da wirklich sicher?“, so als wäre ich bei 'Wer wird Millionär?'. „Is this your final answer?“ Und ich wiederum frage mich: Wo bleibt mein dummer Telefon-Joker?

Ich würde wahrscheinlich Anton anrufen. Der würde mir dann sagen...

Was würde Anton mir sagen?
 

„Hast du eigentlich noch Kontakt zu Leon?“, frage ich völlig aus dem Zusammenhang gerissen und mein Bruder scheint etwas überrascht. Jedenfalls während der ersten Sekunden. Dann fängt er sich wieder.
 

„Ich hab ihm zum Geburtstag gratuliert und Anja und ich haben ihn und, naja, seinen Freund mal zufällig in der Stadt getroffen“, antwortet er dann und sieht mir in die Augen.
 

„Aha.“
 

Anton seufzt und leert seinen Wein. „Noch einen?“, fragt er mich und deutet auf mein ebenso leeres Weinglas. Ich zucke mit den Schultern.
 

„Wieso nicht.“
 

Der Kellner kommt schnell und füllt unsere Gläser graziös. Anton betrachtet mich schon seit einer längeren Weile aufmerksam. „Sag mal“, setzt er an. „Wie geht es dir denn jetzt eigentlich wegen Leon?“
 

Ich zucke mit den Schultern. „Wir wollen Freunde bleiben.“
 

„Das hast du mir auch schon direkt nach eurer Trennung gesagt und dann, einige Monate später, rufst du mich völlig verheult an. Schon vergessen?“ Ich spiele mit der Serviette, weil ich nicht weiß, was ich mit meinen Händen anfangen soll. Unsere Pizzen haben wir längst aufgegessen. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Schon seit einer Ewigkeit. „Manuel“, sagt er. „Hat das Jahr dir geholfen?“
 

„Ja und nein“, gebe ich zu und sehe aus dem Fenster. Eine Frau mit einem hässlichen Pudel stolziert vorbei.
 

„Muss man dir denn alles aus der Nase ziehen?“, meckert Anton und ich grinse schief.
 

„Nö“.
 

Es entsteht eine kleine Pause. Anton schnaubt: „Mein Gott...“

Und ich mache: „Hmm...“
 

„OK“, fängt er dann energischer an und rutscht sich auf seinem Stuhl zurecht. „Liebst du ihn immer noch? Ja oder nein?“
 

„Gibt es auch die Option 'vielleicht'?“
 

Anton seufzt. „Also hat das Jahr nicht geholfen...“
 

„Das habe ich nicht gesagt.“
 

„Dann red' doch mal Klartext mit mir!“
 

„Mein Gott, ich weiß es nicht, OK, Anton?! Ich weiß es nicht! Ich dachte echt, es sei alles gegessen, ich hab mit ihm telefoniert, es war alles OK, ich hab mir ein altes Bild angeguckt und es war alles OK. Ich hab mir gesagt, ich ziehe jetzt nen Schlussstrich und es war alles OK. Deswegen bin ich ja auch wieder zurückgekommen und bin nicht noch weiter in den Staaten geblieben. Und als ich dann im Flieger saß war's, naja, immer noch irgendwie OK aber nicht mehr so richtig, weil ich mir da erst wieder ernsthaft Gedanken gemacht habe. Und dann - dann komme ich nach Hause und er ist auch da und sieht gut aus und ist furchtbar nett und bla!“, schießt es aus mir heraus und als ich fertig bin, habe ich einen dicken Kloß im Hals und bin furchtbar sauer. Auf Anton, auf mich selbst, auf Leon, ja, sogar auf den Kellner, der uns von der Bar aus einen irritierten und dennoch zurückhaltenden Blick zugeworfen hat.
 

Mein Bruder schweigt eine kleine Weile.

„Ich denke, du musst dich erstmal wieder hier einleben und dich zunächst wieder an die Nähe zu Leon gewöhnen. Dein Gefühlsbarometer spielt momentan verrückt, weil du erst einen Tag wieder da bist und ihn ja auch ne echt lange Weile nicht gesehen hast. Klar klaffen da erstmal wieder alte Wunden auf, die schon so gut wie verheilt waren.“
 

„Ja, Blitzmerker. Wenn du so schlau bist, wieso löcherst du mich dann direkt mit solchen Fragen?“
 

„Du hast doch selbst damit angefangen!“, kontert Anton.
 

„Ich hatte dich nur gefragt, ob du noch Kontakt zu Leon hast!“
 

Er verdreht die Augen und lacht. „Manchmal bist du echt nervig, weißt du das?“
 

„Und du magst mich trotzdem.“
 

„Weil Mama mich dazu zwingt“, scherzt er und wir grinsen uns an.
 

„Wie sieht denn sein Neuer aus?“, fließt es unkontrolliert aus meinem Mund. Anton lehnt sich zurück und betrachtet mich skeptisch.
 

„Willst du das wirklich wissen? Ich meine, nach unserer kleinen Unterhaltung jetzt, ist es nicht besser, erst noch mal ein wenig abzuwarten und die Dinge noch ruhen zu lassen?“
 

„Ich streue mir gern Salz in die Wunden“, witzele ich trocken.
 

„Ja, das habe ich schon mitbekommen...“, bemerkt er beiläufig und räuspert sich.
 

„Also?“
 

„Was weiß ich. Groß, schlank, blond.“
 

„Tolle Beschreibung. Und du willst Fotograf sein“, sage ich sarkastisch.
 

„OK“, sagt er gereizt. „Dann eben so: Ungefähr genauso groß wie Leon, blaue Augen, könnten aber auch Kontaktlinsen gewesen sein; Dreitagebart, Haare etwas länger, fransig geschnitten; Grübchen beim Lächeln, braungebrannte Haut, definitiv muskulöser als du; Piercing in der rechten Augenbraue. Klamotten? Etwas weitere schwarze Jeans, dazu ein weißes, enges T-Shirt, Holzkette um den Hals. Zufrieden?!“
 

„...autsch.“
 

Anton seufzt. „Also 'autsch', weil er gut aussieht oder 'autsch', weil er schlecht aussieht?“
 

„Sah er denn wirklich so gut aus?“
 

„Ach, Manuel... Vergiss den Typen doch erstmal.“
 

„Das kann ich aber nicht, Anton!“, gebe ich lauter zurück. „Meine Jungs haben ne offizielle Willkommsparty für mich geplant, nächstes Wochenende, ich bin mir absolut sicher, dass dieser Kerl auch dabei sein wird!“
 

„...sicher, dass Leon dir das antun würde?“
 

„Ich habe Leon gesagt, dass wir immer noch beste Freunde sind, dass es mir besser geht, dass ich mich freue, ihn wiederzusehen, dass ich Kontakt mit ihm haben will! Mann, der denkt, ich sei absolut über ihn hinweg.“
 

„Und da bist du dir auch sicher?“ Mein Bruder betrachtet mich skeptisch.
 

„Keine Ahnung.“
 

„Du bist ein hoffnungsloser Fall.“
 

„Ja, na und...“
 

„Das wird alles wieder. Vertrau mir.“
 

„War er denn nett?“
 

„Wer?“
 

„Na, der Neue!“
 

„Er hat nur 'hallo' gesagt.“
 

„Oh.“
 

„Lass es ruhen, Manu. Okay?“, spricht mein Bruder mir milde zu. „Wir machen morgen erstmal dein Zimmer fit und wenn du Montag noch keine Lust hast zu arbeiten, dann komm erst Dienstag in den Laden, okay?“
 

„Oh, nein, Ich muss arbeiten! Sonst drehe ich noch wirklich durch!“, gebe ich kund und Anton lächelt. Dann schaffe ich es auch, mich ein wenig zu beruhigen und diese Wut einfach mal hinunter zu schlucken.
 

„Scheiß auf Leon“, sage ich grinsend. „Erzähl mir mehr von Anja.“

Antons Augen leuchten, als er mir von ihrem Kennenlernen im Kino erzählt, bei dem beide von ihrem eigentlichen Date sitzengelassen worden sind und sich dann spontan zusammengetan hatten als „das Loser-Paar des Abends.“ Sie haben einen Horrorfilm geguckt, sind dann noch Sushi essen gegangen und haben einen langen Spaziergang gemacht und „über Gott und die Welt geredet.“
 

„Anja ist Webdesignerin“, erzählt er mir. „Sie arbeitet für SMACK, das Stadtmagazin, das kennst du doch!“
 

„Ja klar. Das ist richtig gut.“

Anton nickt erfreut. Er verspricht mir morgen schon Anja vorzustellen. Dann muss er auch schon zurück. Ich soll ihn morgen nach dem Frühstück anrufen. Als ich auf den Bus warte, frage ich mich, ob das nicht doch alles zu schnell geht und ich vielleicht doch erst einige Tage ausruhen sollte, um die Umgebung erneut kennenzulernen.

Andererseits habe ich so viele Jahre hier verbracht, ich werde morgen wahrscheinlich schon wieder vergessen haben, dass ich ein Jahr fort war. Und seien wir mal ehrlich: ich hatte genug Pause. Ich muss weitermachen. Das wiederhole ich doch die ganze Zeit wir ein Mantra…
 

Ben ist nicht da, als ich unsere Wohnung betrete. Sein Zimmer hat er mir nun auch gezeigt. Eine Ecke nimmt sein Trainingsrad ein. Er hat mir angeboten, es so oft benutzen zu wollen, wie ich will. Vielleicht mache ich das auch mal. Aber noch nicht jetzt.

Ich starre die Koffer an.

Da ich mein Zimmer morgen erneut mit Möbeln füllen werde und hier und da etwas verändern möchte, macht es wenig Sinn, die ganzen Klamotten auszupacken. Bis auf das Mac-Book und meine Kameras. Meine Schreibtischfront bleibt so, wie sie ist. Sie steht perfekt unter den Fenstern, so soll sie bleiben. Hier kann ich mich schon breit machen und mein Arbeitsquartier vorbereiten.
 

Ich weiß nicht so recht wieso, aber ich klicke mich durch einige der Bilder, die ich gemacht habe. Bei dem New-York-Ordner bleibe ich hängen. Es fällt mir wieder ein.

Ich hatte mich auf die Lauer gelegt und zahlreiche, seltsam aussehenden und interessanten, flippigen Menschen dort fotografiert. Für Leon. Er wollte unbedingt in diese Stadt, ihn zog es ins Meer der Verrückten, wie er es immer nannte. Dieses urbane, hektische Leben hat ihn fasziniert, auch wenn er ein völlig anderes für sich anpeilte. Leon studiert Mathematik und Physik auf Lehramt. Er müsste bald schon fertig sein... Ob er dann hier bleibt, ob es ihn nicht doch in eine andere Stadt ziehen wird?

Vielleicht wäre das sogar besser für mich.

Für unsere Freundschaft.
 

Ich suche die 15 besten zusammen, ohne mir wirklich über mein Tun Gedanken zu machen. Mein Emailprogramm erkennt den Rezipienten sofort. Ich muss den Eintrag unbedingt ändern. Leon ist noch immer unter „Schatz“ gespeichert.

Ich klicke auf 'Senden'.

An Schatz.

Ja.

Genau.
 

Und dann wühle ich doch in den Koffern herum und suche die kleinen Mitbringsel für meine Freunde heraus. Für Michi, die massive, schwarze, elegante Pfeffermühle, damit er nie wieder diese billigen Plastikmühlen aus dem Supermarkt benutzen muss und sich lauthals aufregt, dass da so wenig raus kommt. Michi liebt Pfeffer.

Mike habe ich vielleicht einen großen Traum erfüllt, denke ich mir, als ich die große Rolle betrachte, die ich separat transportiert habe. Dort verbergen sich 20 Poster von Pin-Up-Girls aus den 50ern. Mike steht zwar nur auf Männer, aber er liebt diese Bilder und wollte sein Zimmer schon immer damit tapezieren.

Für Ole habe ich einige sehr alte Ausgaben von Jane Austen Büchern ergattert können auf einem Flohmarkt. Er liebt alte Bücher. Ah, und hier das Schmuckstück für Anton, ein altes Tele-Objektiv für seine analoge Nikon. Die Popeye-Statue für Ben steht schon auf meinem Schreibtisch.

Dann finde ich das letzte wichtige Geschenk.

Die dicke, dunkelrote Buddha-Figur in feiner Arbeit gemeißelt, wie man sie in Tempeln finden kann. Sie ist für Leon. Er hat schon zahlreiche kleinere von mir bekommen. Aber die übertrifft alles. Beinahe 50 cm ist sie groß. Buddha lacht. Und ich bedecke ihn erneut mit Papier.
 

Im selben Moment klingelt auch das Telefon im Flur.
 

„Ja?“

„Hi!“

Ich erkenne die Stimme am anderen Ende sofort.
 

„Leon!“
 

„Ich hab grad deine Bilder angeguckt, die du mir geschickt hast. Die sind ja der Oberhammer! Vor allem die 60-Jährige Punkerin da, total geil. Ich glaube, ich druck' mir welche davon aus und häng' die an meine Wand. Darf ich?“, plappert er sofort drauf los.
 

„Na klar darfst du. Die Bilder habe ich eh extra für dich gemacht.“
 

„...echt?“
 

„Na klar.“
 

„...danke“, seine Stimme ist sanft, so wie heute Nacht in meinem Traum. Ich seufze.
 

Leon lobt noch einige der Bilder und bedankt sich ein weiteres Mal. Voller Enthusiasmus sagt er mir, ich müsse ihm und den anderen unbedingt ein Best Of meiner Bilder zeigen, er will sie unbedingt sehen und all die Geschichten hören, die ich ihm noch nicht erzählt habe. Ich wiederum berichte ihm von einigen Connections, die ich dank John knüpfen konnte und somit einige Bilder an einige Verlage verkaufen konnte, für Reisekataloge und Homepages.
 

Unser Telefonat ist vertraut. Es fühlt sich so wie immer an. Für wenige Sekunden vergesse ich sogar, dass ich ein Jahr weg war, ebenfalls die Tatsache, dass wir kein Paar mehr sind. Das macht mir Angst. Und dann fragt Leon mich auch noch plötzlich: „Hast du Lust heute Abend was mit mir trinken zu gehen?“ In meiner Trance antworte ich ihm mit 'ja'.

„Cool!“ Er klingt wahrhaftig froh. „Cocktails im Fizz?“ Der kleine Laden beim Bahnhof. Wie oft wir uns da schon abgeschossen haben. Oder vorgeglüht sind. Das Lokal existiert seit unserem 17. Lebensjahr an gleicher Stelle. Meine Antwort ist dieselbe. „Ja.“
 

Ben kommt nach Hause, als ich gerade durch die Tür gehen möchte. „Nanu, wo geht’s denn hin?“, fragt er mich lächelnd.
 

„Ich treffe mich mit Leon im Fizz“, antworte ich.
 

„Ah. Schön, schön...“ Das ist alles, was er sagt. „Grüß mal.“
 

Leon wartet vor dem Lokal auf mich. Sein blondes Haar ist zu einem knappen Zopf gebunden. Die schwarze Jeans verlängert optisch seine Beine, das dunkelgrüne, engsitzende T-Shirt hebt sein helles Haar hervor. Der Stoff spannt sich richtig über seine Brust und ich wundere mich, ob er nicht noch mehr an seinen Armmuskeln gearbeitet hat… Sein Blick fällt auf mich. Umgehend kräuseln sich seine Lippen zu diesem ehrlichen Lächeln, dass ich seit so vielen Jahren kenne.

Ich will nur 'hallo' sagen, ihm nicht zu nahe kommen, aber Leon tritt auf mich zu und legt seine Arme um mich. Er drückt seine Wange doll an die meinige und gibt mir einen symbolischen Kuss. Dann lacht er.
 

„Du guckst gerade, wie ein erschrockenes Kaninchen“, zieht er mich auf und ich erwache aus meiner Starre.
 

„Äh…“ Diese Antwort war nicht geplant gewesen. Leon lacht weiter.
 

„Lass mal rein, der Laden ist schon echt voll, aber ich wollte nicht, dass du da rumirrst und mich suchst“, erklärt er.
 

„So groß ist der Laden doch gar nicht.“

Und dennoch bekommen wir einen der letzten Tische ganz hinten in der Ecke bei dem großen Aquarium mit viel zu vielen Fischen.
 

„So wie immer?“, fragt Leon mich sofort, als wir die Karte ausgehändigt bekommen.
 

„Klar“, willige ich ein und erst als Leon bestellt, wird mir klar, auf was ich mich da eingelassen habe. Den Jumbo-Cocktail. Eine Riesenvase voll mit buntem Gemisch und zwei Strohhalmen. Unser Pärchendrink.
 

„Wow, das ist so krass. Du hast dich voll verändert“, sagt Leon plötzlich und sieht mir in die Augen.
 

„Findest du?“

Er nickt.
 

„Ich glaube, du bist das erste Mal in deinem Leben etwas braun geworden“, sagt er und wir beide lachen.
 

„Da hast du wahrscheinlich recht“, gebe ich zu.
 

„Wie war denn die erste Nacht in der Sport-WG?“, fragt er mich grinsend.
 

„Ben hat mich zufällig nicht um 6 Uhr morgens aufgeweckt, als er sich zum Joggen fertig gemacht hat. Ich meine, das müsste dann ja schon um 5.30 Uhr gewesen sein, wenn er um 6 schon Joggen gegangen ist…“
 

„Ach, du scheiße…!“, Leon kichert.
 

„Das sagst du, aber du hast doch selbst trainiert!“, kontere ich mit einem sicheren Lächeln und deute auf seine Arme. Leon lacht. Er ist etwas peinlich berührt.
 

„Ja…“, gibt er zu. „Ich hab wieder mir Hanteltraining angefangen.“
 

„Und lass mich raten, Ben hat dir die Hanteln ausgesucht?“
 

„Haben wir sonst einen Experten für Sport in unserem Freundeskreis?“
 

„Mike?“, scherze ich und wir beide fangen erneut an zu lachen. Mike ist noch unsportlicher als ich. Wirklich!
 

Der Kellner serviert uns unseren Drink.

„Ich bezahle!“, verkündet Leon lächelnd und gibt dem guten Herrn auch noch ein sattes Trinkgeld. „Hab letztens ganz gut mit Nachhilfe verdienen können.“
 

„Freut mich.“
 

Leon nimmt einen der Strohhalme in die Hand.

„Na denn mal Prost!“, sagt er und ich schnappe mir den zweiten.
 

„Sex on the Beach… Habe ich irgendwie vermisst“, sage ich nach dem ersten großen Schluck.
 

„Was, etwa das ganze Jahr alleine unterwegs gewesen?“, feixt Leon. Sein Scherz trifft mich ein wenig eiskalt. Ich bin kurz verwirrt. Dann versuche ich zu grinsen.
 

„Nein, mein Baby Nikon war mit mir. Das hat vollkommen gereicht.“

In Leons Augen kann ich Unsicherheit erkennen. Er schaut auf das Glas. Nimmt noch einen weiteren Schluck. Ich tue es ihm gleich.

Schon komisch.

Wir sitzen hier, mit dieser unsichtbaren Mauer zwischen uns, in unserem Stammlokal und trinken diesen dämlichen Pärchencocktail. Wenn man uns so sehen würde, könnte man denken, nichts hätte sich verändert. Und was ist? Leon fragt mich direkt irgendwelchen potenziellen Sex-Partnern aus.

Mein Leon, fragt mich danach!

Nein, Manuel.

Nicht dein Leon.
 

Beste Freunde, rede ich mir ein. Beste Freunde!
 

Ich sehe mich kurz um.

Ob sein Neuer eigentlich noch hier auftauchen wird…?
 

„Hey, was ist denn mit deiner neuen WG eigentlich?“, frage ich ihn, um spontan das Thema zu wechseln. Nach unserer Trennung ist er ja zunächst zu seiner Mutter gezogen.
 

„Läuft super“, antwortet er begeistert. „Ich hab ja zwei Mitbewohner. Florian ist Student im zweiten Semester, Bio übrigens, und Silke arbeitet irgendwie mal hier mal da.“ Er erzählt noch mehr über die beiden und ich muss sichtlich verärgert feststellen, dass ich ihm nicht folgen kann, weil ich Idiot mich gerade begeistert an die Tatsache klammere, dass er noch nicht mit seinem neuen Kerl zusammenwohnt!
 

Leon fragt mich über New York aus.

„Du bist doch ab Montag wieder im Laden, oder?“, fragt er dann und ich nicke. „Super! Dann komme ich vorbei und drucke die Bilder aus. Ich will eins davon richtig groß haben, du suchst mir doch sicherlich den passenden Rahmen dazu aus, oder?“
 

„Klar“, willige ich ein.

Unser Cocktail verschwindet langsam.

Verlagert sich in unsere Köpfe.
 

„Was haben denn so die anderen während meiner Abwesenheit getrieben?“, hake ich neugierig nach. Leon will mir gerade antworten, da klingelt sein Handy. Ich erstarre kurz. Es ist immer noch die Melodie, die ich ihm vor drei Jahren eingestellt habe. Die Töne von Scar Tissue spielen weiter. Leon wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, er sieht kurz auf das Display. „Oh“, sagt er verwundert und geht ran. „Ja?“
 

Ich spiele mit dem kleinen, bunten Regenschirmchen, das auf den Tisch geplumpst ist.

Natürlich schaffe ich es nicht, Leons Konversation zu ignorieren.
 

„Äh, ich bin im Fizz…. Dieser Laden beim Hauptbahnhof, von dem hab ich dir doch schon mal erzählt… Ja… Ja, genau. Mit den Monstercocktails“, Leon lacht. „Ja… Sex on the Beach… Was? Mit Manu…. Mit Manuel“, wiederholt er deutlicher. „Mhm… Wie, du bist hier???“
 

Ich habe das Regenschirmchen aus Versehen zerrissen.
 

„Äh, Mist. Wieso hast du denn vorher nichts gesagt? … Ja, das war ja auch eher spontan… Ja… Jaha… Gib mir 30 Minuten. Florian ist da, der lässt dich rein. Ja. Gut. Ja. Bis gleich.“

Leon seufzt und streicht sich eine lose Strähne hinters Ohr. Er sieht mich an. Sein Blick ist milde.
 

„Sorry, Manu“, sagt er dann. „Das war Martin.“
 

„Martin?“
 

„Mein… Freund.“
 

„Oh.“

Ja, gut, Manu. Wappne dich. Gewöhn' dich dran. Du willst ihn kennenlernen!

„Kommt er her?“, frage ich und lächele. Leon schüttelt leicht den Kopf in Verneinung.
 

„Der wartet auf mich zuhause. Er wollte mir eine Überraschung machen und ist übers Wochenende hergekommen“, erklärt er, wieder etwas peinlich berührt.
 

„Achso. Der wohnt gar nicht hier?“, setze ich diese flockige Unterhaltung vor.
 

„Nein, das ist fast vier Autostunden von hier entfernt. Der wohnt in so nem kleinen Kaff.“
 

„Achso…“
 

„Ist mir jetzt echt total unangenehm, aber ich kann ihn nicht zu lange warten lassen…“, sagt er vorsichtig.
 

„Macht doch nichts, der Cocktail ist eh leer und betrinken wollte ich mich heute eh nicht“, sage ich ruhig.
 

Wir machen uns fertig, verlassen zusammen den Laden.

„Das nächste Mal sag ich Martin Bescheid, dass wir beide unterwegs sind, dann kann der so eine Nummer nicht noch mal abziehen, OK?“, sagt er mir, als wir kurz stehenbleiben, um uns zu verabschieden.
 

„Okay. Wäre super“, sage ich.

Leon umarmt mich wieder.

Als ich seinen Duft einatme, wird mir… anders.

Ich will ihn nicht loslassen.

Aber genau das tue ich.

Weil ich es kann!
 

„Tschüß Leon, grüß Martin unbekannterweise.“
 

„Mach ich, bis Montag!“
 

Als ich mich umdrehe, erklingen erneut die Töne von Scar Tissue. Ich beschleunige meinen Gang.
 

Ben guckt fern.

Ich schnappe mir die Glenfiddich Flasche.

„Willst du auch einen?“, frage ich meinen Mitbewohner.

„Heute nicht“, sagt er.

„Willst du auch einen?“, wiederhole ich die Frage genervt. Ben sieht mich an.

„Äh, sehr gern“, willigt er ein.

Dann gucken wir beide weiter fern. Irgendein Schwachsinn auf MTV.

„Ist irgendwas passiert?“, fragt er mich schließlich.

Und ich… sage gar nichts.

Denn die Frage stelle ich mir selbst.
 

Ist irgendwas passiert?
 


 

Samstag, 09.Juli

Erste Situation überstanden. Dank Whiskey müde. Werde heute nicht von Leon träumen. Ich muss da durch. Gruß an Martin!

Manuel
 

- - -

Manuels Tattoo: http://3.bp.blogspot.com/_FVu5XcjAEz8/SpAF-mEq_HI/AAAAAAAACmg/NPc6JJb70wg/s400/ganesha-mehendi-tattoo.jpg



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  jyorie
2014-08-13T04:31:17+00:00 13.08.2014 06:31
Hey (。・ω・。)

*seuftz* bei dem Gespräch mit seinem Bruder bringt er es ja
auch auf den Punkt, das Manuel noch nicht über Leon weg
ist. Und dennoch fragt er ihn über Leon aus und dessen neuen.
*seuftz*

Im ersten Kapitel hatte ich ja schon so ein seltsames Gefühl,
aber wie Manuel hier von Leon in das alte Stammlokal eingeladen
wird und wie er mit dem Cocktail an früher anknüpft und sich dann
über den Anruf und die Störung seines neuen Freundes aufregt
oder ärgert, das hört sich alles nicht so an, als wenn bei ihm und
dem Neuen es so harmonisch laufen würde.

Ich bin echt mal gespannt, was da am Ende raus kommt. :)

CuCu Jyorie

Von:  RockFee
2010-11-18T18:41:04+00:00 18.11.2010 19:41
Meine Güte, warum tut Manuel sich das an? Natürlich ist es schön, wenn man nach einer Trennung befreundet sein kann. aber wie oft klappt das schon. Und wenn es nicht geht, dann eben nicht. Vermutlich kann 'Mann' das aber nicht zugeben, vor allem nach doch so langer Zeit. Weglaufen hat auch nicht geholfen.
Sein Ex Leon scheint das alles super verkraftet zu haben: Cool bei der Haushaltsaufteilung, ziemlich schnell neue Beziehungen, relativ ungezwungen im Umgang mit Manuel. Mich würde interessieren, ob der Schein trügt (natürlich insgeheim meine Hoffnung).
Irgendwie traurig im Moment. Manuel sollte sich schnell in der Wohnung und der Arbeit einrichten und sich dann mal in der Männerwelt umsehen. Es muss ja nicht gleich die nächste große Liebe sein.

lg Rockfee
Von:  Tali
2010-11-15T19:07:01+00:00 15.11.2010 20:07
Ja, das ist echt nicht leicht! Vorallem, wenn man sich selbst immer noch etwas vorspielt und sich zwingen muss muss auf Abstand zu gehen. Es ist noch sehr offensichtlich, dass bei Manuel immer noch Gefühle vorhanden sind. Er wird es lernen müssen. Und es wird schmerzhaft. Das alles, was er bisher durchgemacht hat, ist nur die Spitze des Eisberges. Denn Endlieben tut weh und die eine oder andere Whiskey Flasche wird noch gelert werden.
Von:  Khaosprinzessin
2010-11-14T14:30:54+00:00 14.11.2010 15:30
Hui, das Tattoo sieht toll aus!
Armer Manu*knuddel* Was quält der sich auch so...sieben Jahre sind ne verdammt lange Zeit...armer Kleiner. Und nein, das bezieht sich nicht auf seine 1,80m ^^
Anton und Ben sind klasse! Ich find die super! Leon...ich weiß nicht. Irgendwie kann ich seinem Verhalten Manu gegenüber nicht so viel abgewinnen. Er tut so, als wäre alles ok und nie was gewesen... Aber naja. Vielleicht ändert sich das ja noch.
Bin schon auf die Party gespannt. Und vor allem auf den ganzen Rest der Clique. Alle bekloppt. Hihi^^
Bis zum nächsten Mal.

See ya in hell, beast


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