Es war ruhig im Museum, denn die meisten Besucher waren in anderen Abteilungen. Die Schulklasse, die in Begleitung der Lehrkräfte hier war, hatte nach einem kurzen Blick in jeden Raum das Weite gesucht und saß lachend im Café, wodurch die Räume wieder in ihre natürliche Stille zurückverfallen waren. Nur selten waren Schritte in den ehrwürdigen Hallen zu vernehmen, wenn jemand staunend und bewundernd durch die Ausstellungsräume ging, und unterbrachen das Geräusch des auf Papier kratzenden Bleistifts, der in Zaras Hand lag.
Sie saß entspannt im Schneidersitz, auf ihrem Schoß ein Skizzenbuch, und kopierte die vor ihr stehende Statue, deren Kopf nur noch zur Hälfte vorhanden war. Die andere Hälfte war abgeschlagen worden, laut Plakette in einem der großen Kriege, die früher hier geherrscht hatten; die Stirn fehlte gänzlich, von der Nase war etwa die Hälfte erhalten, der Mund war intakt. Mit konzentrierten Strichen übertrug sie den Mann aus Marmor auf das weiße Papier, darauf bedacht, kein Detail auszulassen. Als sie fertig war runzelte sie die Stirn und fing auf der gegenüberliegenden Seite nochmals an, diesmal jedoch ergänzte sie den fehlenden Teil des Kopfes. Immer wieder veränderte sie ihre Position, um das Profil zu betrachten, den Nasenbeinverlauf, die Wangenknochen aus nächster Nähe. So entstand nach und nach ein vollständiges Gesicht, sehr markant, aber dennoch auch sehr jungenhaft. Der Mann war nicht sehr alt gewesen, als er Modell gestanden hatte. Obwohl der Bildhauer ihm ein forsches Aussehen hatte verpassen wollen, schimmerte dennoch eine leichte Unbeholfenheit heraus, die Zara nicht einzuordnen vermochte.
"Wenn ich doch nur wüsste, wer du warst...", murmelte sie leise vor sich hin und seufzte.
"Oh, das dürfte nun, da mein Gesicht wieder intakt und mein Gehirn an Ort und Stelle sind, kaum eine Schwierigkeit darstellen", raschelte es von ihrem Buch herauf. Eigentlich war es nicht einmal ein Rascheln, es klang, als flüsterte das Papier ihr zu, ein ganz leises, unaufdringliches Geräusch, so unauffällig, dass sie zunächst daran zweifelte, dass sie richtig gehört hatte. Erst als sie feststellte, dass sich das Bild bewegt hatte, wusste sie, woher die Stimme gekommen war.
"Wenn du magst", bot der Mann an, "erzähle ich dir meine Geschichte - aber bevor ich anfange möchte ich ganz gerne die Möglichkeit bekommen, mich etwas freier zu bewegen, wenn es recht ist."
"Was brauchst du?", fragte Zara, die ihren ersten Schrecken recht schnell überwunden hatte, "was muss ich tun?"
"Zunächst hätte ich ganz gerne einen Schatten", beschwerte sich der Mann. "Es ist ein seltsames Gefühl, von allen Seiten angestrahlt zu werden. Und einen Boden unter den Füßen kannst du mir damit auch gleich andeuten... es behagt mir nicht, so im Nichts zu stehen."
Zara folgte seiner Aufforderung und zeichnete zusätzlich einen Stuhl mit Kissen in das Bild sowie einen Tisch, auf den sie eine Teekanne und eine Tasse skizzierte, aus denen es behaglich dampfte.
Der Mann sah interessiert zu, wie die Gegenstände neben ihm auftauchten, setzte sich vorsichtig auf den Stuhl und seufzte wohlig, als dieser nicht unter ihm nachgab. "Sitzen", ächzte er, "endlich, es kommt mir vor als hätte ich das schon Jahre nicht mehr getan!"
Unter ihrem amüsierten Blick betrachtete er die Kanne, schnupperte dann an der Tasse und überlegte kurz. "Ich kenne den Geruch, aber mein Gedächtnis hat wohl etwas gelitten... wobei ich zugeben muss dass diese exotische Sitzgelegenheit und das Gefäß mich mehr beeindrucken als ich es für möglich gehalten hätte."
"Wenn dir das Wenige schon so exotisch vorkommt", fragte Zara, "was denkst du denn dann wenn du mich ansiehst?"
"Kann ich gar nicht. Es geht nicht." Er zuckte mit den Schultern und nippte an seinem Getränk. "Ich kann dich hören, aber davon bekomme ich Kopfschmerzen. Klingt sehr seltsam, als wäre da mehr Widerhall als richtig ist. Ich kann es nicht ganz erkennen, es fühlt sich einfach... seltsam an. Und wenn ich versuche dich anzuschauen, wird mir richtig schlecht. Du bist, na ja, viel realer als du sein dürftest, aber auf eine sehr kranke Art und Weise." Interessiert untersuchte er die Tasse genauer. "Der Füllstand bleibt immer gleich", murmelte er zu sich selbst, "wirklich faszinierend..."
"Du wolltest mir von dir erzählen", erinnerte Zara ihn.
"Oh, richtig!" Er warf das Kissen auf den Boden, nahm sich die Teetasse und setzte sich auf das Polster. "Ah, viel besser. Nun denn, wo waren wir stehen geblieben?" Nachdenklich starrte er in die Ferne. "Ah, natürlich, mein Leben!
Also pass auf", begann er.
"An und für sich erinnere ich mich nicht mehr an allzu viel. Die letzten Jahre, bevor dieses Marmorstück dort in ein Kunstwerk verwandelt wurde und ich nicht weiter verfolgen konnte, wie es meinem lebendigen Ich erging, waren jedenfalls sehr ereignislos. Das änderte sich erst schlagartig, als ich an einer äußerst nervenkostenden Krankheit erkrankte und nach Epidauros gebracht wurde."
"Welche Krankheit war es denn?", fragte Zara neugierig, doch nach einem warnenden Blick seinerseits verstummte sie wieder.
"Der Tempel von Epidauros ist wunderschön. Er ist dem Asklepios geweiht, dem Sohn des Apollon. Außerdem ist er glaube ich der größte Asklepiostempel in ganz Griechenland, wenn nicht, dann zumindest der beeindruckendste und schönste. Es ist ein so heiliger Ort, dass dort weder geboren noch gestorben werden darf. Es gibt eine Rennbahn dort und ein Theater, wie es seinesgleichen sucht. Es passen mehr Menschen hinein als ich zählen kann. Dutzende, ja Hunderte Familien kann man darin unterbringen... langweile ich dich bereits?"
"Neinnein", versicherte Zara schnell, "ich frage mich nur... wie mag es wohl funktioniert haben, dass auf dem Gelände nie jemand gestorben ist? Wie wollten die Priester das regeln?"
"Es betraf nicht die gesamte Anlage", erwiderte er. "Aber der Raum der Heilung, der Ort, an den die schwer Kranken gebracht wurden, war so unter Asklepios' Schutz, dass dort niemand starb.
Das Theater jedenfalls war unvorstellbar groß, so groß wie keines, das ich je zuvor gesehen hatte, und dennoch war die Akustik hervorragend, so sehr dass die Stimmen der Schauspieler selbst den obersten Rand noch deutlich erreichten. Es war wie eine andere Welt, man fühlte die Anwesenheit der Götter... still!" Plötzlich saß der junge Mann kerzengrade und starrte aus dem Bild.
"Ich muss Schluss machen", zischte er schließlich mit einem gehetzten Ausdruck in den Augen. "Besuch es, wenn du kannst!"
"Was? Epidauros?", fragte Zara verwirrt von dem plötzlichen Ende, als die Stimme ihres Lehrers an ihr Ohr drang und sie aufschreckte.
"Ich bin beeindruckt, Zara - ich hätte Sie bei den anderen im Museumscafé erwartet!"
Alle drei Lehrer standen in der Tür, die zu dem Ausstellungsraum hinter ihr führte. "Mit wem haben Sie geredet?", fragte ihre Tutorin sie und trag näher.
Zara unterdrückte den Impuls, das Buch zuzuschlagen und an sich zu pressen, und blickte hilflos auf die Seiten.
Doch der junge Mann saß nicht mehr auf dem Kissen. Er stand wieder, in der gleichen Pose wie zuvor, auf der linken Seite neben der unvollständigen Statue, das Kissen und die Möbel auf der rechten Seite verlassen, Teetasse und Kanne in einem überstürzten Aufbruch umgestoßen.
"Nicht schlecht", lobte die Tutorin. "Sie haben ihn gut getroffen. Man könnte meinen, er finge gleich zu atmen an.
Komment Sie mit uns?", fragte sie dann. "Die Zeit ist bald um, wir wollen gleich weiter."
Zara nickte verstört, packte ihre Zeichenutensilien in den Rucksack und stand auf, um den Lehrern zum Ausgang zu folgen.
Irrte sie sich, oder hatte die Statue ihr zugeblinzelt?