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Children of the Prophecy

Die Kinder der Prophezeihung
von

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14: [Ikaris Dogma]

ZUNÄCHST ein paar Anmerkungen – Erst mal gab es ein paar kleinere Überarbeitungen, vor allen an den Kapiteln 1.4 (Ich war der Meinung, auf gewisse Details aus „Death“ nicht zu genüge eingegangen zu sein) und 1.5 – der herrausrangensten Punkte ist wohl, dass ich in der Zwischenzeit erfahren habe, das der Typ, der Shamshel designt hat, sie sich scheinbar als weiblich vorgestellt hatte und so auch in einem kleinen witz-comic dargestellt hat - die Pronomen im entsprechenden Kapitel sind nun angepasst.

Zudem habe ich aus verschiedenerlei Gründen, die auch mit dem späteren Verlauf des Plots zu tun haben, entschieden, Touji’s kleine Schwester statt „Maiko“ als „Sakura“ zu titeln.

Aber auch das letzte Kapitel (2.13) hat eine klitzekleine Änderung erfahren / Ich habe mich entschieden, eine Stelle am Schluss „wegzuschneiden“ weil ich zwischendrinn noch etwas einfügen wollte, was zwar bereits geplant war, aber später in der Story kommen sollte – dafür kommt es eben jetzt, so passt es in den „Fluss“ der Story besser hinein, denke ich…

Ebenfalls: Nicht wundern, dass da plötzlich „21%“ statt „31%“ steht, ich habe eine Entscheidung getroffen, als deren Ergebnis diese FF vorraussichtlich etwas länger wird als zunächst geplant – was heißt, das dass bisher geschriebene einen geringeren Anteil ausmacht. Das stört euch wohl hoffentlich nicht, oder? ;)

Nächster Punkt auf der Tagesordnung, Eva Q, Einbringung und Spoiler-Politik –

Tja, was soll ich sagen, wir sind wieder EoE-ed worden. Es gibt Zusammenfassungen, es gibt eine fast komplette Übersetzung im evageeks-forum, und mittlerweile sogar einen fast kompletten Camrip. Ohne jetzt irgendwas zu spoilen, muss ich sagen: Ich hab es selbst noch nicht ganz verarbeitet/entschieden, was ich davon halten soll. Ich war mehrere Tage echt deprimiert und motiviert, einfach alles hinzuschmeißen. Auf jeden Fall wird, was ihr hier sehen werdet (natürlich mit Änderungen meinerseits) erst mal eher nach dem gehen, was im ursprünglichen Trailer angekündigt war/in der Original-Serie zu sehen war, a) weil das auch eher zu meinem ursprünglichen Plan passt, b) weil ich hiermit auch das Original etwas kommentieren will und c) weil sich die beiden Kontinuitäten so weit auseinander entwickelt haben, dass es nicht weiter möglich sein wird, sie zu verschmelzen – gut möglich, dass ich einzelne Details/Szenen verwende, kann auch sein, dass ich sogar den größeren Plot von Q irgendwo einbringe (Sicher bin ich mir noch nicht, aber ich muss mir das irgendwann aus dem System schreiben und überhaupt – wir dürfen nicht davor weglaufen, nicht? Außerdem will ich das hier, was eigentlich mein Kommentar über die ganze Frachise sein sollte, nicht limitieren/ „unvollständig“ machen, in dem ich so was „ausblende“.), wer die Infos gesehen hat, ahnt vielleicht schon wo, aber wenn dann ist es bis dahin noch seeehr lange hin und es wird natürlich eine explizite Warnung geben „Q-Spoiler ab hier“ oder so. Ihr könnt also ruhig noch weiterlesen ohne Angst zu haben relevant gespoilt zu werden, was große Plot-Details angeht…
 

So, nun das eigentliche Kapitel, dass ihr alle schon so heiß ersehnt habt…:
 

14: [Ikaris Dogma]
 

Inside a labyrinth’s walls

There lies a tiny child who sleeps alone

And as the daylight falls

The wind becomes so wild across the stone
 

For I have made

Her prison be

Her every step

Away from me

And this child I would destroy

If you tried to set her free
 

So come to me my love

I’ll tap into your streght and drain it dry

Can never have enough

For you I’d burn the lenght and breadth of sky
 

For it’s my thoughts

That bind me here

It’s this love

That I most fear

And this child I would destroy

For I hold her pain most dear
 

No haven for this heart

No shelter for this child in mazes lost

Heaven, keep us apart

A curse for every mile of ocean crossed
 

For I must die

For what I’ve done

A twist of fate, a desert sun

For I see what I destroy

Sweet reflection, knife into me

For I see what I destroy

I can see what I’ve begun
 

–Vienna Teng, ‚My Medea‘
 

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Shinji konnte nicht sagen, wann genau er gemerkt hatte, dass er den Gestank nicht mehr abwaschen konnte.

Es war nur eine von vielen Veränderungen gewesen, die derzeit an seinem Körper von statten gingen, die meisten davon waren völlig natürlich und die wenigsten nicht in irgendeiner Form unheimlich.

Es musste eine subtile, unterschwellige Sache gewesen sein, nichts, was ihm von einem Moment auf den anderen als plötzlicher Wechsel aufgefallen wäre.

Selbst im EVA selbst hatte er eine ganze Weile gebraucht, um sich in dieser latenten Befürchtung bewusst bestätigt zu sehen, dass die Flüssigkeit im inneren der Entry-Plugs tatsächlich nach Blut stank; Gut möglich, dass sein Gehirn den Geruch mittlerweile unbewusst herausfiltrierte, weil es sich daran angepasst hatte, ihn ständig um sich zu haben – vielleicht war das auch der Grund dafür, dass er ihn selbst an Asuka und Rei nie wirklich bemerkt hatte – und wie viel achtete man schon auf die Feinheiten des eigenen Geruchs, solange dieser nur ausreichend wenig mit Schweiß oder Knoblauch gemeinsam hatte?

Es hatte also ein paar angefangene und nicht ganz zu Ende gebrachte halb-Ahnungen gegeben, Momente, in denen er nochmal nachgeprüft und das ganze als Einbildung abgetan hatte, bis er sich eines Abends, noch dazu nach dem er sich frisch geduscht hatte, endlich in seine Laken sinken ließ, die Augen schließend, den Kopf auf dem Arm abstützend, und was er dort roch war –

Eine entfernte Note des Waschmittel-Duftes, der denr relativ frisch gewechselten Bettwäsche anhaftete, deutlich mehr von der Seife, mit der er eben auf sich herumgeschrubbt hatte, und –

Blut.

Natürlich war sofort nicht mehr Nachtruhe zu denken, er sprang sofort auf und prüfte es nach, an seinen Händen, an seinen Armen, sonst wo, versuchte, mit sich zu diskutieren, dass es doch eine Einbildung sein musste, dass er es doch noch mal versuchen sollte – Er begann auch, die Ereignisse des Tages zurückzuzählen und sich zu fragen, wie er mit so was in Kontakt gekommen sein könnte, doch das einzige, was ihm einfiel, war das LCL.

Nach einer weiteren Stunde unter der Dusche, abzüglich die Zeit, die er gewartet hatte, bis Asuka, die das Badezimmer nach ihm in Besitz genommen hatte, wieder daraus gewichen war, und der zusätzlichen Wartezeit, um sicherzugehen das alle entweder schliefen oder in ihrem Zimmern waren, sodass er nicht nach einer Erklärung dafür gefragt werden würde, warum er gleich wieder unter die Dusche ging, war es dann offiziell: Es wollte einfach nicht weichen.

Der Gestank des LCLs hatte sich nach all den Stunden in dieser biomechanischen Maschine tiefer in sein Fleisch gebrannt, als Wasser und Seife eindringen würde.

Dabei glaubte er, dass sich das Zeug noch restlos hatte abwaschen lassen, als er frisch hier angekommen war – oder spielte ihm seine Erinnerung da Streiche?

Füllte er nur die Lücken so aus, wie es ihm gerade gefiel…?

Und, würde das einfach wieder verschwinden, wenn er sich eine Weile von den Evangelions fernhielt oder mit ihnen durch war, genauso allmählich und heimlich, wie es gekommen war, oder etwa nicht…

In diesem Moment hatte er überwältigt die Arme um seinen Leib geschlungen und hatte sich in eine Ecke der Duschkabine sinken lassen, während das Wasser noch unentwegt über ihn hinweggeprasselt hatte – Diese ganze Komplex von Gedanken hatte ihn mit einem Mal getroffen.

Diese Idee, dass er… gezeichnet war, befleckt, markiert, als was er war und was er getan hatte, selbst, wenn er diesen ort verlassen sollte.

Jemand der das Blut nicht von seinen Händen waschen konnte, war das nicht in der Regel jemand, der schreckliche Dinge getan hatte?

Es war, allein für sich betrachtet, wohl ein Zeichen von Sünde und Verantwortung –

Ja, Verantwortung.

Und er hatte absolute Todesangst vor Verantwortung.

Aber das allein reichte für diese Reaktion nicht aus – Der härteste Fakt war wohl der simpelste.

Wenn er von Kopf bis Fuß nach Blut stank… stank er von Kopf bis Fuß nach Blut.

Der Kontakt mit dieser… dieser unnatürlichen Bestie hatte ihn… verdorben, verändert, beschädigt, verdreht…

Und – Er musste das überall haben, auch innerlich, er hatte dieses Zeug geatmet, es geschluckt – Gut möglich, dass er bei entsprechendem Stimulus fähig sein würde, genau jetzt, genau hier spontan etliche Zentiliter davon hervorzuwürgen er musste das schon überall… in sich kleben haben, ganz zu schweigen von Rei und Asuka, die mit dem Zeug schon zu tun gehabt haben mussten, seid sie kleine Kinder waren – Störte es sie denn nicht?

Asuka? Natürlich nicht. Doch nicht die große Captain Shikinami.

Rei? Wahrscheinlich nicht mehr.

Sie nahm allerlei schreckliche Dinge einfach so hin, weil das eben bis jetzt das einzige Leben gewesen war, dass sie kannte, weil sie sich nicht darüber bewusst zu sein schien, dass das so nicht ganz normal war.

Doch anders betrachtet, war es eigentlich verwunderlich, dass sie das Zeug nicht nach jeder Sitzung im EVA mühsam wieder ausspucken mussten – Er konnte sich nicht vorstellen, dass das auf die Dauer gesund sein würde, aber das das nicht der Fall war, war auf seine eigene Weise unheimlich.

Das er wusste, was das Zeug wirklich war, eine Tatsache, die er bis jetzt zur späteren Verarbeitung in die Tiefen seines Schädels gestopft hat, und nun mit einem mal wieder hervorbrach, wie als Rache dafür, dass er sie so lange vernachlässigt hatte, half auch nicht wirklich.

Wussten die beiden das?

Wussten Rei und Asuka, dass dieses Zeug das Blut, das Menstruationsblut, von diesem… diesem formlosen Ding mit all den zuckenden Beinen und-
 

So sehr er diese Nacht noch schrubbte und schrubbte, am nächsten Morgen war dieser Blutgeruch noch da, und schien sich zu weigern, jemals wieder zu weichen.
 

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Vor einer langen, langen Zeit waren dieser Kontinent hier und die indische Halbinsel einmal eins gewesen, vor Äonen, die die ganze Art, in der die Menschen überhaupt existiert hatten, wie einen Wimpernschlag wirken ließen, vor unvorstellbaren Zeiten und der Summe der winzigen Veränderungen, die sie zum Beispiel in Form von Plattentektonik mit sich gebracht hatten, lag diese Landmasse einmal in wesentlich freundlicheren Breiten des Planetens, unbedrückt von dem Gewicht der Eismassen, die sie jetzt weiter unter den Ozean pressten, und war mit Wäldern und Seen bedeckt gewesen, wie alle anderen Teile dieser Erde auch, und hatte mit derselben unerschöpflichen Fruchtbarkeit immer neue Variationen von Leben hervorgebracht – Aber das war nun lange, lange her.

Ein paar Bakterien gab es noch, die den unterirdischen Seen dieses Kontinents ihre eigentümlichen Färbungen verliehen, ein paar Vögel gab es, die in dieser Eiswüste noch ausgeharrt hatten, aber hier, am Pol der Unzugänglichkeit war vielleicht einer der leblosesten Landstriche dieses Planetens.

Das hieß, für die Verhältnisse dieses Planetens.

Für die Verhältnisse vor der Katastrophe, welche den Einwohnern dieses Welt Wertschätzung für den „Vorher“-Zustand dieses Kontinents beibringen sollte. Und das Epizentrum von alledem war diese kleine Basis hier, deren oberirdischer Teil freilich nur die Spitze eines größeren Eisbergs war.

Man fragte sich, warum man sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, den Stützpunkt einzuzäunen – Um wilde Pinguine fernzuhalten, vielleicht?

Der peitschende Wind, dem seine eisige Temperatur eine ohne Übertreibung als „schneidend“ einstufbare Qualität verlieh, hätte jeden möglichen Eindringling ohnehin ferngehalten, falls der Rest des unwirtlichen Kontinents nicht bereits erledigt hatte.

Selbst das Dezimeter dicke Glas der recht kleinen Fenster in den andernfalls in einem hässlichen Orange lackierten aus Massenproduktion stammenden Wandblatten der Basis konnten sein Heulen nicht ganz draußen halten, oder die Kälte, die doch noch ausreichte um die herumwuselnden Wissenschaftler in den engen, dicht mit Papieren und Apparaturen vollgestellten, kabinenhaften Räumen in Handschuhe und dick gepolsterte Mäntel zu zu zwingen, unter denen zweifellos noch weitere Lagen aus warmen Klamotten stecken mussten.

Man konnte in diesem Raum vor lauter Kabeln kaum noch laufen, und sich überhaupt nur in Schlangenlinien zwischen Tischen, Papierstapeln und Kollegen hindurchzwängen;

Nur der Herr an dem großen Tisch direkt neben der Wand, mit dem vormals erwähnten kleinen Fenster darin schien so etwas wie Raum zum Atmen zu haben, was teils dadurch bedingt war, dass die großen Apparaturen auf seinem Tisch es seinen Kollegen schwer gemacht hätte, selbst dort zu arbeiten, andererseits aber auch dadurch, dass er schlichtweg der Leiter dieser Expedition gewesen war, und als solcher gewisse Privilegien genoss – Am terminalen Ende seiner Apparatur aus Glaskoben, Kondensatoren und Destillationsanlagen gab es ein kleines Ventil, das geringfügig geöffnet war, sodass die von der Anlage produzierte, rubinrote Flüssigkeit stetig, aber sehr, sehr langsam in den darunter angeordneten Erlenmeyerkolben tropfen konnte.

Nur dann und wann hatte sich an der länglichen Spitze der Apparatur genug von der Substanz angesammelt, dass ihr Gewicht auch tatsächlich ausreichte, um den ganzen Tropfen in die Tiefe zu reißen, wo er sich dann höchstwahrscheinlich einer der bisherigen Ansammlungen am Boden des Gefäßes anschließen würde, wo sich zwei größere Tropfen befanden die dessen gläsernen Boden vollständig zu bedecken, einer deutlich größer als der andere.

Die Flüssigkeit hatte eine große Oberflächenspannung und benetzte so die gläserne Fläche unter sich nicht wirklich – Während sie stillstanden, hätte man die durscheinenden, glatten Tropfen für feste Glasperlen oder Edelsteine halten können.

In der Zeit aber, die dieser Aufbau brauchte, um sich zufriedenstellend zu füllen, hatte sich der Wissenschaftler mit etwas anderem beschäftigt, hatte die Augen beinahe schon permanent an den Sichtlöchern seines Mikroskops kleben, während er mit der einen Hand gelegentlich an diesem herumregelte und mit der anderen immer zu krakelige Notizen auf einen karierten Block kritzelte, die teils auch von höchst minimalistischen Skizzen unterbrochen waren.

Er schien fast wie in eine Trance versunken, verschwunden in seine eigene, abgeschlossene Welt, in der weder das im Hintergrund allgegenwärtige Maschinensurren, noch das geschäftige Treiben seiner Kollegen vordringen könnte – sein Blick wurde von den engen Röhren und Spiegeln des Mikroskops ohne jeden Raum für Umschweife auf seine Probe gelenkt, und auch wenn diese nur seine Augen und nicht seine Ohren in Beschlag nahmen, so war es auch bei letzteren nicht wahrscheinlich, dass sie für etwas anderes empfänglich waren als das gelegentliche Plopp-Geräusch des nächsten Tropfens an seiner Apparatur, und man könnte meinen, diese ganze Basis, dieser ganze Raum hätte genauso gut im Meer versinken können, und es hätte ihn nicht gestört, wenn man ihm nur sein Mikroskop gelassen hätte, und das beinhaltete auch diese eine Sache an seiner Umgebung, die überhaupt nicht in dieses abgelegene Labor hinein passte – Sie stand in einer Ecke des Raumes, wo der Tisch mit der komplizierten Apparatur endete, und sich einiges angesammelt hatte, dass man als „Plunder verschiedener Art“ hätte klassifizieren können –Stapel voll mit Papieren, Messdaten und Referenzmaterialien, Kisten und Kästen mit Reagenzien und Proben, sowie nur teilweise aufgebaute Apparate und staubige Proben, als sei sie selbst so ein Gerät, das derzeit nicht gebraucht wurde, und von dem also erwartet wurde, dass es still und brav zu warten hatte, bis irgendjemandem wieder einfiel, das sie existierte – Dort befand sich, auf einem schäbigen, alten Holzstuhl mit einem durchgesessen, alten Sitzkissen darauf dem man deutlich ansah, dass er eine ganze Weile weggepackt in irgendeiner Abstellkammer verbracht haben musste, irgendwo zwischen Staub und Spinnweben, ein einzelnes, vierzehnjähriges Mädchen mit langen, dunklen Haaren, die in ihrer Farbe denen des Wissenschaftlers ähnelte, und auch ihren etwas dunkleren Hautton mit ihm gemeinsam hatte.

Aufmerksame Geister hätten auch die Kette um den Hals des Wissenschaftlers als etwas erkannt, dass er dem Mädchen noch „vererben“ würde.

Sie saß still und ruhig da, die Beine nah an den Stuhlbeinen haltend, die Hände und Unterarme auf die Oberschenkel legend, als wolle sie an diesem Ort, an den sie nicht gehörte und ohnehin nur stören konnte, möglichst wenig Raum einnehmen, aber die Art, wie sich ihre Finger mit pink lackierten Nägeln in die Kunstfasern ihres Mantels krallen verriet ihre stille Unzufriedenheit.

Man könnte ihr vorwerfen, dass sie hart gewesen war und ihr Herz schon vorschnell verschlossen hatte, als sie auf die Idee, ganze zwei Wochen bei ihrem geschiedenen Vater zu verbringen war, mit einem frustrierten Stöhnen reagiert hatte, aber letztlich hatte sie ja doch Recht behalten.

Er hatte die ganze Angelegenheit natürlich mit einer Entschuldigung begonnen, mit einer Bitte nach einer Chance, aber sowohl sie als auch ihre Mutter hatten diese Worte immer und immer wieder gehört – Irgendwann war sie einfach an dem Punkt angelangt, andem sie entweder entscheiden konnte, dass es dieser Mann hier war, der im Unrecht war, und aufhören, sich darum zu kümmern, was dieser Mann sagte, seien es nun Gesten der Missachtung oder angeblicher Versöhnungswillen, oder aber die Alternative zu wählen, und sich einen Strick nehmen, denn wenn er nicht Schuld war, dann war sie es.

Und überhaupt – Das Mädchen war gerade in einer prägenden Phase ihres Lebens, in einem Alter, in dem man sich viel entwickelte und so einiges über sich selbst lernen musste, und was sie von sich selbst gelernt hatte, war, dass ihre Vergebung ihre Grenzen hatte.

Sie glaubte, dass es da ein gewisses Limit gab, eine bestimmte kritische Masse an Fehlern, seien sie durch viele kleinere Vergehen über Jahre hinweg angehäuft oder in einer großen Sünde begründet, an der man einfach nicht mehr vergeben konnte, oder auch nur sollte – Ihre Mutter hatte die Grenze des Vergebens mit diesem Mann für gewiss überstrapaziert.

Und sie wollte ihm auch nicht vergeben!

Warum sollte sie?

Damals, vor den Ereignissen der nächsten 24 Stunden, schien die Antwort darauf kristallklar, egal, wie viele Menschen schon schockiert darauf reagiert hatten, dass sie sich weigerte, ihn zu sehen – Angeblich hatte eine Scheidung für ein Kind etwas unheimlich schlimmes zu sein, dass sie unbedingt umkehren wollen müsste, und natürlich hatte sie sich wie verrückt nach ihm zu sehnen – Er verdient deinen Unterhalt! Er bringt dir immer so schöne Geschenke und macht sich da wirklich die Mühe! Er ist doch in Wahrheit nur empfindlich!

Ja klar.

Das klang ja fast schon, als ob sie ihn auf Knien um Entschuldigung zu bitten hätte, und sie wollte kategorisch nichts davon wissen. Gesunder Menschenverstand, Leute!

Er war hier der erwachsene Mann, sie war das kleine Mädchen, das nicht anders konnte, als von ihm abzuhängen. Was sollte sie tun, sich mit zwölf ‘nen Job suchen, um nicht mehr „undankbar“ sein Geld zu verschwenden?

Er war es, der sich nie um sie gekümmert hatte, um sie nicht und auch um ihre Mutter nicht.

Er war es, der sie vernachlässigt hatte, der nie da gewesen war, um sie anzuleiten, ihr Dinge zu zeigen, ihr Lob und Anerkennung zu geben, oder ihr die wichtigen Lektionen über diese Welt mitzugeben, sie hatte das alles selbst für sich zusammenkratzen müssen.

Sie hatte von ihm nichts als Ablehnung bekommen!

Auch jetzt wieder: Statt die zwei Wochen, die er für sie verantwortlich war, mit irgendwelchen Vater-Tochter-Aktivitäten zu füllen, anstatt dass er auch nur eine verdammte Sekunde seines Lebens für sie hergab, hatte er sie mit in sein Labor gebracht und in die Ecke gesetzt wie eine Theaterrequisite, wo es dann hieß, er solle sie nicht stören. Das war scheinbar alles, was sie in seinem Leben je gewesen war, eine Störung!

Die meisten Leute arbeiteten, damit sie später nachhause kommen und zu den schönen Dingen des Lebens kommen konnte. Katsuragi Byakuya kam nachhause, damit er, nachdem er seine Frau und Tochter minimal „bewältigt“ hatte, endlich zurück zu seiner heißgeliebten Arbeit konnte.

Das schwierige, das störende, das, was man leider nicht umgehen konnte, dass was sie.

Der einzige Lichtblick an dieser abscheulichen Situation war, dass sich die zwei Wochen bereits ihrem Ende zuneigten. Schon morgen, wenn ihr sogenannter Vater, das hieß, besserer Samenspender endlich mit seinem „großen Experiment“ durch war, konnte sie endlich zurück zu ihrer Mutter!

(Nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Katsuragi Chie, die ihren Namen trotz der Scheidung von ihrem Exmann behalten hatte, war eines der vielen Opfer des Second Impacts.)

Ihre Mutter war überhaupt der Grund dafür, dass das junge Mädchen sich überhaupt zu diesem „Ausflug“ hier hatte bewegen lassen – Diese arme, überlastete Frau hatte die zwei Wochen Urlaub dringend nötig.

Das Mädchen konnte es sich nicht leisten, ihre Gefühle unvernünftig und ungezügelt auszuleben, wie die meisten Jugendlichen in ihrem Alter, es war ihr nicht erlaubt, zu hassen oder keinen Bock zu haben.

(„Muss ich ein braves Kind sein…?“)

Und auch dafür verachtete sie ihren biologischen Erzeuger.

Natürlich war er schuld, nicht sie!

Natürlich war er schuld, dass sah man auch immer so in der Glotze: Ein Vater, der sich nicht um seine Kinder kümmert, weil er von Kopf bis Fuß in seiner Arbeit steckt, is per Definition ein Arschloch!

Vielleicht war diese Sicht von der Welt ja kindisch gewesen, sie wusste es nicht, ihre Meinung schwenkte immer dazwischen hin und her, dass sie die Welt damals zu einfach gesehen hatte, und das das genau die richtige Denkweise gewesen war – Sie war nur schwach gewesen, und hatte ihm erlaubt, ihr Herz zu verwirren.

Sie versuchte immer, es gegen ihn abzuhärten, bis es zu einem trockenen Stein zusammengeschrumpft sein würde, und ihn und seine Worten und Taten zu ignorieren als sei er einfach ein fremder Mann, der nichts mit ihr zu tun hatte und den sie verurteilen konnte wie einen fremden Mann, aber er schaffte es doch immer wieder doch, ihr dickes Fell aufzubrechen und sie zu treffen, sie erlaubte es sich doch immer wieder, aufs Neue von ihm enttäuscht zu werden.

Immer wenn sie irgendwie begonnen hatte, ihm wieder zu vertrauen, hatte sie nie etwas anderes getan, als ihm eine große, bunte Zielscheibe darzubieten.

Empfindlich sollte er sein?

Sie konnte sich nicht erinnern, das irgendwas, was sie je getan hatte, irgendwas, was sie je gesagt irgendwie fähig gewesen war, auch nur den Funken Emotion aus ihm heraus zu bekommen.

Gut, da waren diese Tränen gewesen, als ihre Mutter endlich den Schlussstrich gezogen hatte, aber das war zu wenig, viel zu spät.

Und überhaupt, dass er den Nerv hatte, sich aufzuführen, als ob sie ihm wehgetan hätten!

Das er wirklich nicht das kleinste bisschen verstanden hatte, warum das alles passiert war?

Wenn sie ihn da an seinem Mikroskop sitzen sah, mit einem dünnen lächeln, wenn er von seiner Arbeit erzählte, mit diesem, diesem Leuchten in seinen Augen, das weder er noch seine Mutter je aus ihm hervorlocken konnten, dann konnte sie nicht anders, als das alles zu verfluchen und sich sehnlich zu wünschen, dass diese Augen nie wieder leuchten würden, dass diese Lippen bloß nie wieder lächeln würden, nicht wissend, das in nächster Nähe schon jemand an der Erhörung dieser Gebete arbeitete.

Wir hatten bereits geklärt, das der Aufbau in der antarktischen Basis etwa so aussah:

Plunder – Misato – Destilations-Aparillo – Mikroskop, und vor diesem unser guter alter Doktor K mit seinem Schreibblock.

Nicht geklärt blieb bis jetzt, was jenseits des Mikroskops lag: Nun, es waren erst mal ein paar Stapel vollgeschriebenes Papier, die ebenfalls dem Leiter der Expedition zugehörig waren, und danach kam ein weiteres Stück Tisch, ebenfalls besser situiert als die der meisten Kollegen im Raum, aber wohl das einzige Möbel in diesem Raum, das größtenteils leer war, bis auf einen alten, schwarzen Lederkoffer – Sein Besitzer, ein etwas jüngerer Mann mit kantigen Gesichtszügen und mitternachtsblauen Augen war dabei zu packen.

Misato zog nie eine Verbindung zwischen diesem Wissenschaftler, den sie hier ein paar Mal aus der Ferne gesehen hatte, und dem Mann, der später einmal ihr Vorgesetzter werden würde – Die traumatischen Ereignisse, die sie schon bald erwarteten, hatten beeinflusst, wie ihr die Geschehnisse kurz vor oder nach diesem Ereignis in Erinnerung geblieben waren, und zwar so, das sich das Ereignis selbst mit vorrangehender Priorität eingebrannt hatte, und überhaupt hatte sich an ihm in den Jahren dazwischen so viel verändert – Sein Aussehen, seine Gebärden, seine Art zu sprechen, und natürlich sein Standart-Gesichtsausdruck.

„Katsuragi!“ rief er seinem Kollegen zu, mit diesem unerschrockenen Grinsen, das offen zeigte, dass er wesentlich mehr wusste, als so ziemlich jeder hier.

„Haben Sie irgendwo noch eine Kopie von Zwischenbericht 41?“

Ohne erst zu antworten legte Katsuragi seinen Stift beiseite und tastete von der Zwischenfrage erkennbar leicht genervt auf den Papierstapeln neben seinem Mikroskop umher, kam aber schnell zu dem Schluss, dass er seine Augen brauchen würde, um das Dokument zu finden, sodass er sich von seinem Mikroskop löste, aus seinen Unterlagen heraussuchte, und ein paar zusammengetackerte Blätter herausholte, um sie seinem Kollegen zu überreichen.

„Hier, Rokubungi. Wirklich Pech für sie, so kurz vor dem großen Experiment nach Japan zurückgerufen zu werden…“ Katsuragi steckte seinen Arm in seine Tasche, kramte ein Wattestäbchen heraus und reichte es seinem Kollegen. „Wir brauchen immer noch eine Probe menschliche DNA für das Kontaktexperiment. Ich denke, wir nehmen Ihre, dann sind Sie wenigstens spirituell dabei…“

Ein weiterer Tropfen der roten Substanz löste sich und landete mit einem sachten Geräusch im inneren des Erlenmeyerkolbens.

Rokubungi nahm die Wattestäbchen entgegen, öffnete die Packung…

„Ich denke ja immer gerne an dieses alte Gleichnis mit dem Vogel, der Kuh und dem Misthaufen. Glück und Pech sind nicht immer gleich zu erkennen…“ …und reichte alles wieder zurück, nachdem er eines der Stäbchen herausgeholt und an der Innenseite seiner Wange entlanggestrichen hatte, größtenteils, um einem toten Mann seinen Willen zu lassen.

Ave Cäsar, morituri te salutant!

Katsuragi packte das Stäbchen gleich in ein Reagenzglas, das er zuvor aus einer Schublade seines Tisches geholt hatte und direkt mit einem Plastikstopfen verschloss.

„…wer weiß, ob Ihnen nicht alles hier in die Luft fliegt!“

Und er hatte nicht die geringsten Probleme damit, es wie einen seiner üblichen, etwas penetrant eingeschobenen Witze klingen zu lassen, wie sein Kollege sie schon kennen dürfte, ohne das ihnen je etwas daran verdächtigt erschienen wäre.

„…Unsinn, das kann nicht geschehen.“ Versicherte Katsuragi zuversichtlich, während ein weiterer Tropfen in das Glas fiel und die zwei größeren Flüssigkeitsansammlungen auf dessen Boden zu einer verband.

Selbst während dieser recht kurzen, relativ arbeitsbezogenen Konversation hatte Katsuragi schon mindestens sechs Mal mehr oder weniger gewollt oder offensichtlich zu seinem Mikroskop hinüber geschielt, und kribbelte es in ihm schon danach, weiter hineinzuglotzen – gut möglich, dass er davon wirklich so abgelenkt gewesen war, dass er ernsthaft nicht gemerkt hatte, wie all die „VIPs“ sich in letzter Zeit geschlossen verabschiedet hatte, angefangen mit Keel und nun beendet mit Rokubungi selbst.

Der hatte sich sein eigenes Grab geschaufelt, da ließ dich auch sonst nichts machen.

Rokubungi fand das ganze entfernt amüsierend und machte sich nicht wirklich die Mühe, es zu verbergen.

„Wollen sie nicht wenigstens ihre Tochter von hier weg schaffen? Ich muss ohnehin nach Japan, sie könnten mir die Adresse ihrer Ex geben, damit ich sie dort „hinterlegen“ kann…“

Der Vorschlag wurde natürlich nicht ernst genommen, nicht, dass das er selbst besonders ernst geklungen hatte – Es war mehr eine beiläufige Bemerkung ohne wirkliches Gewicht.

„Sie sind ja ungewöhnlich altruistisch heute. Vielleicht sollten Sie, bevor Sie gehen, noch einmal bei der Krankenstation vorbeischauen. Oder freuen Sie sind sie einfach nur so sehr darauf, ihre Verlobte wieder zu sehen?“

„Oh, nicht nur darauf. Sie hat heute Morgen angerufen, mit einem tollen neuen Vorwand, und endlich schnell schnell unter die Haube zu kommen. Sie ist schwanger, wie's aussieht.“

„Ich denke, das ist voll und ganz Ihr Problem, Rokubungi…“

Es war ein offenes Geheimnis, das Katsuragi unter einer oberflächlichen Illusion von Kollegialer Zusammenarbeit nichts besonders viel auf diesen zwielichtigen, penetranten Schleimbeutel hielt – oder vielleicht war er einfach nur neidisch auf das Glück dieses Kerls, der gar nicht so viel anders gewesen war, als er selbst, nachdem seine eigene Ehe so spektakulär in die Brüche gegangen war.

Rokubungi selbst hatte freilich eine wesentlich kürzere Meinung zu seinem älteren Kollegen: Dr. Katsuragi Byakuya war ein arroganter, nur auf seinen eigenen Ruhm bedachter Dummkopf, der den Wald vor lauter Bäumen nicht sah, und wenn der heutige Tag sein Ende erreichte, dann würde er seinen Nutzen genau um einen Tag überlebt haben.

Was nicht heiß, dass er das mit dem Alten nicht doch irgendwo bedauerlich fand, aber das war, alles in allem betrachtet, recht weit unten auf seiner Prioritätenliste.

Selbst, als er, nachdem er die letzten Akten in seinen alten Koffer gestopft und dessen Sicherheitsverschlüsse versiegelt hatte, und sich zum Gehen gewendet hatte, noch einmal inne hielt und sich ein letztes Mal zurückdrehte, war das durch Dinge bedingt, sie auf dieser Liste weiter oben standen – Alles in allem war es großes Glück, dass seine Frau ihm die Neuigkeiten über das Telefon gesagt hatte – Er wäre eine alptraumhafte Szene geworden, wenn sie diesen Ausdruck absoluten Schocks und völliger Entgeisterung gesehen hätte, aus dem seine erste Reaktion bestanden hätte.

Mit Ausnahme seiner Wenigkeit würde jeder in diesem Raum schon sehr bald die Radieschen von unten sehen, es war also nicht mehr von Konsequenz, was er hier vor seinem Abflug noch tat, er würde der einzige sein, der davon noch irgendwelche Erinnerungen zurückbehielt.

Also konnte er diese Frage jetzt genauso gut stellen, auch, wenn schon der Gedanke daran uncharakteristische Risse in seine Fassade brachte; Seine Fingerspitzen zuckten, den allerersten Teil der Bewegungen ausführend, die zur Bildung einer Faust nötig waren, aber letztlich doch mitten drin aufhörend.

„Sag mal, Katsuragi… nur mal so…“ und dort fand ein kleines bisschen seiner Verunsicherung ihren Weg in sein Gesicht und seine Stimme, auch, wenn er deren Fluss gleich danach wieder abwürgte, und eine bröckelige Version seines üblichen Gesichtsausdrucks widerherstellte.

„Wie ist das eigentlich mit der Kindererziehung? Muss ich da was beachten?“

Katsuragi hatte jedwede verräterischen Regungen auf dem Gesicht seines jüngeren Kollegen jedenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verpasst, zumal er schon wieder direkt in sein Mikroskop starrte.

„Haben Sie was gesagt, Rokubungi?“

„Nein, nichts…“

Er machte sich auf den Weg zum Ausgang, und die Tür, die mehr mit einer etwas groß geratenen Luke hatte, durch die ein Mann von Rokubungi’s Statur nicht hindurchgehen könnte, ohne vorbereitend den Kopf einzuziehen, und dieser Weg führte vorbei am am Ende des Raumes abgestellten Plunder und somit auch vorbei an Katsuragis griesgrämig vor sich hin blickender Tochter.

Letztlich konnte sie es sich doch nicht verkneifen – Sie sprach nicht so laut, wie sie hätte sprechen müssen, um sicherzugehen, dass ihr Vater sie trotz des ganzen Geräuschpegels hier mit Sicherheit verstehen würde, aber sie hielt ihre Stimme auch nicht leise genug, wie sie es hätte tun müssen, um zu verhindern, dass er es aufschnappen würde: „Der da ist so ziemlich der letzte, denn sie da fragen sollten. Meine Mutter hat diesen Versager da aus gutem Grund rausgeschmissen.“ Zischte sie dem jungen Kollegen ihres Vaters im Vorbeigehen zu.

Es war offensichtlich, dass sie für den Mann, der sie mit hierher gebracht, keine noch so kleine Unze Respekt mehr übrig hatte – Man brauchte gar nicht darauf zu hören, was sie eigentlich sagte, dass sie es überhaupt erwägte, ihn vor seinen Kollegen so zu unterminieren, ließ keine andere Feststellung übrig, ohne, dass sie ihren Hass unterschwellig, aber doch voll beabsichtig mitschwingen ließ.

(Ihr Gedanke war: „Wenn ich auf deine tolle Reputation als Wissenschaftler trete, wärst du dann traurig? Würdest du wütend werden? Würde das dann die Gefühle aus dir herausholen, die ich dir niemals Wert war? Wenn ich auf etwas ziele, dass dir wirklich wehtut, kann ich dir dann zumindest ein bisschen von dem Schmerz begreiflich machen, den du mir zugefügt hast?“)

Weiter hinten hätten aufmerksame Ohren vernehmen können, wie ein weiter roter Tropfen in Katsuragis Becherglas fiel.

Die kastanienbraunen Augen des Mädchens ließen wenig Raum für Zweifel oder freundlichere Interpretationen, verschlossen und hart, mehr, als sie das in ihrem Alter je hätten sein sollen.

Die Vorahnung beschlich Rokubungi wie ein Dieb in der Finsternis der Nacht, kam über ihn wie tausend krabbelnde Insekten – Sie war ein kalte, farblose, glibberige Sache, ein Schleim, der sich durch alle seine Venen presste, und sie raubte ihm den Atem, und er begriff, dass es wohl eine der erschreckendsten Dinge war, die ein erwachsener Mann empfinden konnte – Die Angst, zu versagen, nicht auszureichen, um seiner Familie das zu bieten, was sie brauchte…

Mensch, was war die Sache mit dem alten Katsuragi doch bedauerlich, dumm wie er war, hatte er dem Projekt doch recht nützliche Dienste geleistet.

Aber so war das eben, alle Ressourcen der Organisation, inklusive des Personals waren nichts als Werkzeuge für die Umsetzung des großen Plans.

Seine Aufgabe hier war getan.

Auch, wenn es vermutlich nur der Tatsache zu verdanken war, dass sich der Ventilartige Verschluss der Tür nicht ohne ein gehöriges Quietschen betätigt hatte, schickte Dr. Katsuragi seinem jüngeren Kollegen doch tatsächlich noch ein paar Worte des Abschieds hinterher, natürlich ohne sich für einen Moment von seinem Mikroskop und seiner tropfenden Apparatur abzuwenden: „Ich wünsche ihnen noch eine sichere Heimreise, Rokubungi!“

Rokubungi grinste nur wissend und ungesehen in sich hinein.

„Machen sie sich um mich mal keine Sorgen, Katsuragi.

Schließlich werden Sie und ich uns nicht mehr begegnen…“

Und weg war er.

Katsuragi dachte sich nicht viel dabei, Rokubungi und die anderen von den höheren Etagen der Organisation gaben häufiger kryptische Bemerkungen von sich.

Stattdessen schloss er das Ventil seiner Apparatur und hielt seinen immer noch spärlich gefüllten Erlenmeyerkolben in die Deckenbeleuchtung hinein und besah sich mit einem dünnen Lächeln des Erfolgs seines Inhalts.
 

VIER JAHRE SPÄTER –
 

– WURDEN SEINE BEFÜRCHTUNGEN REALITÄT.
 

„Ich will zu meiner Mami! MAMI!“ verlangte der kleine Junge, überströmt mit Tränen, aber doch nicht frei von diesem simplen, fordernden, kleinkindlichen Trotz, die kleinen Händchen zu Fäusten geballt.

„Das… das geht im Moment nicht-“

„MAMI! Ich will endlich meine Mami!“ beharrte das Kind wie ein steckengebliebene Schallplatte. „MAMI! MAMI!“

„…Shinji… hör bitte zu, deine Mutter… ist nicht mehr…“

„MAMI! Ich will zu meiner Mami!“

„… Sie… sie wird natürlich immer bei dir sein, aber…“

„MAMI!“

„Hör bitte zu, Shinji… deine Mutter ist nicht mehr länger-“

„MAMI! UUUAAAAHAHÄÄÄ, Ich will endlich zu meiner Mami!“

„Willst du nicht… mit Tante Naoko spielen gehen, gerade jetzt ist-“

„NEIN!“ entgegnete die kleine Stimme fast schon beleidigt, als hätte er in irgendeiner Form die Kompetenzen ihres Besitzers bedeutend in Frage gestellt, auch wenn man sich fragen könnte, welche Kompetenzen das bei einem dreijährigen Kind wohl sein mochten. „Ich hab gesagt, ich will meine MAMI! SOFORT! GENAU JETZ‘!“

„Shinji, so hör doch zu, deine Mutter… ist nicht mehr auf dieser Welt, versteht du? Ich… ich kann sie nicht hierher holen, verstehst du? Also bitte, bitte hör endlich auf zu weinen-“

„MAMI! MAMI!“

Ernüchterung machte sich breit. Natürlich. Was erwartete er auch von einem dreijährigen Jungen, dass er das verstehen würde…

Dieses Kind blickte zu ihm auf, mit diesen großen, blauen Augen und jenem naiven Vertrauen, dass all diese kleine Kinder darin hatten, dass ihre Väter alles vollbringen können, und er sprach langsam und deutlich, um sicherzugehen das er auch durch seinen ungeübten Kleinkindermund mit Sicherheit verstanden werden würde:

„ICH. WILL. MEINE. MAMI!“

Ikari fühlte nur noch diese lähmende Machtlosigkeit.

„MEINE MAMI!“

Dabei hätte er alles für sie getan, ihr jeden Wünsch erfüllt…

„MAMI!“

Aber ihr ältester, ihr stärkster Wunsch war der nach dieser Familie gewesen, nach diesem Kind hier.

„MAMI!“

Und gerade dort hatte er schon von immer an seine Unzulänglichkeiten befürchtet.

„MAMI!“

Es war nicht so, als ob er es nicht verstehen würde – Wenn sie sich zu diesem Experiment gemeldet hatte, dann nur, weil die davon ausgegangen war, dass sie beide in Ordnung sein würden, falls so etwas passieren würde. Dass sie es schaffen würden.

„ICH WILL JETZT SOFORT MEINE MAMI!“

Überhaupt nichts war in Ordnung.

Überhaupt nichts machte mehr Sinn.

„MAMI!“

Die Eine war fort.

„MAMI!“

Und das endlose Schreien dieses Kindes war fast schon in das Hintergrundrauschen hinein verschwunden.

„MEINE MAMI!“

„Shinji… hör auf zu weinen…“

„MAMI!“

„Willst du vielleicht… deine Schmusedecke, oder…“

„MAMI!“

„Einen Keks? Oder willst du deine Zeichentrickfilmchen gucken?“

„MAMI!“

„Oder… vielleicht dein Spielzeugxylophon?“

„Ich hab schon gesagt, was ich will. Ich will meine Mami!“

„Shinji… sie ist nicht mehr hier…. Du hast doch… du hast es doch selbst gesehen, dass sie…“

„MAMI!“

„Hör bitte… hör bitte auf zu weinen…“

„MAMI!“

„Hör auf… hör endlich auf…“

„MAMI!“

„Deine Mami ist nicht mehr hier! Da kann ich auch nichts machen!“

Das war jetzt etwas lauter, als er es beabsichtigt hatte.

Und dann war diese unnachgiebige kleine Stimme auf einmal unheimlich still und unvermittelt anklagend.

„Quatsch. Du hast sie doch dahin gebracht, wo dieser große Roboter war, oder?“

Stille.

Lähmende Sprachlosigkeit.

„DU hast sie dahin gebracht, DU warst das, also bringst DU sie auch wieder zurück!“

Ikari spürte seine Fingerspitzen zucken.

Und seine Augenbrauen.

„ICH WILL ENDLICH ZU MEINER MAMI! Immer nur in deinem Büro zu sitzen ist doof, Papi! Ich will zu Mami! Ich will zu meiner Mami!“

„Shinji…“

„ZU MEINER MAMI!“

„Shinji…!“

„MAMI!“

„HÖR AUF ZU WEINEN, SHINJI!“

Jetzt hatte er es getan.

Auf einmal waren da seine Hände, fest in die unsanft durchgeschüttelten kleinen Schultern gekrallt, und dieser furchtsame, panische Blick in diesen Augen, die seinen eigenen so ähnlich waren.

Als er seine Hände von dort löste, verschwendete der kleine Junge keine Zeit damit, ängstlich zurück zu weichen – aber auch Ikari selbst wich zurück, heraus aus der hockenden Position, in dem er dem Kind bis jetzt gegenübergestanden hatten, einen Schritt, zwei Schritte und wieder auf die Knie.

Zum ersten Mal in seinem ruchlosen, reuelosen Leben hatte Ikari Gendo das Gefühl, etwas grundlegend falsch gemacht zu haben.

Und es war nichts, dass er wiedergut machen konnte.
 

Das verängstigte Kind brach in Schluchzer aus, nun erst recht untröstlich;

„Ich will zu meiner Mami! Hol sie zurück!

Hol sie zurück! Hol sie zurück!

Ich will zu meiner Mami, also hol sie zurück!
 

---
 

„Ja, allerdings, Ikari-san, sie hätten das sehen sollen, ein wirklich putzige Geschichte… Das ist fast wie damals, als er fünf war, und mich mit diesen großen Kulleraugen angesehen hat, und dann meinte „Aber Sensei! Werfen Sie doch die Milchtüten nicht weg! Sie haben uns doch bis jetzt immer Milch gegeben, und Sie schweißen sie weg, nur weil sie es jetzt nicht mehr können…?“ An diesem Tag habe ich ihm erklärt, was Recycling ist, beziehungsweise, ich musste es, damit er wieder aufhört, zu weinen… Wirklich ein Jammer, dass Sie nicht dabei waren.“

„Jah…“

Wirklich enthusiastisch klang es nicht, mehr, als sei der Besitzer dieser Stimme mit den Gedanken in weiter Ferne.

„Ich habe hier ein paar Bilder für Sie zusammengestellt-“

„Das… wird nicht nötig sein.“

Er konnte sich schon denken, was er auf jedem von ihnen sehen würde.

Er sah, was er zerstört hatte, es war nicht so, als ob er es nicht wüsste.

Und er hatte sich von so etwas wie Bildern und Erinnerungstücken niemals zurückhalten lassen, und noch weniger in diesen letzten Jahren, seid denen sie von dieser Erde verschwunden war, und alles, was es wert war, abgebildet und in Erinnerung behalten zu werden, mit sich genommen hatte.

„Er ist schon sieben…“

Es war tatsächlich schwer zu glauben – Die Tage und Stunden zwischen ihren Begegnungen wurden immer mehr, und mehr, sein einstiges Vorsatz, zumindest für die Wochenenden hier zu sein, klang jetzt wie etwas aus einem anderem Leben.

„Ein recht empfindliches Kind …Es lässt sich wohl nichts daran machen. Er musste den Tod seiner Mutter mit eigenen Augen ansehen, und dass so früh… Er scheint sich nicht zu erinnern, weder an das Ereignis selbst, noch an irgendetwas davor oder die nächste Zeit danach, aber so ein traumatisches Erlebnis kann nie ganz ausgelöscht werden oder einfach in Vergessenheit geraten – Es ist einfach ein simpler Fakt unserer Biochemie. Aber diese Gehirne von kleinen Kindern sind noch recht plastisch, also ist Verdrängung möglich… Aber ganz verschwinden wird es nie, es ist immer noch da und belastet ihn vermutlich unter der Oberfläche mehr, als etwas, mit dem er sich eines Tages würde auseinandersetzten können…“

„Hm…“

„Ikari-san, gehen Sie schon? Ich dachte, Sie wären hier, um Shinji zu besuchen…“

Ungeachtet dieser Worte stand der jüngere der beiden Männer auf und bewegte seine schweren Schritte über die Holzdielen hinüber zum Kleiderständer, wo er sich seinen heruntergekommenen, schwarzen Ledermantel überstülpte, der seit seiner Ankunft hier noch nicht mal Gelegenheit gehabt hatte, wirklich zu trocknen.

Einen Regenschirm hatte er von Anfang an nicht mitgeführt.

Er öffnete die Eingangstür, und dahinter wüteten Himmel, Blitz und Sturm, die Tiefe Schatten in seine kantigen, harten Züge warf.

Ein letztes Mal drehte er sich noch zurück.

„Sagten Sie nicht, er schläft schon…?“

„Ja, aber Sie könnten…-“

„Nein, das wird nicht möglich sein. Ich muss los, ich kann unmöglich zwei ganze Tage aus dem Hauptquartier wegbleiben… Gibt es noch irgendwas zu berichten?“

„Nun, der Junge macht wirklich große Fortschritte mit dem Cello. Ich muss immer zu an seine Mutter denken – Sie war wirklich eine der Freuden meiner Jungend – Wenn nur jeder Schüler so wäre, wie sie. Nicht nur war sie ein Genie mit der Violine, sie war auch immer für einen intelligenten Diskurs zu haben… Und ihr Sohn scheint all ihre Talente geerbt zu haben. Es ist wirklich erstaunlich, der Junge ist ein Naturtalent…“

„Natürlich ist er das. Es ist ihr Sohn… und außerdem…“

Er machte den entscheidenden Schritt über die Türschwelle, die Tür schon hinter sich mit dem Arm ergreifend, bereit, sie zu schließen.

„…Lassen sie unser kleines Problem mit Hajime-san nur meine Sorge sein, ja? Das ist das mindeste, was ich tun kann.“

Und dann schloss er die Pforte hinter sich und stand alleine im Sturm, bis auf die Knochen durchnässt in einer Angelegenheit von Sekunden, das Gesicht verzerrt mit einem dünnen, sardonischen Lächeln.

Dieses Kind wusste also wirklich gar nichts mehr von alledem?

Ein Teil von ihm kam zu dem Schluss, dass es so wohl zum Besten sei, ein anderer kam nicht umhin, sich nur ein kleines bisschen beleidigt zu fühlen.

Der kurze Teil ihrer beider Leben, den sie gemeinsam verbracht hatten, würde wohl auf ewig sein Geheimnis bleiben.
 

Was keiner von den beiden Männern wusste, war, das ein Teil ihres Gespräches nur eine Schiebetür entfernt von einem kleinen Jungen belauscht worden war, den zunächst einmal das Gewitter geweckt hatte; Doch es war das unbekannte Automobil, dass er beim Blick aus seinem Zimmerfenster erblickt hatte, dass ihn den ganzen Weg hierher gelockt hatte.

Und er hatte die Teile des Gesprächs, die sich im Wohnzimmer ereignet hatten, wesentlich besser verstanden als die auf dem Flur.
 

Als er am nächsten Morgen erwachte, war das Automobil jenseits des Fensters natürlich verschwunden, keine besonderen Geräusche konnten aus dem Rest des Anwesens vernommen werden, keine vertrauten Stimmen und auch keine Fremden, und sein Lehrer kam auch nicht mit der Anweisung zu ihm, dass er sich doch fein anziehen möge, wie sonst, wenn irgendwie Besuch kam.

Und so weit, wie das mit seinem jungen Verstand eben ging, versuchte er, zu begreifen, warum das wohl so war.

Er versuchte es wirklich sehr, aber es wollte und wollte einfach keinen Sinn machen.

Aber es blieb, dass es in der Welt, in der er lebte, eine Gegebenheit war, dass er diese schwarze Limousine nur sehr, sehr selten sah, immer seltener und seltener, aber nicht ganz so selten, wie der Mann, zudem sie dazugehörte.

Und mit der Zeit verwischte das Bild des Mannes und ließ einfach nur einen düsteren Schemen zurück, und selbst das Bild der schwarzen Limousine verwischte, einfach, weil er sie so, so lange nicht mehr gesehen hatte, und er begann sich zu fragen, ob es überhaupt eine schwarze Limousine gegeben hatte, und einen Mann, der sie besessen hatte, und vergaß, das zu diesem dunklen Schemen, der in der Welt seiner Gedanken mittlerweile einfach nur alles schlechte repräsentierte, mal eine schwarze Limousine gehört hatte.

Oder vielleicht war das auch nachträgliche Zier, die aus einer späteren Perspektive hinzugefügt worden war, später, als die fragenden Blicke eines kleinen Jungens den finsteren Grübeleien eines desillusionierten Jugendlichen gewichen waren, nach jenem schicksalhaften Besuch am Friedhof, nach dem die schwarze Limousine ein für alle mal verschwunden geblieben war.
 

Freilich, hätte man ihn so betrachtet, hätte man den jungen Ikari Shinji nie für jemanden gehalten, der einen Groll hegen könnte – Seine Manieren waren immer perfekt, seine Kleidung tadellos, seine Existenz fast unsichtbar, ohne, dass er darum bemüht schien, dies zu ändern.

Artig, still, leise, und im Stillen vor Einsamkeit brennend.

Furcht- und Gehorsam.

Aufmerksam, Freundlich und Hilfsbereit, wenn man ihn erst mal kennenlernte.
 

Doch dieses große Haus, aus dem sich die Klänge seines Instruments gelegentlich in das Dorf verbreiteten, hatte einen Garten, und in dem gab es diese hintere, Ansatzweise verwilderte Ecke, mit der sich keiner wirklich seine Mühe gab, weil sie nicht zur Straße oder zu den Nachbarn hinzeigte, sondern nachhinten in das offene Land zeigte.

Dort gab es eine halb-vergessene, gänzlich mit Kletter- und Schlingpflanzen überwucherte Hütte, in die vermutlich schon seit Jahren niemand mehr hineingegangen war, und in ihrer Nähe stand ein alter, knorriger Eichenbaum, dessen weite Krone trotz der Mistel, die man darin deutlich erkennen konnte, noch angenehmen Schatten spendete.

Dort, wo die Disteln auf ihn warteten und der Löwenzahn seine Ankunft begrüßte, lehnte er sich oft an diesem dicken alten Baumstamm, oft, nachdem er nach einer längeren Musiziersitzung seine gesamte Energie in Töne hineinkanalisiert hatte, und blickte flehend auf zu den ewigen Sternen in ihrem endlosen Vakuum.

Und manchmal hatte er dort unten einen Traum, von seelenfressenden lila Maschinen, kleinen, blauhaarigen Mädchen und unmöglichen Wahrheiten, Träume, in denen er gar nicht gehorsam war, leise schon gar nicht und zu überhaupt niemanden mehr freundlich.
 

Und wenn er daraus erwachte, und dann die Sterne sah, erschienen sie ihm nunmehr wie Löcher im Himmel, die ein gleißendes, endloses Licht dahinter durchscheinen ließen, und er wünschte sich, er könnte seine Hand austrecken und diese Plane fortreißen, auf dass dieses Licht frei herausfließen und alles hier verschlingen würde, dieses schreckliche, unfaire Leben und diese scheußliche, grausame Welt.

Wirklich erschreckend, dass das seine eigenen Gedanken gewesen waren…

Und der Junge begann zu hassen.
 

---
 

Im bläulichen Licht des Computer-Monitors, der nach und nach zu ihrer einzigen Lichtquelle geworden zu sein schien, nahmen Dr. Akagis ohnehin schon feste, scharfe Züge durch die hart begrenzten Schatten beinahe schon einen dämonischen Touch ab – Das falsche, unnatürliche Licht legte die falsche Unnatürlichkeit ihrer selbst noch einmal offen, jetzt, wo sie entfernt an ihrer sechsten Kaffeetasse nippte, und die Schminke in ihrem Gesicht so langsam dabei war, sich aufzulösen, und dort, wo es dabei war davonzubröckeln ihre alternde, übermüdete Haut freizulegen, deren Zustand sich durch den ständigen Kontakt mit den Chemikalien, die ihre Makel eigentlich verbergen sollten, nicht wirklich verbessert hatte, und das von den ständigen Colorationen ausgelaugte Haar hatte den Glanz verloren, den ihr überteuertes Schampoo ihnen gestern Morgen verliehen hatte.

Es war schon spät in der Nacht, aber dass hier hatte bis morgen erledigt zu sein – Aber sie kannte das schon: Wenn man sich erst mal eine Weile gegen die Müdigkeit aufgelehnt hatte, hörte ihr sog wieder auf und wich einer kühlen Angeregtheit, insbesondere, wenn man auch hier etwas mit Chemie nachhalf, dieses Mal die Substanzen in ihrem dunklen Getränk.

Intelligenz geht letztlich mit Werkzeug-Denken einher – Die Menschen erkannten nicht einfach irgendwann einmal, das bestimmte Zusammenhänge bestimmte Ergebnisse hervorbringen, vielmehr hatten sie sich schon immer gefragt, wie man diese Zusammenhänge benutzen, in ihre Dienste einspannen können, wie man die frisch entdeckte Ursache einsetzten könnte, um die gewünschte Wirkung zu erzielen – Um an Wissen um des Wissens willen zu glauben, war Dr. Akagi trotz des Kittels, in dem sie steckte, wesentlich zu zynisch.

Das der Mensch in seinem Bestreben, alles zu beheben, was er als Mangel empfindet, vor sich selbst halt machen würde, aus irgendeiner schwammigen Moral heraus, war einfach tödlich naiv, und da waren die Resultate: Ihr Handwerk hatte sie schöner gemacht, größer, Immun gegen eine Vielzahl von Viren, sie konnten ihr Aussehen formen, wie sie es wollten, und sich auch leistungsfähiger machen, selbst eine Stimmung, die ihnen nicht gefiel, brauchten sie in den Zeiten heutiger frei erhältlicher Beruhigungspillchen nicht länger zu erdulden.

„Was Hamlet einst mit Hohn sagte, lassen heutige Schriftsteller Picard mit überzeugen sagen: Was ein Wunderwerk ist der Mensch! Wie nobel in seiner Vernunft, wie unendlich in seiner Fähigkeit! In Form, in Bewegung, wie rasch und tugendhaft. Wie göttlich in seinen Handlungen…“ Und dazu der Zusatz das alles, was an dieser Liste noch nicht erreicht war, lediglich etwas auf sich warten ließ, dass sie dies eines Tages „werden“ würden –

Beharre nicht auf der Welle, schreibt Brecht, und es scheint zu stimmen, dieses „werden“ scheint nicht etwas zu sein, dem man sich entziehen konnte – Als sie frisch an die Universität kam, jung, unsicher, mit dem Kopf voller Dinge, die andere Leute dort hinein gepackt hatten, all diesen Idealen von Unabhängigkeit und Professionalität hätte sie nicht gedacht, dass sie etwas mit Make-Up würde anfangen können, doch es war einfach nur noch nie jemand da gewesen, der sich die Zeit genommen hätte, sie zu betrachten. Sie konnte auch mit Kaffee nichts anfangen, aber mit der Zeit hatte sie sich den Geschmack für das Zeug schon noch angeeignet, sie musste es, hätte sie es nicht getan, wäre sie anderen gegenüber im Nachteil gewesen, wenn sie nicht von der zusätzlichen Zeit Gebrauch machte, die man mit Koffein erhalten konnte, wäre schlichtweg übergangen worden, wenn sie sich nicht dem Verlangen dieser Welt nach perfekten Körpern nachgab, wie sie sie aus Zeitschriften und Fernsehen anstarrten. (Es hilft nichts, die mächtigste Frau der Welt zu sein, über dein Aussehen, deine Kleidung, deine Kompatibilität als ihr persönliches Spielzeug sehen sie so oder so nicht durch) – Irgendwann muss man sich mit dem Unterschied zwischen einem bloßen Trend, einer Zeit, die einem persönlich nicht gefiel, und dem unaufhaltsamen Fortlauf der Evolution.

Also saß sie da, mit bröckelnder Schminke, halb an der Tasse hängengebliebenem Lippenstift, verwischter Wimperntusche, durchbohrten Ohren, gebleichtem Haar, bemalten Nägeln und zwei Pölsterchen Silikon in der Brust, nicht übertrieben, dezent gehalten, aber doch eine Verbesserung im Vergleich zu vorher, etwas näher daran, wie diese Frau ausgesehen hatte… – Heute war die Person, der diese Geschenke gegolten hatten, nicht dazu gekommen, die ihm dargebotene Frucht zu pflücken, bevor sie begonnen hatte, matschig zu werden.

Ihre Nägel, die sie sorgsam und feilte, schmückte und bemalte, obwohl sie wusste, dass sie eines Tages abgeschnitten würden, das Haar, dass sie polierte bis es glänzte, obwohl sie genau wusste, dass es eines Tages abgeschnitten werden würde, die Hautschuppen, sie sie sorgsam einremte, obwohl sie schon bald abgestorben und abgelöst sein würden – Wie kam es, dass Dinge, die man als Stolz und Schönheit einer Person sehen konnte, sich so schnell in eklige, widerliche Dinge verwandelten, die niemand mehr sehen wollte? Bäh, abgeschnittene Fingernägel. Igitt, lose Haare.

Vielleicht, weil uns diese Dinge etwas zu sehr daran erinnern, wie wir selbst aussehen könnten, wenn wir tod sind, an unsere eigene Sterblichkeit und Vergänglichkeit.

„Menschen sind keine Maschinen“? Der Widerhall von Misatos Worten ließ Dr. Akagi seufzen, aber nicht aus irgendeiner Regung ihres Gewissens herraus, sondern durch die Ironie.

Es gab da, natürlich, etwas, das sie Misato nicht gesagt hatte.

Die ersten Zeichen waren bereits zu sehen – Zunächst hatte sie ja vermutet, dass es für ihn länger dauern würde

Eigentlich hätte dieses Ergebnis schon bei den allerersten Tests an diesen göttlichen Kampfmaschinen offensichtlich werden sollen: Eins mit einem gottgleichen Wesen zu werden, seine Macht und Stärke in den Händen zu halten, als wäre es die ganz eigene, und danach zu einer normalen, menschlichen Existenz zurückzufinden, als sei nichts geschehen, war einfach von Anfang an unmöglich gewesen.

Es war letztlich nur natürlich.

Diese Kinder… waren bereits…
 

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Clark Stradlatter hatte diese beiden eigentlich nur recht flüchtig gekannt; Es gab einige Bilder, auf denen sie alle zusammen drauf waren, aber die waren meist durch Fräulein Ikaris großes Faible dafür bedingt, möglichst viele ihrer Freunde und Verwandten aufs selbe Foto zu quetschen, sie war bei weitem nicht naiv und auch bestens emanzipiert, aber das ganze häusliche Familienidyll reizte ihre romantizistische Ader.

Mit der Frau selbst hätte er ja eher etwas anfangen können, doch den Mann und den Sohn kannte er eigentlich nur vom Hallosagen und auch nur, weil die Ikaris, insbesondere die Dame des Hauses, gut mit dieser verrückten Frau befreundet gewesen waren, die er bis vor kurzem noch seine Freundin genannt hatte… wieso er sie vor langer, langer Zeit einmal dazu gemacht hatte, konnte er im Nachhinnein nicht mehr benennen… ihretwegen war er überhaupt hier, auch, wenn ihn ursprünglich eine andere Angelegenheit nach Japan geführt hatte…

Aber wenn er schon mal hier war, verlangte es schon allein die Etikette, dass er diesem Ort einen Besuch abstattete, sodass er schließlich doch seinen Weg hierher gefunden hatte, zu dieser schlichten, schwarzen Grabsäule, mit einem Schriftzug in einer eckigen, dünnen, angemessen ernsthaft wirkenden Schrift mit ein paar wenigen, aber vielsagenden Worten darauf – Makinami Murasaki, 1971 bis 2005.

Und sie war nicht die einzige, die hier zum liegen gekommen war, das Grab ihrer alten Freundin Yui war hier ganz in der Nähe – Was seine Freundin geritten hatte, um dieses Experiment nach den Fiaskos hier und in Deutschland noch durchzuziehen, würde sich Stradlatter nie erklären können, aber er könnte sich nicht entsinnen, dass die Taten und Aktionen dieser Frau jemals Sinn gemacht hatten.

Nach ihrem Tod hatte er begonnen, das ganze aus einem recht entzauberten Blickwinkel zu sehen…

Eigentlich hätte er nicht gedacht, irgendwelche von den nicht ganz unschattigen Gestalten, mit denen sich diese Frau assoziiert hatte, jemals wiederzusehen, auch wenn seine eigene Familie, einflussreich, wie sie war, ebenso in diese zweilichtigen Machenschaften verstrickt gewesen war, auch wenn er Makinami Murasaki erst durch ihre gemeinsame Verstrickungen in diese Verschwörungen überhaupt kennen gelernt hatte, er wollte nichts mehr damit zu tun haben – aber wie es entweder das Schicksal oder der Zufall so wollten, war Stadlatter an diesem Tag nicht der einzige, der ein Kind zum Grab seiner Mutter zu eskortieren hatte.

Wenn Ikari Stradlatter erkannte oder auch nur zu Kentnis nahm, dann merkte man es ihm jedenfalls nicht an – Stradlatter selbst hätte die beiden beinahe selbst nicht erkannt, doch als er es tat, blieb er erst mal leicht geschockt stehen.

Gepflegt hatte der Kerl ja noch nie ausgesehen und das war Stradlatter, der von Haus aus gelernt hatte, auf korrektes Auftreten und Betragen Wert zu legen, keinesfalls entgangen, (Stradlatter selbst trug einen pikfeinen, makellosen schwarzen Anzug, der ein sündhaften Vermögen gekostet hatte) aber der Unterschied war einfach zu krass – Der Mann sah nicht aus, als hätte er in den letzten Monaten besonders viel geschlafen, viel Sonnenlicht auf sein Gesicht bekommen, oder sich viel Zeit für eine ordentliche Mahlzeit genommen hätte, und auch mit dem Rasieren schien er nachlässig geworden zu sein; Das penetrante Grinsen, das Stadlatter auf anhieb unsympathisch gewesen war, als seine frühere Lebensgefährtin sie bekannt gemacht hatte, war restlos verschwunden. Es ging nicht so weit, dass er nicht mehr präsentabel gewesen wäre, aber im Vergleich zu vorher hätte er problemlos als sein eigenes Gespenst durchgehen können, und das Kind sah auch nicht viel besser aus.

Auch wenn der stille kleine Junge nah genug neben seinem Vater herlief, hatte dieser ihn nicht an die Hand genommen; stattdessen behielt das Kind seine kleinen Ärmchen dicht an seinem Körper und blickte mit offensichtlich geröteten, tränenunterlaufenen Augen unsicher, still und ängstlich durch seine Umgebung, als würde er fürchten, sich hier jeden Moment ganz mutterseelenalleine und völlig verloren wiederfinden zu können.

Sein Vater schien alle Versuche, den Jungen in irgendeiner Weise zu Trösten oder zu Beruhigen, völlig aufgegeben zu haben, und daran, die Hosenträger des kleinen Kerlchens ordnungsgemäß zu befestigen war er wohl verzweifelt, ganz davon abgesehen, dass dieses T-Shirt da falscherum saß und trotzdem einen merklichen Fleck aufwies.

Es war auf einem Blick erkennbar, dass der Mann in Schwarz mit seiner neuen Aufgabe hoffnungslos überfordert war. Er schien es es ja kaum noch fertig zu bringen, sich um sich selbst zu kümmern, von einem vierjährigen Kindergartenkind einmal ganz zu schweigen.

Ikaris „Amtszeit“ als alleinerziehender Vater schien schon einmal ausgesprochen grottig zu laufen, (In der Tat, so „grottig“, dass er es etwa zwei Wochen und eine mittelschwere Katastrophe später komplett aufgab und den Jungen in einen Zug nach weit, weit weg setzte) und damit konfrontiert graute es Stradlatter vor seiner eigenen Zukunft, zumal ihm nach dem Tod dieser gewissen Dr. Makinami selbst die Verantwortung zugefallen war, sich um das …Resultat ihrer Beziehung zu kümmern zu dürfen.

Er konnte sich denken, das der Aufzug von Ikaris Jungen sich aus den vergeblichen Versuchen des Mannes erklären ließ, einem wild protestierenden, vierjährigen Kind überhaupt Klamotten über zu ziehen; Stadlatters eigenes Kind, eine Tochter, war mit ihren fünf Jahren schon etwas selbstständiger und daher fähig, sich selbsttätig anzuziehen, nur, dass sie sich das, was sie sich da willkürlich aus dem Kleiderschrrank herrausgegriffen hatte, dann partout nicht mehr ausziehen lassen wurde. Der Anblick, den sie bot, war also nicht wesentlich besser, mit dem Aufzug hätte Klein-Mari locker Pipi Langstrumpf Konkurrenz machen können – Sie trug einen karierten Rock zu einer gepunkteten Bluse, und eionmal davon abgesehen, dass eine ihrer Socken gestreift war und die andere ein florales Muster trug, hatten sie sicht einmal dieselbe Länge. Ihr langes, braunes Haar hing ihr schwer über den Rücken, war aber teils zu ohne besonde Symmetrie angeordneten Zöpfchen verschiedener Größen geflochten. Die Zöpfe selbst inkorporierten hier und da Acessoires wie Plastikferzierungen an den Zopfbändern oder eingearbeitete Fäden und Kunstfedern, und über das große Glas mit Gewürzgurken, das Mari nur halten konnte, indem sie ihre kleinen Ärmchen komplett fest drumherum schlang, wollte er gar nicht denken.

Stradlatter betrachtete es als eine persönliche Niederlage.

Die Kleine war ja schon immer recht eigen gewesen, wie sollte es bei dieser Mutter auch anders sein, aber seid deren Tod schien sich das kleine Mädchen in einen regelrechten Strudel aus Phantasien hineingeflüchtet zu haben, vielleicht, um die grausame Realität nicht ertragen zu müssen…

Mari selbst hatte sich derweil zu dem anderen Kind hinübergesellt und blickte ihn mit großen Augen an, ohne ihr Gurkenglas loszulassen.

„Hallo.“ Begann sie knapp. „Lange nicht gesehen.“

Eine Antwort kam nicht, doch Klein-Mari ließ sich davon nicht beirren, sondern setzte das Gespräch dann halt eben selbst fort.

„Kennst du mich noch?“

Klein-Shinji glubschte nur sichtlich konfus zurück.

„Wir haben früher oft zusammen gespielt. Unsere Mamis sind doch ganz dicke Freundinnen, und deshalb kamen wir oft bei euch zu Besucht, weißt du noch?“

Damit hatte sie das jüngere Kind jetzt wohl entscheidend verwirrt.

Ohne ein Wort zu sagen blickte er sie Hilfe suchend an, scheinbar bereit, bei der kleinsten Provokation in Tränen auszubrechen.

Das kleine Mädchen seufzte. „Na ja, macht nix, du warst ja eh fast noch ein Baby… bist du auch hier, um deine Mami zu besuchen?“

Als Reaktion auf das Wort mit M kamen ein paar leise Schluchzer.

„Ich eigentlich auch, aber ich versteh nicht, was Papa da bei diesen Steinen hier will… Papa sagt zwar, dass Mama im Himmel ist, aber da hat ihm wer Quatsch verzählt. In echt wurde sie nämlich von einem Monster in einer riesigen Ritterrüstung verschluckt, aber das darfst du keinem verraten, ja?“

Ihr sogenannter Gesprächspartner presste seine Ärmchen bei diesen Worten noch enger an seinen kleinen Körper, sich in seiner Gänze zusammenziehend und das etwas ältere Kind merklich verstört musternd.

Sie hatte mit ihren Worten eine Kette von Gedanken wieder angestoßen, die er eigentlich nie wieder berührt haben wollte…

„Is aber nich schlimm, sie hat mir aber vorher erzählt, dass wir uns wiedertreffen werden… wenn ich groß bin. Ich kann dir aber nicht sagen, wie groß, es ist eine ganz große Zahl, meine Finger reichen nicht, ich würde dazu meine Zehen brauchen, und Papa hat irgendwie was dagegen, wenn ich auf der Straße meine Schuhe ausziehe.“ erklärte Mari, als sei es die normalste Sache auf Erden.

Der Junge musterte sie suspekt von unten nach oben, wobei sein Blick unterwegs an ihrem Gurkenglas hängen blieb, in dem er etwas Metallisches glänzen gesehen hätte…

„Ach, die?“ Mari hielt das Essiggurkenglas bewusst in seine Richtung, damit er auch erkennen konnte, dass es sich bei dem vormals erwähnten Glänzen um ein paar Voodoo-mäßig mit kleinen Gesichtern bemalte Löffel handelte.

„Meine Freundinnen müssen betraaaaft werden.“ Erklärte sie betont dramatisch, das Gurkenglas demonstrativ schüttelnd. „Und die Kindergärtnerinnen auch.“

Trotzdem fühlte sie sich jetzt spontan motiviert, das Gurkenglas aufzuschrauben, und ihrer Blusenärmel zum Trotz hineinzugreifen, um, wer hätte es gedacht, eine kleine Gewürzgurke hervorzuholen.

„Auch ‘ne Gurke?“ fragte sie spontan, das Gemüse in Richtung des kleinen Jungens austreckend, der impulshaft mit einem geringfügigen Zurückweichen reagierte, sich dessen aber praktisch sofort beschämte, und statt dessen emsig den Kopf schüttelte, was ja wenigstens als eine „richtige Antwort“ durchging… richtig?

Mari zeigte jedenfalls keine besondere Reaktion darauf, sondern begann geistesabwesend an der Essiggurke in ihren kleinen Fingern zu knabbern.

„Die sind eigentlich ganz lecker, weißt du? Und die sind ganz grün und glitschig und warzig, wie die Schnauze von einem Krokodil.“

Warum das ein Vorteil sein sollte, wollte Klein-Shinji partout nicht einleuchten;

Er dachte trotzdem daran, sich zu entschuldigen, traute sich jedoch nicht dazu, zumindest nicht bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das ganze nicht mehr in seinen Händen lag, als die Situation von Stadlatter, der das Potential für Entschuldigungen scheinbar ganz wo anders sah, eingriff und seine kleine Tochter mitsamt ihrem Gurkenglas mit beiden Armen vom Boden aufhob.

„Verziehen Sie…“ rief er, deutlich in Verlegenheit gebracht zu Ikari hin, dessen kleinen Sohn, der die ganze „Unterhaltung“ über kein einziges Wort gesprochen hatte, keine besondere Aufmerksamkeit zukommend lassend.

„Die Kleine macht gerade eine schwere Zeit durch, sie ist… etwas durcheinander…“ erklärte er, was Mari selbst nur mit einem unbeindruckten Blinzeln und dem vollständigen herunterschlucken der letzten Reste ihres Gürkchens kommentierte.

„Bitte… verzeihen Sie vielmals.“ Wiederholte Stradlatter mit einer leichten Verbeugung, die seine Tochter zwang, in weiser Vorraussicht den Deckel zurück auf ihr Gurkenglas zu packen, bevor dieses überschwappen konnte.

Ikari hatte für Stradlatters Beteuerungen keine wirklichen Kommentare übrig und blieb in etwa so still wie sein kleiner Sohn, der das Spektakel unsicher aus der Distanz beobachtete und es erst mal direkt so interpretierte, als ob dieses fremde Mädchen seinetwegen Ärger bekommen hätte.

Doch Mari schien für die Anspannung ihres Vaters oder überhaupt die ganze Bedrücktheit der Situation keinen Sinn zu haben, und fand ihre Worte daher nur all zu einfach.

„Oh, hallo Gendo-kun! Lange nicht gesehen. Auch ’ne Gurke?“

„M-Mari!“ mahnte Stradlatter mehr geschockt als wütend.

Das kleine Mädchen nahm die Ermahnung jedoch trotzdem als solche zur Kenntniss und leierte gehorsam eine „akzeptablere“ Version herunter: „Ich meine, möchten sie auch gern eine Gewürzgurke haben, Ikari-san?“

Den Punkt an der Sache schien sie nicht zu sehen.

Verwunderlich war es nicht, dass sie durch den Tod ihrer Mutter ein bisschen von der Rolle war, (ein bisschen sehr) aber… so eine Beschämung, und dass auch noch an einem Friedhof.

Mit einem letzten „Verzeihung!“ machte sich Stadlatter eilig von dannen, währen Klein-Mari die ganze Situation und die dadurch implizierten Zukunfsaussichten durch ein geflegtes „Ojemineee…“ kommentierte, während sich ihr Vater mit ihr scheinbar nicht schnell genug hatte davonmachen können, den kläglichen Rest der Ikari-Familie in der Stille stehen lassend.

(Familie? Was für eine Familie?)

(Yui war das Zentrum der Familie gewesen, und wie die Gravitation der Sonne die Planeten und Asteroiden im Sonnensystem in ihren geregelten Bahnen hielt, ohne die sie chaotisch ineinander krachen und nach und nach erkalten würden-)

(…und aus diesem Zentrum war sie fortgerissen worden, und nichts als Fetzen zurückgelassen. Man konnte den Dotter aus einem Ei nicht entfernen, ohne die Schale zu zerbrechen- )

(Sie waren keine Familie ohne Yui.)
 

Keiner der beiden Männer hatte dem anderen jemals genügend Bedeutung zugemessen, um sich dessen Vornamen zu merken, doch obgleich sie beide sehr verschiedene Konsequenzen daraus zogen (Stradlatters Konsequenz war eine Geschichte für ein anderes Mal, doch soviel sei gesagt: Er nahm sich vor, sich nie wieder eingestehen zu müssen, dass dieses Mädchen etwas war, dass jenseits seiner Kontrolle war. Also im Wesentlichen ein Misstand, der behoben werden musste.), hatte dieses Zusammentreffen für sie beide zunächst die selbe entmutigende Bedeutung: Es war nur eine, von vielen Begebenheiten, die es ihnen unmöglich machten, zu leugnen, dass sie noch nicht einmal mehr den Schein davon erwecken konnten, den Pflichten, die ihnen nun zugefallen waren, in irgendeiner Form gewachsen zu sein – Wäre Standlatter ihm nicht zuvorgekommen, hätte Ikari das Schweigen seines Sohnes wohl selbst dadurch entschuldigt, dass der Junge seine Mutter noch sehr vermisse-

(Aber es war schon wesentlich länger her, als im Falle von Makinamis Tochter-)

(Und war er es nicht eigentlich selbst, der ohne Yui nicht leben konnte?)

-und sich dann selbst daran gemacht, dieses grauenhaften Ort schnellstmöglich zu verlassen.
 

Es wurde langsam Zeit, dass er sich eingestand, was ihm eigentlich von Anfang an klar gewesen war, lange, bevor er sich überhaupt dazu hatte überzeugen lassen hatte, dieses Kind überhaupt zu zeugen: Für diesen Jungen irgendeine Art von Vater abzugeben… lag weit, weit jenseits der Grenze seiner Möglichkeiten…
 

(Es gab wie erwähnt, Bilder, auf denen sie alle zusammen drauf waren –

Da war zum Beispiel dieses eine Bild, auf dem Ikari selbst nur so halb von hinten zu sehen war, erkennbar hauptsächlich an seiner Hautfarbe; Das er darauf nicht all zu gut zu erkennen war war wohl auch der Grund dafür, wieso Fuyutsuki, der das Bild zu seiner Zeit geschossen hatte, es als jenes Bild von Yui ausgewählt hatte, dass er immer in irgendeiner Form mit sich herumtrug – Von dem Zeitpunkt an an dem sie ihre Beziehung begonnen hatte, gab es kaum ein Bild, auf dem sie ganz ohne ihren späteren Ehemann zu sehen gewesen wäre.

Weiter hinten im Bild sah man dann freilich die Hauptattraktion: Dr. Ikari Yui, derem Haar hier geringfügig länger war als zum Zeitpunkt ihres angeblichen Todes, in einem langen, braunen rock und einem lockeren, ärmellosen Oberteil, mit einer grünen Tasche unterm Arm und ihrem im Angesicht der ganzen fremden Leute etwas scheu wirkendem, damals etwa zweijährigen Söhnchen darauf, welches in einem blauen T-Shirt, einer roten kurzen Hose und einem paar halb von seinen kleinen Füßchen abgerutschten Sandalen, und im Hintergrund, um Dr. Ikari herum gruppiert, Stadlatter und Dr. Makinami, noch in glücklicheren Tagen – Dr. Makinami, hier in einem kurzärmeligen, gelb-rosa karierten Kleid, die Hände in böswilliger Vorbereitung vor ihrem Körper haltend, als wollte sie eine Kitzelattacke auf das arglose Kleinkind starten, oder, falls man an das gute im Menschen glaubt, einfach nur mit dem kleinen Jungen spielen wollte, sah ihrer Tochter sehr ähnlich; Das selbe, lange, kastanienbraune Haar, das mit einer breiten, roten Haarspange zu einem Pferdeschwanz frisiert war, ein recht ähnlich strukturiertes Gesicht, auch wenn Dr. Makinamis züge letzlich etwas kräftiger wirkten, und exakt das selbe herrausfordernde Lächeln – Selbst die kurzsichtigen Augäpfel und damit die Notwendigkeit für ein Schieleisen hatte Mari von ihr geerbt.

Stadlatter war weiter im Hintergrund zu sehen, sein leicht gelocktes, braunes Haar in einem ordentlichen Seitenscheitel, seine Kleidung aber im Vergleich zu seinem späteren selbst unverfrohren lässig, dieses einfache, braune Hemd… und das ausgelassene Lächeln in seinem sehr eckigen, von einer großen Nase dominierten Gesicht, das war der größte Unterschied.)
 

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14: [Ikari's Dogma II: König der Ketzer]
 

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If you are near to the dark

I will tell you ‘bout the sun

You are here

No escape

From my visions oft he world

You will cry

All alone

But it does not mean a thing to me
 


 


 


 


 


 


 


 

Knowing the song, I will sing

Till the darkness comes to sleep

Come to me

I will tell

‘bout the secret oft he sun

It’s in you,

not in me,

But it does not mean a thing to you
 


 


 


 


 


 


 


 

The sun is in your eyes

The sun is in your ears

I hope you see the sun,

someday in the darkness

The sun in in your eyes

The sun is in your ears

But you can’t see the sun

Ever in the darkness

I does not much matter to me
 


 


 


 


 


 


 


 


 

-„Aura“, aus dem .hack//sign OST

[/venter]
 


 

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Auch er zahlte seinen Teil des Preises, wie alle anderen auch.

Ikari verlangte von niemandem etwas, das er nicht auch von sich selbst verlangte, benutze keine zweierlei Maßstäbe, sondern immer nur dasselbe, berechnende, frostige Kalkül.

Derselben gnadenlosen Logik, mit denen er die Leben anderer gegeneinander abwog wie an der Obsttheke unterzog er sich auch selbst.

Man könnte gewissermaßen eine seltsame Art der Reinheit darin sehen;

Es war nicht so, dass er keine Prinzipien hätte, keine Prioritäten, keine Linien, die er nicht überqueren würde – Oh nein, er war den Linien immer stählern gefolgt, es war nur, dass sie bei ihm wesentlich anders verliefen als bei der großen Mehrheit der Weltbevölkerung.

Es gab viele unschöne Worte, mit denen man Ikari Gendo treffend hätte dekorieren können, doch „Heuchler“ gehörte nicht dazu.
 

Als Akagi ihn sah, wie er zur Tür hinein kam, mit einem mal viel bewusster in der Wahl ihre Pose und Körpersprache werdend, sah sie vor allen Dingen den Versucher, die glitschige Verderbnis, mit der er sie überzogen hatte – Doch was sie nicht wahrhaben wollte, war, dass es einen Teil von ihm gab, den er niemals befleckt hatte, verborgen hinter einem hohen Turm aus Elfenbein und Glas, der weder Fenster noch Tür hatte und nichts einen Durchlass bot, dass nicht schon bei seiner Entstehung darin gewesen war, der Ort, wo er das bewahrte, was ihm wichtig war, was er eingefroren in der Zeit für den Moment bewahrte, an dem er alles andere abstreifen würde, wie die Imaginalscheiben in den Frühstadien eines Insektes, aus denen Flügel und Genitalien sprießen würden, sobald alles andere im Rahmen der Verpuppung aufgelöst worden war.

Auch, wenn sie sich zunächst ihres unvorbereiteten Zustands schämte, war ihre Frustration noch nicht so weit, dass sie eine Chance, die sich ihr bot, nicht annehmen würde – Wenn er sie darum bat, würde sie viel mehr erdulden als nur ein wenig Wartezeit, solange er nur zu ihr kam, solange er sie überhaupt brauchte, und sei es nur körperlich.

Immerhin konnte man im Halbdunkel sowieso nicht wirklich sehen, ob ihr Make-up nun noch perfekt saß oder nicht.

„Akagi-kun. Ich werde etwas von deiner Zeit benötigen.“

Sie bekam wirklich Hoffnungen, als er die Tür hinter sich schloss, seine Uniformjacke auf ihrem Schreibtisch drapierte und sich seinen blutroten Pullover abstreifte – Doch gerade, als die falsche Blondine mit dem rechten Arm schon halb aus ihrem Kittel geschlüpft war, und begann, sich mit den Gedanken daran, was er wohl alles mit ihr machen würde schon mal etwas „aufzuheizen“, sah sie schon die ersten Verbände auf den Boden fallen, und er fing auch prompt an, den Rest von ihnen abzulegen.

Es blieb nicht einmal Raum für ein enttäuschtes Nachkribbeln warmer Empfindungen, die sich in Vorfreude aufgebaut und nun nie wirklich „entladen“ werden würden, außer vielleicht von der Dame selbst –Bei dem Anblick dessen, was diese Stoffstreifen bis jetzt verdeckt hatten, war der Ofen direkt aus, es Bestand kein Bedarf mehr – statt dessen rutschte Dr. Akagi recht natürlich ohne sich zwingen zu müssen in den „professionellen Modus“ und beäugte die… Modifikationen mit einem analytischen Blick.

Die abgelegten Bandagen langen in Mäandern auf den Boden wie eine abgestreifte Schlangenhaut; Die Abschnitte, die einmal die Innenseite gebildet hatten, waren nun mit einem dunklen Sekret besuldelt.

Dieser Mann, so sah es Akagi jedenfalls, und sie war mit ihrer Meinung sicherlich nicht allein, musste wirklich durch und durch ein egoistisches Arschloch sein: Er stellte sich vor sie, die Haut unterhalb seiner Augen wie Pergament von all den schlaflosen Nächten, durchgearbeitet für jemand anders. Die Handflächen bedeckt mit hässlichen Verbrennungen, für jemand anders. In der Uniform, die zu einer Organisation gehörte, die er für jemand anderes führte, und die er für sie nichteinmal zuknöpfte, wenn er sie empfing.

Er kam zu ihr, nicht einmal annähernd gepflegt, gekleidet und vorbereitet wie für einen gewöhnlichen Allerweltsdienstag im Büro, selbst dann, wenn er kam, um all die vielen Schichten von Verpackung und Dekoration achtlos von ihr herunterzureißen, die sie für ihn vorbereitet hatte, und dann bat er sie auch noch, dass sie den Körper, den sie anbetete, mit ihren eigenen Händen aufschlitzen und anschließend entweihen sollte, indem sie das Fleisch und das Blut einer unmenschlichen Monstrosität hineinnähen sollte wie Styroporkügelchen in ein Stofftier, das etwas neues Füllung gebrauchen konnte.

Der Arm sah wohl am schlimmsten aus, da hatte er das Original drin, und nicht nur die Fetzten aus angezüchtetem Fleisch, mit dem er den Rest von sich entstellt hatte, die Ganzheit jedes unheiligen Greuels das die komplette Antithese menschlichen Lebens darstellte, nein, die Quelle der Monster war, und der Grund für den gegenwärtigen, ruinierten Zustand dieser Welt… oder, so könnte man aus der Sicht mancher Menschen sicherlich nicht ganz ohne Berechtigung sagen, vielleicht teilten sich die für die Verwüstung verantwortlichen Monster nun zum ersten Mal eine Form, jetzt wo die Endzeit nahte;

In jedem Fall war der Anblick hoffnungslos abstoßend.

Die Bandagen verbargen den Anblick und den Gestank zumeist sehr gut, es sah wirklich wie wesentlich weniger aus, wenn er das bedeckt hatte; er ließ diese bei ihren „Liebespielen“ natürlich dran, und sie merkte kaum den Unterschied.

Der Großteil war ja noch völlig intakt.

Und sie wusste, wie er vorher ausgesehen hatte, hatte es sich bevor sie mit dem Skalpell auch nur den allerersten Schnitt gemacht hatte, noch einmal gründlich eingeprägt, jede Ecke, jede Kante, jede Rundung und jeden Schatten in die Windungen ihres Hirns eingebrannt – In ihrem Job musste man ein gutes Gedächtnis haben, schon allein, um sich die ganzen biologischen Fachtermini zu merken.

Sie allein war die letzte gewesen, die sein Fleisch in seiner unberührten Form gesehen hatte.

Das war ihr Privileg, ob er es ihr willentlich gewährt hatte, oder nicht.

Auch, wenn von diesem Zustand hier noch sehr fern gewesen war, als sie mit ihm fertig war, und das war gar nicht so lange her.

Da waren Narben gewesen, die sie wohl nicht nur aus generellem Pflichtgefühl möglichst unauffällig zu halten versucht hatte, aber nicht… das.

Es gab keine Worte für… das.

Sie kannte Termini, trockene Begriffe auf Griechisch und Latein, die das hier einer Klasse von Phänomenen zuordnen konnten, aber das wäre, als hätte man die Quelle der Rauchschwaden, welche 2001 aus dem World Trade Center gequollen waren, bevor die Türme vollends in sich zusammen gefallen waren, als „Flammen“ bezeichnet, oder die Energiequelle der Zelle in der Atmugskette als „Knallgasreaktion.“ Ja, es wurde Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser verarbeitet, aber diese Beschreibung , korrekt wie sie war, trampelte über all die Implikationen, all die Schichten aus Bedeutung, über den simplen Fakt das Bewusstsein und Leben involviert waren, dass …. das am Körper eines lebenden Mannes nicht zu suchen hatte.

Und der fragliche Mann stand noch genau so unbeeindruckt vor ihr, wie er das eben noch getan hatte, bevor der diese Bandagen entfernt hatte, und klar, die Situation hatte sich dadurch, dass sie sie sehen konnte, nicht geändert, das war seine übliche Art dazustehen, er hatte das auch vorher so gemacht.

Das war vielleicht das, was dem intutiven Verständnis der Welt der größte Dorn im Auge war, dass er nicht schrie oder in Haltung, Mimik oder Stimmlange irgendwelche Anzeichen von Schmerzen zeigte.

Gar nichts.

Er hielt ihr einfach seine Arme hin, der Verderbnis preisgegeben wie ein von Untoten heimgesuchter Landstrich in einem Fantasy-Videospiel, die Handfläche mit dem Kronjuwel der grotesken Galerie, und sprach tonlos wie immer: „…Wirf mal einen Blick darauf. Die Assimilation scheint plangemäß zu verlaufen, aber ich möchte deine Meinung dazu hören. Das ist schließlich dein Gebiet.“

Ihre Meinung war, dass das wesentliche Problem vielleicht noch zu lösen war, wenn er sie schnell machen ließ, aber die Hand, bei der half wohl nur noch, sie komplett abzuhacken. Vielleicht sicherheitshalber noch den ganzen Unterarm, aber wenn er ganz, ganz freundlich zu ihr sein würde, würde sie sich vielleicht motiviert fühlen, sich eine Möglichkeit auszudenken, ein gutes Stück davon noch zu retten.

Doch würde er sie anhören?

„Das ist keine Abstoßungsreaktion?“

„Nein. Sieh selbst. Es ist die Assimilation.“

Dass er …das nicht als Problem ansah, für das er eine Lösung wollte, wollte ihr nicht in den Schädel. Also versuchte sie, nach bestem Wissen und Gewissen (So weit sie so etwas noch besaß.) solch eine Lösung zu bieten.

„Ich denke, da sollte man sicherheitshalber noch mal mit einer Biopsie machen. Wäre es eine Abstoßungsreaktion, hätte ich daran gedacht, die Dosis an Immunblockern geringfüging zu erhöhen, aber bei einer Kontamination von umliegenden Gewebe wäre wohl eher das Gegenteil angesagt…Andererseits könnte das zu einer starken Reaktion führen, deshalb wird es sich kaum vermeiden lassen, die Aktivität der …Probe direkt zu verringern.“

„Nein, lass es wie es ist, bis die Einnistungsphase beendet ist, wir können es uns nicht leisten, den Prozess in irgendeinerform zu beeinträchtigen, wenn er schon überhaupt begonnen hat. Das ist die einzige Chance die wir haben, diese Probe steht uns nur einmal zur Verfügung, es ist das Original… Das hier liegt soweit innerhalb der Parameter, die Sie selbst in den Versuchen mit den Kopien als tolerabel klassifiziert haben.“

„Ja, tolerabel für ein Experiment, ohne die Lebensfähigkeit einzuschränken. Tolerabel, um Resultate beim Nachfolgeexperiment mit den leeren Rei-Klonen zu liefern. Nicht für…“

Die Lebensqualität von jemandem der kein Versuchskaninchen ist.

Könnte man meinen.

„…dauerhafte Stabilität.“

„Es muss nicht ‚dauerhaft‘ halten. Nur, bis zur letzten Phase des Projekts. Sind die Werte dafür tolerabel?“

„Ich werde die Magi noch mal detailierte Simulationen laufen lassen, aber bis jetzt… Ist das mit 99, 9999999994-%-iger Wahrscheinlichkeit der Fall.“

„Gute Arbeit, Akagi-kun. Wegen der heutigen Sitzung-“

„Das entsprechede LCL-Becken ist im Nachbarraum. Ich werde es gleich holen, damit wir das fertig bringen können… Das und ein paar frische Verbände.“

Merkte sie an, ihre Seufzer herunterschluckend, und ging in, um die Bandagen einzusammeln, die er achtlos hatte fallen lassen, sichtsich bemüht, die befleckten Seiten nicht anzufassen.

Sie war sichtlich erleichtert, als diese endlich im nächstbesten Müllschlucker verschwunden waren.

Der Commanderte wartete geduldig.

Wenn für ihn die Zeit kam, Yui wieder gegenüberzutreten, würde er das tun, nachdem er diese alte, verdorbene Hülle abgetreift hatte – Er würde vor ihr erscheinen, wie sie ihn in Erinnerung hatte, denn für ihn war die Zeit nach ihrem Verschwinden genau so wenig von Bedeutung gewesen wie für sie in ihrer gegenwärtigen Form der Existenz.

Nicht wirklich.

Er war weiter vorwärts geschritten, um das Projekt zu beenden, um SEELE zu bezwingen ja, weil all dies getan werden musste, zum Wohle ihrer Welt – Der Plan hatte seid sie gegangen war auch eine gewisse, weitere… Evolution durchlaufen, aber für ihn blieben es ihre gemeinsamen Ziele.

Er sagte nie etwas anderes als das, wenn er zu ihr sprach.

Natürlich schritt er vorwärts.

Aber das war letzlich nur eine hohle Hülle, getrieben von Gedanken und Willenskraft, Willenskraft, die manch einer eindrucksvoll finden könnte, aber nicht so sehr von Gefühl.

All seine Liebe hatte immer zu ihr gehört und so war es nur treffend, dass sie alles davon bei sich behalten hatte, in ihrer zeitlosen, formlosen Welt.

Er glaubte an seine Ziele und deren Notwendigkeit aber fü sein Herz war alles dazwischen war nur eine Art Exkurs gewesen, mit dem Ziel, weiterzumachen, wo er aufgehört hatte.

Alle Farben, alle Wärme hatte sie mit sich genommen, und kein Fünkchen dagelassen.

(Wirklich nichts?)

Es gab nichts mehr auf dieser Welt, was in diesen Tiefen auch nur die geringste Regung hervorrufen konnte.

(Wirklich nicht?)

Er hätte vor 11 Jahren genau so gut selbst sterben können, hätte genau so gut tot sein können.

(Wirklich?)

Nein, er war überzeugt, dass er es hätte sein sollen.

Er hatte versucht, sie zu überzeugen, ihn selbst das Versuchskaninchen spielen zu lassen, dass sie doch die leitende Wissenschaftlerin hier sei, das Shinji sie brauche, dass sie doch Leute habe, die sie vermissen würden, wenn ihr etwas geschah …

Er hingegen…

(Er war wegen ihres Einflusses im Projekt. Natürlich. Wegen ihr. Alles Gute in seinem Leben kam immer nur von ihr.)

(Und ihn würde niemand all zu großartig vermissen, er konnte sich schon ihre Gesichter vorstellen, wenn sie alle froh waren, ihn endlich loszusein. Fuyutsuki würde wahrscheinlich gleich als erster lostürmen um „die trauernde Witwe zu trösten“. Er mochte gar nicht daran denken.)

Er war da wesentlich leichter zu ersetzten.

(Yui hatte ihm darauf eine geknallt.)

(Sie meinte, es sei ihre Erfindung und deshalb solle auch niemand sonst dieses Risiko auf sich nehmen… auch, wenn er das Gefühl nicht loswurde, dass es wie eine Ausrede geklungen hatte – Er kannte sie da gut genug. Er hatte bis jetzt nicht herausgefunden, für was, noch eine von vielen, vielen Möglichkeiten, die diese grausame Welt ihnen geraubt hatte.)

(Simple Träume, damals. )

(Damals…)

(Damals, paradoxerweise gleich nach der Ohrfeige… )

(Hatte sie ihm gesagt, dass er einzigartig sei im ganzen Universum, und dass niemand seinen Platz einnehmen könnte.)

(Das war das erste und letzte mal, das irgendjemand soetwas zu ihm gesagt hatte)

So betrachtet war er auch so schon nichts weiter als eine wandelnde Leiche, ohne sie;

Es spielte keine Rolle.

Und wenn er bei lebendigem Leibe vermodern sollte, würde es immer noch keine Rolle spielen.
 

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Und dann kam dieser eine Tag. Der Tag, an dem er, wie so oft, die Post holen sollte. Die Post holen und sie auf den Tisch legen, damit sein Lehrer sie später lesen konnte. Sein Lehrer las die Post - Die ganze Post.

Wir hatten das alles schon.

Shinji selbsthatte nie irgendjemand jemals einen Brief geschrieben, in seinem ganzen Leben nicht, weder sein Vater noch irgendjemand anders. Wie sollte ihm auch jemand schreiben, es wusste doch kaum einer, das er überhaupt existierte.

Niemand hatte ihm je einen Brief geschrieben.

Bis jetzt.

Bis zu dem Tag, an dem sich diese Tatsache, wie so unendlich viele andere Sachen für immer veränderte... An dem Tag, an dem sein Leben eine Wendung um 180 Grad nahm.

Der Tag, an dem er den Briefkasten öffnete, und die zwei Worte las, auf die irgendein Teil von ihm immer noch vergeblich gewartet hatte, obwohl sein Verstand längst begriffen hatte, dass es vergeblich war.

An diesem Tag fand er, an sich adressiert, die Worte

"Komm her."
 

Und das erste, was er tat, war es, diesen Brief zu nehmen, diesen Brief, auf dem all der Text geschwärzt war, bis auf diese paar quer hinüber geschmierten Schriftzeichen in dieser harten Doktorschrift, und ihn –großzügig! – in Stücke zu reißen, mit Genuss, und dem dünnstmöglichen Lächeln auf dieser Erde!

Ratsch!

Ratsch!

Und Ratsch!

Freude, Freude!

So etwas Intensives hatte er im Leben noch nicht gefühlt, die Entladung der Wut und Enttäuschung von Jahren, die in diesem unglücksseligen Stück Papier endlich einen physischen Abfluss bekam.

Es war, als ob die jahrelang brüsk zur Seite geschobene, verdrängte Tiefe endlich, endlich! mit der Oberfläche seines Daseins in Verbindung getreten wäre.

Oh, er hatte Gefühle!

Der Zorn war klar und stofflich, physisch manifestiert in dem reißenden Papier.

Er hatte schon so lange nicht mehr richtig gefühlt!

Fast hätte er vergessen, wie das überhaupt war, und dann, in der letzten Sekunde, kam das hier.

Ritsch!

Dieser Bastard!

Ratsch!

Diese Nerven!

Und noch mal!

Nach all den Jahren…

Und noch einmal mit Gefühl!
 

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Dr. Akagi sollte vom Zeitplan her gerade dabei sein, dem First Child die übliche Spritze zu setzten, doch das diese über die ganzen… außerplanmäßigen Projekte, vor allem alles, was Rei, aber auch Adam anbelangte, dicht hielt, das hatte ihren Preis, und Ikari, der sie derzeit wegen weiterer Experimente in seinem Büro erwartete, hatte sie vor etwa einer halben Stunde auch dafür… entlohnt.

Eigentlich sah sein eigener Zeitplan jetzt vor, in der Zeit, die Dr. Akagi für Reis Spritzen und die üblichen Routinetests brauchen würde, einige der neusten Reports seiner Spitzel durchzugehen, allem vorran Inspektor Kajis neustes Dossier, das auch deshalb erhöhter Aufmerksamkeit bedurfte, weil er daraus nicht nur das Wissen extrahieren musste, das der Autor des Berichts ihm bereitwillig offen legte, sondern auch eine Schätzung davon ausführen musste, was dieser ihm nicht sagte.

Doch um das zufriedendstellend durchzuführen, wollte es mit der Konzentration derzeit nicht ausreichen – Es war einfach ein biochemischer Fakt, das solche… Aktivitäten gelegentlich eine gewisse Müdigkeit nach sich zogen, die sich sicherlich noch verstärkte, wenn der Betroffene es insgesamt vorzog, nicht mehr Zeit als im Äußersten nötig mit so etwas wie Schlafen zu vergeuden. Es hatte einmal vor vielen, vielen Jahren eine Zeit gegeben, in der er wenig mehr genossen hatte, als sich in den warmen Armen seiner Frau der Finsternis zu übergeben, aber im Moment störte es ihn einfach beim arbeiten.

Er war also noch nicht besonders weit durch den Bericht gekommen – vermutlich würde er später ohnehin zu dem Schluss kommen, dass es besser wäre, den Bericht noch mal von Vorne zu lesen – als Rei schließlich durch die Tür seines Büros kam, nachdem Dr. Akagi anscheinend mit ihr fertig war.

Sie lief einfach nur still zu seinem Schreibtisch hin, ohne ihre Anwesenheit in irgendeiner Form bemerklich zu machen, doch meist musste sie das auch gar nicht, weil er von ihrer Ankuft zumeist notiz nahm, sobald er das leise zischen des Türöffnungsmechanismus vernahm.

Es war nicht selten, dass er, trotz ihres Hierseins erst einmal fertig machen würde, womit er in dem Moment sonst noch beschäftigt sein sollte, während sie geräuschlos wartete, doch diesesmal hatte er sie tatsächlich übersehen, und wurde sich ihrer Anwesenheit erst bewusst, als sie ihn leise ansprach: „Commander?“

„Rei. Gab es von Dr. Akagi aus irgendetwas zu vermelden?“

„Nein, nichts weiter. Aber… sind Sie in Ordnung?“

„Jah. Es ist nur diese Akagi, verschwendet andauernd meine Zeit. Was geht sie mir auf die Nerv-“ und an dieser Stelle hielt er mit einem mal inne, wie an eine alte Begebenheit erinnert, die Rei, zumindest die derzeitige Version von ihr, nicht zu benennen wusste.

Er war auch nur ein Mensch, auch er hatte solche Momente der Schwäche, er musste sie haben, einfach, weil er 24 Stunden am Tag ein Mensch war und nicht der dunkle Schatten, als den ihn so viele wahrnahmen, auch, wenn sie die einzige war, die sie zu Gesicht bekam, und dass auch nur sehr, sehr selten – Vor langer Zeit wäre es einmal seine Gattin gewesen, vor der er seine inneren Gedanken offengelegt hatte, aber da war sie die erste und die einzige gewesen. Aber da hatte es dieses kleine Mädchen gegeben, das ihr ähnlich sah, und (Sein Fehler wurde ihm klar, als er sich angesehen hatte, was die Überwachungskameras zu dem ganzen Fiasko damals „zu sagen“ hatten. ) er hatte einen Moment lang vergessen, dass sie ein kleines Kind gewesen war und als solches keinen wirklichen Sinn dafür hatte, was sie wem erzählen sollte.

Das Vertrauen zwischen ihnen war eine unterschwellige Sache, etwas, das nie laut ausgesprochen als solches genannt, aber doch für selbstverständlich erachtet würde.

Ob es nun dieses Vertrauen war, oder Nachlässigkeit seinerseits, unzureichende Aufmerksamkeit, dass sie ihn jemals verraten könnte, kam ihm gar nicht erst in den Sinn.

Er war nicht die Art von sentimenlalem Tropf der aus Mitleid und Barmherzigkeit Gefühle für ein Testsubjekt entwickeln würde, aber sie war auch nicht irgendein Testsubjekt gewesen, sie war seine formgewordene Rache an einer Welt, die ihm alles genommen hatte und der Anfang seiner Unternehmung, sich alles, was man ihm genommen hatte, was ihm scheinbar nie vergönnt sein sollte, Stückchen für Stückchen wieder zusammenzukrallen;

Und sie sah aus wie seine Frau, die er vermisste, und nicht sehen konnte, und wie sein Kind, das er ebenfalls vermist hatte, auch, wenn der Abstand zwischen ihnen hier seiner eigenen Fertigung entstammte – Diese Gefühle hatten sich nicht „entwickelt“, sie waren eigentlich schon dagewesen und fanden nun endlich einen Abfluss, nicht wirklich bewusst, nicht schwallhaft, aber doch tröpfchenweise.

Dennoch blieb es ein Fakt seiner Existenz dass er mit Verlust nicht umgehen, nichts anfangen konnte – Er hatte es nie gelernt, hatte, zu der Zeit, in der man soetwas eigentlich zu lernen hatte, nichts gehabt, was er hätte verlieren können, hatte sich nie von etwas binden oder beschränken lassen.

Bisweilen tat er so, als würden die Verluste gar nicht existieren, erzählte sich, dass sie am Tage der Prophezeihung Null und Nichtig werden würden, das alles reversibel war, dass er es wieder rückgängig machen konnte, nicht wirklich etwas verloren hatte.

Er gefiel sich in dem Gedanken, dass er dieses Mädchen von den Toten auferweckt hatte, wie er es auch mit seiner Geliebten zu tun gedachte, und gleichzeitig hätte er es unmöglich übersehen können, nicht, wenn er mit solcher Regelmäßigkeit mit ihr zu tun hatte – Vorher hätte er es für eine belanglose Bagatelle gehalten, aber niemand, der schon mal mit kleinen Kindern zu tun hatte, konnte leugnen, das soetwas wie Lieblingsfarben für ein kleines Kind eine „ernsthafte Angelegenheit“ waren.

(„Guck mal, Papi, ich hab ein Bild gemalt! Das sind aaaaaalle die Sachen, die ich gern mag! Das is meine Lieblingsfarbe, und das sind meine Lieblingsspielsachen, und das ist die Mami, und das hier bist du, Papi!“ Und dabei deutete der breit lächelnde kleine Junge stolz auf eines der beiden undefinierbaren Strichmännchen, bei dem die Kringel um die Augen wohl eine Brille darstellen sollten…

Natürlich war er verändert davon, und sei es nur, weil völlig unverändert zu sein, einfach nicht möglich war)

Er hatte den zweiten Klon aktiviert, und ihr die Kleider hingeworfen, die sie sonst auch getragen hatte. Und wenn er es ihr sagte, dann zog sie diese auch ohne weiteres an, aber wenn er ihr nur sagte, irgendwas an zu ziehen, wenn er sie selbst etwas aussuchen ließ… dann fiel ihre Wahl auf Dinge in hellen, kühlen Farben, und nicht auf dieses Kleidchen in intensivem Rot.

Und mit diesen neueren Präferenzen hatte sie ihn an ein ganz anderes Kind erinnert –

(„..also habe ich es gekauft. Was meinst du dazu, Yui?“

„…für ein Neugeborenes ist das ein bisschen groß, findest du nicht?“

„Ja, natürlich, aber wenn sie dann ein oder zwei Jahre alt ist…“

„Die Größe ist eher etwas für drei over vier Jahre… Wir sollten damit sowieso noch warten – Wenn es ein Junge wird, hast du das Kleid umsonst gekauft…“)

Also wurde Klon Nummer Zwei in ihre eigene Bleibe einquartiert. Er hielt sie auf Distanz – mehr, als er das auch so schon getan hätte, band sich nur widerwilling, so weit, wie es sich nicht vermeiden ließ an etwas, das er verlieren konnte, dass er selbst zu vernichten bereit sein würde, wenn der Tag kam, weil sie nur dafür überhaupt hier war.

Sie war ihm am nächsten – Von einer Welt, von der er insgesamt einen gepflegten Sicherheitsabstand hielt, abgeschirmt durch eine Wand aus massivem Eis.

„Rei?“

„Ja?“

„Vergiss, was ich gesagt habe.“

„Jawohl.“

Ihre Frage hatte aber nicht primär seiner Müdigkeit gegolten, die sie nicht als solche erkannt hatte, sondern dem dünnen Streifen an Verband, den sie zwischen seinen Handschuhen und dem Ärmel seiner Uniformjacke hatte hervorschauen sehen.

Sie wusste natürlich Bescheid, schließlich war auch sie ein wichtiger Teil dieses Projektes.

Zu sehen, dass er etwas an sich verändert hatte, gab ihr das Gefühl, dass er irgendwie näher an ihr war, dass sie näher an ihm war, nicht mehr getrennt durch die dicke Linie die Grenze zu einem unveränderten Menschen markierte, aber es blieb ein bitterer Nachgeschmack, an dem Gedanken, dass dieser Tag wieder ein gutes Stück näher gekommen war, der Tag an dem sie ihre Aufgabe, die ihre Verbindung zu ihm bildete, und auch zu allen anderen… erfüllt hatte.

Sollte der Gedanke, ihre Funktion, für die sie geschaffen worden war, und so lange gewartet hatte, endlich ausführen können würde, sie nicht glücklich machen?
 

Er erhob sich von seinem Schreibtisch; Die lange Aufzugsfahrt ins Terminal Dogma ging geräuschlos von statten.

Ebenso still sahen sie zu, wie die ganze Vorrichtung aus dem mit weiteren kryptischen Symbolen bedeckten Boden fuhr, mit dem einer Wirbelsäule ähnelnden Haltestück und letzlich der Glasröhre, für die beiden ein alltäglicher Anblick, der keine besondere Reaktion wert war, und noch weniger von diesen beiden – als letztes fuhren die Glaswände der Röhre selbst in den Boden zurück, damit die dazugehörige Plattform betreten werden konnte, und ohne, das weitere Anweisungen nötig waren, den Regeln eines einstudierten Rituals folgend begann Rei, sich zu entkleiden.

Der Commander baute in der Zwischenzeit den Klappstuhl auf, dem er im Vorbeigehen von seinem Platz angelehnt an die Wand neben der Pforte zu dieser Örtlichkeit mitgenommen hatte.

Zu sagen, das Rei diesen Ort nicht mochte, wäre eine beinahe schon beleidigende Untertreibung gewesen – Sie konnte dieses unangenehme krabbeln und kribbeln dicht unter ihrer Haut nie ganz abschütteln, genau so wenig wie das Wissen darum, was jenseits der gläsernen Wände dieses Raums lag, wo dessen schummriges Licht sie zumindest jetzt nicht berühren konnte.

Sie wusste trotzdem, was dahinter lag, und was es für sie bedeutete.
 

„Nein, du bist es, die nutzlos ist… du bist austauschbar, weißt du das, genau wie ich!“
 

Sie konnte nicht genau sagen, wann sie diese Worte gehört hatte, konnte diese tiefe, bösartige Frauenstimme nicht zuordnen, ja, sie hatte Grund zur Annahme, dass es nicht mal wirklich ihre Erinnerungen waren, aber die Worte hatten sich trotzdem aufs Deutlichste in die Essenz ihrer Seele hineingebrannt.

(Unwillkürlich gingen ihre Hände zu ihrem Hals hin)

Wo auch immer es herkam, es war die Wahrheit, oder?

Die ernüchternde Wahrheit, die sie jeden Moment ihres Lebens begleitete…

Es half, dass er hier war, es war nur halb, nein, einen winzigen Bruchteil so schlimm, hier drin zu sein, wenn er dabei war.

Sie hatte das Gefühl, das sie, wenn sie hier jemals allein sein müsste, völlig aus den Augen verlieren würde, wer sie eigentlich war.

Es machte sie ein bisschen Stolz dass er, so vollgepackt wie sein Terminkalender auch sein mochte, sich tatsächlich die Zeit nahm, ihr hier stundenlang Gesellschaft zu leisten, fast, als würde sie ein Stück von seinem Leben für sich haben, manchmal verbrachte sie eine lange Zeit damit, daran zu denken und bei diesem Gedanken still in sich hineinzulächeln, und sei es nur ein klitzekleines Bisschen…

Sie hatte erst gefürchtet, dass er sie zurück lassen würde, jetzt, wo sein richtiges Kind zurückgekehrt war, doch ohne, dass sie es sich erklären konnte, zeigte er sich seinem wirklichen Sohn nicht und behielt sie statt dessen weiterhin an seiner Seite.

Aber hatte er für dieses andere Mädchen, dass vor ihr dagewesen war, nicht genau dasselbe getan? Hatte er nicht dieselben Dinge zu ihr gesagt, und sich genau so Zeit für sie genommen?

Und würde sie, fals sie vor der Zeit verschwinden sollte, nicht genau dasselbe für jede von diesen anderen tun, die ungesehen aber doch sehr, sehr anwesend in diesem Raum vor sich hin schwappten, und auch andererorts im Komplex für weitere nützliche Aufgaben verwendet wurden?

Am Ende war sie doch… überhaupt nicht besonders für ihn, und erst recht nicht für jemand anderen…

(Außer vielleicht…)

Wenn sie sterben sollte, würde es ihr gehen wie diesem anderen Mädchen, und er würde jemand anders in ihre Räume führen, jemand anderem ihre Kleider und ihre Besitztümer geben, und niemand, niemand würde um sie weinen, oder überhaupt bemerken, dass sie nicht mehr da war – Was war sie, wenn nicht ihre Aufgabe, und was an dieser Aufgabe könnte die andere, die nächste, die dritte nicht genau so gut ausführen?

In Wahrheit hatte sie doch nichts, was wirklich ihres war, ihre Sachen nicht, ihre Wohnung nicht, nicht mal ihr Gesicht war wirklich ihres, nicht mal ihren Namen hatte sie ganz für sich, und schon gar nicht den Commander….
 

Nachdem sie all ihre Kleider bis zur letzten Socke auf dem Boden zurückgelassen hatte, kletterte sie nackt, wie sie war auf den Sockel der Vorrichtung – Als sie jünger und somit noch kleiner gewesen war, war ihr der Commander dabei gelegentlich behilflich gewesen, jetzt schaffte sie es aber alleine, ohne, dass es der Rede wert wäre.

Das hieß zwar eigentlich, dass sie ihre Funktion jetzt effizienter ausführen konnte, aber sie sehnte sich dennoch nach diesen früheren Tagen zurück, sie konnte nicht sagen, warum.

Er nahm sie auch kaum noch an die Hand, wie er das früher bisweilen getan hatte – Sie schätzte, dass es wohl einfach nicht mehr nötig war.

Jedenfalls stellte sie sich oben angekommen erst mal gerade hin, sodass die Röhre hochgefahren und mit LCL geflutet werden konnte, damit die heutige Sitzung hier endlich beginnen konnte.

Sobald sie spüren konnte, dass das System aktiv und angeschlossen war, legte sie den Kopf in den Nacken, schloss ihre Augen und konzentrierte sich.
 

Sein Blick blieb ununterbrochen fixiert an ihr haften.

Als sie jünger gewesen war, war es ja noch gegangen, aber je älter sie wurde, umso größer schien ihre Ähnlichkeit zu Yui zu werden…

Es war besonders offensichtlich, wenn sie unbekleidet war, zumal Ikari in den wenigen Jahren, die ihm mit seiner Angebeten vergönnt gewesen waren, keine Gelegenheit ausgelassen hatte, jeden Winkel von ihr in und auswendig zu lernen, jedes noch so kleine Detail, wie sich alles anfühlte und roch, selbst die infinitesimal wenigen Makel, die andere an ihr hätten finden können, und vor allem, was er tun musste, um sie zufrieden zu stellen…

Es wäreArroganz gewesen, zu behaupten, dass er ihrem Körper all seine Geheimnisse entlockt hatte, aber er hatte in diesen Hinsicht sein bestes versucht.

Rei fehlte dieses kleine Muttermal an der Unterseite ihrer linken Brust, aber ansonsten…

Manchmal reichte nur eine kleine Bewegung, eine minimale kleine Geste aus, um den Schmerz, dessen stille Glut nie ganz wich, neu zu entflammen…

Doch Rei und ihre Form waren auch ein Versprechen, eine Erklärung, wenn man wollte, ein Vorgeschmack auf das, was er ohne zweifel schon bald wieder sein eigen nennen würde.

Wenn er es so sah, konnte er es ertragen.
 

---
 

Das erste, was Shinji in diesem Augenblick tat, war es, diesen Brief zu nehmen, diesen Brief, auf dem all der Text geschwärzt war, bis auf diese paar quer hinüber geschmierten Schriftzeichen in dieser harten Doktorschrift, und ihn in Stücke zu reißen.

Aber als er dieses Ding später bei Misato vorzeigte, nach seiner langen Reise nach Tokyo-3 war es bestmöglich mit Klebeband repariert, ein tatsächlich wieder viereckiges Resultat aufwendiger Millimeterarbeit, bei denen jeder einzige zerteilte Buchstabe, sofern sichtbar, ordentlich wieder zusammengesetzt war, was schlichtweg nicht möglich gewesen wäre wenn er nicht irgendwann, bevor das Dokument zur Unkenntlichkeit zerrissen worden wäre, inne gehalten und sich seines Werkes besehen hatte –

Und am ersten Tag sah er sein Werk, und er entschied dass es nicht gut war.

Und er setzte sich hin, in der Stille der Jahre statt in der Hitze des Moments und jetzte das Puzzle sorgsam und feinsäuberlich zusammen, einer fälschlichen Hoffnung nachgebend, mit diesen Fetzten auch etwas ganz anderes zusammensetzt zu können… Was?

Die Fetzten dieser sogenannten „Familie“?

Die Fetzten seines Lebens?
 

Was für ein Narr er gewesen war – Und Narren bekamen, was Narren verdienten.

Das war nur allzu deutlich gewesen, als er dem Mann hinter dem Schemen damals im Cage von Einheit eins das erste Mal gegenübergestanden hatten.

Alles an ihm hatte gebebt, einiges von dem, was er über die Jahre aufgestaut hatte, hatte sich tatsächlich entladen, aber an dem entscheiden Quäntchen Stickstoff hatte er sich letztlich doch verschluckt:

Er hätte sich gerade hinstellen sollen, hätte seine nervös gestikulierenden Hände zu Fäusten schließen und ihm direkt in die Augen blicken sollen, und diesem verdammten Arschloch einmal gehörig kommunizieren sollen, was er von ihm hielt: „Ich hasse dich!“
 

---
 

Schließlich war die „Röhren-Sitzung“ irgendwann abgeschlossen, und Rei öffnete ihre Augen, als sie spürte, wie das LCL an ihren Füßen vorbei herausgepumpt wurde und schließlich an ihr vorbei heraussank, bis es schließlich komplett abgelassen war, und die Röhre an sich somit wieder zurückgefahren wurde.

Ikari hatte sich zwar seinen Stuhl hingestellt, zog es aber vor, zu stehen, und hatte es auch nicht übersehen, das Rei selbst dies zuschätzen wusste.

Still sah er zu, wie sie von der Plattform herunter kletterte, und wendete sich dann zum gehen als es den Anschein hatte, dass sie ihm nun rasch genug folgen können würde – Ihre abgestreifte Uniform ließ sie einfach liegen, wo sie war, einerseits, weil sie auf dem Rückweg ohnehin wieder hier vorbeikommen würde, andererseits, weil es sich auch nicht wirklich lohnen würde, sich jetzt wieder anzuziehen, nur, um die Kleidung dann gleich wieder los werden zu müssen, wenn sie ihren nächsten Bestimmungsort erreicht hatten, und das würde noch eine lange Liste werden, der Plan sah vor, das Rei das Hauptquartier erst morgen abend wieder verlassen würde (Die Nacht sollte sie in ihrem alten Zimmer verbringen), auch, wenn er selbstverständlich nicht diese ganze Zeit über bei ihr sein würde.

Aber andererseits war seine Anwesenheit nicht überall so nötig wie in diesem Raum hier…

Als heller Strich in der alles umschließenden Dunkelheit, in der auch der Commander in seiner dunklen Uniform geradewegs zu versinken schien, folgte sie ihm weiter in die Tiefen des Laborkomplexes.
 

Die gewundenen, verschlungenen Pfade verschluckten sie bei der Dummy-Plug-Fabrik und spuckten sie an einem spärlich beleuchteten Laborraum voll mit Maschinen, Werkbanken voll mit Aparaturen und allerlei utensilien zum experimentieren, darunter auch einige Werkzeuge, die eigentlich zu grob hätten sein sollen, um damit lebendes Gewebe zu bearbeiten, zumindest, wenn man wollte, dass es dabei lebend blieb – hervor stach wohl der weiß geflieste Abschnitt an der Südwand, in dessen Mitte ein paar in die Wand eingelassene Halterungen oder Fesseln zu erkennen waren, und darum herum, zahlreiche tennisballgroße, halbkugelförmige Dellen in der Wand. And der Seite des Abschnitts waren Schläuche in die Wand eingelassen, einer für Wasser und einer für LCL – Doch was auch immer ersterer von dieser einst reinweißen Wand herunterwaschen sollte, aus den Ritzen zwischen den Fliesen hatte es sich nie ganz gelöst.
 

Direkt unter einer der schummrigen Neonröhren, deren kaltes, bläuliches Licht den Höhlencharakter dieser Halle nicht mal hätte verdrängen können, wenn sie das wirklich versucht hätte, war eine größtenteils leere Werkbank, und drum herum, kastenartige Geräte, von denen aus sich viele verschiedenfarbige Kabel über den Boden schlängelten, wo sie, derzeit unbenutzt in Elektroden oder langen Nadeln mündeten.

Auch das ging ohne Worte von sich – Ikari warf die Maschinen an, während Rei auf der Werkbank platz nahm.

Doch heute gab es durchaus etwas, das anders war als sonst – ganz am Rande der sonst freien Werbank lag ein Hartschalenkoffer, von deren ihm Kaji seinerzeit zwei gebracht hatte – Und da der Inhalt des einen schon entnommen und „verarbeitet“ war, konnte es sich hierbei nur um den zweiten handeln, der mit dem Schlüssel…

Weiter hinten, neben der besagten Werkbank fand sich dann jedoch eine Art zylindrischer Container von den Dimensionen einer Litfasssäule, mit relativ flachen Öffnungsluken oben und unten ohne groß hervorstehende Teile, sodass man ihn auf beide Enden hätte stellen können – Die Wände jenes Gefäßes waren aber durchscheinend, sodass man, auch aufgrund einer Art inneren Beleuchtung, die sowohl von oben als von Unten hineinstrahlte, und sich etwa zu dem Zeitpunkt eingeschaltet hatte, als die neu angeschalteten Maschinen begonnen hatten, während des Hochfahrens hörbar zu surren, gut erkennen konnte, was eigentlich darin war: Erst einmal ein paar Badewannenfüllungen voll LCL, aber verglichen mit dem darin herumschwappenden, blauhaarigen Mädchen waren diese wohl kaum die Hauptsache.

Die Gestalt darin war bis jetzt reglos gewesen, wendete sich aber sobald das Licht anging recht rasch zu den beiden neu eingetretenen Gestalten um und folgte ihnen mit den Augen, auch, wenn diese nichts wirklich zu erkennen schienen.

Dennoch wurde Rei das Gefühl nicht los, dass diese derart „eingebüchste“ Doppelgängerin ihrer selbst (Wäre man morbide veranlagt, könnte man eine Analogie zwischen dem Klon und einer Fischkonserve ziehen, mit dem LCL als frischaltendes Sardinen-Öl) sie ständig fixiert hatte, das ihr unnatürliches Grinseln ihr ganz allein galt…

Rei schluckte.

„Was macht sie hier?“ fragte sie dennoch so tonlos wie sonst auch, den Grund für ihre Nachfrage schon durch ihre Blickrichtung für ausreichend signalisiert haltend.

„Das?“ gab der Commander zurück, während er einige der Kabel an den an den in die Maschinen mündenden Enden ergriff und den Rest von ihnen von dort aus hochzog. „…Das ist für Reserveplan 98-Beta. Eine Art Ausfallsicherung…“

Plan Z hatte es Dr. Akagi scherzhaft genannt, und bei Fuyutsuki durch den Zynismus, der sie dazu befähigte, selbst das nur mit entferntem Amüsement zu kommentieren, zu erheblichen Kopfschütteln geführt. Es war kurz gesagt seine mögliche Antwort auf SEELEs Apokryphenkodex, von dessen Existenz er bis vor kurzem eigentlich nur Ahnungen hatte, auch wenn er hoffte, dass der Tag, an dem er gezwungen sein würde, auf diese Alternative auszuweichen, niemals kommen würde, zumals dies beinhalten würde, sowohl das Third wie auch das First Child bereitwillig ins Opferfeuer zu werfen…

Doch das hier kein falscher Eindruck entstand, sollte so ein Moment tatsächlich kommen, würde er keinen Augenblick zögern, genau dies zu tun, ohne sich auch nur mit einem Wimpernzucken aufzuhalten.
 

(Es sollte auch nicht der Schein erweckt werden, dass die Zahl der Klone in diesem Raum sich auf zwei beschränkte. Es waren noch eine ganze Reihe mehr vorhanden, aber das, was die Zeitgenössin in der „Dose“ so erwähnenswert gemacht hatte, war die Tatsache, dass sie lebendig zu sein schien, zumindest in der Hinsicht, das ihr Herz Blut pumpte – Das war mehr, als man von den restlichen Exemplaren in dem Raum behaupten konnte. Sie wurden zur Zeit nicht gebraucht, und waren daher nicht spezifisch beleuchtet, aber es gab einige Werkbänke voll mit Klonen, in verschiedenen Stadien des Auseinander-genommen-werdens, keine einzige von ihnen so weit intakt, dass man nicht mindestens ein Stück der Wirbelsäule erblicken könnte, nur eine hatte noch bedeutende Teile ihres Unterkörpers übrig – Die Gesichter, sofern noch vorhanden, waren unter grauen Planen verdeckt, die Oberkörper aber zu großen Teilen als solche erkennbar und hatten, sofern dieser noch ausreichend vorhanden war, das Wort „KRONOS“ über den Brustkorb hinweg eingebrant, wohl als eine Art angabe des Verwendungszwecks. Es handelte sich dabei also um Dr. Akagis Handwerk.

Das die derzeit aktive Version des First Child diesen Anblick als… verständlicherweise traumatisierend empfinden könnte, schien niemandem einzufallen.

Am aller wenigsten dem First Child selbst, und das war vielleicht das mit Abstand makaberste an dem Anblick. Allein die Implikationen, die das aufwarf…)
 

---
 

Nicht wesentlich mehr beeindruckt als an dem Nachmittag, der diesem Abend vorausgegangen war, und von den Papieren in der Mappe, die er in seiner Hand trug, wohl möglich noch zusätzlich verstimmt, betrat Fuyutsuki das Büro seines Vorgesetzten, und stand bereits direkt vor dessen Schreibtisch, als dieser ihn eines Blickes würdigte.

Da war etwas leicht Energisches in den Zügen, die die Zeit tief in sein Gesicht gefurcht hatte, aber bei weitem nicht so viel, wie er meinte, das hätte da sein sollen - Es war schrecklich, er war mittlerweile schon ganz gut daran gewohnt, den Mund zu halten und sich einfach seinen Teil zu denken.

Es war eine Sache, ein alter Narr zu sein, und eine andere, sich darüber bewusst zu sein.

Ikari wusste es auch.

Mittlerweile dürfte es nicht einmal mehr mit vertrauter Ernüchterung verbunden sein, die Abwesenheit irgendeiner besonderen Reaktion im Pokerface seines mittlerweile wieder aus den Laboren des Terminal Dogma zurückgekehrten Mitverschwörers feststellen zu müssen – Und die Papiere, mit der er ihn konfrontieren wollte?

Lagen bereits mitsamt einer identischen Mappe ausgebreitet auf seinem Schreibtisch.

Darauf brauchte er sich schon mal keine weitere Reaktion zu erhoffen, hatte er sich schon dabei gesehen, die besagte Mappe dramatisch auf dem Schreibtisch auszuleeren, wenn auch nur der alten Zeiten wegen.

Ikari blickte von seinen Papieren auf, Fuyutsuki's Anwesenheit nur mit einer bestimmten Stille zur Kenntnis nehmend - Der ehemalige Professor hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sein Gegenüber zumindest seine Augäpfel in seine Richtung umorientiert haben musste, und ihn nun wie eine Art verschanztes Raubtier über seine ineinandergesteckten Finger hinweg durchdringend anblickte, wie er es früher oft getan hatte, aber anders als damals blieb es sein eigenes Geheimnis, dass seine spiegelnde Sonnenbrille gut für ihn verwahrte.

"Fuyutsuki." begann er, eine trockene Feststellung die seinem Gegenüber wohl andeuten sollten, dass er sein Anliegen ruhig vortragen konnte - Doch Fuyutsuki zweifelte daran, was das noch sollte.

"Ich nehme an, du hast den Bericht über die jüngste Testergebnisse schon gelesen...?"

"Jah."

"Gilt das auch für den Report über das Third Child...?"

Der Commander hielt eine detaillierte Antwort scheinbar nicht für nötig.

Er hatte seine Hände wie üblich zusammengesteckt und die Arme an den Ellenbögen abstützt, und Fuyutsuki konnte es nicht vermeiden, den dünnen Streifen von Verbänden zu bemerken, die in dieser Pose zwischen seinem Handschuh und seinem Ärmel hervorschauten.

"Was willst du deswegen unternehmen?"

"Der Synchronwert und die Einsatzbereitschaft des Third Child sind im Moment nicht signifikant kompromittiert. Ich sehe nichts, was einen Eingriff in irgendeiner Form rechtfertigen würde. Alles entwickelt sich innerhalb unserer Berechnungen und Vorhersagen. Wir müssen die Stränge der Kausalität nur noch ein paar entscheidenden Stellen miteinander verweben, und die Zeit wird die Pfade, die wir für sie vorgezeichnet haben, ganz von selbst entlang fließen."

"Dann bist du dir sicher, dass dies das Szenario nicht beeinträchtigen wird?"

"...."

"...Oder hast du auch das vorausgesehen?"

"..."

"Ikari, ist das so wirklich in Ordnung?"

"SEELEs Szenario wird von uns überschrieben.

Alle Existenz, alles in der Schöpfung, alles unter dem Himmel existiert nur als Instrument zu diesem einzigen Zweck."

"Schon gut..." meinte Fuyutsuki, resigniert seufzend. "Ich stehe zu deinem Plan. Und sei es nur für Yui-kun..."

Dennoch war die Grabesstille, die der Mann in Schwarz im Angesicht der Ereignisse beibehielt, immer wieder schwer zu glauben.

Fuyutsuki konnte noch dunkel an die Zeit zurückdenken, in denen er sich immer wieder einmal gewünscht hatte, dass doch irgendein gnädiger Fingerzeig des Himmels dem jüngeren Mann sein verdammtes Grinsen aus dem Gesicht wischen würde, aber auch wenn sich das Lächeln aus Erfahrung mit der Zeit nur schwer vermeiden ließ, war es selten so nobel wie die Erkenntnis durch Nachdenken oder so einfach wie die Aneignung durch Nachahmung - Immer vorsichtig mit den Wünschen, immer schön vorsichtig mit den Wünschen...

"Und du bist wirklich überhaupt nicht besorgt...?"

"..."

"Nein, das ist es nicht, oder? Was du denkst ist, selbst wenn du deinem Sohn das Leben zeigen würdest, das du führst, würde es ihm nicht helfen...?"

Fuyutsuki seufzte in die Stille hinein.

"Weißt du, ich sehe das anders... Yui-kun hat mir vor langer Zeit einmal etwas gesagt... Ich denke, es war etwas über so ein altes spanisches Sprichwort, dass Dr. Makinami bei ihrem damals letzten Urlaub aufgeschnappt hatte - Wenn du die ganze Nacht damit verbringst, zu weinen, weil die Sonne nicht am Himmel steht, wirst du niemals den Mond und die Sterne sehen..."

Keine Antwort.

Wohlmöglich grinste er unterhalb seiner Handschuhe, darüber, das es gerade Fuyutsuki war, der es wagte, seinen Mund mit so etwas aufzureißen, vielleicht auch nicht. Dass passte Fuyutsuki nur sehr gut, er hatte auch keine Antwort erwartet und auch kein weiteres Interesse - Er war hier fertig und verließ den Raum.
 

---
 

„Ich hasse dich!“
 

Ja, und bis vor kurzem hätte Shinji das auch noch weiterhin bedingungslos unterschrieben, aber dann kam Reis Ohrfeige. Dann kamen all diese Ereignisse auf dem Futagoyama.

Dann kamen die anderen Worte, von denen Rei erzählt hatte, all das…

Es war nicht genug für ein „Nein“, nahm jedem „Ja“ dann aber doch den Wind aus den Segeln, eine ungreifbare Unsicherheit, die all seine Gedankenprozesse in dieser Hinsicht unfertig erschienen ließen, und ihre kratzigen, losen Enden brachte den Rest seiner Gedanken durcheinander.

Ja, bis vor kurzen hätte er diesen Satz vorbehaltlos unterschrieben, aber in letzter Zeit begann er, zu zweifeln, und gelegentlich fragte er sich, ob es nicht ganz gut war, dass er ihn nicht laut ausgesprochen hatte, ob er sich so nicht eine Tür offen gehalten hatte, die er sich sonst verbaut hatten…
 

---
 

Die Berichte über die Zustände der EVA-Piloten lagen immer noch auf Ikari's Schreibtisch - Weiter unten sah man den Rand eines Bildes herausgucken, eine der unwichtigeren Akten, frisch von der Datenauswertungsabteilung der Amerikaner ins System eingespeist. Eine vage Fußnote von einem schwarzen Stirnband und langen, blonden Haaren. Anderswo guckten rot und orange heraus, aber obenauf auf dem Stapel waren zwei spezielle Bilder mit den dazugehörigen Berichten, nicht aus anderen Gründen als das dies die Subjekte waren, welche der meisten Aufmerksamkeit bedurften, hauptsächlich, weil sie für das Gelingen des Planes von zentraler Bedeutung waren, nicht mehr, oder weniger als das.

Zu seiner rechten, das Mädchen, ohne einen Hauch von Emotion direkt in die Kamera starrend, außer vielleicht eine geringe Prise von etwas Soldatenhaftem. Zu seiner linken, ein Junge, eine Akte, von der vor kurzem wohl jemand gedacht hatte das es eine gute Idee wäre, sie mit einem neuen Bild zu bestücken, wohl auch, weil der Gesichtsausdruck, mit dem der Junge auf dem letzten Bild, das recht bald nach dem ersten Kampf geschossen worden war mit einem Gesichtsausdruck in die Lise geblickt hatte, der jedem, der mit dieser Akte zu hantieren hatte, mit 25%-iger Wahrscheinlichkeit den kompletten Tag verdarb.

Auf diesem jüngsten Bild hingegen hatte sich das Third Child zu einem vorsichtigen Lächeln bewegen lassen.

Die Fähigkeit, die Ähnlichkeit zu seinem eigenen Lächeln festzustellen, in den seltenen Momenten, in denen er die ehrliche Variante herausholte, besaß er nicht - auch wenn er nicht die Leidenschaft hatte, sie wirklich zu meiden, machte sich Ikari nicht besonders viel aus Spiegeln, umso weniger, seit niemand mehr da war, der sich wirklich darum kümmerte, wie er nun aussah oder auch nicht - oder zumindest niemand mehr, von dem es ihn interessierte, was sie von seinem Aussehen oder irgendetwas anderem an ihm hielt.

Er konnte sich schon denken, was sich die anderen wohl im stillen dazu dachten, was sie sich von ihm dachten, und er hatte es schon lange akzeptiert, nein, aufgegeben - in gewissem Maße konnte es tröstend sein, aufzugeben.

Wenn man etwas erst mal als Fakt akzeptiert hatte, brauchte man keine Energie mehr darin zu existieren, es zu ändern: Alle hassten ihn. Diese Welt war verloren. Jede Situation, in der er mit diesem Jungen in einem Raum war, war dazu verdammt, in Tränen zu enden. Das war der Stand der Dinge.

Und wenn man diesen kannte, wenn man ohne Unsicherheiten wusste, wie sich die Dinge verhielten, konnte man auf diesen Fakten aufbauend handeln.

Dennoch, es schien schwer zu glauben, was da in diesem Text stand, mit diesem Bild darüber - Der Junge sah eigentlich aus, als sei er dabei, zu einem gesunden jungen Mann heranzuwachsen, nichts, aber auch gar nichts schien falsch zu sein...

Aber es machte letztlich keinen Unterschied, sobald der Tag der Prophezeiung gekommen war, würden menschliche Limitationen dieser Art bedeutungslos werden - (Ein gefährlicher Gedanke, dass jeder Schaden ohne weitere Gedanken in Kauf genommen werden konnte, weil man es auf einen späteren Zeitpunkt schob, die sich ständig anhäufenden Fehler mit einem Schlag ausgleichen zu können, irgendwann einmal, wenn alles gut ging - oder viel mehr, falls.)

Wenn irreparabler Schaden entstanden war, wenn der Punkt ohne Umkehr überschritten worden war, wenn man weder die Vergangenheit ändern, noch an der Gegenwart etwas rütteln konnte, konnte man nur noch voranschreiten.

"Der Mond (...dieses helle, klare Lächeln, und die schiere Geschwindigkeit, mit der sie sich durch all diese Bücher durchgearbeitet hatte...) und... die Sterne, heh...?" (Der Kampf auf dem Futagoyama - "Verfahren sie nach eigenem Ermessen, Katsuragi.")

Seine Kinder.

...und zu glauben, dass er tatsächlich noch solche Emotionen in sich übrig hatte.

Er packte die ganzen Papiere zurück in die Mappe und stopfte diese gleichgültig, noch nicht einmal besonders eilig irgendwohin, wo er sie nicht sehen konnte.
 

"SEELEs Szenario wird von uns überschrieben.

Alle Existenz, alles in der Schöpfung, alles unter dem Himmel existiert nur als Instrument zu diesem einzigen Zweck."

Alles.

Selbst diese beiden zaghaft lächelnden Gesichter –

Er selbst hatte seinen eigenen Teil des Preises bereits gezahlt, und er würde ihn weiter zahlen, denn so, wie er diese verdorbene Welt kannte, konnte der Preis niemals hoch genug sein, würde man niemals einen Punkt erreichen, an dem man ausreichend gezahlt hatte.

Ein Leben für ein Leben war niemals genug gewesen, und er war sich darüber bewusst – er hatte sich davon nur nicht aufhalten lassen.

Zerschlagenes wieder zusammenzufügen war schwer, besonders, wenn man es selbst zerschlagen hatte, ob das nun für den Zustand der Welt gab, das Schicksal der Menschheit, oder das Schicksal zweier bestimmter Menschen, wie die Brücken, die er zwischen sich und seinem Sohn niedergebrannt hatte.

Aber Zerstörung, Zerstörung war relativ billig.

Und so war er bereit jeden möglichen und unmöglichen Preis zu zahlen, alles, was er nur irgendwie ergreifen konnte, alles, was in seiner Macht stand, alles, was er hatte, selbst seine bloße Seele, sodass sein langersehnter Wunsch in Erfüllung gehen würde – Das war Ikaris Dogma.

Und er hatte schon zu viel getan, zu viel geopfert, zu viel in Bewegung gesetzt, als das ihm etwas anderes bleiben würde, als auf dem Pfad, den er einmal eingeschlagen hatte, weiter voranzuschreiten, sodass sie sich am Ende dieser Welt, am Ende der Zeit, endlich gegenüberstehen würden, ohne die Notwendigkeit, die Worte zu finden, denen es ja doch immer gelang, sich ihnen allen zu entziehen, von Angesicht zu Angesicht… auf dass alle seine Entscheidungen ihre Bestätigung, ihre Rechtfertigung erhalten konnte, so sehr sie jetzt noch etwas abstraktes, immaterielles war, dass er nur mit seinem Verstand greifen konnte.

Er sah seine Vision schon… klar vor sich.

„Rei… Shinji… Yui… …wartet bitte nur noch… ein kleines Bisschen länger…“
 

---
 

Es war schon eine These für sich: "SEELEs Szenario wird von uns überschrieben.

Alle Existenz, alles in der Schöpfung, alles unter dem Himmel existiert nur als Instrument zu diesem einzigen Zweck."

Was nun zu sehen blieb, war, ob sie den Proben standhalten würde, der die Zukunft sie unweigerlich unterziehen würde…
 

_________________________________
 

(1) Frohes neues Jahr, allerseits!

(2) Shinji war ca. 3 als Yui den Löffel abgegeben hat, aber das Script von episode 1 beschreibt ihn in diesem einen Bild von ihm, das wir 10000 mal zusehen bekamen, als ca 4 oder 5, woraus sich schließen lässt, dass sich Gendo seiner nicht gleich sofort nach dem Kontaktexperiment entledigt hat, sondern erst Weile später.

(3) Ja, Mari war schon von Kindesbeinen an ein bisschen… seltsam. XD Wenn man bedenkt, dass sie später mal ein Fan von LCL-„Duft“ wird, ist das ja so weit eigentlich noch harmlos… XD Die Implikation sollte sein, das ihre Alte ihr auf eine natürlich sehr vereinfachte Art und Weise die Wahrheit über das Kontaktexperiment erzählt hat…Auf die Gefahr hin, dass sie noch einen Namen verpasst bekommt und ich dann wieder alles überarbeiten darf, werde ich Maris Mutter hier (vorläufig?) als „Murasaki Makinami“ führen. „Murasaki“ beschreibt auch ein tiefes Violett.

(4) Ja, ihr habt das schon richtig verstanden, Gendo’s kleines Engel-Add-On ist hier bewusst etwas extensiver als im Anime – Es war auch im original ziemlich eklig, aber man bekam es ja nur ein paar Sekunden zu sehen, und ich dachte, es sei interessant/wichtig, diesen speziellen Aspekt ein bisschen zu „unterstreichen“.

(5) Ja, das hier war vor einer Weile noch länger, aber ich habe mich entschieden diesen riesen Wurscht von einem Kapitel doch noch in zwei Stücke aufteile, dass es für etwaige neue Leser nicht ZU erschlagend ist...


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  leesa
2013-01-26T20:30:07+00:00 26.01.2013 21:30
Woa langes kapitel ... ich kenne FF die kürzer sind und nicht einmal die hälfte an Informationen liefern. Wirklich ein sehr schönes kapitel, freu mich auf das nächste.

MfG Leesa
Von:  Alex45
2013-01-22T17:34:22+00:00 22.01.2013 18:34
Ja wider ein tolles Kapitel, etwas lang aber toll!
Habe da mahl ne Frage das Buch das Rei gelesen hatte war die Geschichte des letzten Einhorns, oder?
Von:  -Tsubasa-
2013-01-21T20:59:42+00:00 21.01.2013 21:59
Ich muss dir wirklich sagen, dass diese Fanfiction die Beste ist, die ich je gelesen habe!!!
Die Entwicklung der Charaktere ist langsam, aber merklich (womit du selbst dem Original Konkurenz machst!)
Die "neue" Story war anfangs nicht so neu, verändert sich aber merklich mit jedem Kapitel
Ich muss zugeben, dass mich deine "kleine" Geschichte so sehr gefesselt hat, dass ich mit ihr fast meine gesamten weihnachtsferien verbracht habe bis ich endlich bei "Kollaps der Wellenfunktion" angekommen bin und hab seitdem bereits sehensüchtig aufs nächte Kapitel gewartet
Auch dieses hast du meiner Meinung nach wirklich gut hinbekommen und schon gespannt darauf wie es mit den einzelnen Children wietergeht
Von:  Magnus
2013-01-21T04:11:09+00:00 21.01.2013 05:11
wieder mal ein sehr schönes kapitel auch wen die Länge etwas erschreckend war


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