Manchmal braucht Dean eine Pause
„Was machen wir hier?“ fragt Castiel. Er klingt verwirrt.
„Pause“, erwidert Dean und presst ein kaltes Bier gegen seine Stirn.
Manchmal braucht Dean eine Pause.
Eine Pause davon, die Welt zu retten.
Eine Pause immer für alles verantwortlich zu sein.
Eine Pause davon, sich immer von allen anmachen zu lassen, nur weil er keine Spandex trägt und offensichtlich nicht der Held ist, den sie erwartet hatten, als sie ihn angeheuert haben.
Was heißt überhaupt angeheuert? Von Gehalt, Überstunden oder Urlaubstagen war ja noch nicht mal die Rede.
Sie haben ihn aus der Hölle gezerrt (okay, danke auch) und ihn dann vor vollendete Tatsachen gestellt. Apokalypse. Luzifer. Engel. Ende der Welt. Hier bitte schön. Tschüss und viel Spaß noch! Mach mal. Du schaffst das schon.
Und dann haben sich mehr oder weniger alle verpisst und ihn hängen gelassen.
Wenigstens hat er Sam, und dafür ist er dankbar. Aber in den dunkelsten Augenblicken der Nacht spürt er die Verantwortung für seinen Bruder wie ein Gewicht auf seinen Schultern. Ein Gewicht, das ihn zu Boden drückt und ihm die Luft abschnürt. Überlebensgroß wie Sam selbst.
Er liebt Sam und er würde jederzeit wieder für ihn in die Hölle gehen … aber es ist so unendlich schwer geworden, ihm so blindlings zu vertrauen, wie er das früher getan hat. Manchmal wendet Dean gedankenlos den Kopf um irgendetwas Belangloses zu sagen und die Worte bleiben in seiner Kehle stecken, wenn er den Fremden sieht, der neben ihm herläuft. Und den er nicht mehr kennt.
Manchmal liegt er nachts in einem Motelzimmer im Nirgendwo, starrt an die Decke, lauscht auf die Atemzüge seines Bruders und ist noch nie zuvor so alleine gewesen.
Manchmal will Dean eine Pause davon haben, Dean zu sein.
Denn Dean Winchester zu sein, ist grade einfach nur beschissen. Es gibt keinen Notausgang und kein Stoppschild und keine Selbsthilfegruppe. Keine Talkshows mit dem Thema ‚Auch vor der Apokalypse war schon alles scheiße und der nahende Weltuntergang hat mein Leben nicht verbessert!‘.
Bis vor kurzem hat er angenommen, er ganz allein steckt so tief in der Scheiße.
Ticket in die Unterwelt, ohne Rückfahrschein. Frohe Fahrt.
Aber da ist immer noch Castiel.
Der grade sämtlichen Glauben an irgendwas verloren hat.
Castiel, der auf nichts anderes bauen kann als Dean. Ausgerechnet Dean.
Wenn das ein Wettbewerb wäre, wessen Leben grade mehr im Arsch ist, dann ist Dean nicht sicher, wer von ihnen gewinnen würde.
Deswegen sind sie grade hier.
Wo auch immer 'hier' ist.
„Wir können keine Pause machen“, stellt Castiel fest. Es klingt mehr wie eine Frage als eine Aussage und er dreht die Bierflasche unentschlossen zwischen seinen Fingern hin und her.
„Wieso nicht?“
„Die Welt geht unter.“
Dean zuckt mit den Schultern. „Das tut sie in einer halben Stunde auch noch.“
Im Moment geht nichts unter außer der Sonne, die wie ein schwerer, roter Ball am Horizont hängt. Seltsam friedlich sieht es aus … für eine Welt, die grade an allen Ecken verbrennt und explodiert. Die ihm zwischen den Fingern zerrinnt wie Sand in einem Stundenglas.
Vielleicht sind sie grade in Montana. Und vielleicht in Michigan. Er hat schon längst den Überblick verloren. Es ist eine endlose Reihe an verpassten Chancen und verbauten Möglichkeiten.
Castiel ist die eine Konstante, die bleibt, wenn alles andere zerbröselt.
Rotgoldenes Licht schimmert in seinen Haaren und lässt den tristen, grauen Farbton seines Trenchcoats sanfter erscheinen als er wirklich ist.
Wenn er Castiel ansieht, hört für eine Sekunde alles auf um ihn herum zu kreiseln. Die ganze Welt bleibt stehen, so als ob er die Achse ist, um die sie sich alles dreht.
Es ist wie Durchatmen.
Er sieht dabei zu, wie Castiel das Bier vorsichtig an die Lippen setzt und wie sein Kehlkopf sich bewegt als er schluckt. Er sieht weich und lebendig aus in dem warmen Licht.
Die Flasche ist kühl und feucht unter seinen Fingerspitzen.
Dean möchte diesen Augenblick anhalten und konservieren. Nur einen Augenblick, in dem sie nicht rennen und beinah sterben (sie sterben immer beinah) und indem nicht alles auf dem Spiel steht und alles von ihnen abhängt und sie völlig im Arsch sind. Einen Augenblick, in dem er nicht denken und niemanden retten muss, und nicht an sich glauben.
„Was würdest du machen“, fragt er aus dem Moment heraus und bevor er sich aufhalten kann, „wenn wir die Apokalypse nicht an der Backe hätten? Wenn du kein …“ er macht eine vage Handbewegung „… Engel wärst.“
Castiel setzt das Bier ab und wendet den Kopf. Sekundenlang sieht er beinah nachdenklich aus.
„Jetzt?“
Dean nickt. „Wenn du alles machen könntest.“
Weil das die eine Möglichkeit ist, die weder er noch Castiel je gehabt haben. Vermutlich nie haben werden.
Und er denkt, dass Castiel so ziemlich alles machen könnte.
Denn die Welt ist riesig und unendlich weit und voller Möglichkeiten, wenn er nur einmal aufhört sie als etwas Fragiles, Zerbrechliches zu betrachten, das vor seinen Augen auseinanderbröckelt, wenn er nicht aufpasst.
Es dauert Minuten bis Castiel schließlich antwortet. Die Sonne ist inzwischen nur noch eine leuchtende Halbkugel irgendwo am anderen Ende.
„Mit dir hier sitzen“, antwortet er schlicht.
Überrascht hält Dean die Luft an und seine Bierflasche schwebt schräg auf Halbmast in der Luft.
Er spürt wie ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zerrt.
Auch wenn das nichts weiter bedeutet, dass Castiel der ambitionsloseste Mensch ist, den er kennt.
Wortlos streckt er Castiel die Bierflasche entgegen. Leises Klirren schwebt zwischen ihnen als Glas auf Glas trifft.
Vielleicht kann er die Welt anhalten, nur für eine Sekunde lang. Nur jetzt.
„Pause“, sagt er leise und ohne ihn anzusehen.
„Pause“, nickt Castiel und Dean spürt, wie er sich zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit entspannt.
Sobald die Pause zu Ende ist, machen sie weiter.
Heute und morgen und nächste Woche und in fünf Jahren und vielleicht für immer.
Die Apokalypse geht nicht weg. Die Verantwortung geht nicht weg.
Aber Castiel ist derjenige, der bei ihm bleibt bis zum Ende, in einer Zukunft, in der alles den Bach runtergeht. Einer Zukunft, die niemand außer Dean erlebt hat und die vielleicht und vielleicht nicht so passiert ist. Nie passieren wird.
Aber Castiel ist bei ihm geblieben bis zum Schluss.
Und das zählt für irgendwas.
Ende