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Kiss, kiss - bang, bang

Zwischen töten und sterben gibt es ein drittes - leben.
von

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Kiss, kiss ...

August 2009, New York, Central Park

Es war schon ziemlich dunkel, eben hingen die letzten Sonnenstrahlen über dem Central Park. Längst hatten sich die Vögel zur Ruhe begeben und auch die Menschen zerstreuten sich allmählich, es wurde ruhiger. Sanft bewegte der Wind die Bäume, sangen jene ihr Lied. Auf einer abseits gelegenen Bank waren undeutlich die Silhouetten zweier Menschen zu erkennen, jedoch nur äußerst undeutlich, denn sie waren derart ineinander verschlungen, dass es in der Dämmerung schwierig war, die beiden auseinander zu halten. Manchem konservativ eingestellten Menschen war es vermutlich auch ganz recht, dass er nicht so genau erkennen konnte, wer da auf der Bank saß und leidenschaftlich Zärtlichkeiten austauschte. Immerhin handelte es sich nicht um das klassische Pärchen Mann und Frau, sondern um zwei junge Männer. Ihrer Leidenschaft jedenfalls tat das keinen Abbruch.

Dafür nämlich sorgte etwas anderes, ein Geräusch, welches nicht hierher gehörte. Sofort fuhren die beiden auseinander, verharrten dann ganz still, horchten auf weitere Geräusche während ihre Augen schnell hin- und hersprangen, die Umgebung absuchten. Doch fündig wurden sie nicht, jedenfalls nicht sofort. Es dauerte erst eine Weile, ehe sie wieder etwas hörten, diesmal aber deutlicher, lauter.

Ihre Reaktion erfolgte reflexartig, ohne nachzudenken. Sie sprangen auf, verharrten kurz in einer lauernden Haltung, dann liefen sie gleichzeitig los, nebeneinander her, leise setzen ihre Füße auf dem Boden auf, verursachten kein Geräusch, trotz der Geschwindigkeit, trotz der herumliegenden Äste, Blätter und diverser Utensilien, die auf dem Boden verstreut lagen. Doch egal wie schnell ihre Reaktion erfolgt war, egal, wie lautlos und schnell sie auf den Ausgang des Parks zustrebten, an einer dicht mit Hecken bewachsenen Allee wussten sie beide, dass eine Flucht keinen Sinn mehr hatte.

Sie blieben stehen, verharrten, aufrecht, selbstbewusst. Fahl reflektierten die Mündungen der Waffen das Mondlicht, sieben kleine Monde, sieben auf die beiden gerichteten Waffenmündungen.

Die beiden tauschten einen Blick.

Dann fiel der erste Schuss.

Der Magier

Der Magier: Er symbolisiert Tatkraft, Mut und aktive Lebensgestaltung. Er ist kämpferisch, dabei aber wohl überlegt und klar im Denken. Er weiß, was er will, kennt seine Stärken und setzt sie gezielt ein. Er ist der, der immer den ersten Schritt tut.
 

Juni 2007, London

Eine klare Nacht, keine Wolke verdunkelte den Himmel. Dennoch waren weder Mond noch Sterne zu sehen, da sie nicht hell genug waren, um gegen die vielen Lichter am Erdboden anzukommen. London schlief nicht, gerade nachts nicht.

Dem Mann, der einsam seinen Weg von der City Hall weiter östlich, die Themse entlang ging kümmerten die Lichter jedoch nicht. Er war zum ersten Mal in London, heute früh eingetroffen, doch hatte er sich auf keine Sightseeing Tour begeben und auch die großen Einkaufsstraßen hatte er bewusst gemieden. Dennoch wusste er, wo er hinwollte, bereute nicht die historischen und kulturellen Besonderheiten dieser Stadt nicht gesehen zu haben. Nicht einmal der Anblick der nun vor ihm auftauchenden berühmten Tower Bridge vermochte ihn in Begeisterung zu versetzen. Unberührt ging er weiter, überquerte die Brücke schnellen Schrittes und doch mit innerer Ruhe, nach außen hin Gelassenheit und Arroganz ausstrahlend. Gleichwohl viel los war, geriet er in keine Menschenmasse, denn auf Armeslänge kam niemand an ihn heran. Er sah eigentlich nicht gefährlich aus, im Gegenteil, er war schmal und recht klein, und doch war es, als traute sich niemand an ihn heran, als würde ein siebter Sinn die Menschen instinktiv davor zurückhalten, ihm zu nahe zu treten. Der Mann war der Ansicht, dass dieser siebte Sinn wesentlich klüger sei als der eigentliche Mensch. Er hatte seinen Grund zu der Annahme.

Ohne auch nur mit einem einzigen Menschen angestoßen zu sein bestieg er die Londoner U-Bahn, Tower Bridge Approach, bekam sofort einen Sitzplatz und starrte während der gesamten Fahrt nur auf das schwarz der unterirdischen Wege, völlig desinteressiert an dem, was um ihn herum geschah. Dabei regte sich hier zum ersten Mal eine Gefühlsregung in ihm. Er hasste es, U-Bahn zu fahren. Zu viele Menschen. Lieber wäre er zu Fuß gegangen, hätte die frische Luft geatmet, doch in einer Stadt war an frische Luft ohnehin nicht zu denken, Städte stanken furchtbar, nun ja, sie waren im allgemeinen furchtbar. Der Gestank, die Lautstärke, die vielen Menschen… Er hasste Städte.

Doch seine Arbeit hatte ihn hierher geführt und wenn er schon einmal hier war, so konnte er auch die U-Bahn nehmen um es möglichst schnell hinter sich zu bringen. St. James’ Park, der Mann entstieg der U-Bahn, endlich seinem finalen Ziele nahe. Die letzten paar Meter ging er zu Fuß. Die Menschenmengen hatten sich ein paar Straßen weiter verloren, hier befand sich ein Wohngebiet, wenn auch ein äußerst exklusives. Es war dem Mann egal. Ruhig ging er weiter, achtete nicht auf die Fassaden und edlen Vorgärten. Erst, als er an seinem Ziel angelangt war, stoppte sein Schritt, er hob den Kopf und sah an dem Haus hinauf. Ein großes Haus. Aber er hatte ja einen Plan. Ein gut bewachtes Haus. Aber er hatte ja Erfahrung. Er lächelte. Doch seine Augen lächelten nicht mit.

Eine Weile noch stand er da und besah sich das Haus, prägte sich ein, was er sah. Die Fassade erinnerte an einen griechischen Tempel, Säulenverziert und aus weißem Marmor. Das Haus umfasste drei Stockwerke, sowie laut Plan einen Keller. Auch der Garten musste groß sein, bedachte man die Entfernung von Haus und Mauer. Das schmiedeeiserne Tor zum Eingang gewährte jedoch keinen großen Einblick auf den Garten, sodass der Mann einen Schritt weiter gehen musste. Dann griff er in seine Jackentasche, zog ein Paar schwarzer Handschuhe hervor und streifte sie sich über. Als er in den Schatten trat, war er kaum mehr zu sehen, seine schwarze Kleidung und das kurze, schwarze Haar ließen ihn unauffällig verschwinden, sogar die dunkelbraunen Augen schienen dazu beizutragen. Doch der Mann gedachte nicht, im Schatten zu verweilen. Er sah sich nur nach einer geeigneten Stelle um, um die hohe, mit Efeu bewachsene Mauer, die das Anwesen umgab, zu überqueren. Er wurde auch recht blad fündig. Lächelnd, weil das Efeu es ihm so leicht machte erklomm, er die Mauer, setzte jedoch nicht gleich über sondern verharrte in der Dunkelheit. Seine Augen spähten über das Gelände. Es schien alles ruhig, doch der Mann wusste, dass der Schein trog: Ein Mann wie der Bewohner dieses Hauses – der Mann hatte sich nie die Mühe gemacht nachzusehen, wie der Mann hieß, dem sein Besuch galt – würde niemals unbewacht bleiben.

Und er sollte Recht behalten. Der vom Efeu verdeckte Stacheldraht auf der Mauer zeugte davon. Umsichtig kletterte der Mann darüber. Kurz blieb er hierbei auf der Mauer hocken, besah sich auch den Garten. Dieser machte einen äußerst gepflegten Eindruck, ein Kiespfad führte vom Tor bis zur Tür, der Rasen war ebenmäßig geschnitten was nur vereinzelt von kleinen Hecken durchbrochen wurde. Die einzige Unregelmäßigkeit bestand aus einem kleinen Gartenteich auf der rechten Seite. Ein letztes Mal huschten seine Augen über den Garten, dann sprang er ab. Als seine Füße leise auf dem englischen Rasen auf der anderen Seite aufkamen blieb er gleich in der Deckung des Efeus. Diese Pflanze war ein Segen, schützte sie ihn doch vor den Überwachungskameras, welche vor dem Haus angebracht waren, wie man ihm mitgeteilt hatte. Besagte Überwachungskameras hatten seine geübten Augen auch schnell gefunden. Ein leises Runzeln seiner Stirn verriet, dass sie für ihn durchaus eine Herausforderung waren, denn sie waren nicht nur geschickt positioniert sondern auch noch beweglich, rotierten in einem bestimmten Winkel ähnlich den automatischen Wassersprenklern auf einem Tennisplatz. Eine ganze Weile blieb der Mann deswegen im Schatten des Efeus stehen und beobachtete, welche Kamera zu welchem Zeitpunkt welchen Bereich filmte. Dann atmete er einmal tief ein und wieder aus. Er musste schnell sein, aber nicht zu schnell, er durfte nicht zu früh zögern, aber auch nicht zu spät, er durfte nicht eine Kamera übersehen. Tat er es doch, war er tot. Der Mann lächelte. Er liebte Herausforderungen.

Er passte den richtigen Augenblick ab, dann lief er los, huschte wie ein Schatten über den gepflegten Rasen. Dort verharren, hier sprinten, dort den Umweg um den Gartenteich und schließlich Deckung hinter einer Säule an der Eingangstüre suchen. Nicht, dass er vorgehabt hätte, die Eingangstüre zu benutzen. Türen zu benutzen um in ein Haus zu gelangen war schon beinahe eine Seltenheit geworden, ebenso wie er Fenster zu diesem Zweck mied. Besonders hier. Also musste er sich nach einem anderen Eingang umsehen. Den Gebäudeplan, den er sich ins Gedächtnis rief, lieferte ihm denn auch die Antwort. Zum Glück war das Anwesen schon recht alt, zwar modernisiert, aber in seinen Grundstrukturen erhalten um den rustikalen Charme zu wahren. Der Weg war nicht weit, dennoch nahm er einiges an Zeit in Anspruch, da er erneut den Kameras ausweichen musste, doch schließlich stand er an der Westseite des Hauses, immer in Bewegung, denn hier gab es keinen Schutz vor den Kameras als seine eigene Geschwindigkeit. Doch unbeschadet erreichte er den alten Schacht zur Belieferung der Heizkohlen. Obwohl seit Jahren ungenutzt befand er sich in einem einwandfreien Zustand, was der Mann mit einem spöttischen Lächeln registrierte.

Geschmeidig glitt er den Schacht hinab, fand sich Sekunden später im Keller des Hauses wieder. Der Raum, in dem er landete, hatte wohl einstmals zum Lagern der Kohle gedient, da diese aber nun nicht mehr benötigt wurde stand der Raum leer. Mit schnellen und lautlosen Bewegungen durchquerte er den Raum, öffnete die Türe einen winzigen Spalt und spähte in den dunklen Flur. Dieser war noch ganz im altertümlichen Stil des Hauses gehalten, eng und mit Holzpaneelen getäfelt, jedoch lange nicht mehr richtig renoviert und kaum beleuchtet. Die bereits an die Dunkelheit gewöhnten Augen des Mannes konnten jedoch kein Hindernis ausmachen, sodass er es wagte, die Türe etwas weiter zu öffnen. Immer noch nichts. Er huschte hinaus in den Gang, verschloss die Tür sorgfältig hinter sich. Stehen bleiben. Lauschen. Nichts. Vorsichtig schlich er weiter, bis zur Treppe, spähte hinauf. Oben konnte er die Silhouette eines Schrankes von einem Mann ausmachen. Erneutes Stirnrunzeln. Nicht, dass der Mann ein Problem gewesen wäre, aber aus seiner jetzigen Position konnte er nicht erkennen, ob da noch mehr Männer waren. Nun, es führte kein Weg daran vorbei, das Risiko einzugehen. Er würde leise sein müssen.

Vorsichtig betrat er die erste Stufe. Ein Glück, dass es eine Steintreppe war, Holz hätte womöglich noch verräterische Geräusche von sich gegeben. Sehr langsam und sehr vorsichtig schlich er weiter, immer höher. Das Haus war wirklich alt, der Stein wich schon Trittspuren auf. Er war nur noch zwei Stufen von dem Mann entfernt, er konnte sein After-Shave deutlich riechen und verzog ein wenig die Nase. Dann umschloss seine Hand das kleine Messer, er überwand die letzten beiden Stufen und attackierte den Mann hinterrücks. Mit der linken Hand hielt er ihm den Mund zu, mit der rechten durchbohrte er das Herz des Mannes von hinten. Kurz zuckte dieser in seinen Armen, jedoch bereits von seinem Mörder unbeachtet, der ihn leise zu Boden gleiten ließ, damit das Geräusch seines Sturzes niemanden auf den Plan rufen konnte. Unterdessen suchten seine Augen die Umgebung schon nach weiteren Gefahrenquellen ab, konnten jedoch keine erkennen, weshalb er seinen Weg im Schutz der Schatten fortsetzte. Hier oben setzte sich der von außen erkennbare griechische Stil fort, viele Säulen, viel Marmor und große Hallen und Flure. Nichts für den Mann, der sie nun heimlich durchschritt. Doch immerhin bedeutete es, dass das Gebäude sehr übersichtlich und somit leicht einzunehmen war. Zwei Flure und drei tote Wachmänner weiter kam er schließlich an die weiße Holztreppe in den ersten Stock – dort, wo sich laut Plan das Schlafzimmer des Eigentümers befand.

Am Fuße der Treppe befanden sich zwei Wachmänner. Leise unterhielten sie sich um sich die Nacht zu vertreiben. Der Mann schüttelte innerlich den Kopf. So viele Wachen, und doch so sinnlos, denn es würde nichts bringen, nichts mehr nützen, ihn nicht aufhalten. Abgesehen davon: Wie konnte man nur so schlafen, umgeben von so vielen Menschen? Viele Menschen um sich herum zu haben war etwas, was der Mann nicht mochte. Er liebte seine Freiheit.

Der Mann nährte sich den beiden Kaffee trinkenden Wachmännern von hinten – Angriffe von hinten waren ihm lieber, weniger Aufwand, weniger Geschrei. Dumm war nur, dass die beiden Männer sich unterhielten, sodass er sofort bemerkt werden würde. Ein wenig bedauernd zog er seine Beretta 92 FS, der Schalldämpfer war schon aufgeschraubt. Er hätte sie sich gerne für spätere aufgehoben, da er nicht gerne während der Arbeit nachlud – zu hohes Risiko. Doch blieb ihm grade wohl keine andere Möglichkeit, also hob er die Pistole, zielte kurz und schoss. Die Kugel zertrümmerte den rechten Lungenflügel des Mannes, Blut und Kaffee spritzten, als er zu Boden sank. Der Reaktion des zweiten Mannes erfolgte schneller, als es dem hinter einer marmornen Säule verborgenen Angreifer lieb war, sein Kaffeebecher segelte beinahe zeitgleich mit dem seines toten Kollegen zu Boden und schnell hintereinander hallten drei Schüsse seiner FN Browning GP durch die Halle.

Stumm fluchend suchte der Mann hinter seiner korinthischen Säule Deckung, wartete, bis die Schüsse verstummt waren. In einem Moment der Stille spähte er kurz hinter der Säule hervor, war jedoch sogleich wieder gezwungen Deckung zu suchen, da weitere zwei Schüsse auf ihn abzielten. Marmorsplitter schlitterten über den schwarz-weiß gekachelten Boden. Der Mann hinter der Säule war durchaus verärgert – der Lärm würde noch andere auf den Plan rufen, was ärgerlich wäre, denn er wollte doch sein Flugzeug zurück in die Heimat heute noch bekommen. Da konnte er sich keine Verspätung leisten. Als erneut Stille einkehrte trat er hinter der Säule hervor, hob die Pistole und drückte ab. Er machte sich keine Mühe zu zielen, er traf auch so, ein glatter Kopfschuss.

Schnell lief er weiter, vermutlich würden bald andere Männer hierher strömen, doch wenn er sich geschickt anstellte, würde er dies zu seinem Vorteil nutzen können. Mit schnellen Schritten huschte er die Treppe hinauf, drückte sich, kaum oben angelangt, in den Schatten eines Vorhangs, welcher ein riesiges Fenster zierte, und wartete angespannt ab. Er hätte sich nicht mehr Zeit lassen dürfen, eilige Schritte rannten an seinem Versteck vorbei und im fahlen Licht der überall im Flur angebrachten Nachtlichter sah er die Silhouetten mehrerer Männer vorbeilaufen. Der fließend weiße Stoff der Gardine verlieh ihnen, da von dem Mann durch sie gesehen, einen beinahe gespenstischen Eindruck.

Kaum, dass sie vorbei waren – ihre Schritte waren noch nicht ganz verhallt – da trat der Mann aus seinem Versteck heraus, schlich den Flur entlang und verfluchte hierbei das Licht, welches ihn sofort auffallen lassen würde, ihm selbst aber eine Herausforderung bot, da die Statuen im flackernden Licht einen recht lebendigen Eindruck machten. Der Flur hier oben war nicht ganz so pompös, man bemerkte, dass es hier oben in den familiäreren Bereich des Hauses ging. Zwar ging nichts von dem Luxus verloren, doch die Größe war etwas geschmälert, was jedoch eher einen freundlichen Eindruck hervorrief. Nicht, dass der Mann dem Beachtung geschenkt hätte. Als er dann jedoch einen Menschen erblickte wusste er, dass er sein Ziel erreicht hatte. Der letzte Wachmann. Er stand an der Schlafzimmertüre, welche von zwei kleinen, ägyptischen Säulen gesäumt wurde, des Gesuchten, die Browning schon in Händen. Der Mann verharrte, sann auf die lautloseste und schnellste Möglichkeit ihn zu töten und beschloss, sich die Säule, an welcher der Mann lehnte, zu nutzen zu machen. Der Mann schlich an die Säule heran, lehnte sich mit dem Rücken gegen sie, ebenso wie der Wachmann, sodass sie ohne die Säule Rücken an Rücken gestanden hätten. Jetzt musste es schnell gehen. Das Drahtseil flog schnell um die Säule herum, in der rechten Hand behielt der Mann das eine Ende, seine linke fing das andere Ende mit dem kleinen Beschwerer zum leichteren Werfen gekonnte auf. Ein kräftiger Zug an beiden Enden, der Wachmann röchelte. Der Mann verminderte den Druck um keinen Deut, wartete, bis der andere aufhörte zu röcheln, dann erst ließ er los, rollte das Drahtseil wieder auf, während er sich mit einem Blick den Flur entlang davon überzeugte, jegliche Gefahrenquellen ausgeschaltet zu haben.

Dann erst zog er seine Beretta erneut hervor, hielt sie schussbereit in der rechten Hand, während die linke die Türe öffnete. Schnell huschte er herein, schloss sofort die Türe wieder und sah sich mit vorgehaltener Pistole im Zimmer um. Doch die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig, denn hier wartete niemand mehr auf ihn, nur dem Mann, zu dem er gewollt hatte lag ruhig schlafend im Bett. Das Zimmer war ziemlich groß, verfügte über drei große Fenster, ein gewaltiges Himmelbett, einen alten Sekretär aus Eichenholz sowie weitere kostbare, antike Einrichtungsgegenstände. Der Man lächelte beruhigt und steckte die Pistole weg während er langsam zu dem großen Bett herüber schlenderte. Der Mann lag dort, schlief, sich der Gefahr, in welcher er schwebte, keineswegs bewusst. Friedlich ruhte er in den mit Satin bezogenen Decken und Kissen, lag vollkommen entspannt da. Der Blick des Mannes war gelassen und kalt. Der Schlafende war ihm egal, solange er nur selbst an sein Ziel gelangte. Entspannt setzte er sich auf die Bettkante und begann dann mit seiner Arbeit.

Er zog sein Messer, wischte sorgfältig das Blut des hiermit getöteten Wachmannes ab, ehe er es langsam an die Kehle des schlafenden Mannes legte. Sorgfältig setzte er das Messer an, auf seinen Lippen lag ein sanftes Lächeln, so, wie Eltern lächeln, wenn sie ihre neugeborenen Kinder zu Bett bringen. Auch er würde ihn zum schlafen bringen – für immer. Sanft legte er seine linke Hand auf den Mund des Mannes, hinderte ihn somit schon im Keim am schreien. Dann erst drang das Messer langsam und tief in den Hals des Schlafenden, durchtrennte mit einem sauberen Schnitt die Halsschlagader. Ein dicker Strahl Blut floss über die behandschuhten Hände, doch ließ der Mann sich davon nicht abhalten, zog das Messer wieder aus der Wunde und sah den Mann an, sah ihm lächelnd in die Augen. Die Augen des schmalen, blonden Mannes blickten zurück, groß und angsterfüllt. Doch so sehr sich der recht kleine Mann auch unter ihm wand, es nützte ihm nichts. Zu tief war die Wunde, zu gut platziert. Sein Mörder hatte gewusst, was er tat, denn er hatte es schon oft getan, konnte auf jahrelange Erfahrung zurückblicken. Wie schon so oft spürte er das Leben aus dem Menschen unter sich rinnen spüren. Er starb während sein Mörder ihm in die Augen sah, sanft lächelnd in die Augen sah und dabei zusah, wie das Leben langsam aus ihm wich. Dann erst stand er auf, strich dem Toten die Augen zu und verschwand aus dem Fenster. Der Rückweg durch den Garten wurde schwieriger, sehr viel schwieriger, denn der Garten war nicht länger leer. Überall Wachmänner, nur auf der Suche nach ihm. Lächeln. Noch eine Herausforderung an diesem Tage.

Schnell trugen seine Füße ihn über den Rasen, verharrten wann immer möglich hinter einem der Büsche. Freilich war dies ein schwieriges Unterfangen, denn immer noch musste er sich vor den Überwachungskameras in Acht nehmen, da er es sich nicht leisten konnte, der Polizei sein Gesicht zu liefern. Er war niemals erwischt worden oder hatte auch nur einen Hinweis auf seine Person hinterlassen. So sollte es auch bleiben. Erneut hockte er hinter einem Busch, ihm fiel auf, dass jeder nach einer anderen Pflanze roch, der letzte hatte Rosenduft verströmt, dieser hier roch nach Holunder. Der angenehme Duft legte ein Lächeln auf sein Gesicht – für eine gute Tasse Tee ließ er schon gerne einmal alles andere warten. Doch grade hatte er keinen Tee da und so konzentrierte er sich lieber auf seinen Beruf – töten. Die Beretta hatte er schnell in Anschlag gebracht, gezielt hallten seine Schüsse über das Gelände, ein Toter stürzte in den Teich, andere auf den Rasen. Der Mann lief weiter. Rufe wurden hinter ihm laut. Schnell war die Mauer erklommen, er verharrte oben obgleich er dort ein leichtes Ziel darstellte, drehte sich noch einmal um und verschoss die letzten seiner fünfzehn Patronen und sprang dann auf der anderen Seite der Mauer herunter. Schnell lief er die Straße hinunter, als er die Biegung zur U-Bahn Station erreichte zog er die Handschuhe aus und vergewisserte sich, dass nirgendwo an seiner Kleidung Blutspuren hafteten, ehe er die Rolltreppe in die Tiefe nahm. Ein Blick auf die Uhr – perfekt, er würde seinen Flug auch noch erwischen.
 

Juni 2007, Flughafen London-Gatwick

Das Flugzeug stieg in den Himmel auf, ließ das nächtliche London mit all‘ seinen Lichtern, gespiegelt in der Themse, hinter sich zurück. Die meisten Passagiere hatten sich schon in die von den Stewardessen ausgeteilten Decken und Kissen gekuschelt und dösten, beziehungsweise schliefen schon. Der Mann aber hatte weder Decken noch Kissen beachtet, sondern sah von seinem Platz in der letzten Reihe am Gang nur ruhig seine Mitreisenden an, wartete, bis die meisten von ihnen in Morpheus Armen gewiegt wurden.

Dann erhob er sich, ging auf leisen Sohlen zur Toilette und verschloss hinter sich sorgfältig die Türe. Als er sich umdrehte und in den Spiegel sah, blickte ihm ein schwarzhaariger Mann mit braunen Augen, recht kleiner Statur und kaffeebraunem Teint entgegen. Das Spiegelbild lächelte sarkastisch. Dann trat der Mann näher an den Spiegle heran, hob mit der linken Hand das rechte Augenlid an und nahm die Kontaktlinse vom rechten Auge, ehe seine rechte Hand das linke Lid hielt und er auch die andere farbige Kontaktlinse entnahm. Die beiden verbrauchten Linsen spülte er anschließend in der Toilette herunter.

Als er wieder in den Spiegel sah, blickte ein Paar rubinroter Augen zurück. Der Mann griff sich in die schwarzen Haare, packte fest zu und riss einmal kräftig an seinen Haaren. Langsam löste er die Perücke ab, zerkleinerte sie und versteckte sie bei sich. Dann versuchte er, sein eigenes Haar zu kämmen, doch war dies bei seinem wirren, blonden Haar schon immer die einzige Herausforderung in seinem Leben gewesen, welcher er nicht gewachsen war. Seufzend gab er den Versuch auf, wusch sich Gesicht und Hände. Als er jetzt erneut in den Spiegel blickte, sah er einen Mann mit unbändigem blondem Haar mit schwarzen und lilafarbenen Strähnen, roten Augen, kleiner Statur und kaffeebraunem Teint. Er lächelte wieder. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück. Es würde noch einige Stunden dauern, ehe sie in Japan landen würden.

Das Flugzeug flog weiter durch die Nacht, die Passagiere schliefen, nur der Mann saß wach da und aß einen Obstsalat.

Die Hohe Priesterin

Die Hohe Priesterin: Mit Geduld, Gelassenheit und Güte kann sie die Dinge auf sich zukommen lassen. Sie ist sich ihrer Weisheit bewusst und hört auf ihre innere Stimme. Und sie setzt ihre unbewussten Kräfte zum Wohl anderer ein. Sie wird aber nie zuerst aktiv, sondern reagiert nur.
 

Juni 2007, Domino, Japan

Der Junge starrte trübe auf die Cornflakes, die vor ihm in der Milch schwammen. Lustlos rührte er mit dem Löffel in seinem Frühstück herum, machte jedoch keine Anstalten, es zu sich zu nehmen. Die Aussicht auf die bevorstehende Klausur verdarb ihm den Appetit gründlich. Dabei war er nicht mal ein schlechter Schüler, auch nicht faul, aber dafür mit einer angeborenen Nervosität gestraft, welche ihm schon häufiger Ärger bereitet hatte. Mehr noch als er selbst ärgerte sich nur ein Vater darüber.

Auch, als ein Mann in den mittleren Jahren in Chauffeuruniform den Raum betrat und den Jungen durch ein dezentes Räuspern auf seine Anwesenheit aufmerksam machte hatte sich die Menge der Cornflakes in der Schüssel um keine Jota verändert. Das würde sie jedoch auch nicht mehr, denn als der Junge die Anwesenheit des anderen bemerkte erhob er sich vom Tisch und verließ die Küche um sich nach draußen in die Limousine zu begeben, welche ihn zur Schule bringen würde. Der Chauffeur trug ihm derweilen die Schultasche hinterher und verstaute sie im Kofferraum, ehe er dem Jungen die Türe öffnete um dann selbst vorne einzusteigen. Die Limousine, welche eine halbe Stunde später vor dem Schuleingang hielt erregte keinerlei Aufmerksamkeit, denn in den zweieinhalb Jahren, in welchen der Junge die Oberschule schon besuchte, hatten sich alle mittlerweile daran gewöhnt und nur die jüngeren Schüler drehten sich noch nach ihr um. Auch den Jungen kümmerte es wenig, er stieg mit der gleichen Gelassenheit aus der Limousine mit der die anderen aus dem Bus kletterten.

Heute allerdings war er nicht ganz so gelassen, da seine Gedanken beständig um die Klausur kreisten. Natürlich hatte er gelernt, natürlich hatte er gestern noch Seitenweise auswendig aus seinen Büchern vortragen können, doch am Morgen der Klausur war alles wie fortgewischt und nur die Tatsache, dass er wusste, dass es unklug wäre, jetzt noch weiter zu lernen, hinderte ihn daran, jetzt gleich noch einmal seine Nase in besagte Bücher zu stecken. So schlich er nur nervös durch die Gänge, während ihm das Leuten der Schulglocke wie der Ruf der Guillotine erschien. Vor dem Klassenraum angekommen warf er einen Blick auf den aushängenden Sitzplatz um sich dann auf dem ihm zugewiesenen Sitzplatz niederzulassen. Mit einem müden Lächeln und Nicken erwiderte er die „Viel Glück!“ – Wünsche seiner Freunde, ehe der Lehrer den Raum betrat und somit in dem Jungen den starken Drang, sich übergeben zu müssen, auslöste.

Dann lag die Klausur auch schon vor ihm, er atmete tief durch und las die erste Aufgabe durch:

1.1 Beschriften Sie die in Abbildung 1 dargestellten Strukturen (Ziffer 1 bis 23)!

1.2 Bewerten Sie die in Text 1 gemachten Aussagen aus dem Schulbuch von 1964 nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse!

1.3 Beschreiben und zeichnen Sie ein Modell die den heutigen Stand der Erkenntnisse verdeutlichen!

1.4 Gegeben sei eine Helligkeitsverteilung, die durch die Zahlenfolge 30 | 30 | 30 | 15 | 15 | 15 charakterisiert ist….

Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen nahm der Junge seinen Füllfederhalter zur Hand und begann zu schreiben.
 

Stunden später fühlte er sich völlig ausgelaugt, aber froh, es hinter sich gebracht zu haben. Jedoch blieb ihm leider keine Zeit, sich daran zu erfreuen, die letzte Klausur des Quartals überstanden zu haben, denn der Unterricht wartete auf ihn, weshalb er, trotz Müdigkeit, den Flur entlang, die Treppe hinab und dann die nächste Tür links wählte. Allerdings hätte er sich den Gang wohl sparen können, denn im Klassenzimmer herrschte kollektives Massenlangweilen, da nicht genügend Schüler anwesend waren, um Unterricht abzuhalten und der Lehrer scheinbar auch nicht ausreichend motiviert war, um selbigen abzuhalten. So ließ der Junge sich nur auf seinen Stuhl sinken und legte den Kopf auf die Arme und versuchte den Schlaf, den er in der letzten Nacht vermisste hatte, nachzuholen. Doch war ihm bei diesem Unterfangen kein Glück vergönnt, denn sofort wurde er von jenen angesprochen, welche eben mit ihm die Klausur geschrieben hatten und welche nun ihre Ergebnisse mit ihm abgleichen wollten. Dem Jungen war das zwar alles andere als Recht, schon alleine, da er es nicht mochte, Klausurergebnisse im Nachhinein zu vergleichen, doch schlug er den anderen die Bitte nicht ab und ließ sich dazu breitschlagen, mit ihnen zu diskutieren.

Erst Recht froh, als es zum Ende der Stunde schellte, und er die nächste Unterrichtsstunde mit seinen Freunden zusammen wusste machte er sich auf den Weg. Mit besagten Freunden vereinbarte er denn auch sogleich ein Treffen für den Nachmittag in der nur eine Stunde entfernten Stadt mit seinen Freunden um die letzte Klausur des Quartals auch gebührend zu feiern, obwohl zwei von ihnen bereits vor ein paar Tagen besagte letzte Klausur hinter sich gebracht hatten. Deswegen setzten sie sich gleich nach der Schule in die Limousine des Jungen und ließen sich in die Stadt chauffieren. So verbrachten sie einen vergnüglichen Nachmittag in ihrer Lieblingseisdiele hielten die Mädchen der Gruppe erfolgreich davon ab, sinnlos die Klamottengeschäfte zu plündern.

Als es Abend wurde jedoch sank die gute Stimmung des Jungen, denn obgleich seine Eltern sich normalerweise aus seinem Leben heraushielten, ihm sogar das eigene Haus und alles, was er sonst noch wünschte und auch das, was er nicht wünschte, finanzierten, so bestanden sie im Gegenzug doch darauf, dass er jeden Abend mit ihnen in ihrem Anwesen zu Abend speiste. So mussten sich die Freunde aus diesem Grund verabschieden, jene, in deren Orten es keine Bus- und Bahnverbindungen gab, ließen sich mit dem Jungen mitnehmen während die anderen noch bleiben wollten um später mit dem Zug nach Hause zu fahren.

Für den Jungen selbst war dies weniger angenehm, natürlich schätzte er die Annehmlichkeiten, welche ihm der Reichtum seiner Eltern bescherte, das eigene Haus, welches er zu seinem 18. Geburtstag erhalten hatte, die Limousine, das mehr als großzügige Taschengeld, auch, wenn dieses größtenteils auf seinem Konto auf Verwendung wartete. Aber diese Abendessen… und die ganze Zeit durfte er sich anhören, welch große Pläne sein Vater in der Zukunft noch mit ihm hatte… Die letzten, großen Abschlussprüfungen waren in einem halben Jahr und doch verbrachte der Junge jetzt schon fast jede freie Minute mit lernen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sein Vater ihn einen Kopf kürzer machen würde – und dabei war er doch schon so klein! – wenn er nicht als Stufenbester und mit Bestnoten abschloss lag bei hundert Prozent. Der Junge wollte es nicht darauf anlegen… dabei hatte er bereits einen Platz an der besten Universität Japans‘, Geld und mächtige Freunde hatten seinem Vater diese Türe geöffnet. Und nach dem Studium sollte er dann in das Unternehmen seines Vater einsteigen und eines Tages, wenn sein Vater sich zur Ruhe begeben würde, dann würde er der Chef sein und… Ja, das war das Leben, welche sein Vater sich für ihn wünschte, so lange schon wollte, dass für den Jungen nie etwas anderes in Frage gekommen war, er hatte nie daran gedacht, etwas anderes zu tun und es tat ihm auch nicht Leid, wenn er hörte, wie die anderen ihre Zukunft planten, alle Möglichkeiten, die ihnen gegeben waren, ausschöpfen wollten. Das einzige Problem an der Sache war bloß, dass er sich dies alles jeden Abend anhören durfte. Und natürlich die Frage, ob er eine Freundin habe. Diese nämlich würde bald hermüssen, denn die „Dynastie“ musste ja fortgesetzt werden. Aber die Richtige musste es sein und wer die Richtige war, das würden seine Eltern schon wissen, es durfte bloß niemand sein, der ein Skandal hervorgerufen hätte. Es musste alles perfekt sein. Auch dies war etwas, was dem Jungen kein Kopfzerbrechen bereitete, er hatte sich längst an den Gedanken gewöhnt.

Ein wenig demotiviert also betrat der Junge zwei Stunden später das Esszimmer in der elterlichen Villa. Pünktlich. Er war immer pünktlich. Seine Eltern waren es natürlich auch und so konnte um Punkt acht Uhr aufgetragen werden. Die Bediensteten waren ebenfalls pünktlich. Anderenfalls wären sie arbeitslos. Was aufgetischt wurde war nicht von besonderem Belang, niemand beachtete es so genau, denn es war normal, hier die exquisitesten Köstlichkeiten aus aller Welt aufgetragen wurden. Viel eher konzentrierten die Anwesenden ihre Aufmerksamkeit auf das Gespräch.

Der Vater des Jungen – ein Mann Ende 40, recht groß, wohlrasiert mit perfekt geschnittenem schwarzem Haar, welches er färbte um die ersten grauen Strähnen zu verdecken und eisblauen Augen – berichtete von einer Firmenübernahme im großen Stil, welche grade in die Wege geleitet wurde. Dieses Thema war dem Jungen eine willkommene Abwechslung von dem üblichen Tischgespräch, sodass er sich lebhaft daran beteiligte, was ihm das Wohlwollen seiner Eltern eintrug. Dies mochte unter anderem einer der Gründe sein, aus welchem auch seine Mutter – vor allem im Gegensatz zu ihrem Gatten recht klein, blond mit faszinierenden grünen Augen und mysteriösem Alter, denn sie weigerte sich, es irgendjemandem anzuvertrauen und behauptete stattdessen seit Jahren schon, dreißig Jahre zu zählen – ihn nicht nach einer Freundin fragte sondern sich lieber danach erkundigte, wohin er am liebsten im anstehenden Familienurlaub zu fahren gedenke. Der Junge schluckte die bittere Wahrheit hinunter, dass sie zwar jedes Jahr einen solchen Familienurlaub planten, er jedoch noch nie stattgefunden hatte, da seinem Vater im Unternehmen stets etwas dazwischengekommen war, sodass sie den Urlaub doch wieder hatten absagen müssen. Weiter als bis zum Flughafen waren sie nie gekommen, das war vor drei Jahren gewesen und für den Jungen gehörte es zur traurigen Routine, welche er jedoch genauso wenig hinterfragte wie seine berufliche und private Zukunft, ausgemalt von seinen Eltern.

Der Abend wurde in diesem Sinne doch nicht so schlimm, wie der Junge es befürchtet hatte, dennoch war er froh, als er sein eigenes Haus wieder betrat und für sich war. Besagte Freude allerdings schwand, als ihm bewusst wurde, dass er keinerlei Hausaufgaben erledigt hatte. Er stöhnte. Das würde eine lange Nacht werden. Doch führte kein Weg daran vorbei, sodass er sich wohl oder übel jetzt würde daran setzen müssen. Schweren Herzens ging er in sein Schlafzimmer, nahm seine Schulsachen heraus, warf sie aufs Bett und sich selbst gleich hinterher. Weit kam er allerdings nicht, denn immer wieder musste er sich gegen seine Müdigkeit erwehren. Wegen der Klausur hatte er schon in den letzten Tagen kaum Schlaf gefunden, eigentlich hatte er sich darauf gefreut, an diesem Tag endlich noch einmal früh ins Bett zu kommen, da jedoch da auch nichts draus wurde, lag seine Motivation unter dem Nullpunkt. Lustlos kritzelte er einige Sätze hin, ehe er sich seinen Masterplan zurechtlegte, welche Hausaufgaben er von welchem seiner Freunde abschreiben könne. So einigermaßen beruhigt war das einzige, was ihn noch kümmerte die Dusche und dann endlich sein Bett.

Doch fürs erste tat bereits die Dusche ein kleines Wunder, löste die Verspannungen, welche er sich mal wieder eingefangen hatte. Als er nach der Dusche eine Boxer überzog fühlte er sich schon besser. Daran änderte auch der scheiternde Versuch, seine dreifarbigen, wirren Haare zu ordnen nichts – sie mochten sich zwar den Anschein einer Ordnung geben solange sie noch nass waren, doch erfahrungsgemäß wusste der Junge, dass sich dies sehr schnell ändern wurde, sobald sie erst trocken waren. Die amethystfarbenen Augen blickten leicht genervt, doch hatte er sich bereits damit abgefunden, vor allem, da er sich weigerte, sie von seinem Vater vorgeschlagene Alternative zu ergreifen und sein Haar mit Gel nach hinten zu gelen.

Den Kopf schüttelnd räumte er sein Bett von den störenden Schulutensilien frei, indem er sie einfach auf den Boden warf und sich anschließend ins Bett fallen ließ. Im Halbschlaf zog er noch die Decke um sich, dann jedoch kam der Schlaf endgültig über ihn, ließ ihn sofort tief und traumlos schlafen, und wenn die Welt untergegangen wäre, es hätte ihn nicht gestört, er hätte es nicht bemerkt. Und in der Tat wäre seine Welt in dieser Nacht beinahe untergegangen, während er schlafend und ahnungslos danebenlag, doch das wusste er noch nicht, konnte er nicht wissen, würde er auch nicht bemerken, bis es zu spät war.

Der Turm

Der Turm: Eigentlich bedeutet er Macht und Überlegenheit. Das kann aber auch trügerische Sicherheit sein. Denn wenn der Turm wankt, wird das oft als Katastrophe gesehen. Deshalb gilt er als Warnung, eingeschlagene Wege zu verlassen.
 

Juni 2007, Domino, Japan

Der Mann saß draußen, auf dem Balkon. Der Frühling war warm genug, um auf dem Balkon zu frühstücken und so genoss der Mann seinen Kaffee zusammen mit den wärmenden Strahlen der Sonne. Sein Handy, das auf dem Tisch lag, schnurrte leise, als der Vibrationsalarm losging, da das Handy auf stumm geschaltet war. Doch ignorierte der Mann es, las stattdessen weiter seinen Zeitungsartikel – wer immer auch etwas von ihm wollte, er würde schon wieder anrufen. In seinen Artikel vertieft lächelte er vor sich hin – es war ein gutes Gefühl, die Macht zu besitzen, andere Menschen dazu zu bringen, zu betteln, damit er ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte. Und ja, sie bettelten und sie fürchteten. Der Mann mochte Macht – seine Macht. Gemütlich trank der Mann einen Schluck seines Cappuccino, während das Handy endlich Ruhe gab. Dann blätterte er weiter durch die Zeitung, ließ sich alle Zeit der Welt, hielt hier und dort an um sich in einen ihm interessant erscheinenden Artikel zu vertiefen, ehe wieder weiter blätterte, auf der letzten Seite schließlich die Kreuzworträtsel belächelte, die so berechenbar einfach waren, dass es sich nicht lohnte, sie zu lösen. Stattdessen lehnte er sich zurück und trank den letzten Schluck seines Cappuccino, ließ sich genüsslich den Schaum auf der Zunge zergehen ehe er das Handy aufnahm und nachsah, wer ihn eben zu erreichen versucht hatte. Sein Blick blieb gleichgültig, seine Kunden waren ihm gleichgültig. Mit ausdrucksloser Miene rief er die angegebene Nummer zurück, musste nicht lange warten, ehe abgehoben wurde. „Hallo.“, sagte er, seine Stimme klang lauernd und gefährlich, einfach so, weil es ihm Spaß machte, den anderen vor Angst stottern zu hören, zu wissen, dass seine verschwitzten Hände nun nervös das Telephon umklammern würden während sein Blick unruhig durch den Raum, in dem er sich befand huschen würden. Der Gedanke amüsierte den Mann. Weniger amüsant aber umso nerviger empfand er dagegen den einschmeichelnden Redeschwall, der nun zu hören war und der ihn offensichtlich gütig stimmen sollte. Da das Gegenteil der Fall war unterbrach er seinen Gesprächspartner mit einem groben „Rede!“ was den Mann zu einem erschreckten Stottern brachte, ehe er schnell und bemüht präzise dem Mann mitteilte, wen er gerne tot wüsste. Leicht mit dem Kopf nickend hörte der Mann zu, überlegte. Er hatte schon von seinem nächsten Opfer gehört, ein wenig zumindest. Ihn zu töten wäre leicht. Dennoch sagte er grinsend in den Hörer:„Das wird teuer.“ Der Mensch am anderen Ende der Leitung protestierte entrüstet, doch der Mann wich nicht von dem, was er gesagt hatte ab. Immerhin war diese Person nicht unbedeutend, sie zu töten würde einen der mächtigsten, weil reichsten, Männer des Landes einen schweren Schock versetzten, dieses Opfer hatte einen hohen Wert. Der Gesprächspartner des Mannes wusste es. Er lenkte ein. Der Mann gab seinem Gesprächspartner eine E-Mail Adresse, unter der er ihm die restlichen Informationen zusenden sollte, dann legte er auf. Er steckte sich das Handy in die Hosentasche, nahm die leere Tasse in die eine und die Zeitung in die andere Hand und trat zurück ins Innere des Hauses, wo die Zeitung im Müll und die Tasse in der Spülmaschine landete. Dann fuhr er sein Notebook hoch um über sein Opfer einige Recherchen anzustellen – er bevorzugte es, dies selbst zu tun, da er niemandem traute und sich seiner Informationen sicher sein wollte. Nebenbei wartete er auch auf die E-Mail – und wehe, sie kam nicht rechtzeitig, dem Mann war es egal, ob er nun Opfer oder Auftragsgeber tötete, solange er sein Geld bekam. Er hatte zwar an sich genügend Geld um nie wieder arbeiten zu müssen und war außerdem der Ansicht, dass bei seinem Tod möglichst wenig Geld auf seinem Konto sein müsse, da es ja eh an den Staat fiele, doch auch, wenn er ein sehr rationaler Mensch sein mochte, so wusste er die Annehmlichkeiten des Lebens wohl zu schätzen – und sei es nur eine Tasse Cappuccino am Morgen. Und außerdem mochte er seinen Job.

Es dauerte denn auch in der Tat nicht lange, ehe die erwartete E-Mail in seinen Empfangskorb flatterte. Allerdings fand sie dort zunächst keine Beachtung, da der Mann es vorzog, zuerst selbst zu lesen, was er soeben in den Tiefen des Internets gefunden hatte. Es war nicht allzu viel, jedoch zusammen mit den Angaben in der E-Mail erwiesen sich die Angaben als ausreichend. Wohnort und Angewohnheiten waren erst einmal das wichtigste und vor allem der Wohnort machte es ihm sehr leicht. Scheinbar war sein Opfer sich zu fein bei seinen Eltern zu leben besaß im zarten Alter von achtzehn Jahren eine eigene Wohnung. Was für ihn weniger anwesende Sicherheitsmänner und –maßnahmen bedeutete. Ein leichtes Opfer, also, aber dennoch ein wertvolles. So machte sein Job doch Spaß, dachte er grinsend, während er den Drucker einschaltete und die benötigten Informationen ausdruckte. Anschließend schnappte er sich das Blatt mit der Adresse, seinen Wohnungsschlüssel und verließ sein Appartement. Es dauerte nicht lange um zur Wohnung des Jungen zu gelangen, was nicht weiter verwunderlich war. Natürlich, er hatte reiche Eltern, er würde sich nicht mit einer zweitklassigen Studentenwohnung zufriedengeben, von Geburt an reiche Menschen waren so, gierig, verständnislos. Also wohnte er bereits jetzt im nobelsten Viertel der Stadt, nicht, dass er je dafür gearbeitet hätte. Er hatte es aufgegeben, darüber nachzudenken, es war eh immer dasselbe, war man arm geboren blieb man es, man kam nicht nach oben, wurde nicht gelassen – außer, man ging seine Wege, wurde Auftragskiller, Prostituierter, etwas in diese Richtung eben.

Kurze Zeit später saß er in einem Cafe gegenüber der Wohnung, trank einen Latte Macchiato und beobachtete die Wohnung des Jungen. Dieser war nicht zuhause, jedoch hatte er es lieber, sich erst mit den Verhältnissen des Jungen vertraut zu machen, ehe er weiter ging – es gab keinen Grund, ein unnötiges Risiko einzugehen. Jedoch schien die Gegend ruhig zu sein, nichts, vorüber man sich Sorgen machen müsse. Er trank seinen Milchkaffe aus, klemmte das Geld unter das Glas und stand auf, schlenderte über die Straße, ins Haus, nicht schnell genug um verdächtig zu sein, nicht langsam genug, um verdächtig unauffällig zu sein, grade so, als wolle er jemanden besuchen. Im Haus war die richtige Etage und die richtige Türe schnell gefunden, mit gezückter Kreditkarte verschaffte er sich Zutritt, schloss die Türe danach sorgfältig und dann begann er damit, sich zunächst mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen, ehe er gründlich in allen Schränken und Schubladen nachsah, ob irgendwo Waffen versteckt lagen. Jedoch fand er nichts, was ihm hätte gefährlich werden können, jedoch allerhand anderes, was ihm viel über den Charakter des Jungen verriet. Es amüsierte ihn, sich zu überlegen, wie der Charakter des Jungen wohl sein mochte, indem er anhand seiner Besitztümer darauf schloss. Und es war noch amüsanter zu betrachten, dass sie gewisse Gemeinsamkeiten aufzuweisen schienen. Gewisse Interessen – so ihr Musikgeschmack – schienen übereinzustimmen. Jedoch stellte er diese Dinge rasch wieder zurück an seinen Platz – es war niemals gut, eine emotionale Bindung zu seinen Opfern aufzubauen. Die letzte CD noch in der Hand horchte er plötzlich auf, als Schritte auf der Treppe erklangen. Kam jemand hierher? Rasch schob er die letzte CD ins Regal und blickte sich um auf der Suche nach einem Versteck. Hinter einem Vorhang und die Hand am Fenstergriff um schnell verschwinden zu können, harrte er in dieser unbequemen Position. Doch die Schritte kamen und gingen, er hörte sie ein Stockwerk höher und atmete erleichterte aus, bevor er von der Fensterbank zurück ins Zimmer sprang und sich weiter umsah. Doch etwas Interessanteres als die AC/DC CDs fand er nicht mehr. Nach einer Weile jedoch, als er alles durchgesehen hatte und sich versichert hatte, nichts verändert zu haben verließ er die Wohnung ebenso heimlich wie er sie betreten hatte.

Der Nachmittag wurde stressiger, er musste sich einen Weg hinein überlegen, mögliche Fluchtwege hinaus sowie die beste Art, sein Opfer zu liquidieren. Für eine Schusswaffe beispielsweise war es eine zu ruhige Gegend, man würde es hören, selbst mit Schalldämpfer war es ihm zu risikoreich. Gifte setzte er ebenfalls nur ein, wenn es sich anders nicht machen ließ, sie waren ihm zu indirekt zu passiv. Was ihm also blieb waren Garotte und Messer. Die Garotte war jedoch im Vergleich zum Messer nicht schnell genug, sodass er sich für selbiges entschied. Dazu folgten einige weitere Waffen, nur für den Fall. Als er alles fertig hatte legte er sich nieder, er würde heute Abend alle seine Kräfte benötigen, da war dies das Beste, was er tun konnte.

Jedoch war ihm keine Ruhe beschert, Albträume quälten ihn und er vermochte nicht länger als eine halbe Stunde Schlaf zu finden, ehe er es schließlich aufgab und das Fernsehen einschaltete. Doch es langweilte ihn, ungeduldig schaltete er durch die verschiedenen Kanäle, wartete darauf, dass es spät genug wurde um aufzubrechen, die Jugendlichen blieben ja auch immer länger auf. Dann jedoch war es ein Uhr, wenn er sich jetzt auf den Weg machte, würde er zu einer annehmbaren Zeit da sein. So zog er sich seine bevorzugte schwarze Kleidung an, verstaute seine Waffen und verbarg schließlich seine auffällige Haarpracht unter einer Perücke – diesmal brünett. Auf Kontaktlinsen verzichtete er dieses Mal, es schien einfach genug zu werden, da war dieser Aufwand überflüssig. So machte er sich kurze Zeit später auf den Weg, einen Mantel übergeworden, um seine auffällig unauffällige Kleidung zu verbergen. Der Weg, nicht weit, war schnell zurückgelegt, wenn auch über Umwege, denn er konnte es sich nicht leisten, gesehen zu werden, vor allem, da er dieses Mal so nahe an seinem Opfer wohnte – normalerweise reiste er hierzu in andere Städte, sodass er nicht Gefahr lief erkannt zu werden. Nun jedoch kannten ihn viele Leute, der Ort war nicht so groß, dass man sich nicht kannte und er fiel schon alleine wegen seiner Haare auf. Nicht, dass er nicht schon alles versucht hätte, sie zu bändigen, doch wollte es nicht gelingen und somit blieben sie sein einziges Manko als einer der weltbesten Auftragsmörder – und das im Alter von zwanzig Jahren.

Nun jedoch stand er vor der Tür des Jungen, er war durchs Dach in das Haus gestiegen, hatte sich jedoch versichert, dass keine Bodyguards oder Überwachungskameras ihn bei seinem Vorhaben stören würden. Dass es keine gab war fast zu gut um wahr zu sein – sollte man es ihm wirklich so leicht machen, konnte jemand in seiner Position wirklich so dumm sein, sich zu einem derart leichten Opfer zu machen? Er konnte es kaum glauben, doch ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er zum zweiten Mal die Wohnung des Jungen betrat. Er schloss leise die Tür hinter sich, blieb stehen und horchte in die Stille hinein. Doch da war nichts. Draußen fuhr ein Auto vorbei, ansonsten war es still. Niemand anders war anwesend außer ihm und seinem Opfer, er konnte seinen gleichmäßigen Atem durch die offene Schlafzimmertüre hören. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht als er Dolch zückte und auf leisen Sohlen der Quelle des Atems‘ nachging. Er fand den Weg trotz der Dunkelheit mühelos, deswegen war er am Vormittag ja bereits hier gewesen. Nur der nun herrschenden Unordnung musste er ausweichen und er unterdrückte einen ärgerlichen Fluch, als sein Fuß gegen die geöffnete Schultasche stieß, aus der ein Packen dicker Bücher quoll. Er drückte sich gegen die Wand und atmete so flach wie möglich und wartete. Nichts geschah. Dennoch wartete er lieber etwas länger, ehe er sich schließlich von der Wand löste und langsam weiterschlich.

Im Schlafzimmer war es überraschend hell, die Vorhänge waren nicht zugezogen und der Mond schien ins Zimmer, gleich auf das Bett, welches an der Wand, gleich unter dem größten Fenster des Raumes stand. Er blieb jedoch im Türrahmen stehen, verborgen im Schatten und versuchte den Schläfer zu beobachten. Welch Geschenk… Welch großes Geschenk einfach im Schlaf einsterben zu können… Er war sich ziemlich sicher, in spätestens zehn Jahren entweder von der Konkurrenz oder der Polizei erschossen worden zu sein, jedoch schreckte ihn der Gedanke nicht, so verlockend es auch sein mochte, im Schlaf zu sterben, fand er die Aussicht doch nicht verlockend, eines Tages als alter Mann bewegungsunfähig im Bett zu liegen und auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein. Er mochte seine Unabhängigkeit.

Jedenfalls… der Junge schien ruhig zu schlafen, auch wenn dies schwer zu erkennen war, trotz des Lichts, welches direkt auf ihn fiel, da er unter der Decke versteckt lag und das Gesicht von ihm abgewandt hatte. Alles, was er sehen konnte, war ein unordentlicher Schopf dreifarbiger Haare, aber das war nichts Neues. Er hatte ja bereits ein Photo des Jungen gesehen, auf dem er eine beinahe erschreckende Ähnlichkeit hatte entdecken müssen. Es war nichts, worum er sich Gedanken machte, eher etwas, was ihn amüsierte. Und vor allem war es nichts, was ihn daran hindern würde, ihn zu töten. Langsam und bedacht darauf, kein Geräusch zu verursachen trat er an das Bett heran. Der Junge regte sich im Schlaf, doch er schien zu tief zu schlafen, der Mann trat näher an das Bett heran, eine Hand streckte sich nach seinem Mund aus um jeden Schrei im Keim zu ersticken, die andere Hand hob das Messer.

Der Hängende

Der Hängende: Er zeigt uns eine klassische Sackgasse. Wir haben uns festgefahren und kommen auch mit Kampf nicht weiter. Deshalb heißt es: Umdenken, umkehren, einen anderen Weg suchen.
 

Juni 2007, Domino, Japan

Der Junge regte sich erneut, drehte sich leicht und murmelte dabei unverständlich etwas vor sich hin. Der Mann gab nichts darauf, konzentrierte sich auf seinen Job, als der Junge sich erneut bewegte. Was hatte er auch einen so unruhigen Schlaf… Er warf einen Blick auf das nun gut sichtbare Gesicht des Jungen – und zuckte zurück. Er hatte ein Photo von ihm gesehen, natürlich, doch dies war eines jener Photos gewesen, wie man sie für die Presse machte, mit einen aufgesetzten Lächeln und kalten Augen. Er hatte nicht damit gerechnet, wie der Junge aussehen würde, wenn es kein Photo war, nicht, dass das je wichtig gewesen wäre, aber… aber… dieser Junge… irgendetwas stimmte nicht, er konnte nicht sagen was, aber es fühlte sich definitiv nicht richtig an, dieses Messer über ihn zu halten in der Absicht ihn zu töten. Langsam ließ er es sinken und verstand sich selbst nicht, dabei. Der Junge murmelte erneut etwas, er verstand die Worte nicht, sie waren zu leise, aber das machte nichts. Alleine der Klang genügte, um ihm einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Seltsamerweise keinen unangenehmen Schauer. Wie paralysiert starrte der Mann noch immer auf den Jungen, der doch unmöglich sein Opfer sein sollte, er wusste, er würde es nicht können. Diese weichen Gesichtszüge – er war sicher, auf dem Photo hatten sie härter gewirkt – und dieser Zug um seinen Mund, der ihn permanent zu lächeln scheinen ließ. Es war… faszinierend… Und er würde ihn auf gar keinen Fall töten können, er wusste es. Doch das war nicht möglich, er hatte noch nie ein Opfer nicht getötet. Entschlossen umschloss er den Griff des Dolches fester, legte eine Hand auf den Mund des Jungen – und zuckte erneut zurück. Diese Haut… weich und samtig… oh Gott (und er glaubte nicht einmal mehr an Gott), er konnte nicht. Hastig sprang er auf, warf dabei einen Stapel Zeitschriften neben dem Bett um und kümmerte sich nicht einmal mehr wirklich darum. Er stolperte nur noch aus der Wohnung, warf dabei diverse andere Gegenstände um, doch um nichts davon kümmerte er sich, er lief einfach immer weiter, länger, als er gebraucht hätte, doch er fühlte sich rastlos, wann immer er langsamer wurde, sodass er rannte, bis er nicht mehr konnte, da erst kehrte er in seine Wohnung zurück. Wütend warf er seine Kleidung und seine Perücke von sich und duschte eiskalt. Doch auch nach alledem konnte er seinen Kopf nicht klar bekommen, wusste nicht, was geschehen war. Zwar versuchte er, zu schlafen, doch gelang es ihm eben so wenig wie es ihm Stunden zuvor gelungen war, doch dieses Mal waren es keine Albträume, die ihn abhielten, sondern seine eigenen Gedanken.
 

~*~*~*~
 

Der Wecker klingelte viel zu früh. Es musste einfach zu früh sein, denn es konnte doch unmöglich jetzt schon sechs Uhr sein, er hatte sich grade erst schlafen gelegt… Unwillig schaute der Junge auf die Uhr – und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass es tatsächlich Zeit wurde seinem Bett Lebewohl zu sagen. Die Augen verdrehend streckte er die Füße aus dem Bett – und wäre beinahe auf einem umgekippten Stapel Zeitschriften ausgerutscht. Wie kam der denn dahin? Hatte er ihn nicht noch am Vorabend – aber ach, er war wohl zu müde gewesen um sich recht daran zu erinnern. Kopfschüttelnd tappte er ins Bad in der Hoffnung, die Dusche würde ihn aufwecken. Tat sie dann zum Glück auch, sodass er sich danach auf den Weg in die Küche machte, sich im Kühlschrank ein Frühstück suchte. Er musste noch einmal einkaufen gehen, gleich heute Nachmittag, nach der Schule, nahm er sich vor. Schnell schlang er ein paar Bissen hinunter. Dann suchte er seine Schulsachen in aller Eile zusammen um zur Schule zu gehen. Dabei erst – jetzt, wo er etwas wacher war – fiel ihm die Unordnung in seiner Wohnung auf. Er war zwar müde gewesen aber doch nicht so müde… Etwas erstaunter und nun auch aufmerksamer sah er sich genauer um und je mehr er sah desto sicherer war er sich, dass er dieses ganze Chaos nicht verursacht haben konnte. Da waren viel zu viele Ungereimtheiten… Es musste jemand in seiner Wohnung gewesen sein während er geschlafen hatte. Der Gedanke war überaus beängstigend und er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, so, als habe jemand sein Innerstes gleichsam mit seiner Wohnung durchwühlt. Ob etwas fehlte? Er seufzte. Sein Vater hatte ihm immer damit in den Ohren gelegen, dass er mehr auf seine Sicherheit achten sollte und angesichts dessen, was nun geschehen war, überlegte er, ob er vielleicht darauf zurückkommen solle. Jedoch konnte er jetzt noch nicht nachsehen, ob denn auch etwas gestohlen worden war, denn er musste wirklich los, wollte er nicht zu spät zur Schule kommen. Also verließ er seine Wohnung, konnte jedoch nicht aufhören, über den Vorfall nachzugrübeln.

Zwar gelang es ihm sich auf den Unterricht zu konzentrieren, dies aber auch nur, weil sein Vater ihm von klein auf klar gemacht hatte, wie ungeheuer wichtig gute Noten seien. In den Pausen jedoch schweiften seine Gedanken schnell ab, sodass es nicht lange dauerte, bis seine Freunde seine permanente geistige Abwesenheit registrierten. Bereits in der großen Pause spürte er eine Hand auf seiner Schulter, welche schwer dort lastete und ihn dazu veranlasste, sich umzudrehen. Er blickte ihn fröhliche blaue Augen die unter einem Gestrüpp blonder Haare zu ihm hinabsahen. Er hasste es, so klein zu sein. Jedoch vermittelte grade dieser Junge ihm nicht das Gefühl von Unterlegenheit, immerhin war es sein bester Freund, Jounouchi. Den Namen mochte er allerdings nicht, sodass die Kurzform Jono vollkommen ausreichend war. Jono nun sah ihn fragend an, er wusste, dass etwas nicht stimmte, nur was das war, das musste er noch ergründen. Ein wenig zögerlich bekam er jedoch dann seine Antwort:„Ich glaube, jemand hat bei mir zu Hause eingebrochen…“ Der Blonde schüttelte leicht den Kopf, nicht ablehnend, sondern missbilligend. „Das würde mich nicht wundern, wenn man bedenkt, wie steinreich deine Eltern sind. Wurde denn viel gestohlen?“ Der Junge zuckte unverbindlich mit den Schultern:„Weiß nicht, hab keine Zeit gehabt um nachzusehen.“ Jono lachte laut auf:„So reich möchte ich auch mal sein, dass ich mich nicht darum zu kümmern brauche, was gestohlen wurde!“ „Hey!“, verteidigte sich der Kleinere, „Ich hab drüber geschaut aber ich hatte keine Zeit und außerdem sieht es eigentlich nur unordentlich aus!“ Seine Freunde lachten und Honda gluckste:„Nur weil du betrunken ein Chaos veranstaltest brauchst du uns doch nicht in Panik zu versetzen!“ Alle lachten und auch der Junge konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren – jedoch wusste er, dass es nicht so leicht war, er hatte am gestrigen Abend nicht getrunken. Doch fürs erste war das Thema vom Tisch, in der Tat hatte er ja nur Unordnung bemerkt – er würde nach der Schule noch einmal nachsehen müssen.

Als er an diesem Nachmittag seine Wohnung betrat herrschte immer noch das Chaos. Der Anblick ließ ihn seufzen, doch dann stellte er seine Schulsachen in eine Ecke und machte sich daran, alles wieder aufzuräumen, wobei er auch gleichzeitig überprüfen konnte, was fehlte und was nicht. Zu seinem Glück bemerkte er aber hierbei, dass ihm nichts gestohlen worden war. Offensichtlich hatte jemand wirklich nur in seinen Sachen gewühlt, war dabei aber recht oberflächlich gewesen, denn die Schubladen und Schränke schienen unberührt, das Chaos herrschte lediglich auf den Böden und Ablageflächen – und zwar, wie ihm bewusst wurde als er einen Stoß Zeitschriften neben seinem Bett endlich in den Mülleimer brachte, auch hier nur auf dem Weg von der Eingangstür bis zu seinem Schlafzimmer. War jemand in der vergangenen Nacht in seinem Zimmer gewesen während er geschlafen hatte? Der Gedanke war beängstigend.
 

~*~*~*~
 

Nach einer viel zu langen Nacht machte der Morgen die Nacht nicht wett. Unausgeschlafen und verwirrt schleppte der Mann sich durch seine Wohnung und wusste nichts mit sich anzufangen. Er machte sich Frühstück, hatte dann aber keinen Hunger, es zu essen. Er duschte, war aber hinterher zu faul zum Haare föhnen oder ankleiden sodass er nackt und nass durch seine Wohnung lief, vollkommen rastlos. Das Läuten des Telephons war eine regelrechte Erlösung, denn es gab ihm etwas Sinnvolles zu tun. Vorher atmete er jedoch noch einmal tief durch, dann hob er den Hörer ab. Statt sich zu melden wartete er einfach ab, bis sein Gegenüber etwas sagte, mal wieder, um seinem Gesprächspartner zu demonstrieren, dass er ihm überlegen war. Dieses Mal jedoch schien der Mann am anderen Ende der Leitung sich wenig unterlegen zu fühlen. „Der Junge lebt noch.“, klang es unfreundlich aus dem Hörer. „Ja, ich weiß.“, erwiderte der Mann, seine Stimme klang vollkommen ruhig und sicher, obwohl es in seinem Inneren ganz anders aussah. Aber er konnte sich ja selbst nicht erklären, weswegen der Junge noch am Leben war. „Die Umstände waren ungünstig. Ich werde heute Abend nachholen, was gestern nicht möglich war.“ Die Stimme aus dem Hörer grummelte ungehalten, woraufhin der Mann ihn mit schneidender Stimme unterbrach:„Wollen Sie diesen Job nun vernünftig erledigt haben oder nicht?!“ Diese Maßnahme erwies sich als sehr förderlich, seinem Gegenüber schien wieder bewusst zu werden, dass er mit einem Auftragsmörder sprach. „Natürlich!“, erwiderte er rasch und sehr zu seiner Befriedigung war da ein Zittern in der Stimme am Apparat zu vernehmen. Ohne zu antworten legte der Mann auf und warf das Handy achtlos auf die Couch. Mit den Fingern fuhr er sich durch sein Haar, es war immer noch feucht. Leise seufzend trocknete er sich nun doch ab und kleidete sich sogar an.

Dann setzte er sich nach draußen, auf den Balkon, nippte an seinem Latte Macchiato und überlegte, wie er denn heute Abend den Jungen töten sollte, wo er es doch schon in der vergangenen Nacht nicht geschafft hatte. Und wieder tat sich die quälende Frage auf: Warum hatte er ihn nicht töten können?

Da war etwas Menschliches… Und damit kam er nicht klar.
 

Der lange Schatten der Straßenlaterne berührte nur fast seine Schuhe. Die Sonne stand bereits sehr tief, aber da der Junge immer noch nicht zu Hause angekommen war, stand der Mann nach wie vor draußen vor dem Haus und wartete auf ihn. Allmählich stellte sich ihm die Frage, ob der Junge überhaupt noch nach Hause kommen würde. Wenn er bemerkt hatte, dass er da gewesen war – und er war sicher, dass er bemerkt worden war, in seiner Panik die Wohnung wieder zu verlassen musste er ein ganz schönes Chaos verursacht haben – dann bestand die Möglichkeit, dass er diese Nacht woanders übernachten würde. Leider hatte seine Verwirrtheit ihn heute davon abgehalten, den Jungen zu überwachen, sodass er nicht wusste, wo er steckte, er vermutete nur, dass er wie jeden Abend bei seinen Eltern zu Abend aß und danach zurück in seine eigene Wohnung kehren würde. Erst jetzt fiel ihm ein, dass der Junge nun womöglich Alarmanlage installiert haben würde oder andere Sicherheitsmaßnahmen getroffen haben könnte. Der Mann verstand sich immer weniger… Wie konnte er nur einen derart banalen Fehler begangen haben? Der Junge war nicht wie seine anderen Opfer gewesen, das stimmte. Aber interpretierte er da nicht zu viel? War es wirklich so unmöglich ihn zu töten? Vermutlich hatte die schlaflose Nacht seine Probleme nur größer erscheinen lassen, als sie es in Wirklichkeit waren. Das zumindest hoffte er…

Dennoch, obwohl er nicht wusste, was er tun solle, hoffte er, dass der Junge bald nach Hause kommen möge. Am besten, er tat es ganz schnell, tötete ihn, ohne hinzusehen, dann hatte es nichts Menschliches mehr, nichts mehr, was ihn abhielt. Er wusste, wie wichtig der Tod dieses Jungen für ihn war – nicht, aus finanzieller Sicht, natürlich nicht, aber sein Auftraggeber wurde allmählich ungeduldig. Und was ungeduldige Auftraggeber taten war ihm wohl bewusst, nicht selten hatte er selbst den einen oder anderen Auftragsmörder ermordet, weil dieser den Wünschen eines Auftraggebers nicht schnell genug oder in der gewünschten Weise nachgekommen war. Und er hatte nun einmal keine Lust darauf, sein Leben von nun an auf der Flucht vor seinen Kollegen zu verbringen.

Also musste er den Jungen töten – oder er starb selbst.
 

Als er aufblickte sah er den Jungen die Straße entlang schlendern und dann seine Wohnung betreten.

Die Herrscherin

Die Herrscherin: Sie ist das Symbol für Wachstum, Fruchtbarkeit und Kreativität. Sie kann sowohl für eine Schwangerschaft stehen wie auch für Wachstum in anderen Lebensbereichen. Außerdem verkörpert sie künstlerische Energie sowie Ideen- und Erfindungsreichtum.
 

Juni 2007, Domino, Japan

Der Mann seufzte tief. Das Erscheinen des Jungen war gut, natürlich war es das. Jetzt konnte er ihn töten. Er wartete, beobachtete die Lichter in der Wohnung des Jungen an und aus gehen und als sie eine halbe Stunde alle aus waren schlich er sich hinter dem Jungen in die Wohnung. Vor der Schlafzimmertüre atmete er noch einmal tief durch, dann öffnete er die Türe langsam und ging mit der Beretta 92 FS im Anschlag auf den Jungen zu. Den Fehler mit dem Messer würde er nicht noch einmal machen. Mit der Pistole konnte er aus Distanz töten, er würde dieses Gesicht nicht sehen müssen, dieses faszinierende Gesicht, welches immer zu lächeln schien, immer Freundlichkeit ausstrahlte… Ehe er sich versah hatte er sich auch schon über den Jungen gebeugt und konnte, kaum, dass sein Blick auf den friedlich Schlafenden gefallen war, den Blick nicht mehr abwenden.
 

Sonnenstrahlen fielen auf das Gesicht des Jungen. Es wirkte noch schöner als das Mondlicht. Das war die erste Erkenntnis. Die zweite Erkenntnis war, dass er die gesamte Nacht damit verbracht hatte, dem Jungen beim Schlafen zuzusehen.

Er sprang von der Fensterbank – er hatte sich auf die Fensterbank gesetzt? – und warf einen letzten Blick auf den Jungen. Er wusste, er würde es nicht können, er würde ihn nicht töten können. Er wusste, er benötigte eine Lösung. Er atmete tief durch – und verließ die Wohnung. Er musste sich etwas einfallen lassen.
 

~*~*~*~
 

Der Blick des Jungen wanderte kritisch durch den Raum. Doch es war alles so, wie er es am Abend zuvor verlassen hatte, nichts war verändert. Wie es schien, hatte ihn diese Nacht niemand heimgesucht. Er seufzte. Es war schon ein seltsames Gefühl, sich nun wieder in das Bett zu legen und zu versuchen, wieder ruhig zu schlafen. Gut hatte er demnach auch nicht geschlafen, aber immerhin hatte er überhaupt geschlafen. Der unruhige Schlaf hatte darüber hinaus dazu geführt, dass er früh genug erwacht war um sich nicht hetzen zu müssen. So setzte er Kaffee auf, und wusste dann erst einmal gar nichts mit sich anzufangen, bei so viel Freizeit. Etwas unruhig ging er in der Wohnung auf und ab – ein seltsames Gefühl war es immer noch. Gestern hatte er noch beim Schlosser angerufen, dieser würde morgen alle seine Türschlösser austauschen und in einer Woche würde auch seine Alarmanlage installiert werden, zu welcher sein Vater ihn gestern Abend noch überredet hatte. Danach würde er sich sicher besser fühlen. Sicher!, bestärkte er sich selbst, während er vorsichtig an dem heißen Kaffee nippte.

Dennoch blieb seine Ruhe rein äußerlich, als er zur Schule ging, den Unterricht verfolgte, mit seinen Freunden alberte und schließlich in seine Wohnung zurückkehrte. Seine Schulsachen landeten unbeachtet in der Ecke und er ging erst einmal in die Küche. Die leere Kaffeetasse vom Morgen stand noch auf der Anrichte und so räumte er sie in die Spülmaschine. Er wollte grade überlegen, was er zum Mittagessen zubereiten solle oder ob er doch lieber den Pizza-Service bemühen wollte – wozu war man schließlich reich genug andere für sich kochen zu lassen? – da wurde sein Blick wie magisch von etwas angezogen.

Auf seinem Küchentisch lag ein Briefumschlag.

Ein großer, weißer Briefumschlag, mitten auf dem Tisch, kaum zu übersehen. Seltsam genug, dass er ihn noch nicht bemerkte hatte. Zögerlich trat er näher während sein Herz wie wild pochte. Er traute sich kaum, den Umschlag in seine Hand zu nehmen, als befürchte er, dieser könne durch seine Berührung explodieren. Die Botschaft, welche dieser Brief übermittelte, war an sich schon sehr beängstigend. Erneut war jemand in seiner Wohnung gewesen. Einfach so. Sehr langsam und vorsichtig nur nahm er ihn in die Hand und drehte ihn erst einmal in Händen. Jedoch gab er keine Auskunft darüber, was drinnen sein könnte, er war nicht beschriftet, aber sauber zugeklebt.

Langsam sank der Junge auf einen der Stühle. Sein Herz raste immer noch und er spürte Panik in sich aufsteigen. Mit tauben Fingern schickte er sich an, den Briefumschlag zu öffnen, doch bei dem Zittern seiner Finger war das gar nicht so leicht. Als der Brief schließlich offen war, fielen zwei Dokumente heraus. Neugierig besah er sie sich. Bei einem der beiden Dokumente handelte es sich, wie er erstaunt feststellen musste, um eine Boarding-Card. Der Junge runzelte die Stirn. Ein Flug erster Klasse am heutigen Abend, gebucht auf seinen Namen. Dachte irgendein Unbekannter tatsächlich, nur, weil er in seine Wohnung eingebrochen war, würde er nun tun, was er wollte, und in das Flugzeug steigen? Wo flog es überhaupt hin? Auf dem Ticket standen jedoch nur die Kürzel für die jeweiligen Flughäfen, der Name des Zielflughafens war übertuscht worden – offensichtlich wollte da jemand, dass er ins Ungewisse flog. Der Startflughafen immerhin war ihm bekannt, NRT war das Kürzel des Flughafens in Tokio, Narita. Wofür allerdings FCO stand, das wusste er nicht. Aber das war ja auch nicht wichtig. Er würde sowieso nicht fliegen. Vor allem, da der Flug bereits in drei Stunden gehen würde – so kurzfristig konnte er doch nicht weg, vor allem mitten in der Schulzeit nicht.

Kopfschüttelnd legte er die Boarding-Card beiseite und nahm das andere Dokument zur Hand. Hierbei handelte es sich um einen einfachen Notizzettel, maschinell beschrieben. Darauf vermerkt war lediglich eine Uhrzeit – und zwar in einer halben Stunde, wie er mit Blick auf die Uhr feststellte. Der Junge runzelte die Stirn, er hatte keine Ahnung, was diese Notiz nun sollte.

Kopfschüttelnd schob er die beiden Dokumente zurück in den Umschlag und legte ihn beiseite. Er würde auf keinen Fall in dieses Flugzeug steigen. Immer noch fand er diesen Brief mehr als beängstigend, doch er war fest entschlossen, sich davon nicht in die Flucht schlagen zu lassen. Er erhob sich so ruckartig, dass sein Stuhl nach hinten umkippte. Seufzend hob er ihn wieder auf, ehe er seinen Kühlschrank plünderte und sich endlich etwas zu Essen machte.

Doch noch während er eine halbe Stunde später beim Mittagessen saß wurde er schon gestört – durch ein Läuten an der Tür. Er war schon aufgestanden und durch den Flur gehastet um die Türe zu öffnen, da fiel sein Blick auf die Uhr. Es war genau die Uhrzeit, welche auf der Notiz in dem Briefumschlag angegeben war.

Stand nun der Einbrecher vor der Tür?

Wäre es nicht besser, die Türe nicht zu öffnen?
 

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Der Mann rieb sich seufzend die Schläfen. Er hoffte, dass er das Problem nun aus der Welt geschafft hatte. Wenn der Junge im Ausland war, dann würde man wohl nicht mehr von ihm verlangen, ihn zu töten, denn das würde ja bedeuten, dass er ihm hinterher reisen müsste. Das konnte er ablehnen, er könnte sagen, er habe ja noch mehr zu tun. Wohl war ihm bei der Sache dennoch nicht. Er hoffte einfach nur inständig, dass er den Auftrag damit verlöre, denn er wusste, dass er den Jungen nicht würde töten können. Jemand anders sollte das tun. Er hatte diese Situation nicht unter Kontrolle – und er hasste es, wenn er eine Situation nicht unter Kontrolle hatte.

Aber mit etwas Glück hatte sich das Problem nun gelöst. Er könnte ja die Mutter des Jungen töten, das würde seinen Vater wohl genauso beeindrucken. Seufzend leerte er die fünfte Tasse Espresso in dieser Stunde, verzog leicht das Gesicht aufgrund des sehr bitteren Geschmacks – nichts war so stark wie echter italienischer Espresso – und erhob sich. Espresso und nun eine kalte Dusche, das sollte hoffentlich genügen, um den Jungen zu vergessen. Sein Leben begann sich wieder zu normalisieren, der Albtraum der letzten beiden Tage schien vergangen und er genoss seine Dusche. Jedoch war es ihm nicht vergönnt, diese allzu lange zu genießen, denn das Läuten seines Handys hinderte ihn daran, länger unter dem kühlen Nass zu verweilen. Er beendete die Dusche und beantwortete den Anruf – welcher mal wieder von seinem Auftragsgeber kam. Er verdrehte die Augen – und sprach eisig wie immer in den Hörer. „Was?“
 

~*~*~*~
 

Der Junge hatte die Stirn gegen die Türe gelehnt, die Hand am Türgriff, aber die Türe zu öffnen getraute er sich nicht. Es hatte bereits zum zweiten Mal geläutet und der Junge bereute es, keinen Spion in der Tür zu haben, sodass er nicht sehen konnte, wer da draußen stand. Es läutete zum dritten Mal. Der Junge holte tief Luft, dann riss er die Türe auf, bereit, sich dem Lauf einer Waffe zu stellen.

Aber da war keine Waffe auf ihn gerichtet.

Nur ein freundlich lächelnder, älterer Herr.

„Ja bitte?“, fragte der Junge den Fremden. Er war etwas verwirrt, hatte er doch mit einem Angriff gerechnet. Doch dieser Mann war klein, dürr und lächelte – er wirkte so harmlos, wie es nur möglich war. Der Mann gab freundlich Auskunft, seine Stimme verstärkte den „Großvater-Effekt“ nur noch:„Sie hatten ein Taxi bestellt, junger Mann.“

„Ein Taxi…?“, stammelte der Junge verwirrt. „Aber ja!“, der Mann, offensichtlich der Taxifahrer, nickte lebhaft, „Es sind nun 15:30 Uhr, und um diese Uhrzeit hatten sie ein Taxi zum Flughafen Tokio-Narita bestellt!“ „Natürlich…“, erwiderte der Junge. Offensichtlich hatte jemand ihm die ganze Arbeit abgenommen – und wollte sicher gehen, dass er tatsächlich in dieses Flugzeug stieg. Aber er war fest entschlossen, eben das nicht zu tun. „Also dann, wollen wir?“, fragte der Mann, er lächelte freundlich, offensichtlich war er entweder ein guter Schauspieler oder hatte keine Ahnung. Sein freundliches Lächeln ließ den Jungen eher zu letzterem tendieren. Aber was sollte er denn nun nur sagen? „Ich ähm… ich befürchte, dass mir etwas dazwischen gekommen ist und ich die Reise nun doch nicht werde antreten können…?“, kam es unsicher über seine Lippen. „Aber, aber! Junger Mann, das können sie doch nicht machen, sie haben den Urlaub doch gemeinsam mit einem Freund gebucht, der wird sicher enttäuscht sein, wenn sie nun nicht fahren würden.“ „Das geht sicher in Ordnung!“, wehrte der Junge ab doch nun schaute der Taxifahrer ihn mit einem unergründlichen Blick an:„Freundschaft ist etwas sehr kostbares. Das sollten sie niemals leichtfertig aufs Spiel setzen!“ „Ja…“, nickte der Junge zu dem Kommentar zu Freundschaft. Dummerweise fasste der Taxifahrer dies als Zustimmung, zu fliegen, auf. Grade, als er dagegen protestieren wollte bot der Taxifahrer an, ihm beim Tragen der Koffer zu helfen. „Sehr freundlich.“, hatte er das Angebot schneller angenommen als er sich die Sache überlegt hatte. Der Mann lächelte freundlich, ganz offensichtlich war er stolz darauf, eine Freundschaft gerettet zu haben. Dabei wollte er den Menschen, der in seine Wohnung eingebrochen war, niemals sehen – höchstens, um ihm zu verklagen.

Der Junge betrat seine Wohnung wieder – Koffer packen würde ja doch nichts bringen, da er keine Ahnung hatte, wo die Reise hingehen sollte, also konnte er sich genauso gut mit seiner Kreditkarte versorgen. So packte er den Umschlag des Fremden, sein Portmonee – der Personalausweis befand sich darin, wie er mit einem kurzen Blick sicherstellte – und kramte nach seinem Handy. Da erst merkte er es – eine Sache war nun doch gestohlen worden – und das war sein Handy. Also war er gezwungen, in ein womöglich fremdes Land zu reisen und dabei mit niemandem in Kontakt treten zu können, da er über kein Mobiltelephon mehr verfügte. Niemand würde wissen wo er war. Der Junge biss die Zähne zusammen und schloss sich dem Taxifahrer an.

Sie gingen die Treppen hinunter, das Taxi stand im Parkverbot, gleich vor der Tür. Rasch setzte sich das Auto in Bewegung, immerhin hatten sie etwas verlorene Zeit aufzuholen. Der Junge lehnte sich zurück und starrte aus dem Fenster, während die vertraute Umgebung an ihm vorbeizog. Der Magen zog sich ihm bei dem Anblick zusammen. Er fragte sich, wann er zurückkehren würde und unter welchen Umständen, denn wer konnte schon wissen, was auf ihn zukommen würde, die Ahnungslosigkeit trieb ihn in den Wahnsinn. Die Fahrt zum Flughafen dauerte seine Zeit, der kleine Ort Domino war immerhin eher ländlich gelegen, auch, wenn man dies im Zentrum nicht merken würde. Dann fuhren sie auf die Autobahn auf und der Junge wandte den Blick ab. Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend ließ ihn so oder so nicht los, davon konnte ihn nichts ablenken. Und jeder Meter, der sie dem Flughafen näher brachte, machte ihn nur noch nervöser – auch, wenn sie dem Flughafen nur sehr langsam näher kamen, denn sie gerieten sogleich in einen Stau. Er wusste nicht, was ihn erwarten würde und in seiner Phantasie malte er sich schon die schlimmsten Vorstellungen aus. Da ging es ihm selbst im Stau noch zu schnell.

Als der Flughafen erreicht war, zitterten die Beine des Jungen, es fiel ihm schwer, auszusteigen. Sich am Autodach festhaltend schaffte er es dennoch, der Taxifahrer bemerkte es nicht. Der Junge fragte, wie viel er ihm schuldig sei, doch der Mann wank ab:„Dein Freund hat bereits bezahlt, nun beeil dich, damit du den Flug noch bekommst.“ Da hatte er in der Tat Recht, hastig verabschiedete sich der Junge, der Taxifahrer wünschte ihm eine schöne Reise und dann eilte der Junge schon über den großen Flughafen, fand rasch das richtige Terminal und stellte sich dann an, um die Sicherheitsschleusen zu passieren. Erst als er durch den Metalldetektor trat fiel ihm auf, dass er noch hätte umkehren können, dass er einfach ein anderes Taxi für den Weg zurück hätte nehmen können und der Albtraum hätte ein Ende gehabt. Doch nun hatte er die Sicherheitsabsperrungen übertreten und befand sich in der Wartehalle, nun gab es kein Zurück mehr. Er rannte den ganzen Weg, denn nun, da er einmal hier war, konnte er den Flug genauso gut nehmen, vermutlich würde es ihm eh nichts mehr bringen, wenn er ihn verpasste, dann würde sich der Einbrecher wohl nur etwas neues ausdenken. Er reichte der Stewardess seine Boarding-Card, sie wünschte ihm einen guten Flug und dann saß er auch schon im Bus, gemeinsam mit einer Menge anderen Menschen. Es herrschte allgemeine Vorfreude, das Wort Urlaub viel häufig. Welcher Flughafen verbarg sich nur hinter dem Kürzel FCO? Scheinbar ging es aus Japan hinaus. Der Junge begann, sich unbehaglich zu fühlen, doch er traute sich nicht, einen seiner Mitreisenden zu fragen, wo der Flug denn hinginge – immerhin sollte man meinen, er müsse es wissen. Er starrte auf seine nervös ineinander verschlungenen Finger. Dann kam ihm noch ein Gedanke: Müsste der Einbrecher nicht auch hier sein? Immerhin hatte der Taxifahrer gesagt, dass ein Freund für sie beide gebucht hatte. Hektisch sah er sich um, doch niemand schien ihm verdächtig – aber er war wohl auch nicht darin ausgebildet, solche Dinge zu erkennen, während der Einbrecher sicher darin begabt war, nicht erkannt zu werden.

Der Bus hielt an, die Passagiere stiegen aus dem Bus aus und in das Flugzeug ein. Der Junge suchte sich seinen Platz, am Fenster, immerhin. Es dauerte noch eine Weile, dann begannen drei Stewardessen – eine vorne, eine in der Mitte und eine hinten im Flugzeug – die Sicherheitsanweisungen zu geben. Hierbei erst erklang endlich, endlich das Reiseziel durch die Lautsprecher – und dem Jungen fiel die Kinnlade hinab.

„Welcome Ladies and Gentlemen on our flight from airport Tokyo-Narita to airport Rome-Fiumicino…”

Der Herrscher

Der Herrscher: Er sorgt für Ordnung, Sicherheit und Stabilität. Spirituelle und geistige Dinge sind ihm fremd, ihm fehlt Kreativität. Er verkörpert die nüchterne, disziplinierte Seite in uns und strenge Hierarchie. Er kann aber auch für den Vater oder das Familienoberhaupt stehen.
 

Juni 2007, Domino, Japan

Die Stirn des Mannes legte sich in Falten. Die Stimme seines Anrufers drang derart laut aus dem Hörer dass er das Mobiltelephon einige Zentimeter von seinem Ohr weghielt. Was aus dem Apparat klang war dennoch laut und deutlich zu verstehen:„Was ist nun mit dem Jungen, ich höre und sehe nichts mehr von ihm! Bringen Sie das endlich in Ordnung!“

Der Mann holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Was versteifte dieser Idiot sich auch so sehr auf den Jungen? Und irgendwie fühlte er sich angegriffen – weil dieser Junge ihn hilflos machte. Aber Angriff war ja bekanntlich die beste Verteidigung, weswegen er eiskalt konterte:„Es liegt nicht an Ihnen, mir Forderungen zu stellen. Ich habe noch andere Aufträge außer Ihrem, erwarten Sie nicht, dass ich Himmel und Hölle für sie in Bewegung setze. Wenn Sie wünschen töte ich seine Mutter… aber was den Jungen betrifft werden Sie auf seine Rückkehr warten müssen.“ Jedoch war dies ganz offensichtlich nicht zufriedenstellend für seinen Gesprächspartner, der nur weiter wütete:„Wofür bezahle ich Sie denn eigentlich?!“ Der Mann wollte schon antworten, doch offensichtlich hatte der Andere nur Luft holen wollen, denn schon sprach er weiter:„Na schön. Na schön, ich verdopple die Summe – aber dafür suchen und töten endlich diesen Jungen!“ Der Mann atmete tief durch. Im Normalfall gab es auf ein solches Angebot hin nur eine Reaktion: Das nächste Flugzeug nach Italien zu nehmen und den Jungen zu töten. Aber hier war ja nicht von irgendjemandem die Rede… Bevor er jedoch antworten konnte, sprach sein Auftraggeber schon wieder:„Ich deute dieses Schweigen als Zustimmung. Das freut mich. Wir bleiben in Verbindung.“ Dann war die Leitung tot. Eine Sekunde lang starrte der Mann sprachlos sein Handy an, dann warf er es mit einem wütenden Schrei gegen die nächste Wand – wo es klirrend in seine Einzelteile zerbarst. Der Mann sank gegen die Wand gelehnt zu Boden und versteckte sein Gesicht in seinen Händen.
 

Es war später Abend, und der Mann saß immer noch in einem Starbucks im Flughafen Tokio-Narita und starrte auf die Reste seines Frappuccino. Eigentlich war im original-italienischer Kaffee ja lieber, aber er hatte sich rasch irgendwo hinsetzen müssen, als er am Flughafen angelangt war. Sein Nervenkostüm war zurzeit nicht das Beste – und das war neu für ihn. Er hasste es, sein Leben nicht selbst kontrollieren zu können – etwas, was er bereits früh zu schätzen gelernt hatte und der Grund, weshalb er mit seiner Vergangenheit schon lange abgeschlossen hatte und nur noch in den Tag hinein lebte. Wesentlich sorgenfreier. Wesentlicher freier. Es war das einzige, was er von seinem Leben erwartete: Freiheit.

Bisher hatte das ja auch alles ganz gut geklappt. Aber nun… der Junge brachte einiges durcheinander. Er hatte geglaubt, dass er das Problem gelöst hatte, als er den Jungen nach Italien geschickt hatte, aber nun musste er ihm hinterher reisen und damit… ironisch verdrehte er die Augen und murmelte:„Da seht ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor. Faust, der Tragödie erster Teil, erste Szene: Nacht, Goethe.“ Eine Frau, zwei Stühle neben ihm, sah zu ihm herüber, doch der Mann starrte schon wieder vor sich hin. Er saß gleich an der Glasfront des Starbucks und konnte so alle Menschen, die vorbeigingen, beobachten. Doch er beachtete sie nicht wirklich sondern hing eher seinen Gedanken nach. Die Stimme, die aus den Lautsprechern hallte, beachtete er kaum. „Letzter Aufruf…“ Er trank seinen Kaffee aus und verließ langsam und immer noch so in Gedanken das Café, dass er beinahe den Mülleimer neben der gelben Säule am Eingang umgerannt hätte und machte sich auf den Weg zum Schalter. Wie immer hatte er unter falschem Namen gebucht – er hatte seinen richtigen Namen schon so lange nicht mehr benutzt, dass es sich schon nicht mehr wie ein Name anfühlte. Namen waren Schall und Rauch – noch ein Zitat von Goethe, Dr. Faust schien es ihm heute angetan zu haben. Alsbald saß er dann in dem weiß-orangen Bus und da er der letzte Passagier gewesen war dauerte es auch nicht lange, ehe selbiger sich in Bewegung setzte. Er hatte den Flug sehr kurzfristig gebucht und deswegen den nächstbesten Flieger genommen, Alitalia, aber das war auch nicht schlecht, er hatte sogar noch ein Ticket erster Klasse bekommen können. Der Bus hielt, die Türen öffneten sich und die kalte Nachtluft ließ die Insassen frösteln. Diese strömten dann auch aus dem Bus. Der Mann blieb kurz stehen, ließ sich den Nachtwind um die Nase wehen. Die frische Luft tat ihm gut. Er blickte empor zu dem großen, weißen Flugzeug mit einem grünen Streifen quer über den Rumpf. Nur das Seitenruder war grün-rot und stellte somit das Logo der Alitalia Fluggesellschaft dar. Es gab kaum eine Fluggesellschaft, mit der er noch nicht geflogen war, immerhin führte sein Job ihn kreuz und quer durch die Welt und er sprach eine Menge Sprache fließend. Er hatte eigentlich nie eine richtige Schulbildung genossen, hatte immer wieder alles abgebrochen, war teilweise auch von einigen Schulen geflogen, was er wusste, dass hatte eher das Leben als die Schule ihn gelehrt. An Intelligenz mangelte es ihm sicherlich nicht. Wenn er heute sein Leben noch einmal leben sollte, dann würde er vielleicht eher zur Schule gehen – aber er hatte auch so das bestmögliche aus sich gemacht, was nicht leicht gewesen war, nicht, bei seiner Familie. Es war schwer gewesen, die Bande zu ihnen zu kappen und es war ihm auch nie ganz gelungen, aber er hatte mit dem Großteil seiner Vergangenheit abgeschlossen, er war so frei, wie man es in seiner Situation nur sein konnte. Er wollte es ja nicht anders.

Er bestieg das Flugzeug, flirtete scherzhaft mit der Stewardess und sank dann in seinen Sitz. Ein Lob der ersten Klasse, der Flug dauerte immerhin mehr als fünfundzwanzig Stunden, auch, wenn sie einen zweieinhalb stündigen Zwischenstopp auf dem Flughafen in Los Angeles machen würden. Er lehnte sich zurück und war noch während der Sicherheitshinweise eingeschlafen.
 

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Nach dem ersten Schock, Italiens‘ Hauptstadt Rom zu besuchen, versuchte der Junge das Ganze von der positiven Seite zu sehen. Er hatte schon immer mal nach Italien gewollt – Rom insbesondere. Die Umstände, freilich, waren nicht, was er sich von dieser Reise erhofft hatte, als er während Klausurphasen davon geträumt hatte. Die meisten seiner Mitreisenden träumten nun ebenfalls, aber dem Jungen selbst fiel es schwer, die Augen zu schließen. Immerhin drückten genug Sorgen sein Haupt. Eine vorbeikommende Stewardess bot ihm Erfrischungen an, doch er hatte einen derartigen Kloß im Hals, dass er befürchtete, nichts hinunter zubekommen. Unruhig starrte er aus dem Fenster, sie flogen seit einigen Stunden, er vermutete sie irgendwo über China, aber das war bloß eine Vermutung.

Er wünschte, er hätte irgendetwas, um sich abzulenken, doch bei seinem überstürzten Aufbruch hatte er nicht mehr daran gedacht. Vielleicht wenn sie in London wären… dort würden sie immerhin viereinhalb Stunden einen Zwischenstopp einlegen – aber das dauerte ja noch… mehr als einen Tag Flugdauer… Warum war er in dieses Flugzeug gestiegen? Entnervt von seiner eigenen Rastlosigkeit fragte er sich bei einer Stewardess eine Beruhigungstablette und nachdem er selbige mit einem freundlichen Lächeln überreicht bekommen hatte spülte er sie rasch hinunter. Eine halbe Stunde später konnte er einschlafen.
 

Als er erwachte stellte er erfreut fest, dass er die Nacht durchgeschlafen hatte. Der Blick aus dem Fenster war atemberaubend – Sonnenaufgang über den Wolken. Die Wolken leuchteten orange und alles erschien übernatürlich hell. Der Anblick war wahrlich traumhaft. Erst eine Stewardess lenkte ihn ab, als sie ihn fragte, ob er ein Frühstück wünsche. Er bejahte und fragte dann, wann sie in London landen würden. „Bald.“, sagte sie, „Gegen acht Uhr, glaube ich, der Pilot macht gleich eine Durchsage.“ Er nickte ihr dankend zu und trank dann seinen Orangensaft. Kurz darauf kam in der Tat die Durchsage, da bestrich er grade sein Brötchen mit Aprikosenmarmelade. Die Tablette war wirklich gut gewesen, er fühlte sich schon viel besser und leckte sich genüsslich die Marmelade von den Fingern. Rasch stand er auf, ging auf die Toilette um sich die Finger zu waschen, da sie klebrig von der Marmelade waren. Noch während er dastand und das kühle Nass über seine Hände floss sprach der Kapitän durch die Durchsage, alle Passagiere mögen sich auf ihre Plätze begeben und sich anschnallen. Rasch trocknete er seine Hände ab und huschte zurück auf seinen Platz. Dann begann der Landeanflug, erst nur bemerkbar an den Wolken, die näher kamen, ehe sie sie dann durchstießen. Der Junge lehnte sich in seinem Sitz zurück – und beugte sich dann wieder gespannt vor, als sie unter den Wolken auftauchten und London sich unter ihnen ausbreitete. Sie flogen den Flughafen London Heathrow an, einige Kilometer westlich von London. Ein wenig holperig setzten sie auf der Landebahn auf und rollten dann über die Landebahn.

Nach und nach leerte sich das Flugzeug, der Junge ließ sich Zeit, er hatte nichts weiter vor – als knapp vier Stunden zu warten. Langsam schlenderte er durch den Flughafen, setzte sich in eine Buchhandlung und begann zu lesen – zum Glück war sein Englisch sehr gut. Das Buch schien gut zu sein und so kaufte er es. Und dann suchte er sich ein ruhiges Plätzchen, was bei diesem riesigen Komplex gar nicht mal so leicht war, und wartete. Nach zwei Stunden suchte er sich etwas zu essen und blieb so lange wie möglich sitzen um die Zeit irgendwie totzuschlagen. Es dauerte ewig, doch dann konnte er endlich in das weiße Flugzeug mit dem dunkelblauen Längsstreifen und den dunkelblauen Seitenruder mit der großen Aufschrift ANA, Kürzel der Fluggesellschaft All Nippon Airways, steigen.

Als das Flugzeug abhob kam die Nervosität zurück, bald wäre er in Rom und immer noch wusste er nicht, was ihn dort erwartete. Er versuchte, seine Nervosität mit seinem neuen Buch beiseite zu schieben, doch es gelang nur mäßig. So kam es, dass er schon beinahe erleichtert war, als er, diesmal sehr sanft, auf dem Flughafen Rom-Fiumicino, benannt nach dem genialen Leonardo da Vinci, landeten. Seine Bewegungen waren wie taub, als er das Flugzeug verließ, den Bus bestieg und dann durch die Menschenmengen am Arrival schritt. Deswegen brauchte es eine ganze Weile, ehe er begriff, dass jemand seinen Namen rief. Überrascht hob er den Kopf – sollte zufällig ein Bekannter da sein? Doch nein… er kannte den Mann nicht, sah ihn aber dennoch fragend an. „I was told to drive you to your hotel.“, sagte der Mann mit einem starken italienischen Akzent. „Oh!“, machte der Junge erst einmal überrascht, fing sich dann aber. Er sollte nicht so überrascht sein, dass man sich um alles gekümmert hatte. „Grazie. Molto gentile.“, antwortete er und machte dem Italiener durch das Sprechen seiner Sprache eine große Freude. Dabei war sein italienisch nicht besonders gut, aber um sich durchzuschlagen genügte es. Er folgte dem Italiener durch den gläsernen Eingangsbereich und stieg in das draußen wartende Taxi. Italienisch-rasant begann die Fahrt und der Junge befürchtete schon, diese Taxifahrt sei sein Todesurteil, denn obgleich er viel davon gehört hatte wurde er nun zum ersten Mal mit dem italienischen Fahrstil konfrontiert – und der war noch schlimmer als sein Ruf. Doch nach vierunddreißig haarsträubenden Kilometern waren sie in der römischen Innenstadt angekommen. Von der ewigen Stadt hatte er dabei wenig gesehen, viel zu sehr hatte die Straße seine Aufmerksamkeit beansprucht. Immerhin war seine Nervosität nun wie weggeblasen. Mit Pudding in den Knien betrat er das Hotel, nannte seinen Namen an der Rezeption und bekam prompt einen Zimmerschlüssel ausgehändigt. Er nahm den Aufzug, betrat das Zimmer und sank ohne die luxuriöse Einrichtung eines Blickes zu würdigen auf das Bett und schlief, obwohl es erst früher Abend war, ein – es war ein anstrengender Tag gewesen und die nächsten Tage würden sicherlich das übrige tun, ihm den letzten Nerv zu rauben. Er hatte sich seinen Schlaf wohl verdient.
 

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Juni 2007, Flughafen Rom-Fiumicino

Es war mitten in der Nacht, dabei jedoch nicht kalt – es war ja Italien, am letzten Tag des Junis, mitten im Sommer. Der Mann durchquerte mit raschen Schritten den Flughafen Rom-Fiumicino. Sein Ziel war der U-Bahnhof, denn von dort fuhr alle halbe Stunde der sogenannte „Leonardo Express“ bis zum römischen Hauptbahnhof Roma Termini. Das Gute an diesem Express war, dass er nur über erste-Klasse-Wagen verfügte und somit einen adäquaten Ersatz für ein Taxi bot. Nach viertelstündiger Wartezeit fuhr der Zug ein, der Mann suchte sich einen Platz und eine halbe Stunde später war er am Ziel angelangt. Roma Termini war wie immer überfüllt, aber dem Mann machte das nichts aus. Er mochte Italien mit allen seinen Eigenarten. Aber im Augenblick war er einfach nur müde, durch die Zeitverschiebung waren es immerhin vier Uhr des Nachts und er sehnte sein Bett herbei – welches nicht zufällig im gleichen Hotel wie das des Jungen zu finden war.

Jedoch tat er am nächsten Tag herzlich wenig um sich über den Jungen zu informieren – er schlief.

Es war also ein warmer Julimorgen, an dem er begann, dem Jungen auf Schritt und Tritt zu folgen. Ziemlich schnell wurde dabei klar, dass der Junge offensichtlich noch nie in Rom gewesen war denn er klapperte sämtliche Touristenattraktionen und Monumente, die diese Stadt zu bieten hatte, ab – und das waren viele. Es war erst Mittag, und doch hatte er bereits auf der spanischen Treppe gesessen – woraufhin er den penetranten Blumengeruch nun nicht mehr aus der Nase bekam – sowie die Piazza del Popolo überquert und den Campo de‘ Fiori besucht. Auf eine gewisse Art und Weise war es beinahe süß, dem Jungen zuzusehen, denn seine Begeisterung bei jeder neuen Sehenswürdigkeit ließ auch den Mann schmunzeln. Der Junge verbreitete eine Fröhlichkeit, der man sich beinahe unmöglich entziehen konnte. Dass machte es nicht grade leichter, ihn töten zu müssen. Er wusste, er konnte nicht, aber er hatte doch noch nie jemanden nicht getötet und sein Gewissen drängte ihn dazu, es zu tun, bald zu tun. Er würde sich bald entscheiden müssen. Und er konnte doch nicht.

Immer noch waren sie unterwegs, der Mann ein gutes Stück hinter dem Jungen, unbemerkt, was nicht schwer war, in diesen Menschenmassen. Allmählich aber wurde es lästig und der Mann kam zu dem Schluss, dass er etwas tun müsse – ob er den Jungen nun tötete oder rettete – irgendetwas musste geschehen, denn so konnte es nicht weitergehen.

Somit fällte er seine Entscheidung.

Und machte sich gleich an ihre Durchführung.

Der Eremit

Der Eremit: Er entzieht sich fremden Einflüssen, wendet sich von der Welt ab, sucht Ruhe. Er fordert uns auf, es ihm gleichzutun, um im Inneren Erkenntnisse über den weiten Weg zu finden.
 

Juli 2007, Rom, Italien

Es hatte lange gedauert, ehe er sich dazu hatte durchringen können, das Hotelzimmer zu verlassen, doch nun war er froh, es getan zu haben. Rom vermittelte bereits in den ersten Minuten ein Lebensgefühl, wie man es nirgendwo anders erleben konnte. Als erstes kaufte er sich allerdings ein paar Kleidungsstücke die dem warmen Wetter angemessen waren, denn er selbst besaß ja keine mehr seit seinem überstürzten Aufbruch. Dann jedoch ließ er Rom auf sich wirken. Begeistert ließ der Junge sich von den Menschenmassen treiben und bestaunte die gewaltigen Monumente, die unter der strahlenden Sonne besonders schön erschienen. Nun jedoch war er hungrig und steuerte auf die Piazza Navona zu, wo er gedachte, sich etwas zu essen zu gönnen – zum Glück hatte er seine Kreditkarte mitgenommen, mit Yen wäre er hier nicht weit gekommen.

Als er die Piazza Navona erreichte, blieb er erst einmal stehen. Er hatte über diesen Platz gelesen, hatte gelesen, dass hier das Leben pulsierte, dass dieser Platz einzigartig sei – er hatte nur nicht damit gerechnet, wie wahr diese Aussage sei. Tief atmete er durch, es war einfach so römisch – und er mochte das. Dann erst schlenderte er langsam über den ovalen Platz, vorbei am Fontana del Moro und den unzähligen Künstlern, welche die Piazza bevölkerten und anboten Portraits, Karikaturen und Landschaften für Touristen zu zeichnen. Die meisten waren richtig gut, aber etwas anderes zog seinen Blick wie magisch an – nämlich der große Brunnen in der Mitte des Platzes, die Fontana dei Quattro Fiumi. Diesen umrundete er gleich einmal ehrfürchtig, ehe er weiterging, sich dann beim Fontana del Nettuno im Schatten eines orangefarbenen Gebäudes in einem Café niederließ. Ein Kellner lief an ihm vorüber, der Junge rief:„Senta!“ und der Kellner nahm seine Bestellung auf und verschwand dann.

Der Junge ließ den Blick schweifen und zuckte infolge dessen erschrocken zusammen, als ihn plötzlich jemand ansprach – jemand, der nicht der Kellner war. Auf perfektem Italienisch fragte der Mann:„È libero questo posto?“ Der Junge blinzelte. Er musste kurz überlegen, dann aber verstand er, dass er gefragt worden war ob der Platz neben ihm frei sei. „Si, prego.“, antwortete er leicht stotternd. Sein Stottern rührte jedoch nicht nur daher, dass seine Italienisch-Kenntnisse nicht die Besten waren, sondern kam vor allem durch die Überraschung. Der Mann schien sein absolutes Ebenbild zu sein – zumindest auf den ersten Blick. Erst auf den zweiten, schüchternen Blick bemerkte er kleine Unterschiede, wie etwa in der Frisur und auch die Haut des Fremden war dunkler – wohl, weil der Junge so viel Zeit in geschlossenen Räumen mit lernen verbrachte. „Grazie.“, bedankte der Mann sich und ließ sich neben dem Jungen nieder. Dieser wandte den Blick schon wieder ab, leicht pikiert über die Gesellschaft, aber es half ihm nichts den Blick abzuwenden, denn der Mann schien reden zu wollen. Am liebsten wäre der Junge aufgestanden und weggegangen, denn solche Situationen waren ihm unangenehm, aber er hatte ja schon seine Bestellung aufgegeben. „È italiano?“, fragte der Mann, doch der Junge schüttelte den Kopf:„No, sono giapponese. Abito in vicino di Tokyo.“ Der Mann lächelte:„Ja, ich auch.“, antwortete er, diesmal auf Japanisch. Was aber viel verwunderlicher war, war die Art und Weise, wie der Mann dies sagte – so, als habe er es schon gewusst. Die Konversation wurde dem Jungen noch unangenehmer, unbehaglich starrte er auf seine Fingerkuppen, wusste nichts so recht zu sagen. Was wurde das hier? Gerne hätte er gefragt, aber etwas an dem Mann war ihm unheimlich, vielleicht alleine durch die Tatsache bedingt, dass er bei diesem warmen Wetter trotzdem einen scheinbar maßgeschneiderten schwarzen Anzug trug, inklusive Krawatte. Nun liefen zwar auch die Italiener nicht in kurzen Hosen herum – das taten sie immerhin nie – aber selbst sie hatten heute zu T-Shirts gegriffen. Der Mann aber hatte nicht einmal sein Jackett abgelegt. Ihm musste doch warm sein! Unbehaglich starrte der Junge weiter auf seine Fingerspitzen.

Doch die Stille wurde regelrecht erdrückend, so dass der Junge schließlich aufsah, dem forschen Blick des Mannes direkt begegnete. Er errötete leicht. Der Mann sah ihn nur an, beinahe unverschämt direkt, in seinen Mundwinkeln spielte ein verschmitztes Lächeln. Er schien darauf zu warten, dass der Junge etwas sagte. So fasste sich der Junge ein Herz:„Wer sind Sie?“ „Ich bin jemand, der versucht Ihnen zu helfen. Reicht das nicht?“, erwiderte er unverbindlich. Das Lächeln schwand dabei aber nicht aus seinem Gesicht, es störte den Jungen in diesem Augenblick beinahe. „Nein, es reicht nicht!“, antwortete er daher heftig:„Ich will Ihren Namen wissen und was soll das bedeuten: Sie versuchen mir zu helfen? Weswegen sollte ich Hilfe benötigen?“ Die Worte wischten das Lächeln vom Gesicht des Mannes, mit einem mal wirkte er nachdenklich. Eine Weile musterte er den Jungen stumm, dann antwortete er mit leiser, aber deutlicher Stimme:„Mein Name lautet Taoka, Atemu.“ Der Junge nickte, wie abwesend, dann streckte er dem Mann die Hand entgegen, nicht, weil er den Drang dazu verspürte sondern eher aus einstudierter Höflichkeit:„Mutou, Yuugi. Aber das wussten Sie vermutlich schon. Was wissen Sie sonst noch?“ Taoka-sama lachte leise, er hatte einen kräftigen Händedruck, als er Yuugis‘ Handschlag erwiderte, dann sagte er, wieder ernster:„Ja, ich wusste es. Und ich weiß, dass bei Ihnen mehrfach eingebrochen wurde. Ich weiß, dass man sie nicht bestehlen wollte – man wollte Sie töten. Also benötigen Sie dringend Hilfe.“ Yuugi blinzelte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Starrte sein Gegenüber an. Es brauchte eine Weile, ehe er sich von dem Schock erholt hatte. Dann fragte er langsam:„Wieso sollte mich jemand töten wollen?“ Taoka-sama verzog leicht die Mundwinkel. Yuugi lächelte, jedoch sarkastisch, als er seine Frage selbst beantwortete:„Wegen meines Vater, natürlich.“ Sein Zwilling nickte, dann setzte er an zu sprechen, wurde jedoch unterbrochen, als der Kellner an den Tisch kam und Yuugi sein panino con prosciutto e mozzarella und ein Glas Wasser brachte. Er entdeckte dann auch gleich Taoka-sama und fragte ihn:„Che chosa prende?“ Der Mann überlegte nicht lange sondern antwortete gleich:„Un gelato misto: limone e fragola.“ Der Kellner verzog entschuldigend das Gesicht als er verkündete:„Mi dispiace ma il limone é finito.“ Dass das Zitroneneis ausverkauft war schien den Mann nicht zu stören, er hatte sofort ein anderes Eis auserkoren:„Allora, prendo fragola e mirtilli.“ „Subito!“, versprach der Kellner und verschwand. Yuugi lächelte, zum ersten Mal fühlte er sich in Gegenwart des Fremden etwas wohler und bemerkte spitz:„Und ich dachte schon, Ihnen wäre gar nicht warm!“ Taoka-sama lachte leise, bestätigte dann jedoch, dass es in der Tat recht warm sei und ein Eis deswegen gut tun würde. Während Yuugi sich alsdann über sein Brötchen hermachte begann der Mann noch einmal zu erzählen, wovon der Kellner ihn eben abgehalten hatte:„Ich gestehe, bei Ihnen eingebrochen zu sein, Mutou-kun, und Ihnen das Flugticket dagelassen zu haben, ebenso wie ich das Taxi und das Hotel organisiert habe. Ich wollte Sie retten.“ Yuugi nickte langsam, schluckte seinen Bissen hinunter und sagte leise:„Ich danke Ihnen.“ Allerdings hatte er keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Er konnte sich doch nicht für immer in Europa verstecken, oder wie hatte Taoka-sama sich das gedacht? Und noch eine Frage drängte sich ihm auf:„Wieso helfen Sie mir überhaupt? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, es ist nicht so, dass ich undankbar wäre, aber – wir kennen uns doch gar nicht!“ Sein Retter nickte ernst und sagte dann:„Sie haben recht. Wichtiger als die Gründe allerdings ist die Frage, ob Sie sich weiter von mir helfen lassen wollen.“ Yuugi, den Mund voller Schinken, nickte auf diese Frage hin, denn immerhin war es die beste Chance die er hatte. Taoka-sama lächelte. „Dann werde ich einige Vorbereitungen treffen.“

Der Kellner kehrte zurück, brachte Taoka-sama sein Eis. Schweigend aßen die beiden eine Weile, dann erhob sich Taoka-sama, nahm sein Portmonee aus der Tasche und zählte einige Euro-Scheine ab, Yuugi hatte keine Ahnung, wie viel sie wert seien, denn er kannte sich in dieser Währung nicht aus. „Ich werde Sie kontaktieren. Ich weiß ja, wo ich Sie finde. Auf Wiedersehen.“, verabschiedete er sich. Yuugi nickte. „Leben Sie wohl.“, erwiderte er ehrlich. Eine Weile sah er dem Mann noch nach, der nun in der Menschenmenge auf der Piazza verschwand und bald nicht mehr zu sehen war. Dann winkte er den Kellner heran, stellte, als dieser ihm die Rechnung gab, fest, dass Taoka-sama für ihn mit bezahlt hatte. Er nahm sich vor, ihm bei nächster Gelegenheit zu danken, dann erhob er sich und verließ die Piazza.

Langsam schlenderte Yuugi durch Rom, das Gespräch von grade ging ihm nicht aus dem Kopf. Als er an einem Internetcafé vorbeikam betrat er es kurzentschlossen. Er suchte sich einen der PCs aus, öffnete eine Suchmaschine und gab den Namen „Atemu Taoka“ ein. Er wollte wissen, mit wem er es zu tun hatte. Aber er fand nicht einen einzigen Eintrag, der passend gewesen wäre. Bei dem Nachnamen allerdings hatte es eben schon bei ihm geklingelt, sodass er nun einer plötzlichen Eingebung folgend nur den Nachnahmen „Taoka“ eingab und dieses Mal bekam er in der Tat ein Ergebnis. Es handelte sich um einen englischen Artikel über einen Mann namens Kazuo Taoka. Beim Lesen des Artikels allerdings fiel Yuugi die Kinnlade hinab. Der Mann war der Oyabun [=Anführer] der Yamaguchi-gumi gewesen, der mächtigsten Yakuza-Bande Japans, er wurde sogar „Godfather of Godfathers“ genannt. Yuugi lief es kalt den Rücken hinunter, als er dies las. War der Mann, den er eben getroffen hatte, mit ihm verwandt, war er ein Mitglied der Yakuza, der japanischen Mafia, wie sie häufig genannt wurde? Wenn das so wäre, dann war es höchst unklug, sich mit ihm einzulassen. Verwirrt und noch besorgter als ohnehin schon schloss er das Fenster wieder und verließ das Internetcafé, obwohl er eine ganze Stunde bezahlt hatte. Langsam ging er zurück in das Hotel, dort war es für Taoka-sama wohl am leichtesten, ihn zu finden. Unruhig ging er dort auf und ab, wusste nichts mit sich anzufangen und legte sich schließlich auf sein Bett wo er eindöste.

Als er wieder erwachte, saß Taoka-sama auf der Fensterbank des geöffneten Fensters.

Yuugi richtete sich rasch auf, sah seinen Zwilling einigermaßen überrascht an. Er hatte nicht damit gerechnet, ihn so schnell wieder zu sehen. Und nach seinen Internetrecherchen machte ihm das Wiedersehen auch ein wenig Angst. Taoka-sama lächelte leicht:„Gut geschlafen?“ „Ja…“, erwiderte Yuugi, ehe er sich besann, aufstand und harsch fragte:„Was machen Sie eigentlich in meinem Zimmer, tun Sie so etwas häufiger, in andere Wohnungen einzubrechen?“ Taoka-sama schien dieser Vorwurf nichts auszumachen. Immer noch vergnügt antwortete er:„Um ehrlich zu sein – ja, so etwas kommt vor. Aber normalerweise besetze ich dann keine Fensterbänke um zu warten, dass die Bewohner aufwachen.“ Yuugi schüttelte den Kopf, Unglaube spiegelte sich in seinen Zügen wieder. Vor ein paar Tagen noch war sein Leben in absolut vorbestimmten – und damit auch sicheren – Bahnen verlaufen und nun wusste er nicht einmal, was die nächste Stunde ihm bringen würde. Es ängstigte ihn in allererster Linie, nicht zuletzt, weil er dies so gar nicht gewohnt war. Aber noch etwas ängstigte ihn und er beschloss, es einfach anzusprechen:„Also… gehören Sie zu den Yakuza?“ Es war unglaublich, wie schnell der Gesichtsausdruck des Mannes wechseln konnte, sehr ernst blickte er Yuugi an. Allerdings öffnete er den Mund nicht um zu antworten. Stattdessen legte er sein Jackett ab, warf es nachlässig auf Yuugis‘ Bett. Die Krawatte folgte und zu Yuugis‘ Erstaunen begann er dann auch schon sein Hemd aufzuknöpfen. Yuugi wollte schon fragen, wozu dieser Striptease gut sein solle, da ließ Taoka-sama sich das halb geöffnete Hemd von den Schultern gleiten drehte sich um. Nach einigem verwirrten Blinzeln sah Yuugi auf dem rechten Schulterblatt eine Tätowierung. Er kannte sie, hatte sie erst vor kurzem gesehen. Es handelte sich um eine Raute, innerhalb derer sich eine weitere Raute befand, die nach oben geöffnet war. Dafür zog sich von unten bis oben eine Senkrechte durch die innere Raute. Es handelte sich um das Symbol der Yamaguchi-gumi.

Obwohl er es erwartet hatte taumelte Yuugi zwei Schritte rückwärts. „Ich hatte Recht…“, wisperte er. Taoka-sama drehte sich, während er sein Hemd wieder hochzog und zuknöpfte, um und sah Yuugi wieder an. „Ja.“, sagte er, „Und nein.“ Yuugi legte den Kopf schief doch Taoka-sama erläuterte bereits, was er mit dieser undurchsichtigen Antwort hatte sagen wollen:„Mein Großvater war Kazuo Taoka, der Oyabun der Yamaguchi-gumi. Mein Vater war ebenfalls ein Mitglied, da blieb es nicht aus, dass ich ebenfalls dort gelandet bin. Aber ich habe mich früh mit meinem Vater überworfen und bin deswegen lange kein Mitglied mehr. Diverse Kontakte habe ich allerdings noch… Jedoch musst du dich nicht fürchten, dass du durch Kontakt zu mir Kontakt zu den Yakuza hast.“ Langsam nickte Yuugi. Dieses Wissen beruhigte ihn ein wenig, auch, wenn er nicht wissen konnte, ob Taoka-sama die Wahrheit sagte. Andererseits gab es eigentlich keinen Grund für ihn zu lügen, denn wenn er ihn töten wollte, hätte er das tun können, Yuugi war zurzeit so abhängig von ihm wie er niemals vorher abhängig von einer Person gewesen war. Also vertraute er ihm. Weil ihm nichts anders übrig blieb.

„Also…“, fragte Yuugi langsam, „Was haben Sie getan, meinetwegen?“ Das Lächeln schlich sich wieder auf Taoka-samas‘ Gesicht als er antwortete:„Wenn Sie schon die Muße haben nach meiner Person im Internet zu suchen, haben Sie nicht einmal nach sich selbst geschaut?“ Ein wenig erstaunt von dieser Idee schüttelte Yuugi den Kopf. „Dann sollten Sie das vielleicht nachholen.“, schlug Taoka-sama vor und warf Yuugi sein eigenes Handy zu – als habe er gewusst, dass Yuugis‘ Handy gestohlen worden war. Yuugi kam der Verdacht, dass er es in der Tat wusste – weil er der Dieb des Handys war, doch er verschob diese Frage auf später und öffnete erst einmal die Internetoption des Handys um anschließend den Rat Taoka-samas‘ zu befolgen. Was er dort fand allerdings verschlug ihm die Sprache. Denn was er dort sah war nicht mehr und nicht weniger als seine eigne Todesmeldung, veröffentlich vor einer halben Stunde. Mit immer größer werdenden Augen überflog Yuugi den Artikel indem es hieß, dass man Blut in seiner Wohnung gefunden habe, sowie einige weitere Indizien, die eindeutig auf sein Ableben hinwiesen. Nachgeschaut habe die Polizei auf einen anonymen Tipp hin. Und als wäre all‘ dies nicht schlimm genug endete der Artikel mit einem Photo seiner trauernden Eltern. Sprachlos hob Yuugi den Kopf und sah Taoka-sama an. Er wusste nicht, ob er Wut empfinden sollte, weil er seiner Familie und seinen Freunden solchen Schmerz zufügte, oder Dankbarkeit, weil er damit sein Leben schützte. Taoka-sama war seine Meinung jedoch scheinbar egal, er fragte ihn zumindest nicht danach. Während er sein Handy wieder in die Hosentasche steckte, erklärte er einfach, wie er sich die Sache gedacht hatte:„Wir werden eine Weile abwarten, bis das Interesse an Ihrer Person gesunken ist, dann können wir es eventuell wagen, nach Japan zurückzukehren. Bis dahin ist es das sicherste, wenn sie für tot gehalten werden, um die Jagd auf sie zu beenden.“ Yuugi nickte langsam, er verstand die Hintergründe von Taoka-samas Handeln zwar, aber der Gedanke, seine Lieben in Ungewissheit zu lassen behagte ihm ganz und gar nicht. Darauf sprach er Taoka-sama dann auch an. Jedoch spiegelte Taoka-samas Abweisung wieder:„Wenn Sie wollen, dass ich Ihr Leben rette, dann spielen wir nach meinen Regeln. Und diese besagen, dass Sie zu niemandem Kontakt aufnehmen. Das ist sicherer für Sie – und Ihre Familie. Vertrauen Sie mir, ich habe in diesem Punkt wesentlich mehr Erfahrung als Sie.“ Das war nicht zu leugnen. Aber das bedeutete nicht, dass Yuugi diese Idee gefiel. Kritisch verzog er die Mundwinkel. „Muss das sein…?“, fragte er zögerlich. Der Blick seines Gegenübers wurde streng. „Ja. Halten Sie sich daran.“ Das war keine Bitte, das war ein Befehl gewesen. Yuugi schluckte. Aber er stimmte zu. Weil er keine Wahl hatte.

„Und wie geht es nun weiter?“, fragte Yuugi dann um die unangenehme Stille zu überbrücken. „Wir warten ab und behalten die Situation im Auge. Und wenn die Situation sich entspannt hat sehen wir weiter. Aber ich entscheide, wann die Situation sich entspannt hat. Solange schlage ich vor, dass wir in Kontakt bleiben.“, lautete die Antwort. Das klang immerhin vernünftig. „Bevor Sie gehen habe ich aber noch eine Frage!“, brachte Yuugi rasch hervor, denn Taoka-sama schien das Gespräch für beendet zu halten und gehen zu wollen. Auf Yuugis‘ Anfrage hin blieb er aber noch, sah ihn fragend an. „Haben Sie mein Handy gestohlen?“, fragte Yuugi unverblümt heraus. „Ja.“, antwortete Taoka-sama mit erschreckender Direktheit, schnappte sich zu diesen Worten seine Kleidungsstücke und schwang sich dann aus dem Fenster. Yuugi blinzelte, doch sein Zwilling war schon verschwunden, immer noch im Besitz seines Handys.
 

~*~*~*~
 

Atemu hatte der Besuch bei Mutou-kun auf seltsame Art und Weise beruhigt. Mit ihm zu sprechen löste dieses seltsame Gefühl zwar nicht auf, aber es nahm ihm die Rastlosigkeit. Vielleicht lag es auch daran, dass er nun etwas tun konnte. Er hatte zuvor lange überlegt, was er tun solle und schließlich war es ihm als das klügste erschienen, mit Mutou-kun zu sprechen. Der ausschlaggebende Grund hierfür war vor allem, dass er wissen wollte, wer der Junge war, der ihn so sehr aus der Fassung gebracht hatte. Er hatte mit ihm sprechen wollen, ihn kennen lernen wollen, sehen wollen, ob er sich nicht getäuscht hatte, er wirklich einen Grund gehabt hatte, diesen Jungen als anders zu empfinden. Viel allerdings konnte er darüber nicht sagen, er hatte ja nicht viel mit ihm gesprochen, nicht lange und kaum neues erfahren. Aber immerhin war Mutou-kun erstaunlich offen gewesen, wo er doch ein vollkommen Fremder war. Wo er aber schon an Offenheit dachte… das war er selbst ja auch gewesen, er hatte sogar seinen richtigen Namen genannt, etwas, was er schon lange nicht mehr getan hatte. Es war ihm schwer über die Lippen gekommen, auch, wenn es sich nicht nach seinem Namen angefühlt hatte. Nur zwei Wörter, das war alles. Und selbstverständlich war er auch nicht vollkommen ehrlich gewesen, natürlich hatte er ihm nicht sagen können, dass er in Wahrheit der Auftragsmörder Mutou-kuns war, das wäre auch zu schockierend gewesen. Doch er war sich bewusst, dass es so nicht ewig weitergehen konnte, wenn er sich auf Kontakt mit Mutou-kun einließ, dann würde dieser auch mehr über ihn erfahren. Von seiner Familie hatte er innerhalb von Minuten erfahren – auch, wenn das erst einmal nicht viel bedeutete, denn er hatte kaum mehr Kontakte zu ihr und es gab viele Yakuza – aber irgendwann würde er erfahren, dass er der Auftragsmörder war, wie er das erklären sollte, wusste er noch nicht und er schob diesen Gedanken erst einmal von sich. Er wollte erst abwarten, was der Kontakt zu Mutou-kun brachte – denn der Junge war faszinierend.

Aber jetzt schlenderte er in aller Ruhe durch Rom, kam bald auf die Piazza Navona, sein absoluter Lieblingsort in der ewigen Stadt. Er betrachtete die Gemälde der Künstler, blieb schließlich an einem Stand stehen, an dem ihm die wunderschönen Portraits auffielen. Noch auffälliger allerdings war die Künstlerin. Atemu zog eine Augenbraue in die Höhe, als er die dunkelhaarige Schönheit beobachtete. Scharf wie Chili und heiß wie Feuer… ging es ihm durch den Kopf. Er stand noch da und war in ihre Betrachtung versunken, da drehte sie sich um und bemerkte sie ihn auch schon. Als potenziellen Kunden sprach sie ihn auch sogleich mit ihrem freundlichsten Lächeln an:„Ciao. Vorrai-“ Doch weiter kam sie nicht, denn da unterbrach Atemu sie auch schon. „No.“ Er lächelte sie ihn an, sein Blick glitt über ihren Körper. Sie kam nicht umhin dies zu bemerken – was durchaus beabsichtigt gewesen war. Leicht errötend verstand sie, dass er keine Bilder sondern etwas ganz anderes haben wollte. Sie senkte den Blick, sagte nichts. „Come si chiama?“, fragte Atemu, seine Stimme war ruhig, hatte etwas Beruhigendes. Er hatte häufig one-night-stands, dagegen nie Beziehungen. Aber er wusste, wie er Frauen dazu brachte, mit ihm ins Bett zu gehen, er benutzte sie nur, eigentlich empfand er dabei nie etwas für die Frau selbst. Es war ihm recht so, er wollte ja keine engen Verbindungen zu anderen Menschen aufbauen.

Die Frau vor ihm hob den Kopf, sie lächelte scheu. „Sono Yvonne.“, stellte sie sich vor. Dann winkte sie einer Frau am Nachbarstand zu, sie möge auf ihre Auslagen achtgeben, legte ihre zierliche Hand in die Atemus‘ und zog ihn mit sich zu ihrer Wohnung.

Es wurde ein heißer Nachmittag.

Und damit sei nicht das Wetter gemeint.

Der Narr

Der Narr: Er ist das Kind in uns, das heißt, Unbekümmertheit und lebensfrohe Sorglosigkeit. Die Karte kann bedeuten, dass wir uns hartnäckig weigern, erwachsen zu werden. Sie kann aber auch für lebenskluge Weisheit stehen. Sicher ist nur, dass alle Möglichkeiten offen sind.
 

Juli 2007, Rom, Italien

Die nächsten paar Tage ließ Atemu sich in Rom die Sonne auf die faule Haut scheinen. Er sah immer wieder mal nach Mutou-kun, allerdings ohne, dass dieser sich dessen bewusst war. Ansonsten genoss er es, noch einmal in seiner Lieblingsstadt zu sein – er mochte ja eigentlich keine Städte, aber für Rom machte er eine Ausnahme. Vor ein paar Stunden hatte er noch einmal mit seinem Auftragsgeber telephoniert, dieser hatte nun, da der Junge tot schien, endlich Ruhe gegeben und auch bereits gezahlt. Atemu lächelte vor sich hin. Im Internet hatte er verfolgt, was in Domino geschehen war, bisher schien seine Farce zu funktionieren. Ein Datum für die Beerdigung war angesetzt denn mittlerweile hatte man auch eine Leiche gefunden. Eine vollständig verkohlte Leiche – Atemu hatte sich den nächstbesten Passanten von der Straße geschnappt, umgebracht und verbrannt. Dann hatte er die Zahndaten dieses Mannes mit denen Mutou-kuns vertauscht, sodass die Mediziner sich sicher waren, die Leiche korrekt identifiziert zu haben. Atemu lachte leise während er durch die kleinen, aber belebten Gassen ging und schließlich auf einem für römische Verhältnisse winzigen Platz auskam, der von hohen Gebäuden umrahmt wurde. Bekannt war der Platz aber in aller Welt, denn hier stand die berühmte Fontana di Trevi angelehnt an ein gewaltiges Gebäude, welches sich im Besitz des Vatikans befand.

Mutou-kun brauchte er nicht lange zu suchen, er stand ganz vorne am Brunnen und sah auf die Münzen hinab, welche die Touristen hineingeworfen hatten. Mit der linken Hand über die linke Schulter geworfen – das sollte sicherstellen, dass man in die ewige Stadt zurückkehren würde. Doch darauf kam es Atemu in diesem Augenblick nicht an. Schnurrstracks bahnte er sich seinen Weg durch die vielen Menschen, wimmelte einen der vielen Straßenverkäufer ab, die ihm billige Ketten zu überteuerten Preisen aufdrängen wollten, bis er schließlich bei Mutou-kun angelangt war. „Buon giorno.“, begrüßte er ihn mit einem Lächeln und bewirkte damit, dass der Angesprochene zusammenzuckte und sich dann zu ihm umwandte. Atemu glaubte für Sekunden ein angedeutetes Lächeln in seinem Gesicht zu entdecken, dann jedoch nahm sein Gesicht wieder einen ernsten Ausdruck an als er die Begrüßung erwiderte. „Gefällt Ihnen die Stadt?“, fragte Atemu harmlos um ein Gespräch in Gang zu bringen, denn er befürchtete bereits, Mutou-kun mit seinen Nachrichten aus der Fassung zu bringen, weswegen ein wenig Smalltalk ja nicht schaden konnte. Sein Gegenüber nickte auf die Frage auch und in seinen Augen konnte man die Begeisterung deutlich sehen. „Ja, sehr. Auch wenn ich das Gefühl habe, erst einen Bruchteil gesehen zu haben.“ Atemu schmunzelte unwillkürlich, als er an seinen ersten Besuch in Rom zurückdachte. Es war ihm ganz ähnlich ergangen. „Mit Sicherheit. Man hat nie alles gesehen, nicht in Rom.“, sagte er deshalb und wurde bei dem Gedanken fast nostalgisch. Doch er schob diese Gefühle rasch beiseite – er hatte ja geschäftlich mit dem Jungen zu tun. Dieser schien jedoch Gefallen am Smalltalk gefunden zu haben und erwiderte nun unbekümmert:„Vor zwei Tagen klangen sie noch so, als habe ich ja auch noch eine ganze Weile Zeit, mich hier weiter umzusehen.“ Als er antwortete wurde Atemus‘ Blick ernst:„Ja, sie haben noch eine Weile Zeit. Aber mein Plan scheint zu funktionieren.“ Er unterbrach sich selbst kurz um Mutou-kun einen langen Blick zuzuwerfen, mit welchem er sich vergewisserte, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben:„In drei Tagen findet Ihre Beerdigung statt. Ich dachte, dass sie das vielleicht interessiert.“

Das mochte eine Untertreibung gewesen sein. Vor allem aber war es ein Schock für Mutou-kun gewesen, der sich erst einmal auf die kalte Umfassung aus weißem Stein setzte. Damit störte er zwar das Photomotiv vieler Touristen, aber das war ihm in diesem Augenblick herzlich egal. Eine Weile starrte er ausdruckslos auf eines der weißen Pferde, die den Brunnen zierten, ohne es wirklich wahrzunehmen. Atemu setzte sich ungeachtet des nassen Brunnenrandes neben ihn, es geschah automatisch, ohne, dass er es hätte erklären können. Mutou-kun rückte augenblicklich ein Stück von ihm ab, aber das war schon in Ordnung. In letzter Zeit verstand er sich etwas besser, durch die Nähe zu Mutou-kun wurde ihm bewusster, weswegen er ihn nicht töten konnte – aber dann auch wieder nicht. Wenn Mutou-kun lächelte, dann war da dieses seltsame, unbekannte Gefühl dass ihm bewusst machte, dass er ihn nicht willentlich verletzen konnte. Wenn er ihn beobachtete, wie er den Tauben auf dem Petersplatz fütterte und dabei doch gedankenversunken auf den Petersdom starrte, dann erfüllte ihn ein bis dahin unbekannter innerer Friede. Aber er verstand es dennoch nicht, denn er wusste nicht, wieso er so empfand. Um noch einmal auf Goethes „Faust“ zurückzukommen, er verstand noch immer nicht „was die Welt im Innersten zusammenhält“.

Mutou-kun neben ihm biss sich auf die Lippe, dann sah er Atemu langsam an. „Ich… kann meine Familie nicht kontaktieren, oder?“, fragte er zögerlich. Die Sorge, welche Atemu so deutlich in seinen Augen gespiegelt sah, verstärkten nur seine Argumente, weswegen er ihn nicht töten konnte – auch, wenn er selbst hier nicht verstand, weswegen. Vermutlich hatte es etwas damit zu tun, dass der Junge ihm so ähnlich sah. Genau. Da assoziierte er sich wohl mit ihm und deswegen konnte er ihn nicht töten, wollte ihn sogar retten. Vielleicht sah er in dem Jungen sich selbst und was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht ein solches Erbe mit sich herumtrüge. Möglich war es. Und es klang plausibel. Logisch begründbar. Das gefiel ihm.

Die Frage des Jungen verneinte er dennoch entschlossen. „Auf gar keinen Fall. Das würde sie alle in Gefahr bringen.“ Mutou-kun wusste das, Atemu sah es ihm an. Aber es gefiel ihm nicht. Atemu legte den Kopf leicht schief. Natürlich, wenn man eine emotionale Bindung zu seiner Familie hatte, dann besaß man wohl das Bedürfnis, mit ihnen zu sprechen. Aber wenn es doch so logisch war, dass man es nicht konnte – dann brachte es doch nichts, Trübsal zu blasen und vor sich hinzustarren. Atemus‘ Hand glitt durch das klare Wasser des Brunnens, fragend sah er seinen kleinen Zwilling an. „Mutou-kun? Sie verstehen, dass Sie nicht mit ihnen reden können. Also weshalb machen Sie sich solche Gedanken? Wollen Sie nicht lieber Ihre freie Zeit ein wenig nutzen?“ Der Angesprochene seufzte jedoch nur tief und warf Atemu dabei einen gequälten Blick zu. Herzzerreißend. „Wissen Sie… meine Familie hatte mein ganzes Leben bereits für mich geplant. Ich wusste immer, was kommt. Jetzt weiß ich gar nichts mehr, ich weiß nichts mit mir anzufangen…“ Dieses plötzliche Eingeständnis überraschte Atemu sehr. Er konnte auch nicht recht nachvollziehen, weshalb Mutou-kun der Vergangenheit hinterher trauerte, wenn er in ihr doch nur eingeengt gewesen war. „Aber wollten Sie denn nie frei sein?“, fragte er verblüfft. Das Lächeln, welches er nur Antwort erhielt, war beinahe schüchtern. „Ich habe mich nicht unfrei gefühlt. Es war sicher. Aber jetzt… nichts ist mehr sicher.“ Atemu neigte leicht den Kopf. Dies immerhin verstand er. Aber plötzlich hob er den Kopf wieder und lächelte sein Gegenüber an. „Ich lebe schon lange so, ohne zu wissen, was der nächste Tag mir bringt. Wie Sie sehen, geht es mir sehr gut dabei. Sie brauchen sich also nicht zu fürchten!“ Enthusiastisch erhob er sich zu diesen Worten und streckte Mutou-kun auffordernd die Hand entgegen:„Gestatten Sie, dass ich Sie entführe!“ Und endlich – diese Worte entlockten dem eben noch so verängstigt schauenden Jungen ein Lachen, laut und ehrlich hallte es über den Platz, wenn auch verschluckt vom Lärm der Touristenscharen. Aber Atemu hatte es gehört und das genügte ja. „Sie haben mich doch längst entführt.“, kam es, immer noch amüsiert, von Mutou-kun. Atemu grinste, da hatte er nicht unrecht. „Ja.“, gab er zu, „Aber diesmal frage ich Sie um Erlaubnis. Also, wollen sie mit mir kommen?“ Und Mutou-kun zögerte nicht lange, er ergriff Atemus‘ Hand und stand auf. „Ja. Zeigen Sie mir Ihre Welt!“
 

Eine ganze Woche also ließ Yuugi sich von Taoka-sama durch Rom führen. Es wurde eine sehr unterhaltsame Woche und vor allem eine, wie er sie noch nie erlebt hatte. Natürlich war er des Häufigeren mit seinen Freunden in den Urlaub gefahren, aber das war nicht vergleichbar. Mit seinen Freunden war es ihm nur darum gegangen, Spaß zu haben, da er in der Schulzeit ja nur lernte und auch in den Ferien seine Eltern erwarteten, dass er seine Nase in Bücher steckte. Taoka-sama schaffte es auf beeindruckende Weise, ihm jede Sehenswürdigkeit und jeden versteckten Winkel der Stadt zu zeigen und dabei dennoch immer für Überraschungen und gute Laune zu sorgen. Er hatte es sogar geschafft, Yuugis‘ Sorge um seine Familie ein wenig zu zerstreuen – geschweige denn von der Sorge um seine Abschlussprüfungen. Yuugi gelang es, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass er sie dieses Jahr wohl nicht würde machen können, vermutlich musste er das Jahr wiederholen. Unter der warmen Sonne Italiens war es leicht, diese Sorgen einfach abzustreifen, nur in der Sonne zu liegen, den vielen, fröhlichen, italienischen Stimmen zu lauschen und dabei immer einen köstlichen Geruch in der Nase zu haben, sei es der von Pasta oder Bruschetta.

Die Gerüche waren grade jetzt besonders intensiv, die beiden hatten in einem kleinen Café unweit des Petersdoms Platz genommen. Taoka-sama trank einen Espresso. Yuugi war aufgefallen, dass dieser Mann scheinbar von einem Kaffee zum nächsten lebte – er trank wirklich extrem häufig eine Tasse. Zugegebenermaßen es roch verführerisch – aber über die Mengen konnte Yuugi nur noch den Kopf schütteln. Er hatte heute Mittag mit einem Obstsalat vorliebgenommen. Nachdenklich stocherte er nun in diesem herum und dachte nach. Die letzte Woche hatte ihm viel Spaß bereitet, doch er wusste nichts über den Mann, der der Grund dafür war. Natürlich hatten sie sich ausgiebig unterhalten, doch immer, wenn es daran ging, persönliche Fragen zu beantworten war Taoka-sama ihm geschickt ausgewichen – mehr als seinen Namen wusste Yuugi immer noch nicht. Nicht einmal alltägliche Dinge wie sein Alter oder seinen Beruf hatte er preisgegeben. Andererseits hatte er jedes Mal, wenn Yuugi etwas über sich gesagt hatte, bemerken müssen, dass auf Taoka-samas Lippen ein wissendes Lächeln gelegen hatte – er hatte es alles bereits gewusst, es schien nichts zu geben, was er nicht wusste. Dieser Umstand machte es Yuugi schwer, Taoka-sama zu vertrauen. Wie sollte man auch jemanden vertrauen, der alles über einen selbst wusste, aber nichts über sich preis gab? Auf der anderen Seite kam er nicht umhin, Taoka-sama ausgesprochen sympathisch zu finden. Es war sicher dumm, so zu denken, aber ob es nun an der römischen Luft lag oder nicht, Yuugi fühlte sich wie ausgewechselt – und bereit, ein Risiko einzugehen. Immerhin hatte Taoka-sama ihm das Leben gerettet – er konnte also kein schlechter Mensch sein, oder? Sicher gab es einen Grund, weswegen Taoka-sama ihm nichts sagen konnte.

Dieser jedenfalls lächelte ihn nun über den Rand seiner Espresso-Tasse hinweg an und fragte, was er heute sehen wolle. Yuugi überlegte, ihm fiel nichts ein, was er in Rom noch nicht gesehen hätte, was man kennen sollte. „Was schlagen Sie vor?“, beantwortete er die Frage also mit einer Gegenfrage. Taoka-sama trank seinen Kaffee aus, bei der winzigen Tasse ging das schnell, dann schlug er vor:„Was halten Sie vom Forum Romanum?“

„Da waren wir doch gestern erst.“

„Nein, gestern sind wir nur vorbeigegangen…“

„Na gut.“ Yuugi lachte.

Taoka-sama grinste. Er schien heute ungewöhnlich gut gelaunt, auch, wenn Yuugi ihn nie schlecht gelaunt gesehen hatte. Yuugi beobachtete ihn dabei, wie er den Keks aß, der zu dem Espresso gereicht worden war. Er sah gut aus. Aber den Gedanken schob Yuugi schnell beiseite und aß stattdessen seinen Obstsalat. Er hatte sich bereits vor Jahren eingestehen müssen, dass er sich eher zu Männern als zu Frauen hingezogen fühlte, aber er zog keine persönlichen Konsequenzen für sich daraus, seine Eltern würden so oder so eine Ehe für ihn arrangieren, deswegen war es egal, was ihm lieber war. Sagen brauchte er es ihnen also auch nicht, nicht nur, dass ihre Reaktion darauf alles andere als begeistert seine würde, sie würden es auch nicht weiter beachten und ihn dennoch mit einer Frau verheiraten. Also dachte Yuugi gar nicht weiter über dieses Thema nach. Er schob nur stumm die leere Schale Obstsalat von sich und sah sein Gegenüber fragend an.

„Also los, gehen wir.“, nickte dieser und bezahlte unter Yuugis‘ gesenktem Blick für sie beide. Das tat er schon die ganze Woche und Yuugi hatte es aufgegeben, Taoka-sama davon abhalten zu wollen, da es ja doch nichts brachte. Dabei hatte er doch seine Kreditkarte mitgenommen, eigentlich ja, um sich neue Kleidung zu kaufen, was er auch getan hatte, aber Taoka-sama schien es nicht zu beachten, jedenfalls hatte er nie etwas gesagt, er ließ nicht einmal zu, dass Yuugi sich bei ihm bedankte, wenn er mal wieder für ihn das Essen bezahlte. So jedenfalls bezahlte Taoka-sama, die beiden erhoben sich und machten sich auf den Weg zur Metropolitana. Diese war voll und stickig wie immer, sodass sie eng an eng gepresst dastanden, ehe sie nach einem Umstieg schließlich aussteigen konnten. Wenn man aus der U-Bahn ausstieg und über die Rolltreppen ebenerdig angelangt war, dann fiel der Blick eines jeden als erstes und unvermeidlich auf das Kolosseum. Obwohl die beiden erst vor vier Tagen im Inneren des gewaltigen Bauwerks gewesen waren blieb Yuugi unwillkürlich stehen und sah an den Mauern empor. „Wenn man davor steht fühlt man sich immer so winzig.“, sagte Yuugi gedankenverloren zu Taoka-sama, während seine Erinnerungen ihn zurück ins Kolosseum führten, wo er Mühe gehabt hatte, die gewaltigen Stufen zu erklimmen – dabei hatte er immer geglaubt, die Menschen vor zweitausend Jahren seien kleiner gewesen als heute. Als er Taoka-sama aber ansah bemerkte er, wie dieser ihn süffisant angrinste. „Nun, das ist bei Ihnen kein Kunststück, nicht wahr, Mutou-kun?“, fragte er. Yuugi spürte wie er wider Willen rot würde. Grummelnd sah er zu Taoka-sama auf:„So viel größer als ich sind Sie auch nicht!“, hielt er ihm entgegen. Aber er erhielt keine Antwort, sein Gegenüber grinste nur.

Die beiden überquerten die Straße, wandten sich dann nach rechts und sofort tat sich das Forum Romanum unter ihnen auf. Die vielen Ruinen waren, bedachte man ihr Alter, noch erstaunlich gut erhalten, Yuugi hatte schon vor Tagen darüber gestaunt. Bald darauf schlenderten sie langsam durch die Ruinen, das weitläufige Gebiet erlaubte ihnen ein wenig Privatsphäre und so nutzte Yuugi die seltene Chance, frei sprechen zu können ohne auf Passanten achten zu müssen – nur, weil sie im Ausland waren hieß das nicht, dass niemand ihre Sprache sprach, hatte Taoka-sama ihm gleich am ersten Tag eingeschärft.

„Was denken Sie, wie lange wird es noch dauern?“, fragte Yuugi ein wenig verträumt während seine Blicke über die rötlich verfärbten Bauten wanderten. „Nun,“, kam es recht unbekümmert zurück, „Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen. Ihre Beerdigung vor wenigen Tagen verlief ohne Zwischenfälle – aber sehr rührend, wenn ich das sagen darf.“ Yuugi senkte den Blick ein wenig, der Gedanke daran, dass alle seine Lieben um ihn trauerten bereitete ihm großes Unbehagen. Ob Taoka-sama es bemerkt hatte oder nicht konnte Yuugi nicht sagen, aber er sprach weiter:„Wenn nun nichts mehr geschieht, was die Aufmerksamkeit auf Ihre Person lenkt, sollten Sie in zwei oder drei Monaten zurückkehren können – unter falschem Namen, versteht sich.“ Yuugi nickte abwesend. Zwei Monate erschienen ihm eine sehr lange Zeit. Um die Stimmung wieder aufzubessern sah er Taoka-sama mit einem strahlenden Lächeln an und fragte scherzhaft:„Glauben Sie, dass ich Sie bis dahin auch einmal zum Essen einladen darf?“ Der Angesprochene lachte kurz, sah Yuugi dann unter hochgezogenen Augenbrauen an:„Wie stellen Sie sich das denn vor, von welchem Geld wollten Sie das bezahlen? Sie haben doch gar keine Gelegenheit gehabt, ihre Yen in Euro umzutauschen.“ Mit dieser Antwort hatte Yuugi nicht gerechnet. Aber sie erklärte, weswegen Taoka-sama ihm stets sein Essen bezahlt hatte. Jedoch konnte er diese Sorge zerstreuen. „Aber Taoka-sama!“, lachte Yuugi:„Ich habe doch meine Kreditkarte dabei! Oder was dachten Sie, womit ich meine neuen Kleidungsstücke gekauft habe?“

Taoka-samas Reaktion erfolgte schneller und heftiger als Yuugi auch nur blinzeln konnte. Von einer Sekunde zur anderen fühlte er die jahrtausendealte und kalte Wand in seinem Rücken, unangenehm spürte er die unebenen Steine durch den dünnen Stoff seines T-Shirts. Taoka-sama hatte die Arme links und rechts von Yuugis‘ Kopf abgestützt und war Yuugi so nahe, dass dieser sich kaum einen Millimeter bewegen konnte. Sein Gesicht war dem Yuugis‘ nahe, so nah, er konnte seinen Atem auf seiner Haut spüren und unwillkürlich zitterte er plötzlich vor dem Mann, mit dem er die letzte Woche verbracht hatte, von dem er aber eigentlich nichts wusste. Mit einem Mal wusste er nicht mehr, ob das alles eine so gute Idee gewesen war. Und mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie leicht es wäre, ihn aus dieser Situation zu küssen. Wie absurd!

„Sie haben Ihre Kreditkarte benutzt seit Sie hier waren?!“ Taoka-samas Stimme war laut und nie hatte Yuugi ihn so ärgerlich erlebt. Er hatte überhaupt noch nie einen Menschen so wütend erlebt. Wütend – und panisch. Denn als er einige Sekunden direkt in Taoka-samas blutrote Augen gestarrte hatte, bemerkte er, dass seine Wut in seiner Panik begründet lag. Sehr leise und zittrig beantwortete er die Frage:„Ja… beinahe jeden Tag…“ Ängstlich blinzelte er zu seinem Zwilling hinüber, aber dieser lies nun erst einmal von ihm ab – um im nächsten Augenblick mit der Faust gegen das Gebäude zu schlagen, gegen das Yuugi immer noch gelehnt stand. Eine dünne Blutspur lief daraufhin über Taoka-samas Hand, aber dieser beachtete das gar nicht. Seine Stimme war leise, als er sagte:„Wussten Sie denn nicht, dass man Sie darüber finden kann?“ Yuugi hatte es gewusst. Aber er hatte es nicht bedacht. So schüttelte er wie betäubt den Kopf. Doch er musste keine weiteren Wutanfälle von seinem Begleiter befürchten. Dieser nämlich nahm ihn nur bei der Hand und zog ihn energisch hinter sich her durch die Gänge, hinaus aus dem Forum Romanum, wohin, dass wusste Yuugi nicht.

„Beeilen Sie sich schon, vielleicht haben wir noch Glück gehabt. Beten Sie, dass es so ist!“
 

~*~*~*~
 

Das Monumento Nazionale a Vittorio Emanuele II, wegen ihrer eckigen, weißen Form auch die macchina da scrivere genannt, warf ihren langen Schatten in Richtung des Forum Romanum. Im Schatten dieses großen Gebäudes stand ein Mann in einem weißen Anzug, mit passendem weißen Hut. In dem Augenblick, da er Taoka-sama und Mutou-kun Hand in Hand von dem Forum flüchten sah bildete sich eine schmale Falte auf seiner Stirn und er nahm sein ebenfalls weißes Handy aus der Jackett-Tasche und wählte eine Nummer. Mit leiser Stimme sprach er in den Hörer:„Ja. Der Junge lebt. Und er hilft ihm.“ – „Ja, ich kümmere mich darum.“

Dann legte er auf und verließ mit raschen Schritten seinen Beobachtungposten.

Der Teufel

Der Teufel: Er steht für die dunkle Seite des Menschen wie Gier, Macht und Abhängigkeit, in denen wir gefangen sind. Doch die Karte sagt auch: Wir sind blockiert durch negative Gedanken. Wer sie abschaltet, kann sich vom Teufel befreien.
 

Juli 2007, Rom, Italien

Yuugi fand, dass er nicht so überrascht hätte sein sollen, als er herausgefunden hatte, dass sein Hotelzimmer gleich neben dem von Taoka-sama lag. Dort nun waren sie jetzt, während Taoka-sama fiebrig sein Notebook hochfuhr. Gesprochen hatten sie kein Wort mehr seit Yuugis‘ Eingeständnis. Recht unwohl in seiner Haut stand er an der Wand neben dem Fenster und sah nur zu. Etwas zu sagen getraute er sich nicht; er wusste, dass er einen großen Fehler begangen hatte. Einen Fehler, der nicht nur ihm, sondern auch seinem Retter das Leben kosten konnte. Grade um ihn tat es ihm Leid, Taoka-sama war doch ein so guter Mensch, er hatte ihm das Leben gerettet, völlig ohne Hintergedanken und nun hatte er, Yuugi, durch seine Dummheit nicht nur diesen Plan durchkreuzt sondern sie auch beide in Gefahr gebracht.

Es war eigentümlich still im Zimmer, von unten hörte man die verschiedensten Rufe auf Italienisch und auch in anderen Sprachen. Aber hier drinnen war alles, was man hörte, das Klackern als Taoka-sama auf die Tastatur hämmerte. Yuugi selbst stand nur stumm daneben, biss sich auf die Lippe und sah sich verstohlen im Zimmer um, einfach so, weil er nichts anderes tun konnte. Viel zu sehen gab es dabei aber nicht, denn hätte Taoka-sama nicht mit dem Laptop auf dem Bett gesessen und der Koffer daneben auf dem Boden gelegen, könnte man meinen, das Zimmer sei gar nicht bewohnt. Es gab keinerlei persönliche Gegenstände, alles war im Koffer belassen, der offen neben dem Bett stand – aber auch nur deswegen offen, weil sein Zwilling grade das Notebook entnommen hatte. Da der Koffer somit das einzig interessante war, besah Yuugi sich den Inhalt, so gut er das auf die Distanz hin konnte. Allerdings veranlasste besagter Inhalt ihn dazu, zu blinzeln, noch einmal hinzusehen. Doch seine Augen hatten ihn nicht getäuscht. Da blitzte etwas im Sonnenlicht metalisch auf. Zwischen Kleidung und einem Kulturbeutel lagen dort tatsächlich mindestens zwei Waffen, mehr konnte er nicht erkennen. Trotz des warmen Sonnenlichts hinter ihm lief Yuugi ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Diese Waffen machten ihm Angst. Warum besaß Taoka-sama sie? Aufgrund des eben von ihm begangenen Fauxpas getraute Yuugi sich jedoch nicht, zu fragen. Stattdessen versuchte er selbst, eine logische Begründung zu finden. Wenn Taoka-sama ihm helfen wollte, dann brauchte er die Waffen vielleicht, um den Auftragsmörder zur Strecke zu bringen, sollte er aufkreuzen. Vielleicht war er Polizist, das würde auch erklären, weshalb er ihm half… Yuugi wusste selbst, wie dürftig diese Erklärung war, aber sie genügte, um seine flatternden Nerven zu beruhigen.

Diese Ruhe sollte aber nur von kurzer Dauer sein. Denn in diesem Augenblick klappte Taoka-sama seinen Laptop eine Spur zu laut zu. Yuugi schreckte auf. Einen Augenblick blieb Taoka-sama noch reglos sitzen, dann seufzte er vernehmlich und strich sich mit der Hand durch sein Haar. Während seine Strähnen langsam wieder zurück an ihren alten Platz fielen, hob er den Blick und sah Yuugi direkt in die Augen. Sein Blick war ernst, doch hinter dieser Ernsthaftigkeit glaubte Yuugi zum ersten Mal ein Gefühl zu erkennen: Sorge. „Sie wissen, dass Sie noch leben. Allerdings haben Sie es nicht publik gemacht. Sie werden sehr bald hier sein und dann haben Sie ein großes Problem.“ Yuugi schluckte. Er hatte es befürchtet, doch erst, als es ausgesprochen war, wurde er sich der Gefahr richtig bewusst. Ein Auftragsmörder war hinter ihm her. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Taoka-sama bemerkte es und lächelte besänftigend. „Machen Sie sich nicht so viele Gedanken. Ich werde mich um alles kümmern. Geben Sie mir bitte Ihre Kreditkarte – und die Geheimnummer.“ Wie in Trance nickte Yuugi, er sah ein, dass sein Zwilling Recht hatte. So kramte er sein Portmonee hervor und entnahm das gewünschte Objekt. Mit seiner Geheimnummer auf den Lippen überreichte er sie seinem Retter. Dieser nahm sie mit einem knappen Nicken entgegen, dann erhob er sich von seinem Bett. „Ich werde mich um alles kümmern. Sie bleiben so lange hier. Ich werde schnell sein.“ Yuugi war viel zu verdattert um darauf eine Erwiderung bereit zu haben. Ehe er sich gefasst hatte, hatte Taoka-sama das Hotelzimmer schon verlassen. Zu seinem Unglauben hörte er, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Er wurde eingeschlossen? Langsam näherte er sich der Tür, drückte die Klinke hinab und fand die Türe tatsächlich verschlossen vor.

Kopfschüttelnd setzte er sich auf das Bett. Es war genau wie sein eigenes nebenan. Langweilig. Er stand wieder auf, ging zum Fenster, sah hinaus. Der Ausblick war der gleiche wie nebenan. Langweilig. Yuugis‘ Blick wanderte zu dem immer noch geöffneten Koffer. Und den Waffen darin. Er biss sich auf die Lippen. Er drehte sich zum Fenster. Verschränkte die Arme vor der Brust. Biss sich schon wieder auf die Lippe. Dann drehte er sich entschlossen wieder zum Koffer, hockte sich davor und schob sachte die Kleidung beiseite. Und schnappte nach Luft.

Drei Pistolen, Magazine, Messer, Schalldämpfer und Dinge, von denen er nicht einmal wusste, was sie waren, lagen da. Aber damit noch nicht genug. Drei Perücken lagen da und dazwischen ein Portmonee. Yuugi öffnete es, aber er war schon nicht mehr in der Lage, Schock zu empfinden, als er die vielen Personalausweise sah, jeder ausgestellt auf einen anderen Namen und aus vielen verschiedenen Ländern. Der Schock ließ ihn nur noch weiter suchen, ohne zu empfinden. Schwarze Kleidung, Handschuhe und ein Pistolenholster. Dazu schließlich Schminke und mehrere kleine Flaschen, über deren Inhalt er gar nicht so genau Bescheid wissen wollte. Yuugis‘ Gehirn konnte diese Funde nur langsam verarbeiten. Sein Unterbewusstsein begriff langsam, was dies bedeutete, doch es kam nicht bei ihm an, er saß nur geschockt inmitten des Kofferinhalts.

Dort saß er immer noch, als Taoka-sama das Zimmer wieder betrat. Dieser stockte, als er Yuugi vor seinem geöffneten Koffer sitzen sah. Dann räusperte er sich leise um auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen und schloss die Tür hinter sich. Yuugi blickte auf. Er wusste, er sollte verschwinden, jedoch wollte sein Körper ihm nicht gehorchen. Taoka-sama setzte sich Yuugi gegenüber im Schneidersitz auf den Boden, von dort aus sah er ihn nur an, sagte nichts, sondern wartete ruhig ab, bis Yuugi seine Fassung wiedergewonnen hatte. Dieser atmete bewusst ruhig, versuchte, wieder Herr seiner selbst zu werden. Er wusste nun, dass Taoka-sama weit mehr war, als er Yuugi gesagt hatte. Aber seltsamerweise konnte er es immer noch nicht so recht glauben, hoffte er immer noch, dass es für all das eine logische Erklärung gab. In dieser verzweifelten Hoffnung also blickte er auf, sah sein Gegenüber an und als er seine Frage formulierte schwang darin die gleiche Verzweiflung mit, wie sie auch aus seinen Augen zu lesen war:„Was ist das alles hier?

Taoka-sama räusperte sich, es klang beinahe verlegen. Er streckte beide Hände aus und nahm Yuugis rechte Hand behutsam in seine Hände. Yuugis Hand war eiskalt in Atemus‘ warmen. „Yuugi.“, sagte er leise. Es war das erste Mal, dass er ihn duzte und wider Willen spürte Yuugi, wie ihn dieser Laut tief in seiner Magengegend berührte. Ängstlich sah Yuugi Taoka-sama in die Augen. Dieser sprach weiter, leise und langsam:„Yuugi, der Auftragsmörder, der dich töten soll… das bin ich.“
 

~*~*~*~
 

Atemu beobachtete sein Gegenüber kritisch. Er wusste, dass er geschockt war, ein Blinder hätte das erkannt. Doch Atemu hielt es für klüger nichts zu sagen, Yuugi die Chance zu geben, das zu verdauen. Dies allerdings fiel jenem sichtlich schwer, schließlich löste er seine Hand aus Atemus‘ und rückte von ihm ab. Er schien etwas sagen zu wollen, doch kein Laut verließ seinen Mund.

So beschloss Atemu doch etwas zu sagen:„Ich sollte dich töten, Yuugi. Aber ich habe es nicht getan und ich werde es nicht tun. Ich will dir wirklich helfen. Bitte bleib ruhig.“ Und langsam, ganz langsam, nickte Yuugi. Noch einmal atmete er tief aus, dann hob er den Blick und Atemu sah erleichtert, dass sein Gegenüber zögerlich lächelte. „Warum?“, fragte er dann. Atemu musste seine Ohren anstrengen, um Yuugis‘ Wispern überhaupt zu verstehen, dabei war die Stimme um eine halbe Oktave höher als normalerweise. Die Frage verstanden zu haben, machte es allerdings nicht leichter, sie zu beantworten, denn eben diese Frage konnte Atemu sich selbst nicht beantworten. Nicht, dass er nicht viel und gründlich darüber nachgedacht hätte – allein, er war zu keinem Ergebnis gelangt. Denn der Fakt, dass er Sympathie für den Jungen empfand, ließ er sich nicht gelten – auf so etwas konnte man doch kein Urteil begründen…

„Wichtiger als die Beantwortung dieser Frage ist erst einmal deine Sicherheit, findest du nicht?“, fragte er zurück um sich die schier unmögliche Beantwortung dieser Frage zu umgehen. Jedoch machte ihm Yuugi da einen Strich durch die Rechnung, sodass Atemu schnell weitersprach. „Hör zu. Wir haben nicht viel Zeit und unser beider Leben steht auf dem Spiel. Ich verhelfe dir zur Flucht und kümmere mich um alles. Wir treffen uns dann wieder sowie ich alles geregelt habe – dann werde ich dir alles erklären. Einverstanden?“ Er wusste zwar nicht, wie er Yuugi alles erklären sollte, aber immerhin hatte er sich damit etwas Zeit erkauft. Denn Yuugi stimmt zu. „Gut.“, sagte Atemu, packte rasch alles wieder in seinen Koffer und sah Yuugi auffordernd an:„Gehen wir in dein Zimmer, du musst auch packen. Unsere Flüge gehen bereits in anderthalb Stunden.“ Yuugi nickte, erhob sich und ging vor in sein Zimmer. Atemu folgte ihm, er war ein wenig besorgt um seinen Schützling, der ihm eher wie eine Maschine erschien, welche stumm tat, was man ihr befahl. Hinter Yuugi betrat er dessen Zimmer, als ihm das Dilemma aufging, dass durch seinen Überstürzten Aufbruch Yuugi ja gar keinen Koffer besaß. Eine vorrübergehende Lösung bestand also darin, dass Yuugi die Kleidungsstücke, welche er hier gekauft hatte – zum Glück waren es nicht sehr viele – mit in Atemus‘ Koffer verstaute. Jedoch konnte dies kein Dauerzustand sein, wie Atemu nun, auf dem Weg zur nächsten Metro, zu erklären begann:„Während du die Muße hattest, meinen Koffer zu durchsuchen – schau nicht so erschrocken, ich bin dir doch gar nicht Gram! – habe ich drei Flugtickets erworben. Zwei habe ich mit deiner Kreditkarte bezahlt, nämlich nach Wien. Eines habe ich bar bezahlt, für einen Flug nach Paris. Du wirst den Flieger nach Paris nehmen, man wird aber glauben, wir seien nach Wien geflogen. Deswegen werde ich auch nach Wien fliegen und unseren Verfolgern dort auflauern.“ Atemu sah Yuugi an, der ihm heute noch blasser erschien, als er es ohnehin schon war. „Was werden Sie tun, wenn Sie sie gefunden haben?“, fragte er leise. Dass Yuugi nicht von selbst darauf kam schob Atemu auf den Schock, sagen wollte er es aber auch nicht, er hatte den Kleinen heute fürwahr schon genug aus der Fassung gebracht. So warf er ihm nur einen langen Blick zu, den Yuugi, wenn auch mit einiger Verzögerung, verstand. Er senkte den Kopf. „Warum werden Sie überhaupt verfolgt, ich dachte, man wäre hinter mir her…“, murmelte er dann. Atemu hätte gelacht, wäre die Situation nicht so ernst. „Ich sollte dich töten. Stattdessen rette ich dich – was erwartest du denn da?“, erklärte er daher. Yuugis‘ Kopf sank noch weiter auf dessen Brust. Er wirkte schrecklich geknickt.

Aber dann hob er den Kopf und lächelte Atemu an. Dieses Lächeln versetzte ihm einen seltsamen Stich und er wusste wirklich nicht, womit er sich dieses Lächeln verdient haben sollte. Doch diese Erklärung wurde nun nachgeliefert:„Sehen Sie, dann können Sie ja doch kein schlechter Mensch sein, wenn sie Ihr eigenes Leben für meines aufs Spiel gesetzt haben.“ Atemu war von diesen Worten so überrascht, dass er stehen blieb und Yuugi mit offenem Mund anstarrte – freilich nur für einen Moment, dann hatte er sich wieder gefasst. Er hielt ihn für einen guten Menschen? Von allen, ausgerechnet ihn, seinen beinahe-Mörder? Immer noch reichlich verdattert schloss er wieder zu Yuugi auf, er wollte ihm widersprechen, wollte sagen, dass es dumm war, zu glauben, er sei ein guter Mensch, auch wollte er danke sagen, weil er es zugegebenermaßen sehr nett von Yuugi fand. Hin und hergerissen zwischen dem, was er sagen solle, war alles, was er herausbrachte ein völlig fassungsloses „Was?“ Yuugi lächelte zurück. „Können wir es dabei belassen? Bitte? Ich will nicht darüber nachdenken, was Sie sind, das ist zu viel für mich. Lassen Sie mich einfach glauben, dass Sie mich gerettet haben. Das stimmt ja, es ist eben nicht die ganze Wahrheit aber es ist alles, womit ich fürs erste leben kann.“ Atemu akzeptierte diese Bedingung. Das war mehr, als worauf er zu hoffen hatte wagen können.

Die Metro-Station Termini hatten sie schnell erreicht, gesprochen hatten sie nicht mehr. Atemu wusste nicht, was er sagen sollte, Yuugis‘ Worte hatten ihn verwirrt. Er hatte mit vielen Reaktionen gerechnet, mit Panik, mit Wut, sogar mit einem Angriff. Aber sattdessen sagte man ihm, er sei kein schlechter Mensch? Etwas an der Art, wie Yuugi es gesagt hatte, überzeugte ihn davon, dass er diese Worte nicht ausgesprochen hatte, um ihm davon zu überzeugen, ihm weiterhin zu helfen – abgesehen von der Tatsache, dass er das ohnehin getan hätte. Nein, Yuugi hatte das ernst gemeint. Dabei wusste er doch kaum etwas über ihn… Sie würden darüber reden müssen, doch nun war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, sie saßen bereits im Leonardo-Express, welcher sie hinaus aus Rom fuhr. Wie jedes Mal versetzte es Atemu einen kleinen Stich, diese Stadt verlassen zu müssen, doch wie jedes Mal beruhigte er sich damit, dass er hierher zurückkehren würde, es war weniger ein Plan, weniger eine Hoffnung – es war Gewissheit. Wie es in Yuugi aussah vermochte Atemu dagegen nicht zu sagen, er hatte den Blick abgewandt. So erreichten sie nach einer halben Stunde den Flughafen, gingen nebeneinander her, immer noch schweigend. Atemu hätte gerne etwas gesagt, aber er hatte das Gefühl, es wäre zu früh und Yuugi brauchte sicher Zeit. Er hatte es gewusst und er war erstaunt, dass es einfacher war, als er geglaubt hatte.

So trieben sie sich erst am Flughafen herum, denn Yuugi brauchte ja noch einen Koffer. Atemu packte für Yuugi um, kaum, dass sie einen gefunden hatten, er schaffte es, die Waffen dabei stets versteckt zu halten – eine der Waffen aber schmuggelte er in Yuugis‘ Koffer, ohne, dass dieser es bemerkt hätte. Dann erst gingen sie zum Schalter, gaben ihre Koffer auf und passierten die Sicherheitsschranken. „Komm, wir essen etwas.“, sagte Atemu leise zu Yuugi, er sah ihn dabei nicht an, er wollte ihm so viel Ruhe wie möglich gönnen. „Ja.“, stimmte Yuugi ebenso leise zu und folgte Atemu zu einem der hoffnungslos überteuerten Restaurants im Flughafen. Sie saßen einander gegenüber, immer noch herrschte betretenes Schweigen als sie die Speisekarten in Empfang nahmen. Yuugi bestellte sofort „Coda alla Vaccinara“ und so tat es Atemu ihm nach und bestellte unverzüglich um den Kellner nicht warten zu lassen, er schaute einfach erst gar nicht in die Karte sondern wählte sein Lieblingsgericht, welches sicher angeboten wurde, da es eine römische Spezialität war. Als er Kellner gegangen war zog Atemu die rechte Augenbraue hoch und sah Yuugi an. „Weißt du, was du grade bestellt hast?“, fragte er mit höflichem Interesse in der Stimme. „Das erst beste?“, kam es zurück. Atemu hüstelte leicht. Eigentlich hatte er nur ein Gespräch über das Essen angefangen, um ein unverfängliches Thema zu haben, mit dem er die Stimmung auflockern konnte, aber Yuugis‘ Bestellung verwunderte ihn und er sah seine Vermutung, dass der Kleinere nicht einmal wusste, was das war, nun bestätigt. Ein Schmunzeln legte sich auf seine Lippen als er mit bedachter Stimme antwortete:„Coda alla vaccinara sind Rinderschwänze…“ Es mochte an dem künstlichen Licht im Flughafengebäude liegen, aber Atemu hatte den Eindruck, dass Yuugis‘ helle Haut einen grünlichen Schimmer um die Nase herum annahm. Er lächelte verbindlich und sagte, um Yuugi aufzuheitern:„Du kannst stattdessen mein Essen haben, wenn es dir lieber ist.“ Etwas zögerlich blickte Yuugi auf und fragte mit einer Stimme, die die Übelkeitsvermutung Atemus‘ bestätigte:„Was haben Sie denn bestellt?“ „Bucatini all‘amatriciana”, antwortete Atemu und fügte auf Yuugis’ fragenden Blick hin erklärend hinzu:„Das ist eine Art Spagetti in Tomatensauce.“ Der Grünton in Yuugis‘ Gesicht ging daraufhin etwas zurück und er nickte dankbar. „Ja… das…. Das wäre sehr nett, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“, sagte er und endlich schien er sich wieder etwas zu entspannen. Atemu lächelte. Er wusste zwar nicht, weshalb ihm das Wohl des Jungen am Herzen lag, aber da es ihm nun mal am Herzen lag konnte er sich auch dafür einsetzen.

So tauschten sie ihre Teller, kaum, dass das Essen da war. „Also… wie geht es weiter?“, fragte Yuugi schließlich und sah Atemu an. Dieser schluckte erst einmal hinunter, ehe er die Frage beantwortete:„Sie fliegen mit dem von mir gebuchten Ticket unter falschem Namen nach Paris. Dort werden sie von einem Taxi abgeholt und in ein Hotel gebracht. Ich muss sie bitten, selbiges so selten wie nur möglich zu verlassen, da ich nicht weiß, wie schnell dieser Plan durchschaut werden wird und du, wenn du mir die Ehrlichkeit verzeihen willst, ohne mich doch recht schutzlos dastehst. Das Ticket nach Wien werde ich, ebenfalls unter falschem Namen, nutzen. Das verbleibende Ticket nach Wien wird einfach verfallen, wenn wir Glück haben, suchen sie uns dann in Wien, wo ich auf sie warten werde.“ Yuugi nickte langsam und hielt den Blick auf sein Essen gesenkt. Er hatte Atemu ja schon gesagt, dass er nicht darüber nachdenken wollte, was Atemu in Wien tun würde. Und Atemu akzeptierte das.

Scheinbar bedeutete das aber nicht, dass Yuugi keine anderen Fragen hatte, denn schon hob er den Blick wieder von der Pasta und sah Atemu an. „Wie kommt es, dass sie Ihre Kreditkarte nicht zurückverfolgt werden können?“ Atemu schmunzelte. „Schweizer Bankkonten.“, lautete die Antwort. „Viele Schweizer Bankkonten, alle auf unterschiedliche und falsche Namen.“ Yuugi schüttelte lächelnd den Kopf:„Nun, dann hoffe ich, dass es genügend Konten sind, wenn man bedenkt, was sie alles für mich bezahlen.“ „Mach dir da mal keine Sorgen. Ich verdiene gut.“ Bei diesem erneuten Verweis auf seinen Beruf senkte Yuugi den Blick wieder auf seinen nun leeren Teller. „Tut mir leid.“, sagte er rasch. Yuugi aber wank schon ab:„Ich muss mich daran gewöhnen.“ Atemu lächelte zögerlich. Der Junge war ziemlich mutig, befand er, sich einfach so mit einem Auftragsmörder abzugeben, ihm sogar so sehr zu vertrauen. Bewundernswert. Und Atemu empfand selten Bewunderung.

In diesem Augenblick ertönte der Aufruf, dass die Passagiere der Flüge nach Paris und Wien sich auf den Weg machen sollten. Atemu bezahlte, Yuugi kommentierte es nicht. Dann machten sie sich auf den Weg, sie sprachen wieder nicht, aber Yuugis‘ Blick war diesmal erhoben und er wirkte nicht mehr so getrübt. Als sich ihre Wege trennten, legte Atemu Yuugi die Hand auf die Schulter und sah ihn ernst an. Yuugi schluckte sichtlich und schien zum ersten Mal nervös zu werden, als er daran dachte, von nun an auf sich gestellt zu sein. Atemu lächelte leicht, als er es sah, um dem Jüngeren Mut zu machen. Dann zog er ein paar Dokumente aus seinem Portmonee und überreichte sie Yuugi. Mit Erstaunen sah dieser, dass es sich um einen Personalausweis, einen Reisepass, ein Visum sowie eine Kreditkarte handelte – allesamt auf denselben, aber falschen Namen ausgestellt. „Die wirst du brauchen.“, erklärte Atemu. „Danke.“, sagte Yuugi. Sie sahen sich an und schwiegen. Es war eine eigentümliche Stille, in der sie sich verabschiedeten, keiner wusste, was er sagen sollte, denn eigentlich kannten sie sich ja kaum und wussten nicht, wie sie zueinander standen.

Es war Atemu, der schließlich das Wort ergriff und leise sagte:„Eine Woche. Wenn ich nach einer Woche nicht wieder zu dir gestoßen bin, kannst du von meinem Ableben ausgehen. Dann verschwinde, irgendwohin, nur nicht zurück nach Japan.“ Yuugi öffnete den Mund, doch Atemu fiel ihm ins Wort. „Pass gut auf dich auf, Yuugi.“ Dann drehte er sich um und ging.

Yuugi starrte ihm hinterher und plötzlich erst wurde ihm bewusst, dass es möglich war, dass er Taoka-sama nicht wiedersehen würde. Ihm fiel auf, dass er Taoka-sama nicht einmal mehr Glück gewünscht hatte – oder sich bedankt hatte.
 

Panisch und wesentlich weniger entschlossen als Taoka-sama eben machte auch er sich auf den Weg.

Die Kraft

Die Kraft: Nicht die Stärke des Körpers, sondern Emotionen und Leidenschaft sind hier gemeint. Die Karte fordert uns auf, unsere Kräfte nicht länger zu unterdrücken, sondern im Kampf für das Gute einzusetzen.
 

Juli 2007, Wien, Österreich

Von Rom nach Wien dauerte der Flug nicht besonders lange, gemessen an der langen Strecke von Tokio nach Rom war es sogar nur ein Katzensprung. Dennoch lagen Welten zwischen den beiden Städten, wie Atemu bald feststellen musste. Er war noch nie in Wien gewesen und die Tatsache, dass er kein Wort deutsch sprach bereitete ihm ein wenig Sorge. Aber jene, um welche es ihm ging, waren wohl auch Japaner – und mehr wollte er hier nicht. Während er in der Bahn vom Flughafen zur Innenstadt saß überlegte er, was genau er tun solle. Er musste sie finden und das schnell. Es ging ihm ja auch nicht darum, sich vor ihnen zu verstecken, er wollte gefunden werden, es lag nicht in seiner Natur, vor unangenehmen Dingen davonzulaufen. Er wollte es nur hinter sich bringen um dann nach Paris zu fliegen. Wien schien ihm ohnehin nicht zu gefallen, während er aus dem Fenster sah bestätigte sich der erste Eindruck dessen, was er schon aus dem Flughafen heraus während des Landeanflugs gesehen hatte. Überall Industriegebäude. Schön war anders.

Das Bild änderte sich erst, als die Bahn unterirdisch weiterfuhr. Er musste zwei Mal umsteigen, aber als er dann am Dr.-Karl-Renner-Ring ausstieg, verstand er schon eher, weswegen die Menschen begeistert von Wien waren. Der Dr.-Karl-Renner-Ring war Bestandteil der Wiener Ringstraße, welche im ersten und somit nobelsten Bezirk der Stadt lag. Somit war die Straße von den hohen und reich verzierten Prachtgebäuden umgeben, was Atemu sofort das Gefühl gab, sich in einer ganz anderen Welt – oder eher in einer anderen, seit gut 100 Jahren vergangenen, Zeit – zu befinden, als es die Fabrikgebäude eben noch hatten glauben machen. Dies hier wirkte edel – und sah wunderschön aus. Atemu lächelte leise. Er hatte beschlossen, sich an möglichst vielen, öffentlichen Plätzen herumzutreiben, dort musste man ihn immerhin nicht lange suchen, Wien war ja nicht so voll von Touristen wie Rom. Dafür aber spürte man die Geschichte dieser Stadt ebenso deutlich, auch, wenn es besonders hier keine so alte Geschichte war wie in Rom. Diese Gebäude hier stammten allesamt aus der Regierungszeit von Kaiser Franz Josef I., welcher bemüht war, Wien schöner werden zu lassen. Nach gut zehn Jahren Bauzeit war ihm dies auch gründlich gelungen, wie Atemu nun feststellen konnte.

Er stand noch an der U-Bahn Station, aber gleich gegenüber von ihm befand sich das große Gebäude im Stil des Historismus, welches das Volkstheater beherbergte. Ein paar Plakate davor warben für die Stücke, heute Abend würde „Purple Rose of Cairo“ gespielt werden. Atemu lächelte, er kannte den Film, auf dessen Vorlage das Stück basierte, und wäre er zum Vergnügen hier, würde er heute Abend sicherlich die Vorstellung besuchen. Aber leider bestand dazu wohl kaum eine Möglichkeit. So ging er los, überall waren Gebäude, groß genug um sehr wichtig zu wirken. Auf dem Flug hierher hatte er einen Reiseführer über Wien gelesen um sich wenigstens ein bisschen orientieren zu können und so erkannte er das ein oder andere Gebäude doch wieder. Er ging schnell, denn ihn fröstelte, nach der warmen Sonne Italiens war es in Wien furchtbar kalt und zudem war der Tag grau und regnerisch. Kein Tag, an dem man gerne draußen war und Atemu ging auf direktem Weg in das Hotel. Er war nicht wirklich müde, aber sicher brachte es nichts, heute noch in Aktion zu treten, denn es war noch zu früh, sicher hatte niemand auf ihn gewartet. Deswegen vertrieb er sich den Tag mehr oder weniger unruhig im Hotel, er hasste es, untätig warten zu müssen.

Zu seinem Verdruss stellte er am nächsten Tag fest, dass das Wetter in keinster Weise besser geworden war, dicke, graue Wolken hingen am Himmel und gaben nicht einen Blick auf die Sonne frei. Schlecht gelaunt trank er in der Hotellobby Orangensaft und verließ dann mit langen Schritten das Hotel. Die Schultern hochgezogen schenkte er weder dem Parlamentsgebäude mit dem Pallas-Athene-Brunnen noch dem schräg gegenüberliegenden K.K Hofburgtheater seine Aufmerksamkeit. Er war ein wenig erstaunt, wie wenig Menschen er hier vorfand, man sollte meinen, dass mehr Touristen hier wären, doch es waren nur wenige. Wie es aussah, würde er sich ein anderes Plätzchen suchen müssen. Fragte sich nur, wo. Er hatte zwar einen Stadtplan, aber wenn er die Straßenbahn benutzen wollte, würde es sich empfehlen, der deutschen Sprache mächtig zu sein. Aber das war er nicht. Und so war es eine enorme Herausforderung, sich bei der Vielzahl an Bussen, Straßen- und U-Bahnen zurechtzufinden. Letzten Endes hatte man ihm wohl angesehen, dass er recht hilflos vor dem Plan gestanden hatte, denn plötzlich fragte eine junge Frau mit dunkelblondem Haar neben ihm:„Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Atemu blinzelte, er hatte kein Wort verstanden, denn sie hatte Deutsch gesprochen. Die Frau sah ihn aufmerksam an, ihre Augen waren moosgrün und ein Schild am Revier mit dem rot-weißen Logo der Stadt Wien ließ Atemu vermuten, dass sie Stadtführungen oder etwas Ähnliches anbot. Unter dem Logo stand “Delia D.“ – Immerhin, sie musste Ahnung haben. Allerdings hatte er die Frau nicht verstehen können, da sie deutsch gesprochen hatte. „Na desuka? Boku wa hanamasen deutsu.“, erwiderte er reflexartig, aber nun war es an der Frau zu blinzeln – offensichtlich sprach sie wiederum kein Japanisch. Aber immerhin hatte sie anhand seiner Worte auch so verstanden, dass er ihr hatte mitteilen wollen, dass er kein Deutsch sprach. Sie lächelte und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Can I help you?“, fragte sie. Endlich eine Sprache, mit der sie beide zurechtkamen. „Yes, please, how do I get to the…“, er hielt inne und überlegte kurz. Welches war der größte und beliebteste Platz in Wien? Hier, wo sich die Monumente tummelten war die Touristenmenge überschaubar. „to the St. Stephen’s Cathedral?“ Sie nickte lebhaft und deutete auf den Plan:„Here, you see, you get this train, the U2 and then you change at this station to the U3, it’s very simple.” Atemu konnte ihr nicht so recht zustimmen, dass das leicht sein solle, mit Wehmut dachte er an das U-Bahnnetz in Rom – dort gab es die Linea A und die Linea B – und damit gut, aber man kam überall hin. Dennoch bedankte er sich freundlich, ehe er die Treppen hinunter zur U-Bahn ging.

Zu seinem Glück musste er, als er am Stephansdom angelangt war, feststellen, dass hier tatsächlich mehr los war. Zufrieden ließ er sich durch die Massen treiben, schlenderte scheinbar sorglos umher während seine Augen immer wach durch die Menge huschten, auf der Suche nach jenen, die ihn töten wollten. Er war darauf vorbereitet. Einen Großteil seiner Waffensammlung trug er versteckt am Körper, wo sie allzeit einsatzbereit waren. Darin hatte er ohnehin Übung. Aber diese Situation an sich war ihm neu, er wusste ja nicht einmal, ob er verfolgt wurde. Er konnte es nur vermuten und hoffen, dass sie auf seine Finte hereingefallen waren und ihm nach Wien und nicht Yuugi nach Paris gefolgt waren. Falls sie überhaupt bemerkt worden waren, nicht einmal das konnte er ja sagen. Er hasste diese Situation, denn er wusste gar nichts, hatte viel zu wenige Informationen. Normalerweise würde er unter solchen Umständen ja gar nicht handeln… Aber nichts war mehr normal.

Nicht einmal die Gruppe Japaner mit den Digitalkameras. Zwar gab es wohl nichts alltäglicheres, als seine photografierende Landsleute, aber mit diesen stimmte eindeutig etwas nicht. Denn statt den imposanten Dom abzulichten, war viel mehr er selbst ihr Motiv. Atemu atmete tief durch. In Ordnung. Sie waren auf seinen Trick hereingefallen, jetzt musste er sie nur noch loswerden. Das Problem war nur – er hatte mit zwei Männern gerechnet – aber doch nicht mit fünf! Das würde erheblich schwieriger werden, wenn nicht sogar unmöglich. Aber solche Gedanken ließ er nicht zu. Er liebte doch Herausforderungen – und mehr war dies auch nicht, nur eine große Herausforderung, macht er sich selbst Mut. In Richtung der Männer freundlich lächelnd, wartete er darauf, dass sie seinen Blick bemerkten und die Kameras sinken ließen. Eine Sekunde starrten sie sich so quer über den belebten Platz um den Stephansdom an, dann drehte Atemu sich um und ging. Den Männern würde nichts anderes übrig bleiben als ihm zu folgen, denn wie wollten sie sonst ihrem Auftrag nachkommen? Während Atemu die U-Bahntreppen hinunterstieg fragte er sich, hinter wem die Männer her waren – Yuugi oder ihm, oder gleich ihnen beiden? Auf die Entfernung war es möglich, dass sie sie nicht hatten auseinanderhalten können, sie sahen sich ja so ähnlich, dass Atemu es selbst schwer fiel, die Unterschiede zu benennen. Die Haare, ein wenig. Und die Größe. Aber wenn man nur einen von ihnen vor sich hatte war es schwer zu sagen, wer wer war.

Atemus‘ Gedanken rasten. Es fuhren mehrere U-Bahnen vom Stephansdom aus und er musste sich schnell entscheiden, wohin er seine Verfolger locken wollte. Schließlich landete er in der U1 Richtung Leopoldau. Zu seinem Leidwesen schafften es auch die Männer noch in die U-Bahn und standen nun in nur ein paar Schritt Entfernung von ihm, starrten ihn an. Atemu sah aus dem Fenster, obwohl die Bahn unterirdisch fuhr. Jetzt fragte sich nur noch, wo er aussteigen sollte. Es musste ein ruhiger Platz sein, etwas, wo er nicht so schnell erwischt wurde. Und etwas, was die Möglichkeit bot, sich rasch zu verstecken. Er musste nur drei Stationen warten, dann schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen.

Praterstern. Atemu stieg aus.

Der Weg war nicht weit und leicht zu finden, denn das berühmte Riesenrad – genannt Wurstl Prater – war so groß, dass es ohne Schwierigkeiten den Weg zum Prater, dem Freizeitpark, auf dem man das Riesenrad fand, wies. Atemu ging schnell, er hörte die Schritte seiner Verfolger hinter sich, was er versuchte zu ignorieren. In Hektik legte er sich einen Plan zurecht, besonders ausgeklügelt war dieser jedoch nicht, immerhin kannte er nicht einmal das Areal. Vielleicht hätte er sich doch besser eine andere Stadt als Wien aussuchen sollen… Aber er hatte den nächstbesten Flieger nehmen müssen, der zeitgleich mit dem von Yuugi ging – und er hatte nicht damit gerechnet, so früh gefunden zu werden. Seine Verfolger waren ihm wohl dichter auf den Fersen, als er geglaubt hatte. Ärgerlich huschten seine Augen über den Prater. Er war jetzt fast da, über dem Tor befand sich ein großes, grünes Schild, auf welchem Prater Hereinspaziert stand. Rechter Hand ragte das Riesenrad auf, linker Hand standen viele gelbe Gebäude, welche Scherzartikelläden und ähnliches beherbergten. Dahinter ging es weiter, ein großes, grünes Gebäude und hinter dem Prater standen diverse Fahrgeschäfte. Mitten auf dem großen Platz, auf den man beim Betreten unwillkürlich gelangte, stand eine Statue und rechts daneben ein Briefkasten. Aber ansonsten war der Platz des berühmten Freizeitparks vollkommen leer. Nicht eine Menschenseele war da. Aber das war typisch. Hier war nur noch am Wochenende etwas los. Das spielte ihm grade in die Hände, hier hatte er das perfekte Areal gefunden, um es gegen eine Mehrheit aufnehmen zu können, weitläufig, verzweigt und voller Möglichkeiten, sich vor den Augen seiner Verfolger zu verbergen. Und genau das tat er, als er den Park betreten hatte.

Das Spiel konnte beginnen.
 

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Juli 2007, Paris, Frankreich

Yuugi schob den Koffer in einer energischen Bewegung unters Bett und sprang dann rückwärts vom Bett weg. Beinahe angeekelt starrte er auf selbiges. Als er in seinem Hotel in Paris angekommen war und seinen Koffer geöffnet hatte, hatte er zu seinem Entsetzen feststellen müssen, dass Taoka-sama es irgendwie fertig gebracht hatte, eine seiner Pistolen in seinen Koffer zu schmuggeln. Wie er das fertig gebracht hatte, ohne, von den Sicherheitsleuten entdeckt zu werden, konnte Yuugi sich nicht einmal vorstellen. Er wollte diese Waffe nicht einmal. Er konnte zum einen nicht mit ihr umgehen und zum anderen wäre er niemals dazu in der Lage. Die bloße Anwesenheit dieser Waffe erschreckte ihn so sehr, dass er sie aus seinem Blickfeld hatte entfernen müssen. Aufgewühlt trat er ans Fenster und sah hinaus. Wie bei Taoka-sama nicht anders zu erwarten, hatte er ein teures Hotel gebucht, mit Blick auf den Eiffelturm. Der Ausblick war überwältigend, natürlich. Aber Yuugi konnte ihn nicht wirklich genießen. Zuviel Sorgen plagten sein Gemüt, nicht nur die Sorge um die eigene Zukunft sondern – wie er ein wenig erstaunt feststellen musste – die Sorge um das Wohlbefinden Taoka-samas. Zwar wusste er nun, wer er war und das war erschreckend genug, aber in der Woche, die er mit ihm verbrachte hatte, war er nicht umhin gekommen, ihn sehr sympathisch zu finden und außerdem hatte er ihn gerettet – er hatte keine Angst vor ihm. Wohl aber vor seinem Beruf.

Nervös rieb er sich die Schläfen. Schon wieder konnte er nichts tun, außer herumzusitzen. Allmählich wurde das wirklich störend. Seine Hände ballten sich zu Fäusten während er sich auf die Lippe biss. Langsam ging er zurück zum Bett, zog den Koffer hervor und öffnete ihn wieder. Matt glänzend lag die Waffe unschuldig inmitten eines Haufens unordentlich in den Koffer geworfener T-Shirts. Eine Sekunde zögerte er noch, aber dann streckte er die Hand aus und hob die Waffe vorsichtig, als könne er sich an ihr verbrennen, hoch. Natürlich geschah nichts. Das Metall lag kühl und schwer in seiner Hand, es fühlte sich dabei aber lange nicht so cool an, wie es ihm Fernsehen aussah. Es machte ihm ein wenig Angst. Aber es gab ihm auch das gute Gefühl, nicht ganz so sehr von Taoka-sama abhängig zu sein – auch, wenn dieses Gefühl trügerisch sein mochte.

Fasziniert drehte er die Waffe in Händen.
 

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Juli 2007, Wien, Österreich

Von seinem Versteck aus beobachtete Atemu seine Verfolger.

Kaum, dass er den Park betreten hatte, hatte er seine Schritte beschleunigt und mehrere Haken geschlagen, sodass er den Blicken seiner Häscher entkommen war. Anschließend war er auf ein Dach geklettert und beobachtete nun von oben, welchen Weg seine Verfolger einschlugen. Ihm wäre es natürlich am liebsten, wenn die Männer sich aufteilen würden, aber so leicht machten sie es ihm leider nicht. Da würde er wohl nachhelfen müssen. Und das ohne seine eigenen Waffen gebrauchen zu können, denn ein Mord an einem derart öffentlichen Platz würde viele Untersuchungen nach sich ziehen, sodass er sich noch weniger Fehler als ohnehin schon erlauben durfte. Eine Herausforderung der neuen Art. Ausnahmsweise lächelte Atemu nicht. Er beobachtete nur konzentriert seine fünf Gegner.

Diese standen nun beisammen und nahmen die Umgebung unter die Lupe, um ihn zu finden. Vorsichtshalber suchte Atemu Deckung hinter einem der Buchstabenzüge auf dem Gebäude – seine Haare würde man auch von da unten sehen. Manchmal dachte er sich, dass er sich wirklich eine Glatze schneiden sollte. Aber das brachte er dann doch nicht übers Herz. So wartete er nun geduldig ab, er wusste, dass es ihm nichts bringen würde, wenn er die Sache hetzte, dabei würde er nur selbst der Benachteiligte sein. Darauf konnte er verzichten.

Aber als eine geraume Weile später immer noch nichts geschehen war, wagte er es, für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick nach unten zu werfen. Da standen die fünf, Rücken an Rücken und beobachteten die Umgebung. Atemu knirschte mit den Zähnen. Sie wollten ihn aus der Reserve locken. Erneut Deckung suchend, überlegte er fieberhaft. Er würde etwas tun müssen, ohne seine Deckung zu verlassen. Was es ziemlich schwierig machte, einen lautlosen Angriff zu starten. Noch dazu, da er nur Sekunden hatte, ehe sie ihn entdecken würde – und selbst wenn sie ihn nicht sehen würden, so wäre ihnen doch bewusst, aus welcher Richtung der Angriff gekommen war. Er verfluchte sich für seine Schwäche, Yuugi nicht töten zu können. Dieser dumme, kleine Junge war schuld daran, dass er nun hier in der Falle saß.

Revolver kamen nicht in Frage. Wurfmesser besaß er keine, abgesehen davon, dass er es in dieser Disziplin nicht zu der ausreichenden Perfektion brachte, die er hierfür benötigt hätte. Aber was dann? Er konnte ja wohl schlecht mit Steinen nach ihnen werfen… Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Vielleicht keine Steine, vielleicht keine Messer… aber mit etwas anderem konnte er ganz hervorragend werfen. Er griff an seinen Gürtel, grinste noch ein wenig breiter, als er die scharfen Kanten der beiden Shuriken an seinem Daumen spürte, die dort verborgen waren. Schon früh hatte er begonnen, sich darin zu üben diese traditionellen japanischen Wurfwaffen zu benutzen, aus Faszination für selbige. Auch, wenn die Kultur Japans‘ nicht ganz seine eigene war – sie war es auch, aber eben nicht nur. Sein Vater war Japaner gewesen, natürlich, ein Yakuza. Seine Mutter aber war Ägypterin. Er wusste nur nicht, was aus ihr geworden war, sie hatte nur eine kurze Liaison mit ihrem Vater gehabt, der sie anschließend gezwungen hatte, ihn ihm zu überlassen. Danach war sie nach Ägypten zurückgekehrt. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Er hoffte, dass es ihr gut ging – und dass sie niemals herausfand, was aus ihrem Kind geworden war. Sie war wohl die einzige Person auf der Welt, vor der er sich wegen seines Berufs schämen würde. Aber andererseits war sie ihm eine Fremde… Ärgerlich über die Ablenkung den Kopf schüttelnd, zog er die beiden Shuriken und nahm eines in die rechte, das andere in die linke Hand. Er hatte davon abgesehen, die Klingen zusätzlich zu vergiften, es würde genügen, wenn er die Männer ein wenig in die Irre führte, vielleicht verletzte, im besten Falle tötete, aber auf jeden Fall dazu brachte, ihre Deckung fallen zu lassen. Ein bisschen nur. Das würde schon genügen.

Ganz still verharrte er, wartete, bis der Wind sich legte. Fixierte die Männer. Dann warf er in einer geübten Bewegung die beiden Schuriken in einem Bogen über den Platz, ehe sie dem Mann, der am weitesten von ihm entfernt stand, die Halsschlagader durchtrennte. Der Mann gab ein würgendes Geräusch von sich, taumelte, sank schließlich auf die Knie und griff sich an die Kehle, in dem verzweifelten Versuch, die Blutung zu stoppen. Doch es waren zwei Schnitte und sie waren tief – Atemu grinste vor sich hin, mit den Shuriken konnte er schon im Kindesalter besser umgehen, als manch einer heute. Doch er hatte keine Zeit, Freude über seinen ersten Triumph zu empfinden, es warteten immer noch vier weitere auf ihn und er hatte nicht viel Zeit, wenn er das hier überleben wollte. Als er das Gebäude wieder hinabgeklettert – beziehungsweise das letzte Stück hinabgesprungen war – hatte er sein Messer bereits gezogen, auf diese kurze Distanz konnte er einen Wurf wagen, besonders, da die Männer abgelenkt waren, da in diesem Augenblick der eben angegriffene Mann seinen letzten Atemzug tat. Niemand sah zu ihm herüber, da sie ihn in der entgegengesetzten Richtung vermuteten. Schnell warf Atemu das Messer auf den Mann, der ihm am nächsten stand, ehe er blitzartig wieder Deckung suchte. Er hörte einen kurzen Schrei, dann das Geräusch als würde etwas Schweres zu Boden fallen, gefolgt von dem Rascheln von Stoff. Erschrockene Rufe wurden laut, dann eine geflüsterte Diskussion. Atemu wagte einen kurzen Blick zu den Männern. Der soeben angegriffene kniete am Boden, der Dolch stak in seinem Rücken – er war schwer verwundet, aber nicht tot. Atemu runzelte verärgert die Stirn. Die drei unverletzten Männer standen um ihn herum, der Kniende erteilte Befehle. Zögernd nickten die anderen Männer und Atemu suchte schleunigst wieder Deckung, als die Aufmerksamkeit der Männer nicht länger von ihrem verletzten Anführer gefesselt war. Schritte waren zu hören, zu seiner Erleichterung kamen sie nicht in seine Richtung, sodass er nach kurzer Zeit einen erneuten Blick wagen konnte. Die drei Verbliebenen teilten sich endlich auf um nach ihm zu suchen. Auf dem Platz in der Mitte lagen nur noch der Tote, neben ihm sein verletzter Kamerad, der zwar noch lebte, aber deutlich schwächer wurde. Nachdem er sicher sein konnte, dass die drei Männer außer Reichweite waren, betrat Atemu den Platz, scheinbar seelenruhig schlenderte er zu dem Sterbenden, der ihn mit bitteren Blicken bedachte, aber nicht mehr in der Lage war, etwas zu tun. So zog Atemu unter dem schmerzerfüllten Röcheln des Mannes das Messer aus seinem Rücken – nur, um es anschließend direkt in sein Herz zu jagen. Anschließend beraubte er den Erstochenen seines Revolvers – mit aufgeschraubtem Schalldämpfer, welch ein Glück! – und den anderen seines Messers. So konnte er die Behörden später glauben machen, dass die fünf sich gegenseitig umgebracht hatten – vorausgesetzt natürlich, er würde die übrigen töten können, bevor sie selbiges mit ihm taten. Er wollte dem Erstochenen noch seine Shuriken stehlen, doch er besaß keine. Nun gut, das war nicht weiter schlimm, es durften nur hinterher nicht zu viele Shuriken gefunden werden, über zu wenige machte er sich keine Gedanken, die Polizei konnte ja nicht wissen, welche Waffen von wem mit den in Kampf gebracht worden waren.

Atemu richtete sich auf, steckte das Messer ein, da er es ohnehin nicht mehr benutzen konnte, da hier bereits ein Erstochener lag. Sollte sein Plan funktionieren, durfte nun nur die soeben gestohlene Pistole verwenden, um sein nächstes Opfer zur Strecke zu bringen. Er betrachtete die Waffe, auf welche der Schalldämpfer schon aufgeschraubt war. Sie war leichter als seine eigene, bevorzugte Waffe, die Beretta 92 FS, auch ein wenig kleiner, hatte dafür aber nicht den Rechtsdrall, den seine Waffe besaß. Er lächelte, als er den Namenszug Walther P99 entdeckte. Eine gute Waffe mit dem Vorteil, dass sie geladen sofort schussbereit war. Und sie war geladen, alle fünfzehn Patronen steckten noch im Stangenmagazin. Er lächelte. Ein Jammer, dass er diese Waffe nicht behalten konnte. Aber wenn er nach Paris zu Yuugi flog… er kannte in Paris eine hervorragende Waffenhändlerin, die er ohnehin noch hatte aufsuchen wollen. Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf seine Lippen.

Sein Blick wanderte über den Platz. Es gab nur drei Wege von hier, den einen, über den er selbst den Platz betreten hatte, konnte er ausschließen. Der andere führte zum Ausgang, und diesen würden die Männer ja wohl nicht genommen haben. Blieb also nur noch einer. Die Walther in der Rechten ging er langsam auf diesen Weg zu. Es war durchaus hinderlich, nicht zu wissen, wo sich die Männer nun befanden, sein Blick huschte unruhig hin und her, am liebsten wäre er wieder auf eines der Dächer geklettert, aber das war hier kaum möglich, rechts neben ihm befand sich immerhin das Riesenrad und links ein Autoskooter. Keine Dächer, die er hätte nutzen können. Und somit keine Deckung.

Keine zumindest, die er auf die Schnelle hätte nutzen können. Die drei Männer dagegen konnten, sie hatten die Zeit gehabt, sich rasch zu verbergen und auf ihn zu warten. Sie mussten ja gewusst haben, dass er diesen Weg nehmen würde. Atemu fluchte lautlos, und dann laut, als Schüsse fielen. Er konnte nicht einmal feststellen, von wo, suchte nur schnell Schutz hinter einem neongrünen Autoskooter. Ob das klug war wusste er nicht, denn der Angreifer könnte genauso gut hinter ihm sein. Er verharrte still, die Pistole im Anschlag, während seine Augen hektisch die Umgebung absuchten. Er sah nichts und hörte auch nichts mehr. Es schien Jahre zu dauern, nur die Stille und der kalte Wind, der ihm um die Nase pfiff. Dann fielen erneut Schüsse. Atemu biss die Zähne zusammen und zwang sich, gegen den Reflex anzukämpfen, die Augen zu schließen und den Kopf in die Hände zu stützen. Stattdessen achtete er genau darauf, von wo die Schüsse kamen und wie viele es waren. Das Geräusch war unheimlich laut, als die Kugeln auf den Autoskooter trafen und von ihm abprallten. Er atmete tief durch. Der Angreifer war auf der anderen Seite der Straße, irgendwo beim Riesenrad – und insgesamt waren fünf Schüsse gefallen. Auch, wenn er nicht wusste, wo der andere genau war, er hatte eine grobe Richtung – und in diese gab er drei Schüsse ab, ehe er sich schnell wieder hinter das Auto warf, da das Feuer erwidert wurde. Diesmal waren es mehr Schüsse, aber sie kamen immer noch aus einer Richtung. Die anderen mussten schon weiter sein, allerdings war es möglich, dass der Lärm sie anlocken würde. Wenn dies der Fall war, dann musste er schnell sein. Er würde auf die andere Straßenseite müssen. Aber erst musste er wissen, wo genau sich sein Gegner befand. Er griff erneut an, einzig aus dem Grund, dass er hoffte, sehen zu können, von wo genau der Andere dann auf ihn schießen würde. Das mochte gefährlich sein, war aber besser, als bloß dazuhocken und seinerseits auf einen Angriff zu warten. Er hatte Glück; in dem Bruchteil einer Sekunde, da er aus der Schussbahn flüchtete, sah er die Mündung der Waffe, aus der auf ihn geschossen wurde. Er atmete scharf aus, verlor aber keine Zeit. Schnell lief er geduckt zwischen den Reihen der Autoskooter hindurch. Von seiner neuen Position aus konnte er den Mann besser sehen, dessen Augen jetzt über den Platz huschten auf der Suche nach ihm. Er würde ihn bald gefunden haben, denn seine neue Position bot weniger Deckung. Nun, wenn er Glück hatte, würde er keine Deckung mehr benötigen. Er hob den Revolver und schoss bis das Magazin leer war. Dann erst schritt er zu dem Mann herüber. Er bot wahrlich keinen schönen Anblick, regelrecht durchlöchert. Atemu verzog den Mund, beugte sich vor und fischte mit spitzen Fingern eine weitere Pistole aus dem Jackett des Mannes. Doch noch während er dies tat, hörte er einen Schuss, gefolgt von einem scharfen Schmerz in seinem rechten Unterschenkel. Ein unartikulierter Laut des Schmerzes verließ seinen Mund, dann wankte er auf seinem linken Bein herum und starrte in den Lauf einer Pistole, welche direkt auf seine Stirn gerichtet war. Ehe der Gedanke überhaupt Zeit gehabt hätte, sein Gehirn zu erreichen, hatte er die Hand mit dem Revolver erhoben und abgedrückt. Der Mann vor ihm sackte langsam in sich zusammen, auf seinem Gesicht lag immer noch deutlich der Ausdruck der Überraschung. Ausatmend warf Atemu den leer geschossenen Revolver neben ihn, den anderen, noch geladenen, umklammerte er dafür umso fester.

Atemu fühlte sich unendlich müde, aber es gab immer noch einen Mann, den er töten musste. Seufzend wankte er einige Schritte vorwärts, als er Schritte hörte. Er brachte die Pistole in Anschlag, richtete sie auf die Stelle, von wo die Geräusche herkamen. Im Grunde konnte sich da nur einer nähern. Dennoch wartete er ab, bis er näher kam. Dem Neuankömmling fiel schnell auf, dass der Überlebende keiner seiner Verbündeten war, schneller, als Atemus‘ Reflexe, denn er war müde, erschöpft und sein Bein schmerzte so sehr, dass er das Gefühl hatte, es raube ihm den Verstand. Er blinzelte gegen den Schmerz an, als der andere Mann langsam näher kam. Atemu schoss noch immer nicht, obwohl seine Waffe beständig auf das Herz des Mannes gerichtet war. Sein Gehirn schien sehr langsam zu arbeiten. Der andere Mann war so jung, entsetzlich jung für diesen Job. Aber Atemu war viel jünger gewesen, als er seinen ersten Mord begangen hatte. Der Augenblick, in dem ihm dieser Gedanke kam, war der Augenblick, da er abdrückte, und dann noch einmal, nur, um sicher zu gehen. Er fühlte sich merkwürdig stumpf dabei. Er warf die Waffe achtlos zu den Leichen, dann schleppte er sich noch ein paar Schritte weiter, ehe er zu Boden sank und sich die Wunde an seinem Bein besah. Zu seinem Glück war es nur eine leichte Fleischwunde und da die Kugel noch in der Wunde ruhte, blutete es auch nicht sehr stark. Aber er musste vorsichtig sein, wenn sein Blut am Tatort gefunden würde, hatte er ein ernsthaftes Problem. Seine Hose wies leichte Blutspuren, von dem Blut, das hindurch gesickert war, auf, doch da die Hose schwarz war, konnte man es kaum erkennen. Er erhob sich wieder, nachdem er sein Bein inspiziert hatte, dann schleppte er sich zum Ausgang des Parks, suchte sich ein Taxi und ließ sich zum Hotel fahren. Irgendwie schaffte er es die ganze Zeit über, abwesend aus dem Fenster zu starren und sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Wie er es später durch das Foyer des Hotels und bis in sein Zimmer geschafft hatte ohne zu Hinken oder sonst irgendwie verdächtig auszusehen, daran konnte er sich nicht mehr erinnern.

In seinem Zimmer angelangt, warf er sich mit einem Stöhnen, welches sowohl Schmerz als auch Erleichterung ausdrückte, aufs Bett. Doch dass er hier nicht bleiben konnte, wusste er. Also rappelte er sich wieder auf, schälte sich aus seiner Kleidung und ging, nachdem er in seinem Koffer gewühlt hatte und den Erste-Hilfe-Kasten herausgenommen hatte, ins Bad. Dort setze er sich auf den Rand der Badewanne und machte sich daran, die Wunde zu versorgen. Da es Verdacht erregen würde, ins Krankenhaus zu fahren, tat er das immer selbst, aber das machte den Schmerz nicht leichter, im Gegenteil. Er wusch die Wunde aus, was seine Badewanne ziemlich schnell in ein Schlachtfeld verwandelte. Dann nahm er ein Handtuch, steckte es sich in den Mund um den Schrei zu unterdrücken, als er die Kugel entfernte. Der Schmerz war unmenschlich und Atemu stöhnte in das Handtuch. Aber dann war die Kugel draußen, die Wunde blutete jetzt heftiger, sodass Atemu sie schnell desinfizierte, mit Salbe bestrich und dann verband. Als er fertig war, reinigte er das Bad gründlich, es war zwar unwahrscheinlich, dass die Polizei ihm soweit auf die Schliche kommen würde, dass sie sein Hotelzimmer durchsuchen würden, aber er war lieber vorsichtig. Dann stand er auf, wusch sich, so gut das mit dem Verband ging und ging zurück in sein Zimmer. Er brauchte dringend Schlaf. Aber es ging nicht. Er musste das Land verlassen, nicht nur, weil er sich dann sicherer fühlen würde sondern auch weil er… weil er zu Yuugi wollte. Die Erkenntnis war überraschender, als sie es hätte sein sollen.

Unwirsch warf er seine Sachen in den Koffer und zog sich frische Kleidung an, dann machte er sich auf den Weg zum Flughafen.
 

Juli 2007, Paris, Frankreich

Er betrat das Zimmer leise, es war zwar erst zehn Uhr abends und draußen war es noch hell, aber sollte er schon schlafen, dann wollte Atemu Yuugi nicht wecken. In der Tat lag Yuugi auf dem Bett, als er das Zimmer betrat – mal wieder ohne sich im Besitz eines Schlüssels zu befinden, übrigens – und döste. Atemu lächelte sanft und stellte seinen Koffer leise auf den Boden. Dann setzte er sich neben Yuugi auf das Bett. Da erst entdeckte er etwas, was ihn an diesem Bild störte. Atemu runzelte die Stirn.

Yuugi lag auf der linken Seite, Atemu das Gesicht zugewandt. Sein linker Arm lag unter seinem Kopf und er lächelte leicht im Schlaf. Er wirkte so vollkommen friedlich. Aber in seiner rechten Hand lag die Waffe, die Atemu ihm gegeben hatte. Das kalte Metall hob sich deutlich von der Wärme von Yuugis Körper ab. Sie wirkte so entsetzlich fehl am Platz, dass Atemu sie am liebsten fortgenommen hätte. Aber dann hätte er Yuugi ja aufgeweckt. Es war schön, hier einfach nur neben ihm zu sitzen und ihn anzusehen, ihm dabei zuzusehen, wie er atmete. Atmen war gut – es zeigte so deutlich, dass er lebte. Und Atemu wollte, dass Yuugi lebte. In einer zärtlichen Geste strich er Yuugi durch das Haar.

Davon wiederum wurde Yuugi wach, er blinzelte, dann klärten sich seine Züge auf. „Taoka-sama! Sie sind… geht es Ihnen gut?“, fragte er. Atemu lächelte. „Ja. Hunger?“ Er hielt eine braune Tüte hoch. Yuugi war einen Blick darauf und lachte – Atemu spürte einen Schauer seinen Rücken hinab laufen beim Klang dieses Lachens – und gluckste dann:„Fastfood?“ „Wir können es ,das Restaurant zum goldenen M‘ nennen, wenn es dann besser für dich klingt.“, schlug er vor und lächelte mit einer Fröhlichkeit, die er nicht empfand. Er hatte im Flugzeug geschlafen, aber das genügte nicht. Dennoch lächelte er für Yuugi, während sie das Essen auspackten und sich hungrig darüber hermachten. „Sie wollten mir vieles erklären…“, sagte Yuugi sanft, während er ein paar Pommes zum Mund führte. Atemu nickte ihm über den Rand seines Burgers hinweg zu. „Ja.“

„Und?“

„Morgen, Yuugi. Morgen.“, murmelte Atemu. Er war so müde…

Der Wagen

Der Wagen: Es geht vorwärts, im Leben, aber auch auf einer Reise. Wir durchbrechen dabei alte Denk- und Handlungsstrukturen. Doch damit verlassen wir nicht nur die Enge, sondern auch die vertraute Sicherheit. Dieser Schritt erfordert Mut.
 

Juli 2007, Paris, Frankreich

Yuugi blinzelte träge zur Decke empor und räkelte sich dann in den Laken. Er hatte gut geschlafen und verspürte noch kein Bedürfnis, seinem Bett Lebewohl zu sagen. Gestern Abend hatte er nicht mehr viel mit Taoka-sama gesprochen, dieser war sehr erschöpft gewesen, sodass er, gleich nach dem Essen, auf der Couch eingeschlafen war. Ihm war erst da aufgefallen, dass er nur dieses eine Zimmer gebucht und vergessen hatte, sich selbst eines zu besorgen, aber Yuugi hatte kein Problem damit gehabt, sich ein Zimmer mit ihm zu teilen, immerhin wusste er, dass Taoka-sama wohl schon häufiger zugegen gewesen war, wenn er geschlafen hatte. So hatte Yuugi also im Bett und Taoka-sama auf der Couch geschlafen.

Als Yuugi sich nun aufrichtete, sah er, dass sein Zwilling immer noch auf dem Sofa lag und scheinbar schlief. Er musste wohl sehr müde gewesen sein., dachte er bei sich und schmunzelte, als er Taoka-sama beim Schlafen beobachten konnte – normalerweise war es immerhin andersrum. Neugierig krabbelte Yuugi zum Fußende des Bettes, von wo aus er einen besseren Blick auf die Couch und somit auf Taoka-sama hatte. Er wusste nicht, was er erwartet, oder sogar erhofft hatte, aber es war nicht das, was er sah. Irgendwie… sah er genauso aus, als sei er wach. Sein Gesicht war nicht friedlich, wie das Gesicht eines Schlafenden sein sollte, sondern immer noch angespannt und beinahe so, als könne er jede Sekunde aufwachen und eine seiner Waffen in Anschlag bringen. Yuugi fand es doch ein wenig beunruhigend, dass er nicht einmal im Schlaf entspannen konnte. Er sollte wohl nicht hinsehen, es erschien ihm so unhöflich, Taoka-sama beim Schlafen zu beobachten, andererseits war er fasziniert und konnte den Blick nicht abwenden. So lief er rot an, als Taoka-sama plötzlich die Augen aufschlug und ihn so direkt ansah, dass Yuugi sich fragte, ob er vielleicht schon länger wach war. „Uhm…“, machte Yuugi, wusste aber nicht, was er eigentlich sagen sollte. Auf Taoka-samas‘ Gesicht erschien ein Schmunzeln. „Guten Morgen.“, sagte er lächelnd. „Morgen…“, nuschelte Yuugi, immer noch rot um die Nasenspitze. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen.“, eröffnete Taoka-sama das Gespräch, Yuugis‘ Verlegenheit offensichtlich bemerkend. Dankbar ging Yuugi auch sofort darauf ein, setzte sich dazu Atemu, welcher mittlerweile die Decke zurückgeschlagen hatte und mit angezogenen Beinen auf der Couch saß, direkt gegenüber und ließ die Beine über das Fußende des Bettes baumeln. „Ja, danke. Sie au- Taoka-sama! Ist das Blut an Ihrer Hose?!“, unterbrach Yuugi sich selbst mitten im Satz für einen lauten und erschrockenen Ausruf. Atemu blinzelte in einer Mischung aus Erschrecken und Überraschung, dann blitzte Erkenntnis in seinen Zügen auf und als er Yuugi antwortete, klang seine Stimme ein wenig zerknirscht:„Ja… aber mach dir keine Sorgen, es ist meines!“

Die Erleichterung, dass es keine fremden Blutspritzer waren, wurde innerhalb von Sekunden von der Erkenntnis, dass Taoka-sama verwundet sein musste, abgelöst. „Was… was ist geschehen? Geht es Ihnen gut?“, fragte Yuugi zögerlich, aber auch so besorgt, dass seine Stimme sich überschlug. „Es ist nichts!“, versicherte Taoka-sama schnell und griff nach Yuugis‘ Hand, um diese beruhigend zu drücken. „Nur eine kleine Schusswunde…“ Yuugi erschrak. „Aber…!“ Doch Taoka-sama ließ ihn nicht seine Sorgen formulieren. „Yuugi.“, sagte er mit dieser warmen, tiefen Stimme, die Yuugi so tief innen berührte und beruhigte, sodass er wie von Fäden gezogen aufstand, sich neben Taoka-sama setzte und seine Hände gerne in die seinen legte. Diese Geste entlockte seinem Gegenüber ein Lächeln. „Ich habe die Wunde versorgt, es war nicht das erste Mal. Ich werde neue Verbände benötigen, aber ansonsten brauchst du dir keine Gedanken zu machen… Offen gestanden bin ich ohnehin ein wenig überrascht, dass du dich um eine Person wie mich sorgst.“

Yuugi senkte den Blick. Was sollte er denn darauf sagen? Dass er ihn mochte? Ihn, einen Auftragsmörder? Er wusste nicht, wie Taoka-sama darauf reagieren würde, also senkte er nur unter errötenden Wangen den Blick. Sein Gegenüber gab ein leises Glucksen von sich, was Yuugis‘ Laune nicht grade zuträglich war, sodass er sich unverständliches Zeug murmelnd erhob um im angrenzenden Bad zu duschen. Das Wasser tat ihm wohl und er konnte endlich einen klaren Kopf unter dem kühlen Nass bekommen. Seine Erleichterung, Taoka-sama gesund und weitestgehend unversehrt wieder bei sich zu haben, war groß. Dass es bedeutete, dass er selbst um einiges sicherer war, war ihm dabei gar nicht so von Bedeutung. Er musste über sich selbst lachen, es war wirklich an der Zeit, dass er aufhörte, so hoffnungslos naiv zu sein.

Als er zu Taoka-sama zurückkehrte, stellte er fest, dass dieser in der Zwischenzeit den Zimmerservice angerufen und das Frühstück aufs Zimmer hatte bringen lassen. Yuugi setzte sich zu ihm und stellte den Erste-Hilfe-Kasten, den er aus dem Bad mitgebracht hatte, vor ihn hin. Der Ältere nickte dankbar, machte aber noch keine Anstalten, davon Gebrauch zu machen, sein Interesse schien viel mehr dem Frühstück zu gelten. Yuugi räusperte sich leise. „Tun Sie es jetzt. Ich möchte sehen, wenn Sie die Wunde versorgen, ich muss es sehen, denn Sie haben diese Wunde meinetwegen erlitten.“, bat er leise. Sein Gewissen trieb ihn dazu an. Taoka-sama warf ihm einen langen Blick zu, dann nickte er bedächtig und hieß Yuugi, sich neben ihn auf das Bett zu setzen, wo er mittlerweile Platz genommen hatte. Er krempelte das Hosenbein hoch, dann begann er, den Verband zu lösen. Yuugi spürte Angst in sich hochsteigen, er hatte noch nie Verletzungen dieser Art gesehen und er wusste nicht, ob er damit umgehen konnte – und wenn ja, wie er damit umgehen sollte. Taoka-sama verlangsamte seine Bewegungen, als er den Verband beinahe vollständig gelöst hatte und sah zu Yuugi auf, der besorgt die Blutflecke musterte, die die untersten Schichten des Verbandes gedrungen waren. Es lag eine Spur zu viel Verständnis in seinem Blick. „Du musst nicht hinsehen.“, erinnerte er ihm, aber mit diesen Worten hatte er Yuugis‘ Stolz geweckt, sodass dieser in der Absicht, den Blick nicht abzuwenden, nickte. Taoka-sama richtete den Blick wieder auf sein Bein und legte die Wunde frei. Yuugi sog scharf die Luft ein, aber da er bemerkte, wie er von Taoka-sama aus den Augenwinkeln beobachtet wurde, sagte er nichts. Beim zweiten Hinsehen schien die Wunde auch nicht mehr so schlimm auszusehen, wie beim ersten Mal. Nachdem der Ältere das getrocknete Blut erst einmal fortgewischt hatte, wirkte die Wunde sogar recht harmlos, nicht besonders groß und auch nicht sehr tief. Yuugi sah also etwas ruhiger zu, wie sein Zwilling die Wunde versorgte und dann mit einem frischen Verband umwickelte. Als er dann noch das Hosenbein über seinem Bein wieder glatt strich und Yuugi anlächelte, als sei nichts geschehen, konnte Yuugi nicht umhin, zurückzulächeln. „Dann… können wir also jetzt frühstücken, ja?“, fragte er und Taoka-sama stimmte zu, ein Schmunzeln um seine Lippen.

Ein Croissant, eine Orange, ein Brötchen und drei Tassen Kaffee später fühlte sich Yuugi ausreichend gesättigt, um sich etwas anderem zu widmen. Und dieses andere war Taoka-sama und sein… nun sein Leben, sein Beruf. Er hatte ihm gesagt, er könne ihn fragen, was er wolle, aber Yuugi wusste nicht, ob sich das nicht nur auf seinen Beruf beschränkte oder auch der Rest seines Lebens gemeint war. Denn auch, wenn Yuugi sich darüber im Klaren war, dass Taoka-samas Leben ihn nicht nur nichts anging, sondern dass er außerdem viel mehr Interesse an seinem Beruf haben sollte, so kam er nicht umhin, dass ihn der Rest auch interessierte, dass er diesen Menschen unheimlich faszinierend fand. Es war gefährlich, viel zu gefährlich, vielleicht machte das den Reiz aus, so dumm das auch sein mochte. Yuugi legte eine Hand an seine Schläfe und massierte diese, um sich Klarheit zu verschaffen. Als er schließlich aufblickte um sich noch eine Tasse Kaffee einzuschenken, bemerkte er, dass Taoka-sama ihn beobachtete. Fragend blickte er zurück. „Du hattest Fragen.“, kam die lächelnde Antwort. Yuugi nickte. „Ja… also…-“ „Einen Augenblick!“, unterbrach ihn Taoka-sama jedoch da auch schon, stand von dem Sofa, auf welches sie sich zum frühstücken gesetzt hatten, auf und ging hinüber zum Bett. Auf dieses ließ er sich sodann der Länge nach fallen und stopfte sich, nachdem er lag, ein Kissen in den Nacken. Erst nachdem er es sich auf diese Weise bequem gemacht hatte, schenkte er Yuugi ein aufforderndes Grinsen:„Okay. Frag.“

Yuugi befeuchtete sich die Lippen. Jetzt, da er fragen durfte, was immer er wollte, fiel ihm nichts mehr ein. Er hatte die letzten beiden Tage reichlich Zeit gehabt, sich eine Menge Fragen zu stellen und er wollte auch auf sie alle eine Antwort, aber in diesem Augenblick war sein Kopf wie leer gefegt und nichts fiel ihm mehr ein. „Also… ist Taoka, Atemu wirklich ihr richtiger Name?“, fragte er schließlich nach dem offensichtlichsten. Als Antwort neigte selbiger, soweit das in seiner liegenden Position möglich war, den Kopf. „Ja. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr benutzt, aber dies ist der Name, den mein Vater mir vor einundzwanzig Jahren gegeben hat.“, erklärte er. Yuugi nickte, sah dann wieder vor sich hin. Taoka-sama schien es ihm leicht machen zu wollen, er antwortete ausführlich und nahm sogar schon die Antworten auf noch kommende Fragen voraus. Er meinte es ehrlich. Das ermutigte Yuugi und er ging auf das ein, was Taoka-sama gesagt hatte:„Ihr Vater hat Ihnen Ihren Namen gegeben? Was ist mit Ihrer Mutter?“ Taoka-sama zog beide Augenbrauen nach oben, offensichtlich überraschte ihn eine derart persönliche Frage. Yuugi biss sich auf die Lippen und fragte sich, ob er jetzt nicht zu weit gegangen war. Aber dann setzte Taoka-sama doch zu sprechen an, wenn auch langsam und bedächtig:„Ich weiß es nicht. Meine Mutter war Ägypterin und nach meiner Geburt ist sie nach Ägypten zurückgekehrt. Was aus ihr wurde weiß ich nicht. Aber es ist der Grund, weshalb ich davon ausgehe, dass der Name von meinem Vater stammt.“ Yuugi senkte den Blick. Damit hatte er nicht gerechnet. Es musste schlimm sein, seine Mutter nicht zu kennen. Aber dann fiel ihm auf, dass er seine Eltern auch kaum kannte. Dennoch… nicht einmal zu wissen, wer sie war… Er räusperte sich unbehaglich, das wurde dann doch zu persönlich, er hatte doch eigentlich nur wegen seines Berufs fragen wollen.

Yuugis‘ Blick gewann an Schärfe, als er Atemu wieder in die Augen sah. Es würde besser sein, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. „Wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Atemus Lächeln schwankte zwischen Erleichterung über den Themenwechsel und Verlegenheit über die Antwort:„Ich weiß es nicht. Bei fünfzig habe ich aufgehört zu zählen.“ Yuugi schluckte. Er hatte mit vielen gerechnet, aber mehr als fünfzig… das war furchtbar viel! Yuugi wurde kalt. „Wie fühlen Sie sich dabei?“, murmelte er, mehr zu sich selbst, denn als Frage, was Taoka-sama logischerweise nicht wissen konnte, sodass er antwortete:„Das ist… unterschiedlich. Die ersten Morde sind… nun ja, schwer, ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Später wird es leichter, wenn man nicht darüber nachdenkt. Ich denke, jeder Mensch reagiert anders. Und ich wuchs unter Yakuza auf – da macht man sich nie viele Gedanken darüber.“ Yuugi spürte die Gänsehaut auf seinem Rücken, ihm wurde immer kälter. Er fragte sich, wie er diesen Menschen noch sympathisch finden konnte, wo er doch so viele Menschen ermordet hatte und dabei scheinbar nicht einmal Schuldgefühle empfand. Er würde sich schon grauenhaft fühlen, wenn er einen Menschen nur verletzte… wobei… wenn es jemand war, den er nicht leiden konnte, jemand, der anderen Menschen auch nichts Gutes tat… Yuugi legte den Kopf schräg und betrachtete Atemu nachdenklich. „Wen töten Sie?“, wollte er wissen. Taoka-sama runzelte die Stirn:„Was meinst du?“ „Na ja…“, Yuugi rutschte auf der Couch hin und her, bis er schließlich im Schneidersitz saß. „Wenn Sie… Aufträge erhalten… also… lehnen Sie manche ab, wenn Sie einen guten Menschen töten müssten?“ Das Stirnrunzeln Taoka-samas‘ vertiefte sich:„Nein. Du bist der erste Auftrag, den ich nicht ausgeführt habe. Angenommen habe ich aber alle.“ Fröstelnd zog Yuugi die Arme um den Körper. Erneut wurde Taoka-sams Blick zu verständnisvoll für Yuugis‘ Geschmack. „Wir können eine Pause einlegen, wenn du das möchtest.“ „Nein!“, widersprach Yuugi schnell, „Ich will das jetzt hinter mich bringen.“ Taoka-sama nickte ernst und setzte sich auf, sodass er mit Yuugi auf Augenhöhe war. „In Ordnung.“ Yuugi senkte dankbar den Kopf und atmete tief durch. Dann fühlte er sich bereit, weiterzumachen.

„Wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal jemanden ermordet haben?“ Yuugi stellte fest, dass sein Gedächtnis allmählich wieder zu funktionieren schien, denn diese Frage hatte er bereits vor zwei Tagen in seinen Fragenkatalog an Taoka-sama aufgenommen. Kurz legte der Gefragte den Kopf in den Nacken, um nachzudenken. „Elf. Das war Notwehr. Dann sechszehn, das war der erste Auftrag. Und mit achtzehn zum ersten Mal aus persönlichen Gründen.“ „Was war der persönliche Grund?“, fragte Yuugi zurück. „Ahh…. Hier gehst du zu weit, Yuugi. Ein anders mal, vielleicht.“ Rasches Nicken. Ehrlich gesagt war Yuugi schon erstaunt gewesen, wie viel Einblick in seine Privatsphäre Taoka-sama ihm gewehrt hatte. Er wollte sich grade eine neue Frage ausdenken, aber in diesem Augenblick klopfte es an der Tür und eine weibliche Stimme rief:„Service en chambres!“ „Entrée!“, rief Taoka-sama und zwinkerte dann Yuugi zu:„Komm, lass uns etwas spazieren gehen.“ Ein wenig überrascht, aber durchaus nicht abgeneigt, erhob Yuugi sich von der Couch, während ein Zimmermädchen eintrat. Die junge Frau machte sich an die Arbeit, während die beiden sich ihre Schuhe schnappten und dann das Zimmer verließen.

Wie Yuugi auffiel, hinkte Taoka-sama dabei nicht einmal mehr.
 

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Atemu fühlte sich gleich viel wohler, als er an der frischen Luft war. Er mochte sich zwar freiwillig dazu bereitgefunden haben, Yuugis‘ Fragen zu beantworten um dessen Sorge zu zerstreuen – wozu auch immer das gut sein mochte, Atemu hatte in letzter Zeit relativ wenig Verständnis für sein Gefühlsleben – aber dessen Fragen verwirrten Atemu, es waren nicht die Art Fragen, die er erwartet hatte.

„Sind Sie mir böse, wegen der Frage?“, wehte da Yuugis‘ Stimme an sein Ohr. Atemu wandte den Kopf nach links, wo Yuugi neben ihm her schritt. Das Lächeln des Jungen und die Art, wie der Wind sanft mit seinem Haar spielte, löste etwas in Atemu aus, dass er zwar nicht erklären konnte, aber mittlerweile immerhin gewohnt war; denn es war dasselbe Gefühl, wie auch schon, als er Yuugi schlafend beobachtet hatte. Und er wusste, dass er aus diesen Gründen den Jungen immer würde beschützen wollen. Er lächelte Yuugi an, beinahe liebevoll, und sagte:„Nein, keineswegs. Ich hätte auch gefragt.“ Yuugi lächelte erleichtert zurück und Atemu musste schnell woanders hinsehen, damit Yuugi nicht bemerkte, dass er grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Hast du noch Fragen?“, fragte er Yuugi, auch, wenn er eigentlich nicht mehr weiter darüber reden wollte, so war es doch besser, als über dieses warme Gefühl in seinem Inneren nachgrübeln zu müssen. Wie nicht anders zu erwarten, fielen Yuugi noch mehr Fragen ein – wer konnte es ihm verübeln, es war an sich schon ein Wunder, dass der Junge nicht vor ihm floh, sondern so vertraulich neben ihm ging. Von Zeit zu Zeit berührten sie sich am Arm, wenn sie enger beieinander gehen musste, um andere Passanten vorbeizulassen. Trotz des warmen Tages wurde Atemu die Gänsehaut auf seinem Rücken nicht mehr los.

„Wie kommen Sie an Ihre Aufträge?“, fragte Yuugi und Atemu musste sich zusammenreißen, um sich darauf zu konzentrieren. „Zumeist über die Yamaguchi-gumi. Ich habe zwar nur relativ wenig Kontakt zu ihnen, aber die meisten Morde begehe ich für sie oder für Leute, die sich diese Gefallen von ihnen erbitten. Meine Tante, Yuki, die ältere Schwester meines Vaters, nimmt dann Kontakt zu mir auf, ich verstehe mich recht gut mit ihr. Hin und wieder sind auch andere meine Auftraggeber, wie in deinem Fall, denn man lernt natürlich den ein oder anderen kennen…“, führte er aus, vielleicht etwas detaillierter, als es notwendig gewesen wäre. „Bei mir…“, wisperte Yuugi und Atemu verspürte einen Stich Mitleid. Davon hätte er nicht sprechen sollen. Yuugis‘ Blick klärte sich jedoch als er die nächste Frage stellte:„Weshalb üben Sie überhaupt einen solchen Beruf aus?“ Atemu schmunzelte. „Das ist leicht. Ich bin mit Kriminalität aufgewachsen, und da ich keine abgeschlossene Schulausbildung habe, war es wohl nur eine Frage der Zeit, ehe ich selbst kriminellen Tätigkeiten nachging. Und diese spezielle bringt eine Menge Geld ein.“, erklärte er, ganz sachlich, denn so sah er das – ganz sachlich. Aber bei der nächsten Frage konnte Atemu nicht sachlich bleiben. „Diese Antwort schulden Sie mir noch: Warum haben Sie mich nicht getötet?“ Atemu stieß einen tiefen Seufzer aus:„Komm, setzen wir uns.“, sagte er und zog Yuugi ins Gras am Ufer der Seine.

Unter Yuugis‘ aufmerksamen Blick setzten sie sich. Atemu fühlte sich unbehaglich unter diesem beobachtenden Blick. Er befeuchtete sich die Lippen, dann hob er langsam zu sprechen an. „Ich… ich konnte es nicht. Ich hatte alle Informationen über dich, ich hätte eine Biographie schreiben können… aber als ich dann da war… du warst nicht so verzogen, wie man es hätte meinen sollen, nicht so arrogant, eher… friedlich… Und da konnte ich es nicht.“, murmelte er. Auf den rechten Ellbogen gestützt lag er halb im Gras und starrte auf selbiges, unfähig, Yuugi in die Augen zu sehen. Dessen Stimme drang verwirrt an sein Ohr:„Das verstehe ich nicht.“ „Nein.“, wisperte Atemu, „Ich auch nicht.“

Yuugi kam ihm näher, sein Gesicht eine seltsame Mischung aus Hoffnung und Neugierde. Atemu konnte sich auf keines der beiden Gefühle einen Reim machen. „Sie sagen mir, wenn Sie es wissen, oder?“, fragte er und legte sich so nah an Atemu, dass es diesem den Atem verschlug. Er konnte nur Nicken. Yuugi lächelte leise und legte seine Hände in die von Atemu. Atemu starrte nur zurück. Yuugi lag ebenfalls auf den rechten Ellbogen gestützt, sein Kopf auf Atemus‘ Brusthöhe und senkrecht zu ihm. Atemus‘ Blick war gefesselt von ihren verbundenen Händen.

Yuugi schien es zu bemerken. „Ich glaube nicht, dass Ihre Mutter Ihrem Vater egal war. Sonst hätte er Sie nicht nach einem so wichtigen ägyptischen Gott benannt.“ Atemu hob überrascht die Brauen. Er hatte nie über seinen Namen nachgedacht und diese Information war ihm neu. Yuugi lächelte verschmitzt:„Atemu ist eine Form des Namens Amun. Und Amun war seit der achtzehnten Dynastie im alten Ägypten der Hauptgott.“

Atemu wusste nichts darauf zu sagen, aber das schien nicht nötig zu sein, denn ausnahmsweise war es Yuugis Lächeln, dass sehr verständnisvoll war. Aber Atemu nahm es ihm nicht übel. Eine Wärme, die ausnahmsweise nichts mit Yuugis‘ Lächeln zu tun hatte, hatte von ihm Besitz ergriffen.

„Café?“, fragte er Yuugi, um sich nichts anmerken zu lassen. Und obwohl Yuugi zustimmte, wusste er, dass er seine Maskerade durchschaut hatte. Dieser Junge gewann immer mehr Macht über ihn – und es machte Atemu nicht im Geringsten etwas aus.

Die Gerechtigkeit

Die Gerechtigkeit: Das heißt nicht nur, dass wir unser Recht bekommen, sondern auch, dass wir mit den Folgen unserer Taten konfrontiert werden. Die Karte steht für Fairness und Gleichgewicht der Kräfte.
 

Juli 2007, Paris, Frankreich

Das Café war klein, aber überfüllt mit Touristen. Entsprechend lange dauerte es, ehe sie ihren Café auch vor sich hatten und Yuugi beobachtete amüsiert, wie Taoka-sama ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippte. „Sind Sie ohne Kaffee überhaupt überlebensfähig?“, fragte er amüsiert und erhielt ein Grinsen zur Antwort. Dann aber wurde Taoka-samas Miene todernst als er sagte:„Nein. Nicht eine Minute.“ Yuugi kicherte:„Das sollte ich mir wohl merken.“ Amüsiert zog Taoka-sama die Augenbrauen in die Höhe:„Ach ja? Sollte ich mich vor dir in Acht nehmen müssen?“ „Nun, Sie haben mir die Waffe gegeben…“, erklärte Yuugi, immer noch grinsend. „Und wie gut können Sie mit der umgehen?“, fragte Atemu forsch, was das Lächeln von Yuugis‘ Gesicht wischte:„Gar nicht – würden Sie es mir beibringen?“ Dieses Mal war Atemus‘ Überraschung echt, aber als er anhob zu sprechen kam der lang ersehnte Kellner mit zwei Café au Lait. „Merci beaucoup.“, sagte Taoka-sama zu dem Kellner und klang dabei so steif, dass die Ironie kaum zu überhören war und der Kellner fluchtartig den Tisch verließ um zum nächsten Gast zu gehen. Yuugi schüttelte lächelnd den Kopf, ehe er die Tasse an seine Lippen führte – nur um sie fluchend Sekunden später zurück auf den Tisch zu stellen. „Heiß.“, erklärte er dem fragend schauenden Taoka-sama. Aber dann brachte er das Gespräch wieder zurück auf die Waffe:„Werden Sie mir nun beibringen, mit der Waffe umzugehen?“ Taoka-sama nahm einen tiefen Schluck des Kaffees, scheinbar ohne sich an der Hitze zu stören, ehe er bedächtig antwortete:„Nein.“ „Warum nicht?“, begehrte Yuugi auf. Taoka-sama maß ihn mit einem langen Blick, so lang, dass Yuugi sich unwohl unter diesem Blick zu fühlen begann. Unter Kopfschütteln erklärte Atemu dann langsam:„Aus dem gleichen Grund, aus dem ich dich nicht getötet habe.“

Yuugi schwieg. Und Taoka-sama verzog den Mund, weil er lieber italienischen Kaffee getrunken hätte.
 

„Also, was haben Sie sich gedacht, wie es weitergeht?“, fragte Yuugi mit schläfriger Stimme, während er zur Sonne hochblinzelte.

Es war eine Woche später, die beiden saßen schon wieder an der Seine, aber in der brütenden Mittaghitze blieb die erhoffte Kühlung vom Fluss her aus, wenn man nicht grade hereinsprang. Und dazu fühlten sich die beiden nicht verleitet. Die Hitze machte allerdings vor allem Yuugi zu schaffen, der davon ganz schläfrig wurde und zu dieser Zeit meist nur faul und müde irgendwo herumlag, während Taoka-sama mit einem nachsichtigen Lächeln daneben saß. In der vergangenen Woche hatten sie Taoka-samas Beruf mit keinem weiteren Wort mehr erwähnt, auch nicht die Waffe, die nach wie vor in Yuugis‘ Koffer lag. Sie teilten immer noch ein Zimmer, wechselten sich aber darin ab, auf der Couch und im Bett zu schlafen. Die Woche hatten sie, ähnlich wie in Rom, damit verbracht, sich die Stadt anzusehen, wobei Yuugi allerdings von dieser Stadt nicht annähernd so begeistert war wie von Rom – was wohl daran lag, dass Taoka-sama Rom Paris einfach vorzog und da Taoka-sama erneut den Reiseleiter gespielt hatte, hatte sich dieses Gefühl wohl auf Yuugi übertragen. Aber es war Mittag und zu dieser Zeit bekam Taoka-sama Yuugi nicht einmal unter Androhung von Waffengewalt (nicht, dass er es versucht hätte) dazu, etwas anderes zu tun, als faul im Gras zu liegen. So hatten sie etwas Obst erstanden und sich mit selbigen ins Gras gesetzt um abzuwarten, bis die Hitze vorüber war. Sie waren nicht die einzigen, die auf diese Idee gekommen waren, viele Menschen saßen um sie herum im Gras und fächelten sich mit allen Mitteln Luft zu. Die vielen Menschen störten sie allerdings wenig, denn es waren keine Japaner darunter, sodass sie, solange sie sich in ihrer Landessprache unterhielten, auch brisante Themen anschneiden konnten, ohne, dass jemand sie verstand.

Taoka-sama ließ sich neben Yuugi ins Gras sinken und kaute an einer Pflaume herum, während er langsam antwortete:„Wir warten.“ Yuugis‘ Müdigkeit erwies sich als ansteckend. „Wir warten immer.“, grummelte Yuugi unzufrieden, „Wir könnten stattdessen einmal etwas nützliches tun!“ „An was denkst du dabei?“, fragte Taoka-sama ohne echtes Interesse in der Stimme. Solange es so heiß war, würden sie ohnehin nichts tun. Aber bei Yuugis‘ Antwort klang dessen Stimme nicht mehr ganz so schläfrig sondern eifrig:„Sie könnten mir beibringen, mit der Pistole umzugehen! Sie haben selbst gesagt, dass Sie abwarten wollen, ob es noch weitere Verfolger gibt, aber wenn es nun welche gäbe, dann wäre es doch besser, wenn ich mich verteidigen könnte und Ihnen kein Klotz am Bein wäre!“, argumentierte er mit zunehmender Leidenschaft. Taoka-sama stieß laut die Luft aus und musterte Yuugi abschätzig. „Das Thema hatten wir. Und meine Meinung hat sich nicht geändert. Ich bin bisher auch so ganz gut zurechtgekommen und wüsste nicht, weshalb ich daran etwas ändern sollte.“ Yuugi gab ein gefrustetes Seufzen von sich. Was musste der Kerl auch so ein Starrkopf sein?! Yuugi hatte noch nie erlebt, dass er in irgendeinem Punkt nachgegeben hätte, immer machte er die Regeln und erwartete, dass Yuugi sich ohne weiteres daran hielt. Was Yuugi allmählich ziemlich störte.

„Wie viele Beziehungen hatten Sie in ihrem Leben?“, fragte er mürrisch während er Taoka-sama trotzig die Kirschen aus der Hand klaubte um sie dann langsam Stück um Stück von den Stängeln abzubeißen und zu essen, die Kirschkerne spuckte er soweit er konnte fort. „Keine, nur One-Night-Stands.“, erwiderte Taoka-sama ruhig, was Yuugi zur nächsten Frage führte:“Und wie viele Freunde hatten Sie je?“ „Keine.“, erwiderte Taoka-sama als sei dies die größte Selbstverständlichkeit auf Erden:„Man ist besser beraten, sich nur auf sich selbst zu verlassen.“ Yuugi spuckte den letzten Kirschkern in Richtung des Älteren, wozu er sich bäuchlings drehte und aus dieser Position Taoka-sama mitleidig ansah:„Sie tun mir leid.“ „Schwachsinn!“, sagte dieser heftig, „Ich will dein Mitleid nicht und abgesehen davon ist es auch völlig überflüssig!“ Mit diesen Worten wandte er den Blick ab und starrte stur in den wolkenfreien Himmel. Yuugi seufzte erneut. „Sie machen es einem ja auch nicht grade leicht, es in Ihrer Gegenwart auszuhalten.“, sagte er leise. Auf diese Worte folgten einige Minuten des Schweigens, Yuugi bekam schon ein schlechtes Gewissen, denn diese Aussage resultierte nur aus seinem Ärger, in Wahrheit fühlte er sich eigentlich immer sehr wohl in der Gegenwart des anderen. Hatte er ihn nun verärgert? Aber dann fragte Taoka-sama kaum hörbar:„Was?“ Zugegebenermaßen war Yuugi überrascht, überhaupt eine Reaktion zu bekommen und so stotterte er sich eine Antwort zusammen:„Na ja… es ist schwer, mit ihnen zu reden, ohne sich unterlegen zu fühlen.“ Taoka-sama schien es überraschender zu finden, dass Yuugi diese Aussage überhaupt machte, als den Inhalt selbiger. „Ich bin dir überlegen, Yuugi.“, erwiderte er in dem Ton, in dem Eltern ihren Kindern zum fünften Mal erklären, dass die Herdplatte heiß ist. „Zum Glück sind Sie so bescheiden…“, spöttelte Yuugi.

Taoka-sama setzte sich auf um Yuugi in die Augen zu sehen. „Damit hat das nichts zu tun, Yuugi. Aber dies ist mein Metier, ich kenne mich wesentlich besser aus als du, wenn es darum geht, sich gegen Auftragsmörder zur Wehr zur setzen. In diesem Punkt bin ich dir überlegen, da ist jede Diskussion überflüssig.“ „Das ist richtig, aber Sie bestimmen hier über mein Leben. Ich habe ein Recht, selbst darüber zu bestimmen – oder zumindest habe ich ein Mitspracherecht, wenn Sie schon mehr Ahnung haben.“, versuchte Yuugi es. Langsam neigte Taoka-sama den Kopf:„Also gut.“ Yuugi lächelte erfreut: Das ging leichter als er gedacht hatte. „Heißt das, ich darf Sie duzen?“ Eine Sekunde lang sah es so aus, als wolle Taoka-sama den Kopf in den Nacken legen und laut lachen, aber dazu besaß er dann doch zu viel Selbstbeherrschung, sodass er lediglich schmunzelte. Yuugi bedauerte das, er hatte sein Gegenüber noch nie Lachen hören. Aber die Antwort Taoka-samas machte das mehr als wett:„Ich habe mich schon gefragt, weshalb du das nicht schon lange tust.“
 

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Atemu spielte gereizt mit dem Kaffeelöffel herum. Er hatte sich gleich drei Tassen aufs Hotelzimmer kommen lassen während Yuugi grade duschte. Er hörte ihn in der Dusche nebenan, während er die zweite Tasse leerte. Das Gespräch an der Seine lag eine Woche zurück und er hatte festgestellt, dass es sehr angenehm war, von Yuugi mit seinem Vornamen angesprochen zu werden. Immerhin war er mit Ausnahme seiner Tante der einzige Mensch, der das noch tat. Jedes Mal, wenn Yuugi der Name über die Lippen kam – was zugegebenermaßen selten war und wenn, dann so schüchtern, als fürchte er, Atemu könne ihn dafür auffressen – wurde Atemu ganz warm.

Aber etwas störte Atemu immer noch, etwas, dass ihn seine Freude über die neue Vertrautheit mit Yuugi hintenan stellen ließ. Seit er so viel Zeit mit Yuugi verbrachte, blickte er nur noch selten auf sein Handy, sodass er erst mit drei Tagen Verspätung bemerkte hatte, dass er einen Anruf verpasst hatte – nun ja, mittlerweile sieben verpasste Anrufe, aber alle von derselben Nummer. Er kannte die Inhaberin dieser Nummer, sie hatten mehrfach Geschäfte miteinander abgeschlossen – hieß, Atemu hatte mehrfach Menschen für sie getötet. Sie war eine japanische Geschäftsfrau namens Hina Sato und Atemu wusste ohnehin nicht, wie er noch weitere Konkurrenten für sie aus dem Weg räumen sollte, ohne, dass das auffiel. An sich wäre es nicht so schlimm gewesen, dass er ihr nicht sofort antwortete, was ihm eher Sorge bereitete, war, dass sich auch seine Tante schon bei ihm gemeldet hatte. Sie hatte ihm auf die Mailbox gesprochen und dezent darauf aufmerksam gemacht, dass er sich schnell um diesen Auftrag kümmern solle, wenn er nicht noch mehr Ärger bekommen wolle. Aber Atemu tat nichts. Immer, wenn er daran dachte, was er würde tun müssen, musste er an Yuugi denken und an das Entsetzen, was er in seinen Augen gesehen hatte, als er ihm von seinem Leben berichtet hatte.

Atemu trank die dritte Tasse Kaffee in einem Zug aus. Aus dem Badezimmer erklang das Geräusch des Föns. Und das vor Atemu liegende Handy begann zu klingeln. Atemu starrte es an als käme es von einem anderen Stern. Erneut die Geschäftsfrau. Atemu wusste, dass er den Anruf beantworten sollte. Aber es fiel ihm so schwer. Nebenan hörte er Yuugi leise singen, irgendeinen Ohrwurm. Mit einem tauben Gefühl in den Fingern nahm Atemu den Anruf an und hielt sich den Hörer ans Ohr:„Ja?“

„Ich habe einen Auftrag für Sie.“

„Dafür habe ich im Augenblick keine Zeit.“

„Ja, das merke ich. Deswegen sollten Sie sich Zeit nehmen.“

„Das ist unmöglich.“, lehnte Atemu entschieden ab, doch davon hatte er wohl nichts mehr, denn die Antwort kam schnippisch zurück:„Ich melde mich bei Ihrem Oyabun!“ Dann war die Leitung tot.

Atemu fluchte.

Aber im nächsten Augenblick lächelte er schon wieder, denn Yuugi betrat den Raum. Das ungute Gefühl wurde er trotzdem nicht los.
 

Drei Tage später hatte Atemu sich endlich dazu durchgerungen, seine Tante Yuki anzurufen. Yuugi war solange nach einem passenden Mittagessen suchen. Diese freie Zeit also hatte Atemu dazu genutzt, sich an ein schattiges Plätzchen zu suchen und die einzige Nummer, die in seinem Handy eingespeichert war, zu wählen. Es dauerte auch nicht lange, ehe sein Anruf beantwortet wurde. Die Stimme seiner Tante klang gehetzt, aber auch erleichtert, als sie seine Stimme hörte. Eigentlich erübrigten sich damit schon seine Fragen, denn die Stimme seiner Tante gab ihm Auskunft genug. Er zwang sich dennoch, mit ihr zu sprechen. „Yuki.“

„Atemu! Endlich meldest du dich! Was ist denn los bei dir, ich hab seit einer Ewigkeit nichts mehr von dir gehört und nun so etwas! Sag mal, hast du den Verstand verloren?! Nimm diesen Auftrag an, du hast riesigen Ärger am Hals, wenn du es nicht tust! Tsukasa-sama tobt vor Wut! Sato-san lässt nicht locker und wenn du nicht bald etwas unternimmst hast du ernsthafte Schwierigkeiten!!“ Seine Tante seufzte tief, ehe sie mit ruhigerer Stimme weitersprach:„Und, wie geht es dir?“ Atemu lachte leise, auch, wenn an der Situation eigentlich nichts Witziges zu finden war. Wenn Tsukasa-sama – also der aktuelle Oyabun der Yamaguchi-gumi – wütend auf ihn war, dann hatte er Grund zur Sorge. „Eigentlich geht es mir gut. Bis auf diese Sache… Ich werde den Auftrag nicht annehmen.“, erklärte er bestimmt und beobachtete, wie Yuugi versuchte, einen der Straßenhändler abzuwimmeln, der mit bunten Perlen unter seiner Nase herumfuchtelte. Der Anblick hatte etwas derart Komisches, dass Atemu nicht umhinkam, die Mundwinkel zu verziehen. Aber die Worte seiner Tante, die vorwurfsvoll an sein Ohr drangen, holten ihn zuverlässig zurück auf den Boden der Tatsachen:„Atemu das kannst du nicht tun! Nicht nur Sato-san würde dir nicht verzeihen! Tsukasa-sama war schon so ungehalten weil du deinen letzten Auftrag nicht ausgeführt hast, noch einmal wird er dir nicht verzeihen!“ Atemu spürte wie sein ganzer Körper taub wurde und seine Beine gaben nach. Er fiel mehr als das er sich setzte, den Schmerz, als seine Knie auf das Gras trafen, spürte er kaum. Panik machte sich in ihm breit, ein Monster in seinem Inneren, dass ihm die Luft abschnürte, sodass er nur ein würgendes Geräusch von sich gab. Man wusste, dass er Yuugi nicht getötet hatte? Es war alles umsonst gewesen, sie waren immer noch Gejagte?! „Wer?“, keuchte er atemlos vor Entsetzen in den Hörer, „Wer weiß, dass ich den Auftrag nicht ausgeführt habe?“ Yuki antwortete umgehend, aber dennoch erschien es Atemu, als würde sie Jahre zögern, ehe ihre Stimme beruhigend an sein Ohr drang:„Keine Sorge, Atemu. Tsukasa-sama und ich wissen davon, aber ansonsten niemand, auch nicht dein Auftragsgeber. Tsukasa-sama hat einige Männer nach Wien geschickt, die den Jungen töten sollten, aber scheinbar… nun, ich weiß nicht, weshalb du ihn beschützt, aber du hast hoffentlich gute Gründe, dass er den ganzen Ärger wert ist!“ Atemu neigte den Kopf, ehe ihm bewusst wurde, dass Yuki das ja gar nicht sehen konnte. „Ja natürlich!“, beeilte er sich zu sagen, aber er wusste, dass seine Tante ihm nicht glauben würde. Sie seufzte vernehmlich. „Also gut. Dann töte ihn nicht aber pass auf dich auf! Aber diesen neuen Auftrag…“ Ihre Besorgnis war beinahe mit Händen greifbar. „Du kannst Tsukasa-sama sagen, dass ich diesen Auftrag nicht ausführen werde. Ich werde überhaupt keine Aufträge mehr ausführen. Ich höre auf.“ Atemu klang bei diesen Worten beinahe wie ein trotziger Teenager, aber es war ihm bitter ernst. Seine Tante dagegen war schockiert und flüsterte in den Hörer:„Oh Atemu, das kannst du nicht tun! Das wird furchtbare Konsequenzen haben. Tsukasa-sama hat wegen meines Vaters häufig genug ein Auge zugedrückt, was dich betrifft, aber das! Das wird er nicht tolerieren.“ Atemu schnaubte. „Ich bin weit genug weg um mir darum keine Gedanken machen zu müssen und ich kann gut auf mich selbst aufpassen. Es ist ja nicht so, als wollte ich jetzt zur Polizei gehen und alle verraten, ich will nur meine Ruhe. Und ich mache diese Entscheidung nicht mehr rückgängig, Yuki, das kannst du Tsukasa-sama auch sagen. Ich werde schon auf mich aufpassen! Aber ich muss jetzt auflegen…“, fügte er hinzu, als er sah, dass Yuugi, den Verkäufer immer noch im Schlepptau, auf ihn zukam. „Sei bitte vorsichtig…“, klang die Stimme seiner Tante noch aus dem Hörer, dann beendete Atemu das Telephonat mit gerunzelter Stirn.

Aber wie so häufig in letzter Zeit hielt diese Sorge und schlechte Laune nicht an, denn Yuugi zerstreute sie binnen Sekunden. In diesem Fall tat er das, indem er sich zu dem Straßenhändler umdrehte und in einer Lautstärke, die Atemu ihm gar nicht zugetraut hätte, schrie:„Je ne veux achète rien! Alors, du balai!“ Atemu konnte nicht anders als zu grinsen, während Yuugi sich schwer atmend mit dem Mittagessen neben ihn ins Gras fallen ließ.
 

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Als der Juli dem August wich, war Atemus‘ Wunde vollständig geheilt. Paradoxerweise ging es Atemu deswegen nicht besser, im Gegenteil, immer häufiger bemerkte Yuugi einen besorgten Gesichtsausdruck bei ihm, gleichwohl Atemu diesen vor Yuugi zu verbergen suchte. Allein, es gelang ihm nicht. Yuugi wusste nicht, was ihn bedrückte, er versuchte, Atemu zu beobachten, ohne dass dieser es bemerkte, aber einen erprobten Auftragsmörder zu überlisten war ein wenig viel für einen einfachen Schüler, sodass Yuugis‘ Bemühungen nur sehr selten von Erfolg gekrönt waren. Hin und wieder jedoch, wenn Yuugi sich aus Atemus‘ Blickfeld entfernte, entdeckte ihn dieser bei seiner Rückkehr zumeist mit seinem Handy in der Hand, welches rasch verschwand, sobald Yuugi sich näherte. Yuugi hatte keine Ahnung, mit wem Atemu sprach und auch nicht, woher seine Sorge rührte. Er hatte Atemu mehrfach danach gefragt, aber dieser verstand es, das Thema auf so meisterliche Art zu wechseln, dass es Yuugi erst am Abend bewusst wurde, wenn er im Bett oder auf der Couch lag, die Decke anstarrte und den vergangenen Tag Revue passieren ließ.

Eigentlich hatte Yuugi ja angenommen, dass, nachdem Atemu ihm so viel über sich erzählt und ihm sogar erlaubt hatte, ihn zu duzen, er nicht mehr so distanziert sein würde, aber das hatte sich als Irrtum erwiesen. Er war genauso unnahbar wie immer geblieben, wenn nicht sogar schlimmer, da es nun so offensichtlich wurde, dass er etwas vor Yuugi verbarg. Unruhig versuchte Yuugi sich auf der Couch eine bequemere Schlafposition zu suchen. Sie lebten nun bereits seit Wochen in diesem Hotelzimmer, Yuugi hatte Atemu gefragt, wie lange sie wohl noch hier wohnen bleiben würde, da das doch sicherlich zu teuer sei, aber Atemu hatte nur grinsend mit einer Hand voll Kreditkarten zurückgewunken. Dennoch… mehr denn je fühlte Yuugi sich rastlos und er hatte fest vor, dass er morgen Atemu bitten würde, ihm etwas beizubringen, wenn schon nicht den Umgang mit der Waffe, die immer noch in seinem Koffer lag, dann doch zumindest ein paar einfach Dinge in Sachen Selbstverteidigung. Das wäre ja wohl nicht zu viel und es sollte der Motivation, was immer diese auch sein mochte, welche Atemu zu seinen Taten bewegte, nicht hinderlich sein. Yuugi seufzte leise, als er spürte, wie der Schlaf begann, ihn zu übermannen. Morgen würde er Atemu fragen…

Es war noch recht früh am Morgen, als sie das Hotel verließen. Der Berufsverkehr war schon unterwegs, aber ansonsten waren die Straßen noch recht leer. Sie hatten bereits vor einiger Zeit begonnen, woanders als im Hotel zu frühstücken und so hielten sie es auch an diesem Morgen. Erst als sie hinterher durch die mittlerweile belebten Straßen von Paris gingen, hatte Yuugi den Mut, das Thema Selbstverteidigung zur Sprache zu bringen. Doch er hätte keine Angst haben müssen, denn es ging erstaunlich leicht, Atemu schien sogar angetan von der Idee, Yuugi diesbezüglich etwas beizubringen und er versprach, Yuugi gleich morgen zu trainieren. Doch Yuugis Freude wurde sehr schnell getrübt, denn erneut trat ein abwesender Ausdruck in Atemus‘ Gesicht. Yuugi seufzte, aber das bemerkte Atemu nicht. Also murmelte Yuugi etwas davon, dass er sich ein paar Früchte bei dem Obsthändler auf der anderen Straßenseite kaufen wolle. Atemu nickte abwesend und holte sein Handy aus der Tasche. Yuugi seufzte noch lauter, während er trotz roter Ampel über die Straße lief. Der Kauf war schnell abgewinkelt, Yuugi kehrte um. Aufgrund der Autos konnte er die Straße nicht gleich überqueren um zu Atemu zurückzukehren. Dieser packte grade sein Handy zurück in seine Jackentasche.

In diesem Augenblick hallte ein lauter Knall über den Platz. Menschen schrien und Yuugi blickte sich erstaunt um, er hatte nicht verstanden, was der Knall zu bedeuten hatte. Sein Blick fiel auf Atemu. Und Yuugi begriff.

Ein zweiter Schuss hallte über den Platz und Atemu fiel wie eine Marionette, deren Fäden durchgeschnitten wurden. Yuugi waren die Autos mit einem mal vollkommen egal, er schrie Atemus‘ Namen ohne es zu merken oder damit irgendetwas zu bewirken und rannte über die Straße. Atemu lag am Boden, den Kopf in Yuugi Richtung gewandt, die Augen offen. Sein Atem ging rasselnd und schwach. „Nein!“, flüsterte Yuugi, obwohl die Realität immer noch nicht zu ihm durchgedrungen war. Es erschien ihm so unwirklich und surreal, wie ein Albtraum – aber er konnte nicht erwachen. „Atemu, nein, sag etwas!“, flüsterte Yuugi und nahm Atemus‘ Kopf in seine Hände. Atemu röchelte, er schien etwas sagen zu wollen, doch als er den Mund öffnete, drang kein Wort heraus, sondern nur Blut. Yuugi spürte, wie sich Tränen der Verzweiflung in seinen Augen sammelten, eine Menschenmasse stand um sie herum, irgendjemand rief den Notarzt an, aber Yuugi nahm das alles nicht wahr, er starrte auf Atemu herunter und die Verzweiflung in ihm machte ihm erst bewusst, wie sehr er ihn mochte und wie wenig er ihn verlieren durfte. „Atemu!!“, wisperte er eindringlich und wünschte sehnlichst, er wüsste, was man in einer solchen Situation tun müsste, doch er hatte keine Ahnung. Atemu röchelte etwas. Dann schlossen sich seine Augen langsam und sein Kopf fiel nach hinten. Er rührte sich nicht mehr.

Yuugi schrie.

Das Rad des Schicksals

Das Rad des Schicksals: Es steht für äußere Umstände, die wir nicht ändern können und die unsere Pläne durchkreuzen. Aber es symbolisiert auch die Zeit, die voranschreitet, bis das Schicksal wieder günstiger auf unsere Vorhaben wirkt.
 

August 2007, Paris, Frankreich

Die Zeit war ein seltsames Ding.

In den Schulferien hatte Yuugi immer das Gefühl gehabt, drei Wochen gingen gar zu schnell herum. Auch in der Schulzeit war es nicht viel besser gewesen, denn da gab es so viel zu tun, dass auch hier die Zeit schneller verging, als er es bemerken konnte.

Doch nun konnte er nichts tun und die vergangenen drei Wochen waren ein einziger Albtraum gewesen. Yuugis‘ Erinnerungen daran waren schwach und lückenhaft, ein ständiger Kreislauf aus Wachen und Schlafen, ohne, dass etwas geschehen würde. Er stand früh morgens auf, schlang ohne Appetit und Hunger ein kleines Frühstück herunter und eilte dann zum Krankenhaus. Dort saß er Stunde um Stunde bis die Besucherzeit vorüber war und er sich schweren Schrittes zurück ins Hotel und ins Bett schleppte. Es änderte sich nichts. Er erinnerte sich nur an Bruchstücke dessen, was er selbst in dieser Zeit getan hatte, da waren blutverschmierte Kleider und Hände, die ihm gehörten und er war geschockt gewesen und hatte lange gebraucht zu begreifen, dass es Atemus‘ Blut war, welches auf seine Kleidung gekommen war, als er ihn gehalten hatte. So viel Blut… Auch waren da verschwommene Erinnerungen an einen Verband um seinen eigenen, linken Arm, aber Yuugi war zu besorgt um zu versuchen, zu ergründen, von wo diese Erinnerung kam, vor allem, da der Verband längst entschwunden war.

Atemu lag die ganze Zeit über vollkommen reglos in seinem Bett auf der Intensivstation. Der Krankenwagen war rasch dagewesen, man hatte Atemu so schnell es ging ins Krankenhaus gefahren, Yuugi hatte im Krankenwagen mitfahren dürfen, dann aber hatte er stundenlang vor dem OP warten müssen. Er war kein Familienangehöriger, deswegen hatten ihm die Ärzte nichts sagen dürfen. Das Warten in Unwissenheit war unerträglich für Yuugi gewesen, doch mittlerweile wusste er zu seinem Glück mehr. Aber dieses Wissen half ihm nicht viel weiter, denn er konnte ja doch nichts tun. Da Atemu auf der Intensivstation lag, musste Yuugi, damit er in sein Zimmer gehen durfte einen Kittel, Handschuhe, Schuhe, einen Mundschutz und eine Haube tragen, sodass ihm binnen weniger Minuten sehr warm wurde. Aber das hielt Yuugi niemals davon ab, den gesamten Tag bei Atemu zu verbringen. Es war furchtbar, ihn so zu sehen, angeschlossen an eine Unzahl von Maschinen und Schläuchen. In dem wuchtigen Krankenhausbett wirkte sogar Atemu klein und schutzlos. Zum ersten Mal sah er auch nicht angespannt aus sondern lag ruhig und scheinbar entspannt in den Kissen. Aber alleine das beständige Fiepen im Hintergrund ließ diese Illusion erst gar nicht aufkommen.

Nach drei Wochen in diesem Zustand hatte Yuugi zwar keine Angst mehr um Atemus‘ Leben, aber dennoch konnte er die Sorge nicht aus seinen Gedanken verbannen. Yuugi wusste mittlerweile immerhin, dass Atemu an einer traumatischen Pneumothorax litt – man hatte ihm erklären müssen, dass dies beutete, dass eine Verletzung der Lunge vorlag, des rechten Lungenflügels, in diesem Fall. Die Kugel war entfernt worden, das Blut aus der Lunge gepumpt und Atemu wurde seitdem künstlich beatmet und lag, zumindest war das Yuugis‘ Vermutung, seitdem im Fieberkoma. Soweit hatte man ihn dann doch nicht eingeweiht. Yuugi hatte bei Atemu Fieber fühlen wollen, es aber sehr schnell aufgegeben, als bei nur leichtem Druck auf Atemus‘ Brustkorb ein Knirschen zu hören gewesen war, ähnlich dem Geräusch, das entstand, wenn man einen Schneeball formte. Während er den reglos daliegenden Atemu beobachtete, fiel ihm das unregelmäßige Heben und Senken seines Brustkorbs auf, ein weiteres Zeichen der Verletzung, ebenso wie der durch die Maschinen hervorgerufene rasselnde Atem, welcher in ironischer Weise an Darth Vader erinnerte.

Zwei Tage nach der Operation hatte Yuugi sich noch mit Problemen der anderen Art herumschlagen müssen. Zu seiner damaligen großen Sorge um Atemus‘ Gesundheit, welche die Ärzte mittlerweile zerstreuen konnten, war die Erkenntnis gekommen, dass es Probleme mit sich brachte, einen Mann mit Schussverletzungen in ein Krankenhaus einzuliefern. Der Arzt hatte ihm ein wenig Zeit gelassen, um damit klar zu kommen, was mit Atemu geschehen war, dann hatte er ihn darauf hingewiesen, dass er die Polizei mit ihm sprechen wolle. Yuugi war entsetzt gewesen, denn auch wenn er selbst niemanden ermordet hatte, so war er sich doch der Tatsache bewusst, dass ihn eine Mitschuld traf, weil er Atemu nicht angezeigt hatte. Diese Erkenntnis hätte er eigentlich schon früher haben sollen, aber jetzt erst fiel es ihm auf und es erschreckte ihn, eine Mitschuld zu besitzen. Aber das war nicht der Grund, weshalb er so erschrocken gewesen war. Der wahre Grund war, dass er nicht wollte, dass Atemu ins Gefängnis kam – denn bei der Anzahl an Morden würde Atemu sicherlich lebenslang bekommen. So hatte Yuugi noch in Erwägung gezogen, den Arzt zu erpressen um Atemu und sich selbst das zu ersparen, aber das Problem war, dass Atemu mitten am Tag auf einem belebten Platz angeschossen worden war und es somit mehr Zeugen gab, als Yuugi Geld zur Erpressung zur Verfügung stand. Schließlich hatte er sich bei der Polizei eingefunden und seine Aussage gemacht. Er hatte noch nie eine Falschaussage gemacht – gut, er hatte überhaupt noch nie eine Aussage bei der Polizei gemacht, aber trotzdem – und er fühlte sich entsetzlich dabei, aber die ganze Zeit über hielt er sich die Konsequenzen vor Augen, welche die Wahrheit haben würde, was ihm das Lügen erleichterte und ihm zu einem überzeugenden Auftritt verhalf. Er hatte einen von Atemus‘ gefälschten Ausweisen benutzt, sowohl für sich als auch für Atemu selbst, und hatte den Polizisten erzählt, er würde Atemu eigentlich gar nicht kennen, er habe Urlaub hier gemacht, den Mann zufällig in einem Café getroffen und daraufhin ein wenig Zeit mit ihm verbracht. Aber da er ihn erst am Abend vor dem Angriff getroffen hatte, könne er der Polizei keine weiteren Informationen über ihn geben. Offenbar hatte die Polizei ihm geglaubt, denn sie hatten ihn ohne weiteres ziehen lassen und sich in den seither vergangenen zwei Wochen auch nicht mehr bei ihm gemeldet. Nur hin und wieder sah Yuugi einen Polizisten im Flur der Intensivstation, welcher sich danach erkundigte, ob Atemu bereits erwacht sei.

Aber all‘ das beschäftigte Yuugis‘ Gedanken nur noch sehr wenig, denn Atemu war ja nicht erwacht. Er saß nur noch jeden Tag an Atemus‘ Bett, hielt vorsichtig seine Hand, in der eine Kanüle steckte, und hoffte jede Sekunde darauf, dass er endlich die Augen öffnen würde.

Allein, er tat es nicht.
 

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Es war ein Gefühl, als würde er aus einem sehr tiefen Schlaf erwachen, ohne, dass er sich nun ausgeschlafen und erfrischt fühlen würde. Sein Körper fühlte sich schwer an und am liebsten wäre er sofort in die Dunkelheit zurückgesunken, aus der er grade gekommen war, aber das ging nicht, auch, wenn er es mit jeder Sekunde, die verging, mehr wünschte, denn je länger er wach war, desto größer wurde der Schmerz. Der deutlichste und demnach stärkste war jener in seiner Brust. Jeder Atemzug schmerzte ihn so unerträglich, dass er ernsthaft erwog, das Atmen einfach einzustellen, aber auch das funktionierte nicht. Als er die Augen langsam öffnete erkannte er, dass es an der Beatmungsmaschine lag. Ein beständiges Piepen verursachte bei ihm heftige Kopfschmerzen und er versuchte irgendwie irgendwen darauf aufmerksam zu machen, dass er wach war und sie die Maschinen abstellen konnten, aber es war niemand da. Er konnte sich aber auch nicht bewegen, sodass er nur betrachten konnte, was sich in seinem Gesichtsfeld befand. Aus den Augenwinkeln konnte er die Maschinen sehen, rechts befand sich eine Tür und links ein Fenster. Hinter dem Fenster war es schwarz – es musste mitten in der Nacht sein. Atemu hätte geseufzt, wenn er es könnte. Stattdessen versuchte er zu ergründen, wie er ins Krankenhaus gekommen war und weswegen. Aber da waren nur sehr wenige Bruchstücke und wie Wasser zerrannen sie in seinen Händen sobald er versuchte, sie zu fassen. Nach einer Weile gab er auf, es hatte ihm nichts gebracht, außer, dass sein Kopfschmerz nun noch schlimmer geworden war. Es war eine Erlösung, als er merkte, wie die Dunkelheit zurückkehrte und er ließ sich willig zurück in jene sinken.
 

Als er sich zum zweiten Mal aus der Dunkelheit löste, war der Schmerz in seinem Brustkorb zwar nicht verschwunden, dafür aber der wummernde Kopfschmerz. Was nicht bedeutete, dass er sich viel besser gefühlt hätte. Zwar war sein Kopf klarer, aber richtig gehorchen wollte sein Körper ihm immer noch nicht. Dennoch gelang es ihm, unter Blinzeln die Augen zu öffnen. Es war hell, das war die erste Erkenntnis, so hell, dass er einige Weile brauchte, ehe seine Pupillen sich daran gewöhnt hatten und er wieder normal sehen konnte.

Noch ehe aber seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten und er wieder sehen konnte, spürte er eine Hand an seinem Arm und eine Stimme trief aufgeregt:„Atemu! Atemu, kannst du mich hören?“ Er wollte ja sagen, aber das ging nicht, er konnte immer noch nicht sprechen und er wusste auch nicht, wem die Stimme gehörte, aber sie rief angenehme Erinnerungen in ihm wach, ohne, dass da Bilder wären, da waren einfach nur diese warmen Gefühle nach Lachen im Schatten einer Wiese im Sommer. Dann klärte sich sein Blick und so viele Erinnerungen stürmten gleichzeitig auf ihn ein, dass ihm für eine Sekunde ganz schwindlig wurde. Aber dann sah er wieder klar und die Bruchstücke, die seine Erinnerungen bei seinem letzten Erwachen noch gewesen waren, fügten sich nahtlos zu einem Ganzen zusammen. Atemu verzog die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln und sah Yuugi an, der sich über sein Bett beugte und Atemu hoffnungsvoll ansah. Als er bemerkte, dass Atemu wirklich wach war, strahlte er. Atemu musste alle seine Kraftreserven mobilisieren um Yuugis‘ Hand zu ergreifen und sanft zu drücken, aber das Lächeln, das er als Antwort erhielt, war die Mühe mehr als wert.

Dann aber trat Yuugi zurück um einem Arzt Platz zu machen, welcher nach ihm sah. Atemu hatte weder die Motivation noch die Kraft dazu, ihn davon abzuhalten, sodass er alles über sich ergehen ließ. Es war ja aber auch nicht weiter schlimm und das Gute daran war, dass der Arzt ihm nebenher erklärte, was ihm fehlte. Ermutigend war das zwar nicht unbedingt, aber immerhin hatte er das schlimmste überstanden. Nur die Schmerzen machten ihm zu schaffen, was aber nicht bedeutete, dass er sich darüber freute, dass der Arzt aus diesem Grund zu Morphium griff, denn dies umnebelte seine Sinne mehr, als ihm lieb war. Yuugi dagegen schien erleichtert, dass er weniger Schmerzen leiden musste, er stand mittlerweile auf der anderen Seite seines Krankenbettes und hatte Atemus‘ Hand mit einer Selbstverständlichkeit in die seine genommen, die Atemu sagte, dass er dies wohl schon häufiger getan hatte. Diese Erkenntnis rührte Atemu auf eine Weise, die er nicht kannte. Aber es war schön, zweifelsohne. Der Arzt bemerkte den Blickwechsel zwischen Atemu und Yuugi und lächelte Atemu zu:„Sie können Ihrem Freund wirklich dankbar sein. Sie hatten viel Blut verloren und bei Ihrer Blutgruppe hatten wir keine Konserven vorrätig. Ihr Freund hat für Sie Blut gespendet.“ Atemu öffnete den Mund, wollte etwas sagen, konnte es aber nicht und wusste auch nichts zu sagen, sodass er den Mund wieder schloss und dabei ein wenig wirkte, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Yuugi lächelte verschämt und wurde bis unter die Haarwurzeln rot. Der Arzt lachte gleichfalls, wünschte Atemu eine gute Besserung und ging.

Zurück blieb ein Atemu, der gar nicht wusste, was er sagen, wie er sich bedanken sollte. Er drückte Yuugis‘ Hand, lächelte und starrte immer wieder sturr die Decke an, damit Yuugi nicht bemerkte, wie sehr es ihn rührte, dass er das für ihn getan hatte. Das einzige Problem darin war, dass Yuugi Atemu dafür zu gut kannte und genau wusste, was er damit bezweckte. Aber das sagte Yuugi nicht, er lächelte nur.
 

Zwei Tage später ging es Atemu wesentlich besser. Er lag nicht mehr an der Beatmungsmaschine, was sich alleine psychisch positiv auf seine Genesung auswirkte. Das Sprechen fiel ihm nach wie vor schwer und zu mehr als ein paar Wörtern unter Halsschmerzen reichte es nicht, aber dennoch war es Atemu wichtig, diese paar Wörter, die er hatte, mit Yuugi zu wechseln. Und Yuugi hatte einiges zu erzählen, nachdem er einmal den Schock über Atemus‘ Verletzung ausreichend überwunden hatte und sein Gedächtnis somit wieder voll funktionsfähig war. So berichtete er Atemu von der Fahrt ins Krankenhaus, der Operation und unter Erröten auch von der Blutspende, die notwendig gewesen war, weil die Blutgruppe AB negativ so selten war, dass keine Konserven vorrätig gewesen waren. Des weiteren erzählte er von der Vernehmung durch die Polizei – hier war Atemu besonders interessiert, denn diese Vernehmung stand ihm noch bevor, da er bisher immer wegen Schmerzen die Vernehmung hinausgezögert hatte, und ihre Aussagen mussten unbedingt übereinstimmen. Was sie danach tun sollten, war noch nicht ganz heraus. Die Chance ihrer Entdeckung war um ein beträchtliches gestiegen, aber wenn es ihnen gelang, die Polizei lange genug zu täuschen, damit Atemu genesen konnte, würden sie vielleicht unbemerkt verschwinden können. Dieser Umstand ängstigte Yuugi so sehr, dass er nachts kaum mehr schlafen konnte, aber während er seine Zeit mit Atemu verbrachte gelang es ihm, diese Angst so weit von sich zu schieben, dass er jene Stunden an Atemus‘ Bett, welches mittlerweile auch nicht mehr auf der Intensivstation zu finden war, genießen konnte.

Um später leichter abtauchen zu können, beauftragte Atemu Yuugi damit, eine kleine Wohnung für sie beide in Paris zu suchen, eine Aufgabe, die Yuugi nur ungerne annahm und die solange erfolglos blieb, bis Atemu seine Tante anrief und sie bat, sich darum zu kümmern. Yuugis‘ Proteste, dass er im Krankenhaus nicht telephonieren dürfe, ignorierte Atemu dabei gekonnt, da er ohnehin der Ansicht war, dass die Krankenhäuser dies nur verboten, um Geld an den Telephonautomaten zu bekommen. So hatten sie Anfang September eine kleine Wohnung in einem Dachgeschoss eines alten Hauses mitten in Paris. Die Wohnung war, so berichtete Yuugi, der dort bereits eingezogen war, sehr klein, hatte aber einen Balkon, von dem aus man einen wundervollen Blick über Paris inklusive Eiffelturm hatte. Tatsächlich schien Yuugi so in die Wohnung verliebt, dass Atemu sich bereits darum sorgte, wie sie dort wieder ausziehen sollten, denn es könnte nicht offenkundiger sein, dass dies Yuugi schwerfallen würde. Aber erst einmal gab es dringendere Sorgen.

Zwei Wochen nach Atemus‘ Erwachen aus dem Koma ging es ihm wieder so gut, dass er normal sprechen konnte und somit keine Ausrede mehr hatte, der Polizei länger aus dem Weg zu gehen. Die erste Septemberwoche war um, das Wetter war immer noch warm, aber windig, wie Atemu amüsiert feststellen konnte, wenn Yuugi mit Sturmfrisur sein Krankenzimmer betrat. Die Sonne schien immer noch zum Fenster herein, aber die Polizisten waren nicht so freundlich wie das Wetter. Vollkommen zurecht argwöhnten sie, dass Atemu doch wissen müsste, weshalb man versucht hatte, ihn zu töten, sodass es Atemu mehrere Stunden kostete, sie von seiner Unschuld und seiner Unwissenheit zu überzeugen. Als sie gingen waren sie immer noch nicht vollständig überzeugt, konnten Atemu aber auch nichts gegenteiliges nachweisen, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als zu gehen. Yuugi, der die ganze Zeit über stumm auf der Fensterbank gesessen hatte, erhob sich und kam kopfschüttelnd auf Atemu zu. Er fragte sich, wie man derart überzeugend lügen konnte, ohne rot zu werden. Leise lächelnd setzte er sich an seinen mittlerweile angestammten Platz auf der rechten Seite von Atemus‘ Bett. Wenn Yuugi morgens Atemus‘ Zimmer betrat, lag Atemu bereits auf der linken Bettseite, damit Yuugi rechts Platz hatte. Und immer, wenn Yuugi dort auf Atemus‘ Bett saß, dann hielt er auch Atemus Hand. Es war zu einer den beiden lieb gewordenen Gewohnheit geworden, über die sie niemals sprachen oder nachdachten, denn sich damit auseinanderzusetzen, wäre vor allem für Atemu zu viel gewesen, aber dennoch wollte keiner von beiden die Hand des anderen missen. „Haben die Ärzte endlich was gesagt, wann du aus dem Krankenhaus kommst?“, fragte Yuugi hoffnungsvoll. Wenn Yuugi Atemu nach seinem Befinden fragte, so antwortet dieser immer, dass es ihm gut ginge, weshalb Yuugi der Ansicht war, dass er doch bald aus dem Krankenhaus kommen solle. Doch natürlich ging es Atemu nicht ganz so gut, wie er Yuugi glauben machte. Dennoch waren die Ärzte zuversichtlich, dass er in zwei bis drei Wochen würde gehen können – und das sagte Atemu auch Yuugi, der den Mund verzog, weil ihm das als so lang erschien.

Aber dann wurde er wieder ernster, denn es war an der Zeit, eine Frage zu stellen, die Yuugi schon seit einem Monat quälte:„Warum hat man dich überhaupt zu erschießen versucht?“ Atemu seufzte leise und sah aus dem Fenster. „Ich weiß es nicht genau. Es gäbe zwei Personen, die verantwortlich dafür sein könnten. Das eine wäre eine Dame namens Hina Sato, die wollte, dass ich für sie einen Auftrag ausführe, was ich aber abgelehnt habe. Der andere wäre Tsukasa-sama, der Oyabun der Yamaguchi-gumi, der, wie ich glaube, nicht begeistert darüber sein dürfte, dass ich sagte, dass ich aufhören würde, meinem Beruf weiterhin nachzugehen.“, erklärte er und konnte Yuugi aus irgendeinem Grund dabei nicht in die Augen sehen. Dieser sprang bei Atemus Worten auf, ohne dabei jedoch seine Hand loszulassen. „Warum?“, rief er, „Warum wolltest du aufhören?“ Atemu blinzelte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Yuugi derart darauf reagieren könne. Er zog Yuugi zurück zu sich auf das Bett, was dieser anstandslos mit sich machen ließ und sah ihm lange in die Augen, während er seine Antwort vorsichtig abwog. „Deinetwegen, Yuugi. Ich…“, seufzend brach Atemu ab, wusste selbst nicht, wie er das erklären sollte. Yuugi schüttelte ungläubig den Kopf und löste seine Finger aus Atemus‘ Griff. Er ging hinüber zum Fenster und starrte hinaus. Eine Weile herrschte Schweigen, draußen auf dem Gang hörte man eine Krankenschwester.

„Aber wie hast du dir das denn gedacht, Atemu? Du weißt doch gar nicht, was wird…“, murmelte Yuugi leise, aber dennoch verständlich. Es rührte ihn, dass Atemu seinen Beruf seinetwegen hatte aufgeben wollen, auch, wenn dazu keine Veranlassung bestand. Dass dies auch bedeutete, dass Atemu einkalkuliert hatte, dass sie eine längere Zeit zusammenbleiben würden war Yuugi bewusst, aber er wagte es nicht, Atemu darauf anzusprechen. Irgendwo tief in ihm befürchtete ein Teil von ihm, dass Atemu dann wiedersprechen würde. Es war der Teil in Yuugi, den er vor Wochen kennengelernt hatte und der ihm so neu war, dass er nicht wusste, wie er mit ihm umgehen sollte. Und den er nicht ausleben wollte, aus Angst, enttäuscht zu werden. Yuugi schob den Gedanken beiseite und wandte sich wieder Atemu zu, der ihn nachdenklich vom Bett aus ansah. „Ich weiß nicht. Ich habe den Gedanken nicht zu Ende gedacht. Es kam so über mich…“, murmelte er. Yuugi schüttelte den Kopf. Diese Unüberlegtheit wollte so gar nicht zu Atemu passen! Der unbekannte, neue Teil in Yuugis Gefühlswelt schlug einen Purzelbaum und machte sich plötzlich Hoffnungen. Yuugi starrte wieder aus dem Fenster, damit Atemu die feine Röte, die seine Wangen überzog, nicht bemerken konnte. Er schwieg eine Weile, denn er befürchtete, dass seine Stimme schwanken könne. Doch schließlich hatte er sein rasendes Herz beruhigt. „Das,“, sagte er dann, „war so dumm von dir! Du kannst dich doch nicht alleine gegen eine Horde mordlustiger Yakuza stellen! Und weswegen? Wir kennen uns doch kaum… und selbst wenn… es macht mir nichts aus!“ „Es macht dir nichts aus?“, kam es verblüfft vom Bett her, „Aber du sahst so entsetzt aus, als ich dir von meinem Leben erzählte!“ Yuugi seufzte leise:„Schon… aber ich habe mich damit arrangiert. Ich möchte nicht, dass du dein Leben meinetwegen änderst.“

„Das… das wusste ich nicht.“, murmelte Atemu und starrte die Decke an.

Yuugi nestelte an seinem Hemd herum.
 

Der September neigte sich dem Ende zu. Das Laub an den Bäumen färbte sich orange und die Franzosen packten ihre Schals und Mäntel aus. Und auch Atemu packte. Das Krankenhaus hatte ihn nun endlich entlassen, sodass er mit Yuugis‘ Hilfe seine Kleidungsstücke, welche Yuugi ihm ins Krankenhaus gebracht hatte, in eine ebenfalls von Yuugi mitgebrachte Tasche packte. Yuugi wuselte herum und nahm Atemu den größten Teil der Arbeit ab, denn er hatte Sorge, Atemu könne sich bei einer unbedachten Bewegung erneut verletzen und die frisch verheilte Wunde aufreißen. „Das ist mein Blut, dass durch deine Adern fließt und ich möchte es nicht umsonst gespendet haben!“, hatte er Atemu entschlossen erklärt und dabei mit dem Zeigefinger vor Atemus‘ Gesicht herumgefuchtelt. Anschließend hatte er Atemu aufs Bett gedrückt und dieser hatte zugeben müssen, dass Yuugi nicht ganz Unrecht hatte, weswegen er diese Behandlung über sich ergehen ließ. Aber ohnehin legte Atemu es nun wirklich nicht darauf an, die Wunde wieder aufzureißen, es wurmte ihn schon genug, dass er in den nächsten Wochen nach wie vor auf jegliche körperliche Anstrengung würde verzichten müssen – das würde ein hartes Stück Arbeit werden, wenn er wieder mit seinem sonst üblichen, täglichen Training beginnen würde.

Allerdings es würde ihn auch nicht daran hindern, Yuugi zu trainieren, wie er diesem bereits versichert hatte, zusammen mit dem Versprechen, bereits am nächsten Tag zu beginnen. Yuugi war sich nicht so sicher gewesen, wie Atemu sich das vorstellte, aber der hatte nur grinsend geantwortet, er würde es sich bequem machen und Yuugi dabei zuschauen, wie er sich verausgabte. Yuugi hatte unwillig gegrummelt, als Atemu es so charmant mit „Arbeit ist etwas herrliches, Yuugi! Ich könnte anderen stundenlang dabei zusehen!“ umschrieben hatte. Andererseits war es ja aber Yuugi gewesen, der darauf bestanden hatte, von Atemu in Selbstverteidigung unterwiesen zu werden, also sollte er sich wohl besser nicht beschweren.

Es war für beide eine große Erleichterung, als sie das Krankenhaus verließen und die klinische Luft hinter sich zurücklassen konnten. Yuugi, der darauf bestanden hatte, Atemus‘ Tasche zu tragen, lächelte unwillkürlich zu Atemu hoch – und gab ihm nächsten Augenblick ein überraschtes, aber schnell unterdrücktes, Fiepsen von sich, als Atemu ihn ohne Vorwarnung in seine Arme zog. Die Wärme seines Körpers hatte eine überaus beruhigende Wirkung auf Yuugi, dessen Herz wie wild zu schlagen begann. Gleichwohl bedauernd löste er sich rasch wieder von ihm und die beiden setzten ihren Weg fort. Mit der Métro waren sie schnell in ihrem neuen Heim, zu welchem Yuugi Atemu führte. Mit einem versteckten Lächeln registrierte Atemu den Stolz, welchen Yuugi ausstrahlte. Aber er verstand bald, warum. Die Wohnung, obgleich klein, war wirklich ein Prachtstück – Yuki hatte ganze Arbeit geleistet und Yuugi durchaus nicht zu viel versprochen.

„Ich weiß, es ist klein. Aber ich habe ein bisschen eingekauft und den Kühlschrank gefüllt. Und ein Radio habe ich auch erstanden, weil es doch sonst so still war…“, erklärte Yuugi mit stetig leiser werdender Stimme und sah Atemu abwartend an. Dieser lächelte:„Es ist perfekt!“, urteilte er und Yuugi lachte erleichtert. „Was hältst du davon, wenn ich uns etwas koche, du musst das Krankenhausessen doch ganz schön satt haben, oder?“, schlug er sogleich voller Elan vor und Atemu konnte nur zustimmen.

Während Yuugi sich also voller Eifer an die Arbeit machte, zog Atemu sich einen Stuhl auf den Balkon und ließ die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf sein Gesicht scheinen. Von unten erklangen fröhliche Stimmen und aus der Wohnung hörte man das Klappern der Töpfe. Aus dem Radio drangen die Klänge von „Aux champs Elysées“ und während Atemu mit sich und der Welt zufrieden die Augen schloss und stumm genoss, ahnte er ebenso wenig wie Yuugi, dass ihnen noch lange keine Ruhe vergönnt sein sollte.

Der Mond

Der Mond: Er symbolisiert das Dunkel und die Nacht – und damit unsere Ahnungen und Träume. Die können positiv sein, meist bleiben aber nur Ängste und Unsicherheit haften. Sie gilt es auf dem Weg zu neuen guten Erfahrungen zu überwinden.
 

Oktober 2007, Paris, Frankreich

Obwohl Atemu Yuugi sofort nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte trainieren wollen, verschoben sie diese Pläne um eine Woche und genossen die sorgenfreie Zeit, die ihnen somit vergönnt war. Atemu telephonierte am Morgen nach seiner Entlassung mit Yuki, welche ihm berichtete, dass Sato-san den Auftragsmörder auf Atemu angesetzt hatte – eine Tat, für die Tsukasa-sama sie mit dem Tod bestraft hatte. Das verblüffte Atemu dann doch sehr, aber als Yuki ihm erklärte, dass Tsukasa-sama zwar nicht begeistert gewesen war, als sie ihm erklärt hatte, dass Atemu nicht länger für ihn arbeiten wolle, ihn aber dennoch noch nicht ganz aufgeben wollte, dämmerte ihm, dass dies eine Art Erpressungsversuch war, da er nun in der Schuld des Oyabun stand. Zögerlich vertraute er Yuki also an, dass er seinen Entschluss, auszutreten, noch einmal überdenken werde, was Yuugi, der dem Gespräch lauschte, mit einem Lächeln quittierte. Und auch Yuki hätte nicht erleichterter sein können und versprach, Tsukasa-sama sofort davon in Kenntnis zu setzen, sobald dieser von einer geschäftlichen Angelegenheit aus dem Ausland zurückgekehrt sei.

Eine einzige unangenehme Sache also trübte bloß diese Woche und das war der Besuch auf der Polizeistation, auf den Atemu bestanden hatte, gleichwohl es Yuugi entsetzte und ängstigte. Aber Atemu erklärte ernsthaft, dass jeder normale, unschuldige Mensch, der angeschossen worden war, sich dafür interessieren würde, ob man den Täter fassen würde, weswegen es wichtig war, dass er die Polizei fragte, wenn er bei dieser einen unschuldigen Eindruck hinterlassen wolle. Zähneknirschend hatte Yuugi zugestimmt, hatte aber dennoch vor der Wache gewartet und es nicht gewagt, Atemu bis mit hinein zu begleiten. Letzen Endes war Atemu trotz seiner anfänglichen Enttäuschung über Yuugis‘ Fernbleiben aber froh darüber, denn das Treffen mit den Polizisten wurde kein Zuckerschlecken. Sie hatten ihn immer noch im Verdacht, mehr über den Angriff auf sich zu wissen als er zugab, auch, wenn sie dies weder beweisen konnten, noch den Angreifer kannten. Das allerdings hinderte sie nicht daran, ihm zu drohen. Atemu zeigte sich gebührend eingeschüchtert, auch, wenn ihn die Drohgebärden wenig beeindruckten. Im Grunde genommen war es Atemu herzlich egal, ob sie den Auftragsmörder, den Sato-san geschickt hatte, finden würden oder nicht. Da Sato-san tot war, würde er es nicht noch einmal versuchen, da es bedeuten würde, ein unnötiges Risiko einzugehen, ohne dafür bezahlt zu werden. Und Atemu war Profi genug, um den Angriff nicht persönlich zu nehmen. Es war nur ein Job gewesen. Er glaubte nicht, dass die Polizei den Mann finden würde, ebenso wenig wie sie ihm selbst auf die Schliche kommen würden. Recht genervt verließ er eine halbe Stunde später das Polizeirevier, vor welchem Yuugi sich auf die Treppenstufen gesetzt hatte und unruhig zur Tür schaute. In dem Augenblick, da Atemu heraustrat, breitet sich aber ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und er kam Atemu entgegen, der ihm in einer beruhigenden Geste die Hand auf die Schulter legte. Zu solchen Berührungen kam es in letzter Zeit häufiger und Yuugi wurde sich seiner Sache immer sicherer, aber es fehlte ihm schlichtweg der Mut, Atemu darauf anzusprechen. Also umtanzten sie einander wie Katz und Maus ohne dass etwas geschehen würde.

Es war eine Erleichterung, diesen Besuch bei der Polizei hinter sich zu wissen. Dementsprechend leicht waren ihre Schritte, als sie die überfüllte Rue de Rivoli entlang schritten und schließlich den Jardin des Tuileries betraten, in dem sie sich schon häufiger aufgehalten hatten. Bei der Größe des Parks dauerte es eine Weile, ehe die Seine in Sicht kam. Yuugi wollte sich sogleich in den Schatten eines Baumes setzen, aber Atemu hielt ihn mit einem verschlagenen Lächeln auf den Lippen davon ab. Er zog seine Jacke aus, legte sie auf den Boden unter dem Baum und setzte sich darauf. Aus dieser Position schaffte er es irgendwie, obgleich er, dadurch dass er saß und Yuugi stand, mehrere Köpfe kleiner war als Yuugi, ihn von oben herab anzugrinsen. „Du wolltest, dass ich dich ausbilde. Aber damit du dich verteidigen kannst, musst du als erstes ausreichend Kondition haben. Also schlage ich vor, dass du bis zu der Statue dort hinten läufst und dann wieder zurück. Das Ganze machst du… sagen wir zehn Mal.“, erklärte er mit einem äußerst sadistischen Lächeln. Yuugi starrte entsetzt zu der Statue hinüber, die so weit weg war, dass sie nur als weißer Schemen in der Ferne auszumachen war. „Was? Aber ich habe keine Sportkleidung an!“, protestierte er. Er hatte zwar Training gewollt, aber doch kein so hartes und das gleich am Anfang! Aber diesen Einwand ließ Atemu, der sich gemütlich unter dem Baum räkelte, nicht durchgehen:„Du hast gar keine Sportkleidung, also macht es keinen Unterschied. Und da unsere Wohnung eine Waschmaschine hat, ist das gar kein Problem. Los, lauf!“ Yuugi schnaubte – aber er lief los. Die ersten beiden Runden waren auch noch kein Thema, aber als Yuugi zum dritten Mal zu Atemu zurückkehrte hatte er bereits einen hochroten Kopf und sein Atem ging um einiges schneller. Atemu lächelte ihm nur faul zu:„Schön weiterlaufen.“ Yuugi presste die Lippen zusammen, aber er lief tapfer weiter. Als er beim nächsten Mal wiederkam, kaute Atemu auf einem Grashalm herum, warf Yuugi nur einen kurzen Blick zu und kommentierte:„Schneller.“ Yuugi, dem der Schweiß übers Gesicht lief, hielt an und grummelte:„Du liegst auch nur faul herum!“ Atemu zog eine Augenbraue hoch:„Ja, ich wurde angeschossen, ich darf mich nicht anstrengen. Glaub mir, ich würde lieber mit dir laufen. Also los, du hast noch sechs Runden.“ Leider konnte Yuugi dem nicht widersprechen, also lief er weiter, allerdings schaffte er es nicht wirklich, schneller zu laufen. Atemu bemerkte es auch und als Yuugi zum fünften Mal wiederkehrte, die Hälfte also hinter sich hatte, aber keuchte wie eine Dampflock und ein so rotes Gesicht hatte, dass er wirkte wie eine überreife Tomate mit einem schlimmen Sonnenbrand, richtete Atemu sich leicht besorgt auf. Er hatte ja gewusst, dass Yuugi, da dieser immer nur mit Lernen beschäftigt gewesen war und niemals Sport betrieben hatte, keine Kondition hatte, aber scheinbar stand es noch schlimmer um besagte Kondition, als er geglaubt hatte. Also hinderte er ihn am Weiterlaufen und rief mit sanfter Stimme seinen Namen:„Yuugi. Komm, gib mir deine Hand.“ Erschöpft nach Atem ringend blieb Yuugi vor Atemu stehen und streckte ihm seine Hand hin. Mit einem geübten Griff umfasste Atemu das dargebotene Handgelenk und maß den Puls. Er zählte hundertsiebenundneunzig Schläge, was Grund genug für ihn war, den Kopf zu schütteln und Yuugi mitzuteilen, dass er erst einmal eine Pause machen solle. Yuugi war zu erschöpft, um seine Freude darüber kundzutun, er wollte sich einfach nur noch ins Gras sinken lassen und nichts tun, aber dazu ließ Atemu es nicht kommen. „Nein! Setz dich nicht hin, gehe ein bisschen auf und ab, bis dein Puls sich beruhigt hat.“, wies er Yuugi an, der entsetzt zurückstarrte:„Was? Atemu, ich kann nicht mehr!“ Der Angesprochene nickte ruhig. „Ja, ich weiß. Aber wenn du dich jetzt hinsetzt, riskierst du einen Kreislaufzusammenbruch. Also bitte warte noch ein wenig.“ Dies immerhin sah Yuugi ein, sodass er dessen Rat befolgte und unschlüssig ein wenig auf und ab ging, bis der Schwindel nachließ und seine Beine sich nicht mehr anfühlten, als bestünden sie aus Pudding. Dann ließ er sich neben Atemu fallen, der ihn mit einem mitleidigen Lächeln bedachte und ihm eine bereits geöffnete Wasserflasche hinhielt. Dankbar ergriff Yuugi sie und trank in großen Schlucken und so durstig, dass das Wasser über sein Kinn rann. Es war ihm herzlich egal. Dann endlich fühlte er sich besser und reichte die Flasche zurück an Atemu.

Während dieser sie verstaute bemerkte er kopfschüttelnd:„Deine Kondition ist noch schlechter, als ich gedacht hatte, Yuugi.“ Yuugi seufzte:„Ich kam ja nie zum Sport! Ich musste doch für die Schule lernen, meine Eltern wollte es so…“ Sein Blick glitt in die Ferne. Nachdenklich musterte Atemu ihn. „Vermisst du sie?“, fragte er leise. Der Blick, den er daraufhin als Antwort erhielt, erstaunte Atemu ebenso sehr wie die Antwort. „Nein… nein eigentlich nicht. Meine Eltern waren beinahe wie Fremde für mich und … oh Gott, es ist herzlos, das zu sagen, aber ich vermisse sie nicht. Ich vermisse meine Freunde… aber nicht meine Eltern.“ Atemu blinzelte leicht verwirrt. Obgleich er selbst niemals ein gutes Verhältnis zu seinem Vater gehabt hatte und seine Mutter gar nicht kannte, so wusste er doch, dass er damit ein Einzelfall war. Das war ein wenig überraschend, aber wenn er daran dachte, was er über Yuugi gelesen hatte, dann machte es durchaus Sinn, dass er sich von seinen Eltern eingeengt gefühlt hatte. „Du wolltest also nicht in dein altes Leben zurück?“, fragte er verblüfft. Yuugi legte den Kopf schräg und beobachtete einen Vogel dabei, wie er in der Erde herum pickte, in dem hartnäckigen Versuch, einen Wurm zu erwischen. „Nicht unbedingt. Es geht mir eigentlich recht gut hier, ich bin viel freier. Ich vermisse eben nur meine Freunde…“, erklärte er langsam und wirkte dabei ganz so, als würde ihm das jetzt erst bewusst werden – und als würde diese Erkenntnis ihn überraschen. Überrascht war in jedem Fall auch Atemu, der zwar gewusst hatte, dass Yuugi vernünftig genug war, um bei ihm zu bleiben, aber nicht, dass er dies sogar gerne tat. Er räusperte sich:„Wenn genug Zeit verstrichen ist, kannst du ja wieder mit ihnen sprechen.“, versprach er aufmunternd. Yuugi lächelte, aber als Atemu ihn dann darauf aufmerksam machte, dass er nun ja weiter laufen könne, verschwand das Lächeln und machte einem höchst verdrießlichen Gesichtsausdruck Platz.

Es kam Yuugi wie eine halbe Ewigkeit vor, die Atemu ihn laufen ließ, und als er grade glaubte, es wäre vorbei und er hätte es hinter sich, da verlangte Atemu Liegestützen und Klimmzüge, die Yuugi an den Rand der Verzweiflung trieben, sodass er regelrecht erleichtert war, als Atemu befand, er könne noch ein paar Runden laufen. Als der Tag zu Ende ging verfluchte ein auf der kleinen Couch in ihrer Wohnung liegender Yuugi sich selbst für den Wunsch, Kampfsport erlernen zu wollen. Einzig die Tatsache, dass Atemu sich in der Küche befand um zu Kochen und er somit hätte aufstehen müssen, wenn er mit ihm reden wollte, hinderte ihn daran, seinem Lehrer mitzuteilen, dass er seinen Entschluss rückgängig machen wollte. Am nächsten Morgen verfluchte er nicht mehr sich selbst, sondern viel mehr Atemu, der ihm einen Muskelkater in Armen, Beinen und Bauch verschafft hatte, sodass Yuugis‘ Bewegung einer gewissen Komik nicht entbehrten. Doch Atemu verkniff sich sein Grinsen wohlweislich, als er Yuugis‘ Gesichtsausdruck sah. Mit vorsichtigen und ungelenken Bewegungen ließ Yuugi sich an den Küchentisch fallen und jaulte leise, weil seine Beinmuskeln diese Bewegung offenbar nicht mochten. Atemu stand auf um den Tisch zu decken und vor allem, um sein Grinsen vor Yuugi zu verbergen. Und obwohl dieser protestierte, ließ Atemu ihn auch heute wieder Sport betreiben. Gegen Mittag schrie Yuugi Atemu lautstark an und verließ grollend den Park, eine halbe Stunde später war er aber wieder da. Atemu saß seelenruhig im Park und hatte auf ihn gewartet. Bei Yuugis‘ Erscheinen lächelte er kurz, ehe er erneut Anweisungen gab, die von Yuugi mit zusammengepressten Lippen befolgt wurden.

Nach wenigen Tagen war Yuugis‘ Muskelkater verschwunden und als er bemerkte, dass sich seine Kondition tatsächlich verbesserte, begann er auch, Spaß an der Sache zu haben. Nach einer Woche beschloss Atemu, dass Yuugi eventuell doch Sportkleidung benötigte und als sie in einem Geschäft fündig geworden waren, kaufte Atemu sich selbst gleich auch welche. Mitte Oktober kam er dann zu dem Schluss, dass er langsam wieder beginnen könnte, Sport zu machen und von da an musste Yuugi nicht mehr im Kreis laufen sondern joggte in aller Herrgottsfrüher und bei Sonnenuntergang noch einmal mit Atemu an der Seine entlang. Besonders das Joggen morgens bereitete Yuugi trotz der Kälte großes Vergnügen und als der Oktober in den November überging und Atemu mittlerweile auch wieder dazu in der Lage war, Liegestützen und ähnliches zu machen und damit Yuugi einen Minderwertigkeitskomplex bescherte, als dieser sah, wie nahezu perfekt Atemu alle diese Übungen beherrschte, begann Atemu Yuugi erste Techniken in Selbstverteidigung beizubringen. Yuugi war furchtbar aufgeregt an dem Nachmittag, als Atemu erklärte, er werde nun mit der eigentlichen Ausbildung in Selbstverteidigung beginnen. Dass Atemu erläuterte, die erste Übung sei gleichzeitig auch die wichtigste, steigerte diese Aufregung nur noch. Umso größer war die Enttäuschung, als Atemu ihm endlich sagte, was diese überaus wichtige Technik sei: Hinfallen.

„Das kann ich schon lange.“, grummelte Yuugi unzufrieden und ließ sich demonstrativ auf den Hintern plumpsen. Atemu schüttelte den Kopf, auf seinen Zügen lag wieder dieses nachsichtige Lächeln, durch welches Yuugi sich stets wie ein Kleinkind behandelt fühlte. „Schau.“, erklärte Atemu, „Wenn du hinfällst, dann musst du vorsichtig sein, wenn du rücklings fällst, darfst du nicht mit dem Steißbein, Rücken oder Kopf aufkommen, wenn du vorwärts fällst, musst du schnell wieder aufstehen können. Wenn du von einer Höhe stürzt, darfst du dich nicht verletzen, wenn du aufkommst. Wenn du, von wo auch immer fällst, darf das nicht bedeuten, dass du geschlagen bist – du darfst dich bei dem Sturz nicht verletzen, du musst sofort wieder hochkommen können. Verstehst du?“ Yuugi nickte langsam, es klang logisch und auch, wenn er sich etwas Spektakuläreres erwartet hatte, so schien dies doch etwas wirklich Nützliches zu sein. Also begannen sie mit dem Training und Yuugi musste feststellen, dass es schwieriger war, als er gedacht hatte. Wenn Atemu es Yuugi vorführte, wirkte das Ganze sehr gekonnt und elegant, aber Yuugi hatte den Eindruck, als mache er selbst sich grade furchtbar zum Idioten. Yoko-Ukemi, also das rücklings Hinfallen klappte meistens, aber O-chuga-eri, was bedeutete, vorwärts zu fallen und im Anschluss gleich wieder aufzustehen, war schwieriger und nachdem Yuugi sich zweimal den Kopf so heftig angestoßen hatte, dass sie eine Pause hatten einlegen müssen, weil er vor Kopfschmerzen nur noch Sterne vor Augen sah, änderte Atemu seine Technik und führte Yuugis‘ Bewegungen. Yuugi wurde furchtbar rot, als er Atemus‘ Hände auf den seinen spürte und sein Rücken gegen Atemus‘ Brust gelehnt war. Allerdings sah Atemu das Ganze sehr professionell und leitete Yuugi nur so weit an, wie es unbedingt nötig war. Und in der Tat klappte es so nach kurzer Zeit recht gut, auch, wenn Yuugi sich noch nicht traute, von irgendwo herunterzuspringen – aber das verlangte Atemu am ersten Tag auch noch nicht. Er ließ Yuugi nur wiederholen, was er bisher erlernt hatte, aber er hörte schon relativ früh auf, denn aus eigener Erfahrung wusste er, dass einem bei dieser Übung sehr schnell schwindlig werden konnte. Also aßen sie in ihrer kleinen Wohnung zu Abend, Ravioli aus der Dose, dann gingen sie wie immer gemeinsam joggen. Obwohl Atemu so lange verletzt gewesen war, konnte es Yuugi immer noch nicht mit ihm aufnehmen, sodass es vorkam, dass Atemu ein Stück vorauslief, dann aber immer auf Yuugi wartete und sie gemeinsam weiterliefen. Auf der Pont du Carrousel verlor Yuugi Atemu aus den Augen, aber er machte sich keine Gedanken darüber, lief ihre gewohnte Strecke einfach weiter und hielt nach Atemu Ausschau, der sicherlich irgendwo grinsend und ohne die geringsten Anzeichen von Erschöpfung auf ihn wartete. Doch er sah ihn nirgends. Als er schließlich in ihrer Wohnung ankam, war Atemu nicht da. Das erstaunte Yuugi zwar, aber er dachte sich nichts weiter dabei, vielleicht hatte Atemu beschlossen, heute eine längere Route zu nehmen, da seine Gesundheit wieder vollständig hergestellt war. Also setzte Yuugi sich vor den Fernseher und wartete. Aber Stunden später war Atemu immer noch nicht eingetroffen und Yuugi begann, sich zu Sorgen. Er holte seine Jacke hervor und ging die Straßen ab, die sie entlanggelaufen waren, aber er war nirgendwo. Yuugis‘ Blick suchte alle Ecken ab und er musste mehr Glück als Verstand gehabt haben, als er Atemus‘ Handy fand. Er nahm es auf, aber es lieferte ihm keine Hinweise, natürlich nicht. Aber ihm begann zu dämmern, dass dieses ein größeres Problem war, als das Atemu vielleicht etwas Verdächtiges gesehen hatte. Höchst beunruhigt ging er nach Hause, er fand keine weiteren Hinweise, aber damit hatte er auch nicht gerechnet. Fieberhaft überlegte er, was er tun könnte, aber ihm fiel nichts ein. Zur Polizei konnte er unmöglich gehen, denn sie hatten schon genug Schwierigkeiten, auch ohne, dass er versuchte, sich irgendeine haarsträubende Geschichte für Atemu auszudenken. Er kannte auch niemanden, den er kontaktieren könnte…

Er schlief schlecht, in dieser Nacht. Am nächsten Morgen sprang er auf und hastete in Atemus‘ Zimmer in der Hoffnung, er könne in der Nacht zurückgekehrt sein, doch Atemus‘ Laken waren unbenutzt und das Zimmer leer. Er rannte durch alle Zimmer der Wohnung, aber er war nirgendwo. Verzweifelnd seufzend sank Yuugi am Küchentisch nieder und verbarg das Gesicht in Händen. Was sollte er nur ohne Atemu tun? Er war vollkommen auf sich alleine gestellt und dabei hatte er doch keine Ahnung. Ein Geräusch weckte seine Aufmerksamkeit. Eine Sekunde hob er verwirrt den Kopf, ehe ihm aufging, was das für ein Geräusch war. Es war ein protestierender Handyakku. Natürlich! Er hatte ja noch Atemus‘ Handy und darin war die Nummer von seiner Tante eingespeichert! Sie könnte er anrufen. Schnell sprang er auf und fand Atemus‘ Handy auf dem Sofa. Der Akku blinkte und Yuugi lief weiter in Atemus‘ Zimmer, wo er das Ladegerät für das Handy suchte. Als er es gefunden hatte, sprintete er zurück ins Wohnzimmer. Das Handy war still. Schnell schloss Yuugi das Handy an das Ladegerät an, aber als er es dann einschalten wollte, verlangte das Handy den Pincode. Yuugi fluchte, denn den kannte er nicht. Jetzt war er wirklich alleine.

Er verbrachte einen sehr unruhigen Tag, indem er die meiste Zeit rastlos wie ein Tiger in einem Käfig auf und ab lief, aber es geschah nichts, weder zum Guten, noch zum Schlechten. Am nächsten Morgen zwang Yuugi sich dazu, joggen zu gehen und anschließend seinen gesamten Tagesablauf, wie er ihn mit Atemu gehabt hatte, zu imitieren. Er hegte in seinem Hinterkopf immer noch die Hoffnung, dass Atemu vielleicht nur hatte abtauchen müssen und das er sich umsonst so sehr sorgte und er deswegen nicht so nervös sein sollte. Wenn Atemu zurückkam – und das würde er bestimmt! Schon morgen! – dann würde er doch sicherlich erwarten, dass Yuugi mit dem Training nicht aufgehört hatte. Also trainierte Yuugi weiter, aber mit jedem Tag, der verging, wurde er verzweifelter. Yuugi verbrachte eine ganze Woche in dieser Ungewissheit. Die Bäume hatten ihre Blätter verloren und allmorgendlich bedeckte Raureif den Boden. Yuugi fühlte sich genauso trist wie die Landschaft es war.

Aber dann, eine Woche nach Atemus‘ plötzlichem Verschwinden, als Yuugi grade vom Sport nach Hause kam, sah er, dass die Türe weit offen stand. Er konnte Schritte im Inneren hören. Yuugis‘ Herz setzte einen Schlag aus. Jemand war in seine Wohnung eingebrochen. Die Gedanken, die er die ganze Woche über verdrängt hatte, stürzten plötzlich und mit entsetzlicher Intensität über ihn herein. Jemand musste Atemu angegriffen haben – und Atemu hatte nicht überlebt. Und jetzt waren sie hier und wollten ihn auch töten. Yuugi atmete viel zu schnell, sein Herz pochte schmerzhaft in seiner Brust und das Blut rauschte in seinen Ohren. Panik ergriff Besitz von ihm und er konnte nicht klar denken, konnte sich nicht rühren. Es schien ihm unendlich lange zu dauern, ehe er es schaffte, sich zu rühren, aber als er das tat, da waren seine Schritte viel zu laut in seinen Ohren. Und wohl nicht nur in seinen Ohren. Der Mörder aus der Wohnung hatte sie auch gehört – und er kam auf ihn zu.

Yuugi schrie auf, wirbelte auf dem Absatz herum und floh. Aber er kam nur drei Schritte weit, dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter, die ihn ruckartig herumdrehte. Yuugis‘ Knie wurden weich und entsetzt starrte er in das Gesicht über ihm.

Die Liebenden

Die Liebenden: Sie fordern uns zu einer klaren Entscheidung auf. Dabei sollen aber Herz und Verstand gleichermaßen sprechen, denn die Karte steht für die Vereinigung von Gegensätzen – nicht nur in Herzens- und Partnerschaftsdingen.
 

November 2007, Paris, Frankreich

Atemu stöhnte leise. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren und seine Schultern brannten. Er versuchte, sich zu rühren, aber es funktionierte nicht. Auch das Öffnen seiner Augen half ihm nicht dabei, den Grund hierfür zu ergründen, denn es war so dunkel, dass er ohnehin nichts sah. Das ermutigte ihn genauso wenig, wie das, was seine wieder erwachenden Sinne ihm sagten. Er lag auf der rechten Seite auf einem kalten Boden und der Grund dafür, dass er sich nicht rühren konnte, war, dass seine Hände auf seinem Rücken gefesselt waren, wovon sie sich schon ganz taub anfühlten. Auch seine Füße waren gefesselt. Atemu verdrehte die Augen und biss sich auf die Lippen. Alles tat ihm weh.

Er versuchte, sich mit etwas abzulenken und das naheliegenste war der Gedanke daran, wem er seine missliche Lage zu verdanken hatte. Viele Personen gab es dazu nicht, die meisten hätten ihn sofort umgebracht. Die einzige Person, die ihn vielleicht am Leben gelassen hätte, war Tsukasa-sama – auch, wenn Atemu nicht verstand, weswegen, wo er Yuki doch gebeten hatte, dem Oyabun auszurichten, dass er nicht austreten würde. Da er Yuki vertraute und somit nicht infrage stellte, dass sie dies auch getan hatte, blieb nur eine Möglichkeit: Tsukasa-sama war noch nicht nach Japan zurückgekehrt und Yuki hatte noch keine Gelegenheit gehabt, es ihm zu sagen. Somit war dies der Versuch, ihn von einem Austritt abzuhalten. Am liebsten hätte Atemu irgendwo gegengetreten oder lauthals geflucht, ob dieser Zeitverschwendung, aber dazu kam er nicht. In sein Schicksal ergeben die Augen schließend, wartete er ab, was man nun mit ihm zu tun gedacht. Schön wurde das sicher nicht, er war lange genug bei den Yakuza um genau zu wissen, dass sie nicht zimperlich mit einem Pentito umgingen.

Er wusste nicht, ob er es Glück oder Unglück nennen sollte, dass er nicht lange warten musste, ehe jemand kam und ihn grob an der Schulter hochriss. Glück, dass er nicht länger im Ungewissen warten musste, aber Unglück, da sich seine Situation bestimmt nicht verbessern würde. Die Fesseln an seinen Beinen wurden gelöst, sodass er den Weg selbst zurücklegen konnte, was sich allerdings auch ohne die Fesseln als schwierig erwies, da seine Füße so schlecht durchblutet waren. Er humpelte mühsam hinter dem Mann her, bemüht, so würdevoll wie möglich auszusehen. Während sie den Weg zurücklegten, sah Atemu sich verstohlen um. Er hatte sich im Keller eines Hauses befunden, dass, wie er erkennen konnte als sie das Erdgeschoss erreichten und Atemu aus dem Fenster sehen konnte, sich mitten Paris befand. Im Nachhinein könnte er sich verfluchen für die Dummheit, ausgerechnet in Paris, einer der Stützpunkte der Yakuza in Europa, beschlossen zu haben, auszusteigen. Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen?! Aber jetzt war es ohnehin zu spät. Aus reiner Gewohnheit prägte er sich die Umgebung ein, auch, wenn er sich dessen bewusst war, dass er hier vermutlich nicht würde fliehen können. Im besten Falle würde er gar nicht fliehen müssen. Aber das würde schwierig werden, er kannte Tsukasa-sama, zwar nicht gut, aber ein paar Mal hatte er ihn getroffen. Er war fünfundsechzig Jahre alt und dreizehn Jahre davon hatte er wegen Mordes im Gefängnis verbracht. Zu dieser Zeit war Atemu zwar noch nicht geboren gewesen, aber die Erfahrung hatte Tsukasa-sama geprägt und ihn strenger werden lassen. Atemu atmete ein paar Mal tief durch um seine Nerven zu beruhigen, dass hier würde schwer werden und vermutlich nicht ohne ein paar Blessuren von Statten gehen. Einem Oyabun gegenüber war man zu absolutem Gehorsam verpflichtet, das Aufnahmeritual war nicht umsonst so aufwendig und gipfelte in einem Schwur auf Lebenszeit. Aber Atemu hatte nie geschworen. Er war Mitglied aufgrund seines Vaters, er gehörte dazu, irgendwie war das immer ohne Schwur möglich gewesen, seine Tante hatte ihre Finger im Spiel gehabt. Jetzt, wo es darauf ankam, fragte Atemu sich, ob sie damit gerechnet hatte, dass er einmal in eine solche Situation geraten würde.

Die Türen zu einem großen Raum wurden aufgestoßen. Der Boden war gefliest, die Decke hoch und in einem Sessel an der Glasfront mit Panoramablick über Paris saß Tsukasa-sama und trank Sake. Hinter dem Sessel stand vollkommen unbeweglich der Shateigashira, also der drittwichtigste Anführer innerhalb der Yamaguchi-gumi. Der zweitwichtigste, also der Wakagashira, war wohl in Japan geblieben um die Dinge in Abwesenheit des Oyabun zu regeln. Im Raum verteilt standen mehrere ranghöhere Mitglieder, genannt die „große Brüder“, und ihrer aller Blicke waren auf ihn gerichtet. Nur einer sah ihn nicht an – und das war Tsukasa-sama selbst. Dieser blickte versonnen seinen nun leeren Masu an. Atemu hörte, wie hinter ihm die Türe abgeschlossen wurde und straffte unwillkürlich die Schultern, soweit es die Fesseln an seinen Händen erlaubten. Es war dunkel, draußen, bestimmt war es mitten in der Nacht des Tages, an dem er entführt wurde – woran ihm jegliche Erinnerung fehlte. Er wusste, dass er mit Yuugi gelaufen war – und dann, mitten drin brach seine Erinnerung ab und setzte erst wieder im Keller dieses Hauses ein.

Es verging eine geraume Weile, ehe ein Wort fiel. „Willkommen, mein Lieber.“, sagte Tsukasa-sama und lächelte freundlich. „Danke.“, erwiderte Atemu trocken. Er gab sich keinen Illusionen hin. Und in der Tat kam Tsukasa-sama nun schnell zur Sache. Er legte die Fingerspitzen aneinander und sah Atemu über den Rand seiner Fingerspitzen hinweg an. „Mir kam das Gerücht zu Ohren, du wolltest uns verlassen. Ich wäre sehr betrübt, erfahren zu müssen, dass es wahr wäre… du würdest so gemütliche Zusammentreffen wie diese hier doch sicherlich vermissen!“ Atemu erinnerte sich nicht, häufig an Treffen teilgenommen zu haben, geschweige denn, sie genossen zu haben. Er wollte grade etwas sagen, auch, wenn er noch nicht so ganz wusste, was, da sprach Tsukasa-sama weiter. Seine Stimme klang weiterhin ruhig, sogar freundlich, aber seine Augen waren lauernd und kalt. „Du weißt, was wir mit jenen tun, die uns verraten, die ihren Schwur brechen… du hast es selbst oft für uns getan. Es wäre bedauerlich, dich zu verlieren.“ Die Blicke, die von allen Seiten auf Atemu ruhten, waren lauernd. Aber Atemus‘ Aufmerksamkeit richtete sich einzig und alleine auf seinen Oyabun. Er atmete tief durch, blickte ihm in die Augen und sagte dann:„Ich habe nie etwas geschworen.“ Weiter kam er nicht, da unterbrach ihn Tsukasa-sama auch schon. „Ah. Und deswegen siehst du kein Verbrechen darin, uns zu verraten? Der Schatten deines Großvaters wird dich nicht ewig schützen. Denk immer daran – auch er wurde erschossen.“ Es lag zum ersten Mal Härte in seiner Stimme. Atemu zögerte eine Sekunde, ein falsches Wort hier konnte sein Leben sehr schnell beenden. Ein falsches Zögern aber auch, denn als er nichts sagte, spürte er den Lauf einer Waffe an seinem Hinterkopf. Er erstarrte und sah Tsukasa-sama an, der den Befehl zu schießen geben musste. Die Sekunden zogen sich wie Stunden.

Aber dann schüttelte der Oyabun den Kopf und der Mann hinter Atemu trat ein paar Schritte zurück. Die Pistole verschwand und Atemu atmete unbewusst auf. Er mochte ein Profi sein, aber niemand blieb ruhig, wenn man ihm eine Waffe an den Kopf hielt. „Ich gedenke nicht, ein Pentito zu werden und die Omertà zu brechen.“, sagte er schnell. Tsukasa-sama hob eine Augenbraue:„Cu è surdu, orbu e taci, campa cent’ anni ‘mpaci.”, zitierte er ein sizilianisches Sprichwort, welches ganz klar auf die Cosa Nostra, die dortige Mafia abzielte. Atemu neigte den Kopf. Wer taub, blind und stumm ist, lebt hundert Jahre in Frieden. Wie wahr. „Never open your mouth, unless you’re in the dentist chair.“, erwiderte Atemu und zitierte dabei einen Mafioso. Tsukasa-sama lächelte:„Ich sehe, wir verstehen uns.“ Atemu nickte und die Spannung im Raum löste sich merklich. „In Ordnung.“, sagte Tsukasa-sama aufgeräumt, lies sich seinen Masu füllen und kippte den Sake herunter, „Du wirst uns nicht verraten, aber bei uns bleiben willst du auch nicht, verstehe ich das richtig?“ Atemu legte den Kopf schräg. „Nicht ganz. Ich würde weiter für euch arbeiten, aber eine direkte Mitgliedschaft…“ „Hmm…“, machte der Oyabun und betrachtete Atemu eine ganze Weile stumm. Der reckte das Kinn und sah unerschrocken zurück, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug. „Du bist mutiger, als gut für dich ist.“, stellte Tsukasa-sama fest und schien dabei wider Willen beeindruckt. Atemu lächelte. Trotz der Fesseln wusste er, dass er nichts mehr zu befürchten hatte. „Schön, schön. Wir melden uns über deine Tante bei dir, wenn wir etwas wollen. Du kannst Aufträge ablehnen – aber nicht zu viele. Ansonsten lassen wir dich in Ruhe. Und jetzt löst dem Jungen die Fesseln, damit ich Sake mit ihm trinken kann!“

Bereits beim Sake Trinken bemerkte Atemu, dass seine Handgelenke blutig waren von dem Seil, welches gescheuert hatte. Aber da das und eine kleine Platzwunde an seiner Stirn seine einzigen Verletzungen waren, befand er, dass er noch gut davongekommen war, innerlich hatte er sich bereits darauf eingestellt, zu einem Yubitsume, dem Abtrennen eines Fingers oder mehr, gezwungen zu werden. Sake mit Tsukasa-sama trinken war da um Welten besser. Eine Sache hatte er da aber noch auf dem Herzen, worauf er den grade so gut gelaunten Oyabun gleich ansprach…
 

Es verging noch eine Woche, ehe Atemu zu Yuugi zurückkehren konnte. Die Wunde an der Stirn war von einem großen, weißen Pflaster bedeckt und die Schürfwunden an den Handgelenken verkrustet und würden somit bald verheilt sein.

Es war ein unglaublich gutes Gefühl, nach Hause zurückzukommen. Atemu hatte Schuldgefühle, Yuugi so lange warten zu lassen, aber er konnte den Yakuza ja nicht zeigen, wie wichtig ihm der Junge geworden war, sie hatten ihn nur zähneknirschend ziehen lassen – weil sie nicht auf ihn verzichten konnten und dies der einzige Weg gewesen war, ihn zu behalten. Wenn sie einen Weg finden würden, ihn zu erpressen… nein, darauf konnte Atemu verzichten. Außerdem hatte er ja bewusst sein Handy verloren, damit Yuugi es finden und seine Tante anrufen konnte und sich somit keine Sorgen machen musste. Als er dann nach Hause kam, war er dennoch ein wenig enttäuscht, Yuugi dort nicht vorzufinden. Also duschte er erst einmal ausgiebig und als er danach in sein Schlafzimmer ging um sich anzuziehen, öffnete er die Haustüre, damit er Yuugis‘ Heimkehr schnell bemerken würde. Er trug grade erst seine Jeans und das Lederband mit dem Ankh daran um den Hals, als er Schritte draußen hörte. Yuugi! Er ging rasch nach draußen – wo Yuugi grade vor ihm floh. Schnell hastete er ihm hinterher und packte ihn an der Schulter, um ihn umzudrehen. Eine Sekunde starrte Yuugi ihn erstaunt an, dann hob er die rechte Hand und verpasste ihm eine Ohrfeige.

Atemu war so verblüfft, dass er Yuugi los lies und mit der Hand kurz seine Wange berührte. „Du Idiot! Wo warst du?“, brüllte Yuugi und wollte ihm gleich noch eine verpassen, aber diesmal war Atemu darauf vorbereitet und fing seine Hand ab. „Komm rein und ich erklär‘s dir.“, murmelte er, drehte sich um und ging voraus in die Wohnung. „Atemu!“, wisperte Yuugi, als er Atemus‘ Rücken sah. Atemu schmunzelte und schloss die Tür hinter Yuugi. „Gefällt’s dir?“, fragte er. Yuugi nickte. Die beiden ließen sich auf dem Sofa nieder und Yuugi versank ganz in der Betrachtung von Atemus‘ Rücken. Schmunzelnd ließ er es zu, denn zugegebenermaßen war dieser mittlerweile recht beeindruckend. Die Tätowierung, welche das Symbol der Yamaguchi-gumi darstellte, war verschwunden – oder besser, überdeckt. Überdeckt von einem chinesischen Glücksdrachen, welcher sich über Atemus‘ gesamten Rücken erstreckte und bei jeder Bewegung von Atemu schien es, als würde sich der Drache schlängeln. Es war eine exzellente Arbeit ganz in schwarz und der Kopf befand sich dort, wo vormals das Yakuza-Symbol gewesen war. „Das muss doch weh getan haben!“, wisperte Yuugi und strich mit den Fingern über die Tätowierung. Atemu verzog das Gesicht:„Sehr. Das ist noch traditionell gestochen.“ Yuugi seufzte, halb bewundernd, halb mitleidig. Aber dann fiel ihm wieder ein, was seine erste Sorge gewesen war und er setzte sich so, dass er Atemu ins Gesicht sehen konnte. „Wo warst du also in der vergangen Woche? Doch nicht etwa nur dieses Tattoo machen lassen?!“ Atemu lächelte leise und schüttelte den Kopf. „Nein, dann hätte ich dir doch vorher etwas gesagt.“ Yuugi grummelte in seinen nicht vorhandenen Bart, dass er Atemu dies auch geraten haben wollte. Dieser schmunzelte, atmete dann aber tief durch, um Yuugi die ganze Geschichte zu erzählen.

„Ich hatte ein weniger erfreuliches Zusammentreffen mit den Yakuza, da sie noch nicht wussten, dass ich den Austritt rückgängig gemacht hatte.“, begann er und entlockte Yuugi damit einen erschrockenen Ausruf. „Es ist mir nichts passiert!“, wehrte Atemu schnell ab, aber jetzt nahm Yuugi Atemu genauer in Augenschein. Eben hatte die Tätowierung ihn so sehr abgelenkt, dass er Atemus‘ weitere Verletzungen gar nicht bemerkt hatte. Aber jetzt strichen seine Finger besorgt über das Pflaster auf Atemus‘ Stirn. Der lächelte Yuugi beruhigend an und erklärte:„Nur eine kleine Platzwunde, als sich mich niedergeschlagen und entführt haben, es tut kaum weh – wenn man nicht grade Druck auf die Wunde ausübt.“ Yuugis‘ Finger verschwanden schnell wieder, kehrten aber zu Atemus‘ blutig gescheuerten Handgelenken zurück, welche noch nicht vollständig verheilt waren. „Sind das…?“, fragte Yuugi mit zittriger Stimme. Atemu neigte den Kopf. „Fesselspuren, ja. Halb so schlimm.“ Das Lächeln auf seinen Lippen war aufmunternd, auch, wenn es Yuugi nicht ganz überzeugen konnte. Er ergriff Atemus‘ Hände, während er seiner Geschichte lauschte:„Wie du dir denken kannst, war man über meinen Austritt nicht erfreut, aber ich konnte sie davon überzeugen, dass es nicht meine Absicht sei, sie zu verlassen, zumindest nicht endgültig. Also haben wir einen Deal ausgehandelt, der hauptsächlich darin besteht, dass ich zwar noch für sie arbeite, aber nur dann, wann ich es will. Im Gegenzug verliere ich natürlich ihren Schutz, aber das geht schon in Ordnung. Da ich also kein Yakuza mehr bin, musste natürlich auch das Tattoo verschwinden und so habe ich mich dazu entschieden, es überdecken zu lassen…“ Yuugi legte den Kopf schief:„Das ist also gut, ja?“, fragte er unsicher und Atemu bestätigte lächelnd:„Ja, das ist es. Aber ohne den Schutz der Yamaguchi-gumi werde ich wohl dafür sorgen müssen, dass auch du dazu in der Lage bist, dich zu verteidigen.“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause. Dann grinste er. „Deine Ausbildung in Selbstverteidigung werde ich also fortsetzen. Und ich kaufe dir eine Waffe und bringe dir bei, mit ihr umzugehen.“ Yuugi verschlug es die Sprache, aber als er sich einmal gefasst hatte, fiel er einem sehr überraschten Atemu um den Hals, der die Umarmung nach kurzer Irritation erwiderte.
 

Am nächsten Tag war Atemu erfreut zu sehen, dass Yuugi das Training fortgesetzt hatte, sodass er ihn am frühen Nachmittag, der Zeit, zu der sie sich vor Atemus‘ Entführung immer eine kleine Pause gegönnt hatten, durch Yuugi bisher vollkommen unbekannte Straßen führte. Langsam aber sicher erhärtete sich in Yuugi der Verdacht, dass man hier keinen legalen Geschäften nachging, was ihn instinktiv dazu brachte, sich dichter bei Atemu zu halten, auch, wenn die Fassaden weiterhin ordentlich waren und er nichts zu Gesicht bekam, was ihm hätte Angst machen müssen. Aber es lag eine seltsam angespannte Atmosphäre in der Luft und der ein oder andere Blick, der ihnen zugeworfen wurde, bereitete Yuugi Sorge.

Er war erleichtert, als Atemu ihn schließlich durch eine der Türen in das Innere eines Ladens geleitete – und erstaunt, als er feststellte, dass sie sich bei einem Friseur befanden. Was sollte das denn werden? Atemu aber grinste nur und wandte sich an eine der Mitarbeiterinnen. „Excuse moi, mademoiselle. Je voudrais savoir, que la propriétaire est là?“, fragte er höflich. Die junge Frau nickte und ging ins Hinterzimmer, von wo aus Yuugi sie rufen hörte:„Fiona! Un chalant!“ Es dauerte daraufhin nicht lange, da kehrte die Friseuse in Begleitung einer brünetten Frau zurück, welche, kaum, dass ihr Blick auf Atemu gefallen war, lächelte und ihn einlud, mit ihr zu kommen. Als die beiden im Hinterzimmer verschwanden, folgte Yuugi ihnen. Und endlich verstand er, weshalb sie hier waren. Dies hier war nur oberflächlich betrachtet ein Friseursalon. Eigentlich war es eine Waffenhandlung. Das Hinterzimmer war vollgestopft mit allen Arten von Schusswaffen, von denen Yuugi je gehört hatte und auch mit jenen, von deren Existenz er nie gewusst hatte. Trotz der Fülle war es sehr ordentlich und Yuugi staunte mit offenem Mund, während Atemu am Verkaufstresen mit der Frau ein paar Höflichkeiten austauschte. Offensichtlich kannten sie sich schon länger und als Yuugi seine Sprache wiedergefunden hatte und sich zu den beiden gesellte, erklärte Atemu, dass die Frau Fiona hieße und die beste Waffenhändlerin in ganz Frankreich sei, dass er seine Waffen bereits seit Jahren von ihr bezog und dass er gedachte, Yuugi heute seine erste Pistole zu kaufen. Fiona schenkte Yuugi zu diesen Worten ein freundliches Lächeln, welches so gar nicht zu den Waffen um sie herum passen wollte, sodass es Yuugi schwer fiel, dieses zu erwidern. Er zwang seine Mundwinkel trotzdem dazu, sich nach oben zu ziehen. „Nicht so schüchtern, ich verspreche auch, heute ausnahmsweise nicht zu beißen!“, versprach sie und berührte Yuugi kurz an der Schulter. Es war eher die Geste als die Worte, die Yuugi dazu brachte, tatsächlich ruhiger zu werden, auch, wenn er nicht wusste, wie sie das getan hatte. Irgendwie machte sie es ihm leicht, sich in ihrer Nähe zu entspannen. Während Yuugi noch diesen Gedanken nachhing, huschte Fiona bereits leise singend durch die Gänge ihres Lagers und suchte einige Waffen heraus, während sie dabei immer wieder innehielt und einen prüfenden Blick auf Yuugi warf – oder eine plötzliche Tanzeinlage zu ihrem gerade gesungenen Lied einlegte, in das sich der ein oder andere schiefe Ton mischte. Aber das machte sie Yuugi nur sympathischer. Atemu beobachtete das Ganze schmunzelnd. Er kannte sowohl die Gesangs- als auch die Tanzeinlagen der Waffenhändlerin und Yuugis‘ Reaktion auf selbige amüsierte ihn.

Als Fiona zu den beiden zurückkehrte, hatte sie eine Auswahl an Waffen in einen Schuhkarton geworfen. „So, das sind alles recht neue Waffen, sehr leicht und keine von denen hat einen Drall oder sonst etwas, was man beachten müsste.“, erklärte sie und lud das Duo mit einer Handbewegung ein, ihr zu folgen, als sie eine Treppe hinter der Theke hinunterstieg. Es überraschte Yuugi nicht mehr, im Keller einen Schießstand vorzufinden – wohl aber, mit einem auffordernden Blick eine der Waffen in die Hand gedrückt zu bekommen. „Was?“, entfuhr es ihm, was Atemu zum Schmunzelte brachte und er legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Probier sie ruhig alle aus. Es geht nicht darum, wie gut du schießt, sondern darum, mit welcher Waffe du klar kommst.“, erklärte er. Zögerlich nickte Yuugi und nahm die Waffe mutiger in Hände. Aber bevor er dann schießen konnte, stoppte Atemu ihn erneut. „Yuugi, halt die Waffe grade und nicht so schief. Wir wissen, dass du noch nie geschossen hast, also musst du nicht versuchen, cool auszusehen. Halt die Waffe grade, hab einen sicheren Stand und versuch einfach nur, die Zielscheibe zu treffen.“, mahnte er ihn, ehe er sich etwas abseits neben Fiona stellte und Yuugi beim Schießen zusah.

Es dauerte bestimmt eine Stunde, denn Yuugi probierte die Waffen nicht nur einmal aus. Allein, das Ergebnis blieb das Gleiche: Yuugis‘ Kugeln waren ein Stück zu weit rechts. Zwar hatte niemand erwartet, dass Yuugi gleich ins Schwarze traf, aber der Makel war dennoch nicht zu übersehen – und blieb auch, als Atemu und Fiona gleichermaßen Tipps zur Begradigung gaben. So ging Atemu die Kellertreppe noch einmal nach oben, ging zielstrebig an den Waffen vorbei, bis er fand, was er suchte und kehrte damit zu Yuugi zurück. Dass er schon häufig hier gewesen war und sich bestens auskannte, könnte nicht offensichtlicher sein. „Hier, probier die.“, sagte er zu Yuugi und hielt ihm eine vergleichsweise schwere, schwarze Waffe hin. Yuugi nahm sie, probierte sie aus – und der zweite Schuss traf ins Schwarze. Atemu grinste. Yuugi dagegen war mehr als erstaunt uns sah Atemu verblüfft an:„Wow, wie hab ich das gemacht?“ „Ganz einfach, wenn du schießt, dann mit Rechtsdrall. Das ist ein Colt M1911 – und er hat einen Linksdrall, das gleicht das aus. Es ist immer noch eine Halbautomatik, also solltest du keine Probleme haben.“ Yuugi nickte verblüfft. Mit einem Lächeln wandte Atemu sich an Fiona:„In Ordnung, wir nehmen die, plus Munition, und ich brauche noch eine Walther P99.“ Sie gingen zurück in den Verkaufsraum, Atemu kaufte eine ganze Menge Dinge und Yuugi sah stumm zu. Dann verließen sie den Friseursalon mit einer großen Tüte, mit dem Logo eines Bekleidungsgeschäfts darauf.

Von da an änderte sich Yuugis‘ Tagesablauf. Morgens uns abends trieben sie nach wie vor Sport, vormittags lehrte Atemu ihn Selbstverteidigung, was sich ziemlich in die Länge zog. Entgegen Yuugis‘ Erwartungen ging es weniger darum, Schlagtechniken zu erlernen, nein, die gesamte erste Zeit verbrachte Yuugi damit, Grundhaltungen und Hinfallen zu lernen, ehe nach einer ganzen Weile erste Verteidigungstechniken hinzukamen. Die Nachmittage verbrachten sie in dem Friseursalon, wo Yuugi schießen lernte, etwas, was ihm Angst und Sicherheit gleichzeitig vermittelte.

Es ging bereits auf Weihnachten zu, die Straßen und Schaufenster quollen über vor Weihnachtsdekoration, als ein Anruf das ruhige Leben der beiden beendete. Atemu sagte es Yuugi beim Abendessen, als er ihn über ein Glas Rotwein hinweg beobachtete. „Yuugi, ich habe einen Auftrag bekommen und ich werde ihn annehmen.“ Yuugi biss sich auf die Lippen und Atemu befürchtete schon, dass er etwas dagegen hätte, aber was Yuugi dann sagte, versetzte Atemu einen regelrechten Schock:„Ich möchte mitkommen.“

Die Zeitwende

Die Zeitwende: Sie bedeutet Erlösung und Befreiung. Was verschüttet und gefangen war, kommt ans Licht. Die Karte zeigt, dass wir von Sorgen und Nöten erlöst werden und Hemmungen hinter uns lassen. Wir befreien uns von undankbaren Situationen und Verbindungen.
 

Dezember 2007, Paris, Frankreich

Atemu stellte langsam das Weinglas ab und sah Yuugi ernst an. „Warum möchtest du das?“, fragte er ruhig. Yuugi war überrascht, nicht gleich zurückgewiesen zu werden, auch, wenn ihm die Antwort auf diese Frage schwer fiel. Er stand langsam vom Küchentisch auf, ging um selbigen herum, bis er neben Atemu stand. Dieser sah erstaunt auf, blickte Yuugi fragend an, als der seine Hand ergriff und sich dann schüchtern auf Atemus‘ Schoß setzte. Yuugi räusperte sich leicht unbehaglich, aber dann sah er Atemu in die Augen, seine Hände ruhten auf der Brust des Älteren. „Ich möchte bei dir bleiben. Ich möchte nicht in mein altes Leben zurückkehren, sondern deines führen.“ Yuugi unterbrach sich, um sich auf die Lippen zu beißen. „Wenn ich darf.“, fügte er hinzu. Atemu stieß Yuugi nicht fort, er runzelte die Stirn. Zwar konnte er verstehen, weshalb Yuugi sein altes Leben nicht vermisste, aber er verstand nicht, weswegen er dann seines wählen sollte. Reine Sympathie? Natürlich, Atemu mochte Yuugi, er mochte ihn sehr, aber darüber, wie sehr genau wollte er lieber nicht nachdenken. Das würde ihn verwirren und nur zu Komplikationen führen. Aber mochte Yuugi ihn auch? Mochte er ihn mehr, als gut für sie beide wäre? Sollte das der Grund sein? Wenn es so wäre, dann wollte Atemu das lieber nicht wissen, der Komplikationen wegen.

Aus diesem Grund also nickte Atemu langsam. „Nun gut. Du darfst.“ Yuugi, der sein Glück noch gar nicht fassen konnte, wusste gar nicht was er sagen sollte. Als er ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, dankte er Atemu und rutschte wieder von seinem Schoß herunter, leicht rot um die Nasenspitze. Zurück an seinem Platz sitzend nahm er Messer und Gabel wieder auf, verspeiste ein Brokkoliröschen und fragte dann kauend:„Also… worum geht es?“ Atemu gluckste. „Ich erwarte eine E-Mail mit genaueren Informationen. Die weiteren Details sollten wir vielleicht nicht beim Essen erläutern. Aber ich darf dir versprechen, dass deine Ausbildung dadurch ein wenig beschleunigt werden wird…“, erklärte er mit jenem sadistischen Lächeln, dass dafür sorgte, dass die Kartoffel Yuugi im Hals stecken blieb. Er hustete, konnte aber nicht widersprechen. Er wollte es ja. Obwohl er auch unglaubliche Angst davor hatte. Er wusste nicht, ob er dazu fähig sein würde, das Leben eines Menschen auszulöschen, und das auch noch grundlos! Seine Entscheidung, mit Atemu zu gehen, war vorschnell gewesen, das wusste er, aber dennoch wollte er sie nicht rückgängig machen. Er wollte bei Atemu sein, er wollte ihn verstehen und tief in seinem Herzen wuchs der Wunsch, sein Leben mit ihm zu verbringen. Gleichwohl er es nicht sagen konnte. Es war leichter, keinen Gedanken daran zu verschwenden. Aber wenn er daran dachte, dass die gemeinsame Zeit in Kürze ein Ende finden würde, wenn Yuugi wieder sicher war, war ihm unerträglich, er wollte nicht, dass Atemu ihn irgendwo mit irgendeiner neuen Identität ausstattete und dann auf Nimmerwiedersehen verschwand. Er wollte, dass er bei ihm blieb. Über diese ganzen Monate, die sie zusammen verbrachten, hatte er ihn zu schätzen gelernt. Nicht, wegen seines Perfektionismus oder weil er sich scheinbar überall und mit allem auskannte. Nein, viel eher, weil er stets ehrlich war, weil er eine Schwäche für Kaffe hatte, die gleiche Musik mochte wie Yuugi, weil er morgens mit einem Lächeln Yuugis‘ Müdigkeit vertreiben konnte und weil er sich trotz aller Perfektion beim Kochen regelmäßig die Finger verbrannte. Er mochte die kleinen Schwächen an ihm, welche ihm zeigten, dass auch Atemu nur ein Mensch war. Und trotz aller Ernsthaftigkeit und der Schwierigkeit ihrer Situation schaffte es Atemu noch immer, dass Yuugi auch Spaß haben konnte, nicht nur beim Training. Erst vor zwei Tagen hatte Atemu Yuugi ins Kino eingeladen, obwohl keiner von beiden gut genug Französisch sprach, um alles verstanden zu haben, so hatten sie der Handlung dennoch folgen können – und sich hervorragend amüsiert. Aber die liebste Erinnerung an diesen Abend war jene, dass Atemu sich mit der Nacho-Sauce bekleckert hatte – auch, wenn er den Fleck auf seinem Jackett mit großer Würde getragen hatte. Yuugi war nicht so verklärt, sich einzureden, er könne nicht ohne Atemu leben und müsse es deswegen tun. Er wusste, dass er ohne Atemu leben konnte, er hatte es ja auch ausgehalten, ehe er ihn kennen gelernt hatte. Aber er wusste auch, dass es schöner war, wenn er sein Leben mit Atemu verbringen konnte, auch, ohne dass er diesen über seine Gefühle aufklärte. Was machte es schon, ob er das wusste? Sie verstanden sich doch sehr gut so, wie es wahr, wenn er etwas sagen würde, würde Atemu es wohl tolerieren, so wie Yuugi ihn einschätzte, aber er würde sein Verhalten ihm gegenüber dennoch ändern und das wollte Yuugi nicht. Er genoss einfach den Status quo.

Diese Gründe also hielten Yuugi an Atemus‘ Seite und sie waren stärker, als die Angst, welche von ihm Besitz ergriff, als sie sich nach dem Essen zusammen ins Wohnzimmer setzen. Von der Couch aus konnte man durch die Balkontüre nach draußen sahen, es war dunkel und Paris war ein Lichtermeer. Es hatte seinen Grund, dass die Pariser selbst ihre Stadt die Stadt der Lichter nannten – und nicht, wie der Rest der Welt die Stadt der Liebe. Atemu und Yuugi saßen nebeneinander, Atemu rief seine E-Mails ab, während Yuugi mit im Schoß gefalteten Händen gespannt daneben saß und abwartete, dass Atemu zu erklären begann. Atemu hatte, mit Ausnahme seines Kurzausflugs nach Wien, niemandem mehr getötet seit er Yuugi kannte. Ihm selbst bereitete das keine Sorge, es war schön öfters vorgekommen, dass er eine Zeit lang untätig blieb, alleine aus Selbstschutz war das notwendig. Aber Yuugi hatte noch nie miterlebt, wie Atemu sich auf einen Mord vorbereitete und dieser kalte, routiniert planende Atemu war ein wenig beängstigend. In diesem Augenblick lehnte er sich zurück, den Laptop auf seinen Knien. „In Ordnung. Es geht um Folgendes: Der Auftrag stammt von Tsukasa-sama, in spätestens zwei Wochen sollte er ausgeführt sein. Das Opfer ist Polizeidirektor, wohnhaft in Paris, dreiundfünfzig Jahre alt. Er weiß zu viel über die Yamaguchi-gumi.“, erklärte er mit ruhiger Stimme und blickte dann zu Yuugi auf. In seinem Blick lag Wärme. „Du musst dies nicht tun, ich überlasse die Entscheidung dir. Wenn es dir zu viel ist…“ Er sagte das, wie Yuugi erkannte, nicht aus Mitleid, sonder meinte es ganz ernst, war um sein Wohl besorgt. Natürlich, einen Mord mit angesehen zu haben verstörte viele Menschen, an einem beteiligt gewesen zu sein konnte sie dem Wahnsinn anheim fallen lassen aber dann auch noch kaltblütig einen geplant und begangen zu haben? Das war viel. Aber Yuugi täuschte eine Stärke, die er nicht besaß, vor und nickte. „An welchen Zeitpunkt dachtest du für die Ausführung?“, fragte er mit bemüht entspannter Stimme zurück. Die Antwort kam sofort:„Da wir zwei Wochen Zeit haben, werde ich diese Zeit nutzen, um dich bestmöglich vorzubereiten. Und natürlich, um möglichst viel über die Lebensumstände und Angewohnheiten des Opfers herauszufinden.“ „Gut…“, willigte Yuugi ein, „Und was machen wir jetzt?“ Atemu grinste, schaltete den Laptop aus und zerzauste Yuugi wie beiläufig das Haar. „Jetzt gehen wir schlafen, denn wir haben morgen viel vor!“, erklärte er und erhob sich auch schon. Yuugi beeilte sich, es ihm nachzutun.
 

Am nächsten Morgen spazierten Atemu und Yuugi ausnahmsweise gelassen durch die Straßen von Paris. Doch was wie ein Flanieren aus purer Langeweile erschien, war in Wirklichkeit viel mehr, denn die beiden wollten das Haus ihres Opfers in Augenschein nehmen. Dies allerdings war gar nicht so leicht, denn ein Zaun aus drei Meter hohen Eisenstäben säumte es, deren Zwischenräume mit Kirschlorbeer bewachsen waren. Aus diesem Grund verbrachten sie mehr Zeit damit, das Haus zu inspizieren, als Atemu lieb war. Am Nachmittag gingen sie ebenfalls nicht zum Schießen, sondern in eine Kletterhalle. Sie würden ja über den Zaun des Grundstücks klettern müssen und auch bei späteren Aufträgen würden sie mit Sicherheit nicht durch die Vordertür spazieren können. Außerdem registrierte Atemu lächelnd Yuugis‘ Begeisterung über die Idee. Besagte Begeisterung erhielt einen kleinen Dämpfer, als er die Größe der Kletterwand sah. Er fragte sich, wie er das schaffen sollte, vor allem, weil einige der Wände schräg waren, sodass man beim Klettern in luftiger Höhe hing. Atemu lächelte und klopfte Yuugi auf die Schulter. Sie waren ja auch nicht alleine, ein Angestellter der Kletterhalle erklärte ihnen alles, und befestigte den Karabiner an ihren Gurten. Yuugi wählte die leichteste Route, gekennzeichnet durch die gelben Tritte und Griffe an der Wand. Diese war immerhin nicht schräg, sodass Yuugi sich motiviert daran machte, die Wand zu erklimmen. Schon bald musste er feststellen, dass das anstrengender war, als es aussah, auch, wenn es ihm ungeheuren Spaß bereitete. Nach seinem dritten Versuch, bei dem er die Kletterwand immerhin bis zur Hälfte geschafft hatte, legte er eine kurze Pause ein um seine vor Anspannung zitternden Arme zu beruhigen und sah sich nach Atemu um. Die Kinnlade fiel ihm herunter, als er ihn entdeckte. Dabei sollte er doch gar nicht überrascht sein, er hatte gewusst, dass Atemu gut war, aber das! Atemu erklomm grade die schwierigste Wand und selbst als er die Schräge erreichte, verringerte er sein Tempo nicht. Kopfschüttend und sich selbst ein gutes Stück schlechter fühlend machte Yuugi sich erneut an den Aufstieg. Die Zähne zusammengebissen, rief er sich Atemu Geschicklichkeit ins Gedächtnis, wild entschlossen, sich diesmal erst dann abzuseilen, wenn er oben angekommen war. Seine Arme schmerzten unerträglich und er spürte die Schweißtropfen über sein Gesicht rinnen – aber er war oben. Einmal tief durchatmen, kurz die Halle von oben betrachten und dann endlich das erlösende Gefühl, seine Arme entlasten zu können, als er losließ und den kühlen Wind genoss, während er nach unten glitt. Dabei nahm er so viel Schwung auf, dass er bei der Landung das Gleichgewicht nicht halten konnte – und somit Atemu umwarf, der unten auf ihn gewartet hatte. Sie purzelten übereinander, Yuugi lag auf Atemu und sah ihn gleichermaßen überrascht wie erschrocken an. „Ja.“, sagte Atemu trocken, „Hi. Magst du von mir runter gehen, du bist zu schwer um liegen zu bleiben.“ Yuugi zog einen Schmollmund und setzte sich demonstrativ auf Atemu, der unter dem Gewicht ächzte. „Ach ja? So schwer bin ich also?“, fragte er spitz zurück, beugte sich dicht über ihn und grinste süffisant. Atemu grinste zurück, was Yuugi hätte warnen sollen, aber das bemerkte er zu spät. Er spürte die Hände des anderen auf seinem Körper, was ihm plötzlich bewusst machte, was er hier grade tat. Er wollte zurückschrecken, aber Atemu war schneller, befreite sich mit einem Griff, und ehe Yuugi wusste, was geschah, wurde er herumgewirbelt – schaffte es aber, sich Atemu‘ Lektionen in Punkto richtiges Fallen zu Herzen zu nehmen und anzuwenden. „Gut.“ Atemus‘ Stimme klang ehrlich beeindruckt. Er hielt ihm die Hand hin um ihm beim Aufstehen zu helfen, was Yuugi annahm.

Zu Yuugis‘ Überraschung – um nicht zu sagen Schock – ging Atemu, nachdem sie aus der Kletterhalle zurückgekehrt waren, zurück zum Anwesen des Opfers. Zuvor war er für eine halbe Stunde im Bad verschwunden und hatte Yuugi fast zu Tode erschreckt, als er wieder herauskam – mit raspelkurzem, feuerrotem Haar, stechend grünen Augen und einem blassen Teint. „Wow.“, machte Yuugi und verschüttete sein Glas Wasser über den Teppich. Der Mann, der so gar nicht nach Atemu aussah, aber mit seiner Stimme sprach, lächelte. „Bleib hier und ruh dich aus. Ich sehe mich derweil im Haus unseres Opfers um.“, sagte er gut gelaunt und war schon verschwunden. Obwohl Yuugi wusste, dass Atemu ein Profi war, obwohl er wusste, dass Atemu gut getarnt war, obwohl er wusste, dass er sich bloß ein wenig umsehen wollte, so hatte er doch keine Ruhe, ehe Atemu dreieinhalb Stunden und eine gefühlte Ewigkeit später wieder in der Tür stand. Seine Hände und Kleidung – die Kleidung eines Heizungsinstallateurs, im Übrigen – war Ölverschmiert, aber ansonsten schien es ihm gut zu gehen. Am liebsten wäre Yuugi ihm um den Hals gefallen, aber es war nicht das Öl, welches ihn davon abhielt – na ja, nicht nur. Zu sehen, wie Atemu sich in kürzester Zeit wieder in sich selbst zurückverwandelte war beinahe schwindelerregend, nur beinahe, denn der eigentliche Schwindel kam, als Atemu anschließend aus dem Gedächtnis einen Lageplan für das Gebäude zeichnete. Der war vielleicht nicht perfekt – aber das wichtigste war drauf. Die Erläuterung des Plans verschoben sie aufgrund der fortgeschrittenen Stunde allerdings auf den nächsten Tag – an dem sie auch keinen Sport treiben würden, wie Atemu mit einem kleinen Lächeln im Mundwinkel verkündete.

Die Erkenntnis, weswegen sie keinen Sport treiben würden, war eine schmerzhafte. Yuugi hatte nicht gewusst, dass man einen derart schrecklichen Muskelkater haben konnte, er hatte Schmerzen in Muskeln, von denen er nicht gewusst hatte, dass sie existierten und ein jede Bewegung quälte ihn dermaßen, dass er beschloss, den Tag still liegenden auf der Couch zu verbringen. Ein einziges Gutes hatte das: Es beschwerte ihm das erste richtige Lachen, dass er je von Atemu gehört hatte, laut, lange und tief. Aber obwohl er gerne gesagt hätte, dass ihn das für die Schmerzen entschädigt hätte, so war das nicht zutreffend. Was ihn dagegen entschädigte war der Fakt, dass Atemu sich somit genötigt sah, Yuugi am heutigen Tage zu bedienen. Yuugi befand, dass er sich das auch verdient hatte und Atemu lachte schon wieder, weil Yuugis‘ Arme selbst dann protestierten, wenn er ein Glas Wasser zum Mund führen wollte und seine Bewegungen deswegen stets etwas Komisches hatten. „Essen musst du aber alleine, ich werde dich nicht füttern.“, erklärte Atemu als er ein typisch französisches Frühstück auf den Beistelltisch neben dem Sofa stellte. „Schade.“, sagte Yuugi ehe er über seine Worte nachdenken konnte und versteckte dann schnell sein Gesicht hinter der Kaffeetasse, damit Atemu nicht sah, dass er rot wurde, als es ihm bewusst wurde. Jedoch hatte Atemu es gesehen – sah aber wohlweislich darüber hinweg. Er tunkte sein Croissant in seinen Kaffee und biss ab, während er sein Notebook hochfuhr und die Skizze vom gestrigen Abend zutage förderte. Kauend berichtete er:„Also, das Anwesen ist nicht besonders groß, es gibt auch keine Wachen, da er sich der Gefahr nicht bewusst ist. Allerdings ist morgen Weihnachten, also ist seine ganze Familie versammelt…“ Yuugi richtete sich abrupt auf – und sank sogleich wieder stöhnend zurück auf die Couch, das war zu schmerzhaft. „Es ist Weihnachten?“, fragte er verblüfft. Atemu gluckste. „Morgen, ja, wieso?“ „Nur so…“, murmelte Yuugi geistesabwesend. Weihnachten, also… Was seine Freunde jetzt wohl taten? Oder seine Familie? Auch, wenn er nicht in sein altes Leben zurückwollte, so versetzte der Gedanke seinem Herzen doch einen Stich. Atemu aber bemerkte es nicht, er erklärte weiter und deutete dabei auf den Plan des Hauses. „Hier schlafen die Töchter des Polizeidirektors, hier sein Sohn und hier ist sein Schlafzimmer, das er mit seiner Frau teilt. Sie könnte das größte Risiko für uns sein, wenn sie wach wird. Im Gästezimmer schläft der Bruder der Ehefrau, er ist ebenfalls Polizist, also sollten wir besser darauf achten, dass er schläft. Wir werden hier, an dieser Stelle, über den Zaun klettern, dann über die Balkontüre im ersten Stock gleich ins Schlafzimmer des Mannes. Wenn wir Glück haben, können wir auf diesem Wege auch unbemerkt wieder verschwinden. Ich halte den dritten Januar für ein passendes Datum. Natürlich wirst du ein paar Waffen mitnehmen, aber den Mord werde ich begehen.“ Yuugi nickte. Damit war er durchaus einverstanden. Er schob sein beendetes Frühstück von sich und betrachtete nachträglich den Plan. So konkret zu werden machte ihm allmählich doch Angst. Unruhig kaute er auf seiner Lippe herum. Als Atemu das bemerkte, seufzte er leise, stand dann aber auf und setzte sich zu Yuugi auf die Couch. „Ich habe dir gesagt, dass du das nicht tun musst.“, sagte er ernsthaft. „Du kannst bei mir bleiben. Du musst dafür niemanden umbringen.“ Yuugi schien bei diesen Worten nur noch nervöser zu werden. „Denk über das nach, was du da zu tun gedenkst. Es geht um ein Menschenleben.“, sagte er leise und Yuugi blickte aus großen, unsicheren Augen zu Atemu auf. Dieser spürte das fast übermenschliche Verlangen, den Jüngeren in den Arm zu nehmen.

Schnell stand er auf, damit er nicht die Kontrolle über sich verlor. Er ging in sein Schlafzimmer, nahm seinen ältesten Dolch, den ihm seine Tante gegeben hatte, als er noch viel jünger gewesen war. Und jetzt schenkte er ihn Yuugi. „Hier. Er war einst ein Geschenk meiner Tante, jetzt möchte ich, dass du ihn bekommst, sei es nur zur Verteidigung.“, sagte er. Fasziniert drehte Yuugi den Dolch in Händen. „Danke.“, murmelte er verblüfft. „Lies die Inschrift.“, forderte Atemu Yuugi sanft auf. Der Angesprochene suchte daraufhin nach besagter Inschrift, verwirrt las er:„Made in China?!“ Atemu schlug sich die Hand gegen die Stirn. „Nein, die andere!“, kam es dumpf hinter der Hand hervor. „Oh.“, machte Yuugi und wurde rot. Aber dann las er die richtige Inschrift:„Der Tod beendet nicht alles.“ Atemu nickte und nahm die Hand vom Gesicht. „Properz, ein römischer Dichter, hat das gesagt. Ich denke, es hat etwas Beruhigendes.“ Yuugi lächelte dankbar:„Ja, durchaus. Danke.“ Aber was Atemu gesagt hatte, ging ihm trotzdem nicht mehr aus dem Kopf. Er wollte doch niemanden töten! Nun gut, das musste er auch nicht, egal, ob er mit Atemu mitkam oder nicht. Aber wenn er mitkam – und das wollte er, er wollte ihn verstehen, wollte sein Leben teilen – dann war das auch Beihilfe zum Mord. Konnte er das, danebenstehen, während Atemu jemanden tötete? Das war ein Unterschied zu dem schlichten Wissen, dass er getötet hatte. Es war nicht so schwer, jemanden zu mögen, der getötet hatte, sein Großvater – mütterlicherseits, natürlich, sein Großvater väterlicherseits hatte unterdessen ein Vermögen damit gemacht, die Munition zu liefern – hatte im zweiten Weltkrieg an der Schlacht um Iwojima teilgenommen und dort Amerikaner getötet, aber dass hatte Yuugi nie daran gehindert, ihn zu lieben. Als er vor fünf Jahren an den Folgen eines Hirnschlags gestorben war, war der einzige Verwandte Yuugis, zu dem er eine enge Beziehung gehabt hatte, gestorben. Aber er schweifte ab… Doch der Gedanke daran, was er denn nun tun sollte, bereitete ihm Kopfschmerzen, sodass er es aufgab. Er verdrängte den Gedanken auf den nächsten Tag, konzentrierte sich ganz und gar auf das Training und die Pläne, die Atemu für sie schmiedete.

Die beiden verbrachten ein ruhiges Weihnachtsfest. Sie feierten nicht wirklich, Atemu, weil er das nie getan hatte und Yuugi, weil er ohnehin überhaupt nichts Eigenes besaß und Atemu von seinem eigenen Geld einzuladen war schlicht lachhaft. Sie trainierten an diesen Tagen zwar nicht, aber ihre Pläne waren mittlerweile sehr genau ausgearbeitet. Mit seinen Bedenken gegenüber dem Mord hatte Yuugi sich aber immer noch nicht auseinandergesetzt und an den Feiertagen sprach Atemu dies auch nicht an. Nach Weihnachten holte er das aber nach, aber diesmal war es Yuugi, der Atemu auswich. So verlief Silvester recht frostig, zwar bewunderten sie gemeinsam auf ihrem Balkon das Feuerwerk über Paris, aber ihre Unterhaltung verlief steif und Yuugi wusste selbst, dass er Atemus‘ Geduld überstrapazierte und sich mit dem Bevorstehenden auseinandersetzen musste. Demnach hätte es Yuugi also auch nicht überraschen sollen, als Atemu ihm am zweiten Januar – einen Tag vor dem geplanten Mord, vor vollendete Tatsachen stellte: Er würde Yuugi nicht mitnehmen. Yuugi protestierte heftig, aber an Atemus‘ Entschluss war nicht zu rütteln, wenn Yuugi sich nicht damit auseinandersetzte, dann könnte das, was er morgen zu sehen bekäme, ihn seelisch aus dem Gleichgewicht bringen, so erklärte Atemu, und er sähe sich nicht dafür verantwortlich, für Yuugi den Seelenklempner zu spielen. Grollend zog Yuugi sich einen Stuhl auf den Balkon um dort in Ruhe nachzudenken. Er wollte sich aber nicht vorstellen, wie Atemu jemanden tötete, das Wissen darum war für ihn in Ordnung, die genaue Vorstellung… „Siehst du, das habe ich gemeint.“, sagte Atemu, der plötzlich hinter ihm stand und Yuugi seine Jacke hinhielt. Er schien seine Gedanken gelesen zu haben. Yuugi seufzte und zog seine Jacke an. „Ich möchte es aber verstehen. Und wie soll ich das können, wenn ich es mir nur vorstellen kann, ohne dabei gewesen zu sein?“, fragte er. Atemu lehnte sich gegen das Balkongeländer und wand ein:„Hältst du es nicht für ein wenig zu früh dafür?“ „Aber würde es besser werden, wenn ich noch drei Monate warte?“, fragte Yuugi zurück. „Vermutlich nicht.“, gab Atemu, auf dessen Armen sich eine Gänsehaut gebildet hatte, zu. „Also warum darf ich dann nicht mit?“, begehrte Yuugi auf. Auf seine Antwort musste er eine Weile warten, denn Atemu sah ihn nachdenklich an, ehe er sagte:„Vielleicht, Yuugi, gewöhnst du dich an den Gedanken, dass ich um dein Wohlergehen besorgt bin.“ Mit diesen Worten ging er raschen Schrittes hinein, Yuugi blinzelte verwirrt, rief ihm dann aber noch schnell hinterher:„Also kann ich jetzt mit?“ „Ja.“, rief Atemu zurück. Es klang genervt. Yuugi aber lächelte, nicht nur, weil er mitdurfte, sondern vor allem, weil Atemu ihm eben zu verstehen gegeben hatte, dass ihm durchaus etwas an ihm lag. Und das ließ Yuugis‘ Herz höher schlagen, auch, wenn er deswegen seinen Entschluss, Atemu nichts zu sagen, nicht rückgängig machte.
 

Zwei Stunden, bevor sie sich auf den Weg zu dem Polizeidirektor machen wollten, stellte Atemu zwei kleine Behälter vor Yuugi hin, der erstaunt aufsah. „Farbige Kontaktlinsen. Zieh sie an.“, erklärte Atemu. Yuugi war überrascht:„Schon?“ Die Frage brachte Atemu aus irgendeinem Grund dazu, zu schmunzeln. „Du hast noch nie welche getragen. Du würdest dich wundern!“ Dann verließ er diskret das Wohnzimmer und eine nervenaufreibende halbe Stunde später verstand Yuugi auch weswegen. Vor grade mal fünf Minuten war es ihm gelungen, die erste Kontaktlinse anzubringen – nach fünfundzwanzig Minuten. Nun kämpfte er mit der linken Linse und war sehr dankbar für Atemus‘ Diskretion. Als er es dann endlich beide Linsen in den Augen hatte, tränten diese und es war ein seltsames Gefühl, aber die Erleichterung überwog. Atemu stand grinsend im Türrahmen und warf Yuugi einen Stoß schwarzer Kleidung zu. Anschließend verschwand er wieder, nur um fünf Minuten später fertig angekleidet mit Kontaktlinsen und Perücke wieder bei Yuugi zu sein, um diesem zu helfen, die Perücke richtig aufzusetzen und zu befestigen. Je weiter ihre Vorbereitungen fortschritten, desto nervöser wurde Yuugi, aber er war bemüht, Atemu dies nicht zu zeigen. Grade als er glaubte, fertig zu sein, eröffnete Atemu ihm, dass er gedenke, ihn zu schminken, was Yuugi mit säuerlicher Miene über sich ergehen ließ. Immerhin wurde dadurch nur sein heller Teint dunkler, sodass er in der Nacht nicht so sehr auffiel. Atemu borgte Yuugi zwei Holster, eines für die Pistole, ein anderes für den Dolch und dann machten sie sich auf den Weg, Atemu sehr ruhig und Yuugi furchtbar aufgeregt.

Über Umwege gelangten sie zu dem Haus, es war bereits vollständig dunkel, als sie nacheinander den Zaun erklommen, Atemu vorneweg, um sicherzugehen, dass dahinter niemand auf sie lauerte. Da das nicht der Fall war, folgte Yuugi und die beiden schlichen durch den Garten zum Haus. Das Klettern war Yuugi nicht schwer gefallen, aber jetzt, wo sie vor dem Haus standen, glaubte Yuugi, ihm werde schwindlig vor Aufregung. Er spürte Atemus‘ Hand auf seiner Schulter und einmal mehr beruhigte ihn diese Geste und vermittelte ihm die Nähe zu Atemu ein Gefühl von Sicherheit. Der plötzliche Drang, Atemu doch über seine Gefühle aufzuklären drohte ihn zu überwältigen, aber er biss sich auf die Lippe und hielt sich im Zaum. „Fertig?“, wisperte Atemu. Yuugi atmete tief durch und blickte an der Hauswand empor. „Bleib ruhig. So sehr ich dich vorher dazu gedrängt habe, daran zu denken, dass es Menschen sind, so wenig darfst du das jetzt tun. Es ist nur ein Job. Und das wichtigste für dich ist es heute, ungesehen wieder von hier zu verschwinden.“, drang Atemus‘ Stimme beinahe kaum hörbar an sein Ohr. Dankbar nickte Yuugi, dann machten sie sich an den Aufstieg. Es war schwieriger, als bei dem Zaun, aber deswegen nicht unmöglich. Yuugi brauchte ein wenig länger als Atemu, sodass, als er auf dem Balkon angelangt war, bereits das Glas neben dem Türgriff eingeschlagen und so die Türe geöffnet worden war. Wortlos drückte er Yuugi eine kleine Flasche und ein Stofftaschentuch in die Hand, dann betraten die beiden den Raum. Es war so dunkel, dass man kaum etwas erkennen konnte, aber sobald Yuugis‘ Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass sie gleich vor dem Bett standen, rechts lag der Mann, zu dem Atemu nun schritt, links die Frau. Ebenfalls links war die Zimmertür, während rechts ein Schrank mit mannshohem Spiegel stand, vor dessen Reflexion Yuugi sich im ersten Augenblick erschreckte. Doch ruhiger wurde er nicht, als er dies erkannte hatte, denn als er den Blick wieder auf die Personen im Raum warf, musste er feststellen, dass die Ehefrau des Opfers erwacht war. Sie richtete sich auf, starrte auf die fremden Männer in ihrem Schlafzimmer und rief mit schriller Stimme:„Qui est là? Qu’est-ce que tu veux?“ „Schnell.“, zischte Atemu und Yuugi wusste, er hätte sie mit dem Chloroform in seiner Hand betäuben sollen, aber da sprang die Frau schon aus dem Bett, wollte scheinbar Hilfe holen. Und Yuugi reagierte, ohne nachzudenken. Später konnte er nicht mehr sagen, wie die Pistole in seine Hand gekommen war, plötzlich war sie da und Yuugi schoss, ohne nachzudenken, der Schuss war entsetzlich laut und ließ Yuugi zusammenzucken. Darauf folgte die Überraschung, getroffen zu haben und erst dann der Schock, dass dies bedeutete einen Menschen getötet zu haben. „Yuugi, ich hab dir gesagt benutz einen Schalldämpfer!“, fluchte Atemu und rannte zu dem Mann, der erwacht war und noch verwirrt um sich sah, aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Atemu erstach ihn, der Mann starb schnell, ein kurzes Röcheln und Blut, welches über Atemus‘ Hände floss, als er das Messer aus dem Herzen des Mannes zog, in ein Tuch wickelte und einsteckte.

Die beiden tauschten einen langen Blick und ein Seufzen. Dann wurde die Türe polternd geöffnet und ein Mann mit einer Pistole kam herein. Sein Blick fiel auf seine tote Schwester und seinen ebenfalls toten Schwager und die beiden Männer, von denen einer noch die Pistole in der Hand hielt. Er war Polizist, rief Yuugi sich ins Gedächtnis und wollte sich von ihm entfernen, aber da spürte er die Hand des Mannes an seinem Arm, der ihn grob zu sich riss. Er wimmerte erschrocken auf und ließ die Pistole fallen, auch, wenn er den Befehl des Mannes dazu, auf Französisch eigentlich nicht verstanden hatte. Der gleiche Befehl erfolgte anschließend an Atemu, aber der blieb vollkommen ruhig und sagte oder tat nichts. Der Befehl wurde erneut gebrüllt, gefolgt von der Drohung, Yuugi zu erschießen. Atemu zuckte mit den Schultern. „Then shoot him. He means nothing to me.“, sagte er ruhig und blickte Yuugi kalt in die Augen. Es war schwer zu sagen, wer davon erschrockener war, Yuugi, oder der Polizist.

Vermutlich eher Yuugi, denn dieser spürte eine Eiseskälte von sich Besitz ergreifen, bei diesen Worten. Sollte er sich getäuscht haben? Hatte er sich geirrt, als er geglaubt hatte, dass Atemu ihn mochte? War das alles nur gespielt gewesen und Atemu hatte ihn bloß benutzt? Yuugi zitterte und hatte mehr Angst vor der Beantwortung dieser Frage als vor der Pistole, die gegen seine Schläfe gedrückt wurde. Allerdings wurde in diesem Augenblick Abzug der Pistole getätigt und im nächsten Augenblick hallte ein Schuss laut durch den Raum.

Yuugi schrak zusammen und ging dann wie in Zeitlupe zu Boden.

Die Sonne

Die Sonne: Sie ist das Gegenstück zum Mond und gibt uns Vitalität, Wärme und Zuversicht. Die Zukunft strahlt hell und voller Licht. Die Karte fordert uns auf, unsere Ängste hinter uns zu lassen und die Sonnennatur in uns auszuleben.
 

Januar 2008, Paris, Frankreich

Der Sturz war schmerzhaft gewesen, aber jener andere Schmerz, auf den er wartete, blieb aus. Yuugi blinzelte und brauchte eine Weile um zu begreifen, dass er nicht getroffen worden war. Er blickte auf. Atemu hatte geschossen, er spürte den Körper des Polizisten schwer auf sich und etwas Nasses, dass in seinen Nacken tropfte. Atemu ließ den Arm mit der Waffe sinken und langsam begriff Yuugi, dass Atemu den Polizisten erschossen hatte, dessen Gewicht dann auch Yuugi in die Tiefe gezogen hatte. Mit Schrecken wurde ihm bewusst, dass er unter einer Leiche lag, deren Blut auf ihn tropfte. Schnell, regelrecht panisch, befreite er sich, während Atemu Yuugis Colt aufhob.

Schwankend kam Yuugi auf die Beine. So unmittelbar mit dem eigenen Tod konfrontiert zu werden – und diesmal in wachem Zustand – versetze ihm einen Schock. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, aber Atemu nahm darauf scheinbar keine Rücksicht. „Los, komm.“, befahl er barsch und wand sich schon zum Gehen. Der kalte Stich in Yuugis‘ Herzen kehrte zurück. Dann erschießen Sie ihn. Er bedeutet mir nichts. Das waren Atemus‘ Worte gewesen und während er sich von Atemu am Ärmel durch den Garten ziehen ließ, gingen sie Yuugi nicht mehr aus dem Kopf. Hatte er das ernst gemeint, oder war es nur gewesen, um den Mann abzulenken? Yuugi vermochte auf diese Frage keine Antwort zu finden und er konnte jetzt auch nicht darüber nachdenken. Ihm war schwindlig und er wollte sich nur noch irgendwo hinsetzen und versuchen, irgendwie die schrecklichen Bilder aus seinem Kopf zu verbannen… von der Frau, die er erschossen hatte, von dem Mann, den Atemu erstochen hatte und von dem Mann, der ihn bedroht hatte. Das war zu viel, viel zu viel für ihn, aber Atemu ließ ihm keine Ruhe, führte ihn über tausend Umwege und dunkle Gassen bis zu ihrer Wohnung, was viel längere dauerte, als es Yuugi lieb sein konnte. Er murrte auch fast den ganzen Weg, aber Atemu ignorierte das.

Erst, als sie in ihrer Wohnung angekommen waren, blickte er Yuugi wieder in die Augen. Der zitterte am ganzen Körper und starrte stumm zurück, seine Augen eine Mischung aus Angst und Hoffnung. „Tut mir Leid, wegen des Schalldämpfers…“, wisperte Yuugi, teils weil es ihm wirklich leid tat und teils, weil er die Stille nicht ertrug. „Schon gut, lass es dir eine Lektion gewesen sein.“, erwiderte Atemu, wobei sogar ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel spielte. Langsam trat er dann auf Yuugi zu, legte seine Arme um ihn und zog den Jüngeren fest an seine Brust. In diesem Augenblick war Yuugi alles egal, er schlang seine Arme fest um Atemu legte den Kopf an dessen Brust und weinte leise, klammerte sich dabei an Atemu und fand den Trost und die Abbitte, die er gesucht hatte. Atemu sagte die ganze Zeit über nichts, er war nur da und hielt Yuugi fest. Aber das war genug.
 

Lange freilich, sollte ihr Friede nicht mehr währen. Es hatte drei Tote gegeben, das waren zwei zu viel und überall wurde nach dem Mörder gesucht. Durch die Art des Todes hatte die Polizei bereits darauf geschlossen, dass es keine persönlichen Motive sondern ein Auftrag gewesen war. Also mussten sie die Stadt verlassen. Besonders Yuugi fiel dies schwer, aber er verstand die Notwendigkeit und beschwerte sich nicht. Sie blieben noch eine Woche, damit das Ganze nicht so auffällig war, dann erstand Atemu einen alten Gebrauchtwagen, in welchem sie alle ihre Besitztümer – viel war das ja nicht, da sie die Möbel in der Wohnung ließen – verstauten. Yuugi, der keinen Führerschein hatte, saß auf dem Beifahrersitz und Atemu steuerte den Wagen. Sie kamen unbehelligt aus Paris heraus, aber Erleichterung verspürte Yuugi erst zwei Stunden später, als es bereits Nachmittag war und ihm der Hintern vom langen Sitzen schmerzte. Um eine Pause bat er dennoch nicht, dazu war ihm das Risiko viel zu groß. „Denkst du, du könntest mir den Gefallen erweisen, meine Tante anzurufen?“, fragte Atemu in die Stille hinein, „Ich kann grade schlecht, während ich Auto fahre.“ Yuugi hob eine Augenbraue:„Warum auf einmal so gesetzestreu?“ „Weil,“, sagte Atemu mit Nachdruck, „es ziemlich dumm wäre, nun wegen so einer Kleinigkeit wie dem Telephonieren am Steuer erwischt zu werden.“ Er wollte nicht enden, wie Al Capone, den man auch nicht wegen seiner Morde, sondern wegen Steuerhinterziehung inhaftiert hatte. Yuugi verstand. „Was soll ich ihr denn sagen?“, fragte er. „Dass sie bitte die Mietverträge kündigen soll – für die Wohnung in Paris, als auch für meine Wohnung in Domino.“, erklärte Atemu. „Ahh…“, machte Yuugi, nahm das Handy und tätigte den Anruf. Kaum, dass Yuugi etwas gesagt hatte, erschreckte Yuki sich halb zu Tode, da sie glaubte, Atemu sei etwas geschehen, weil er nicht selbst mit ihr sprach, aber als Yuugi Atemu das Handy ans Ohr hielt und das Missverständnis auf diese Weise geklärt werden konnte, beruhigte sie sich und Yuugi sprach mit ihr, bat sie, die Wohnungen zu kündigen. Sie versprach auch gleich, selbiges zu tun, hatte dann aber noch eine Frage an Yuugi:„Sag mal, was läuft denn da zwischen dir und meinem Neffen?“ Yuugi wurde schlagartig rot:„Nichts! Er hilft mir nur!“, beteuerte er, aber ihr Lachen klang genau wie das von Atemu fiel zu verständnisvoll. Sie verabschiedeten sich und als Yuugi auflegte und Atemus‘ fragendem Blick begegnete, wurde er erneut rot. Er legte das Handy weg und beeilte sich, angestrengt auf seine Knie zu starren, um Atemu nicht ansehen zu müssen.

Sie fuhren grade durch Belgien als die Sonne unterging, weswegen Atemu sich seine Sonnenbrille anzog. Yuugi fand, dass er aussah, wie James Bond, mit der dunklen Sonnenbrille und dem schwarzen Anzug. Er sah gut aus… so gut, dass Yuugi leise seufzte und krampfhaft aus dem Fenster schaute. „Hast du eigentlich einen Führerschein?“, fragte er irgendwann, da er befand, dass Atemu einige Verkehrsregeln offensichtlich sehr frei interpretierte. „Ich habe sogar eine ganze Menge Führerscheine.“, kam es glucksend zur Antwort. Yuugi lachte ebenfalls:„Hast du für einen von denen auch eine Prüfung abgelegt?“ „Nein, wo denkst du hin?“, erwiderte Atemu beinahe entrüstet und beide lachten.

„Wo fahren wir denn hin?“, fragte Yuugi neugierig. Mit der Antwort konnte er allerdings nichts anfangen. „Dahlem.“, sagte Atemu. Yuugi verzog das Gesicht. „Ahm… muss mir das was sagen?“ „Nein, noch nicht.“, erklärte Atemu, „Es ist ein Ort in Deutschland – der kleinste Ort im Bundesland Nordrhein-Westfalen, um genau zu sein. Ich dachte mir, dass es günstig wäre, in einem kleinen Ort unterzutauchen.“ Yuugi nickte. Beinahe fünf Stunden waren sie gefahren, als sie über die Grenze nach Deutschland fuhren, die Gegend war ländlich und vollkommen zugeschneit. Da Yuugi in einer Stadt aufgewachsen war, hatte er nicht oft Schnee gesehen, sodass er begeistert die weiße Pracht bewunderte. „Willkommen in der Eifel.“, lächelte Atemu. Yuugi lächelte zurück. Sie waren nur wenige Minuten durch Deutschland gefahren, da waren sie bereits in dem kleinen – wirklich, wirklich kleinen – Ort Dahlem angelangt. Ein Fremdenzimmer war schnell gefunden und da die Bewohner Inder waren und somit gut Englisch sprachen, entfiel die Sprachbarriere. An diesem Abend fielen sie nur noch müde ins Bett, vor allem Atemu hatte die lange Autofahrt geschlaucht. Es war seit langem das erste Mal, dass sie ein Zimmer teilten, was Yuugi zu dem Vergnügen brachte, Atemu noch einmal beim Schlafen beobachten zu können. Und er sah entspannt aus, wie Yuugi feststellte, ehe er sich lächelnd in seine eigenen Kissen kuschelte und die Augen schloss.
 

Am nächsten Morgen stellte Yuugi verzückt fest, dass es schneite; dicke Flocken fielen unablässig zur Erde, welche bereits unter der weißen Pracht verschwunden war, sodass Yuugi es sich nicht nehmen ließ, auf der Fensterbank hockend nach draußen zu starren. So fand Atemu ihn, als er aus dem Bad zurückkam und er lächelte. „Was hältst du von einem Spaziergang durch den Schnee?“, fragte er. „Das wäre wunderbar!“, strahlte Yuugi zurück und so zogen sie sich ihre wärmsten Sachen an und machten sich auf den Weg. Dabei mussten sie allerdings schnell bemerken, dass die wärmsten Kleidungsstücke, die sie besaßen, zwar völlig ausreichend für Paris waren, aber bei minus zwanzig Grad in der Eifel nützten sie so gut wie nichts gegen die Kälte und vor allem Yuugi fror bitterlich. Atemu machte mehrfach den Vorschlag, umzukehren und zurück ins Warme zu gehen, aber Yuugi wollte davon nichts hören, viel zu sehr faszinierte ihn die Gegend. Er fand diese einfach wunderschön. Über einen alten Bolzplatz gingen sie in ein kleines Waldstück, welches auf dem Hügel lag, um welches der Ort erbaut worden war. Am Rand des Waldes – Finsterley genannt – standen ein paar schneebedeckte Bänke. Sie wischten den Schnee von einer dieser Sitzgelegenheiten und setzten sich auf die Bank – beziehungsweise, Atemu setzte sich auf die Bank und nahm Yuugi auf den Schoß, weil es sonst zu kalt wäre, wie er sagte. Yuugi hätte einwenden können, dass so aber Atemu fror, aber er sagte lieber nichts sondern kuschelte sich an Atemu, welcher die Arme um ihn legte.

„Hast du es ernst gemeint?“, fragte Yuugi leise. „Was?“, kam es verwirrt von Atemu. „Na ja…“, murmelte Yuugi und wurde rot, aber das versteckte er, indem er seinen Kopf gegen Atemus‘ Brust lehnte, während er weitersprach:„Was du gesagt hast, im Haus des Polizeidirektors. Dass er schießen solle…“ Die letzten Worte brachte er nicht mehr heraus. Atemu hob Yuugis‘ Kinn mit Daumen und Zeigefinger an und zwang ihn somit, ihm in die Augen zu sehen. Unsicher sah Yuugi in diese faszinierend roten Augen. Es war das erste Mal, dass Atemu auffiel, dass sie unterschiedliche Augenfarben hatten, dass Yuugis‘ Augen violett schimmerten. Er lächelte den Jüngeren sanft an. „Yuugi, ich musste das sagen. Er hätte uns beide in der Hand gehabt, hätte ich das nicht gesagt. Ich mag dich, Yuugi, das weißt du doch.“ Yuugi lächelte erleichtert. „Ja. Gut…“, wisperte er und mochte nicht mehr sagen, denn er fürchtete, dadurch seine wahren Gefühle zu verraten.

Atemu wechselte sodann auch das Thema. „Du kommst aber damit klar, was sonst noch… geschehen ist?“ Zu seiner eigenen Überraschung konnte Yuugi ehrlich nicken. „Ja, ich denke schon. Es ist… schrecklich, auf eine Weise, aber andererseits… ich bereue es nicht. Hätte ich es nicht getan, hätte sie vielleicht die Polizei gerufen…“ Atemu neigte leicht den Kopf. Er hatte einen Verdacht, aber diesen sprach er lieber nicht aus. „Möchtest du dein Training fortsetzen?“, fragte er stattdessen. „Was, habe ich nicht langsam alles hinter mir?“, stöhnte Yuugi. Sein Gegenüber gluckste:„Nun ja, fast. Weiterhin trainieren musst du schon, vor allem mit dem Colt, denn du hast noch nicht gelernt, auf bewegliche Ziele zu schießen.“ „Und hier soll ich das tun? Hier gibt es doch keinen Schießstand!“, wand Yuugi ein. Die Vorstellung, erneut eine Waffe in die Hand zu nehmen, ängstigte ihn ein wenig, aber nicht zu sehr, nicht, wenn es nötig war um Atemu zu helfen. Diese Ausrede ließ sein Gewissen ruhen. „Ein paar Schritte weiter ist der Schützenstand. Aber bei beweglichen Zielen hilft das nichts. Es gibt genügend Wälder hier, wir können auf Rehe oder Füchse schießen.“, erkläre Atemu, aber diese Aussicht gefiel Yuugi wenig, sodass er ein langes Gesicht zog und sagte:„Die armen Tiere…“ Atemu schüttelte den Kopf. Yuugi hatte also kein Problem damit, eine junge Mutter zu töten, aber bei einem Tier sträubte er sich? „Es gibt genug und es werden ja nicht zu viele sein. Lange können wir hier nämlich nicht bleiben, es ist ein kleines Dorf, die Menschen werden reden.“ Zwar bezweifelte er, dass sie zur Polizei gehen würden, aber dennoch galt es, Aufmerksamkeit zu vermeiden.

Als sie sich auf den Weg zurück machten, hatte es so viel geschneit, dass Atemu knietief im Schnee versank, Yuugi sogar noch tiefer, was ihm Schwierigkeiten beim Gehen machte, wie Atemu belustigt feststellte. In den nächsten Tagen suchten sie häufig die Wälder um das Dorf herum auf und schossen auf Tiere, wobei Yuugi traf so selten, dass es unauffällig blieb. Da in den Wäldern kaum Schnee lag, war es leicht, sich hier fortzubewegen und gleichzeitig hielt der Schnee auf den Straßen die Menschen in den Häusern.

Als die Woche sich dem Ende neigte, waren Yuugis‘ Schießkünste besser geworden und sie mussten aufhören, da sie von ihrer indischen Gastgeberin hörten, dass es wohl Wilderer in der Nähe geben müsse, da der Förster totes Wild gefunden hatte. Und weil Eifler außerdem misstrauisch gegenüber allem Fremden waren und gerne tratschten hatte man schnell Atemu und Yuugi im Verdacht – was sollte man denn auch denken, von zwei Japanern, die mitten im Winter in die Eifel kamen und sich den ganzen Tag in den Wäldern herumtrieben? Da konnte ja etwas nicht stimmen. „Schon Julius Caesar nannte die Eifler ein listiges, kleines Bergvolk.“, sagte Atemu, klang dabei aber so, als fände er das Ganze recht amüsant und weniger schlimm. Yuugi konnte Atemus‘ Optimismus nicht ganz teilen. „Wie kannst du so ruhig bleiben, wenn sie schon wissen, dass wir das waren?!“, hielt er Atemu vor. Der lächelte und zerzauste Yuugi das Haar. „Sie reden nur. Sie wissen nichts. Wir werden aber trotzdem morgen Abend abreisen, wenn dich das beruhigt.“ Das tat es wirklich.

Mittags waren sie bei ihren Gastgebern zum Essen eingeladen, zum Abschied. Das Essen war indisch, logischerweise und entsprechend scharf, worunter besonders Yuugi litt. Aber zu seinem Glück hatte die Tochter des Hauses eine Freundin zu Besuch, die ebenso zu kämpfen hatte, sodass das ganze Mittagessen zu einer lustigen Angelegenheit wurde. Es wurde Nachmittag, als die beiden schließlich noch ein letztes Mal in einen Wald aufbrachen. Diesmal wählten sie einen Wald, der an einem kleinen Kloster lag, er war weitläufig und daher bestens geeignet. Seufzend nahm Yuugi den Colt zur Hand, ganz wohl dabei, in den Wäldern einfach zu wildern und die Kadaver dann zurückzulassen, fühlte er sich nicht, aber Atemu versicherte ihm, dass es das letzte Mal sei. Er traf mit dem dritten Schuss, dann drängte es ihn, zu verschwinden. Weit waren sie allerdings noch nicht gekommen, da hörten sie Schritte und Stimmen. Entsetzt starrte Yuugi Atemu an. „Oh Gott, sie werden uns sehen, und die Leiche und dann werden sie an die Morde in Paris denken und Atemu was-“ An dieser Stelle legte Atemu den Zeigefinger auf Yuugis‘ Lippen um ihn zum Schweigen zu bringen. „Sh. Denk lieber an eine Lösung.“, mahnte er strickt. „Aber wie sollte das aussehen? Warum sollten wir uns bitte im Wald herumtreiben, wenn nicht, weil wir etwas zu verbergen haben?!“ Yuugis‘ Stimme wurde panisch, bei seinen Worten, umso mehr, als Atemu zu Grinsen begann. „Yuugi, du bist ein Genie.“, eröffnete er ihm strahlend. Yuugi legte den Kopf schräg. „Was?“ „Wir müssen nur etwas anderes tun, was man vor der Öffentlichkeit verbergen würde.“, sagte Atemu triumphierend. Dann änderte sich sein Blick plötzlich und er sah Yuugi mit einem Ausdruck in den Augen an, den dieser beim besten Willen nicht zu deuten vermochte. Grade wollte er fragen, woran Atemu bei dieser anderen Sache denn dachte, da bogen zwei Personen um die Ecke. Es waren das indische Mädchen und ihre Freundin, soviel konnte Yuugi noch erkennen.

Im nächsten Augenblick fand er sich in Atemus‘ Armen wieder – und spürte Atemus‘ Lippen auf seinen. Die Welt schien stillzustehen. Yuugi stand vollkommen unter Schock. Atemus‘ Lippen waren ebenso kalt wie seine eigenen, aber die Zunge, die über seine Lippen strich, war warm und mit einiger Verspätung öffnete Yuugi seine Lippen. Er hatte sich gewünscht, Atemu einmal küssen zu können, einmal nur, aber dies hier war anders, als er sich das gedacht hatte und es kam so plötzlich, dass er gar nicht richtig reagierte. Er erinnerte sich nicht, seine Augen geschlossen zu haben, aber sie waren zu und er hörte die Stimmen der Mädchen und ihre Schritte im Schnee. Die Inderin sprach grade:„-kannst du doch nicht einfach so behaupten, Nadine! Außerdem – oh!“ Die Schritte hörten auf, als die beiden sie sahen. Das Mädchen, das offenbar Nadine hieß, lachte. „Ich hab dir gesagt, dass sie schwul sind, Shaila, du schuldest mir einen Schokokuchen!“ Die beiden drehten und gingen rasch woandershin. Weder Atemu noch Yuugi hatten ein Wort der auf Deutsch geführten Unterhaltung verstanden, sie hörten nur, wie sie wieder verschwanden.

Atemu löste sich wieder von Yuugi, der jetzt, da der Augenblick vorbei war, am liebsten aufgeschrien hätte, wurde ihm doch jetzt erst bewusst, dass diese wohl einmalige Gelegenheit verstrichen war, ohne, dass er sie genossen – ja, überhaupt bewusst miterlebt – hatte. Er hatte so sehr auf die Mädchen geachtet, so sehr gefürchtet, entdeckt zu werden, dass er den einzigen Kuss, den er jemals von Atemu bekommen würde, mehr oder weniger verpasst hatte. Er sah Atemu an, der ein wenig unsicher schien, Yuugi seinerseits musterte. „Der Kuss…“, sagte er, aber Yuugi unterbrach ihn rasch:„War eine berufliche Notwendigkeit. Rein professionell.“ Insgeheim hoffte er, dass Atemu ihm widersprechen würde, aber der sagte nur:„Natürlich!“ „Natürlich.“, wiederholte Yuugi und beide lachten kurz auf. In die Augen sahen sie sich dabei aber nicht, sondern starrten auf den Schnee, als sie sich auf den Heimweg machten.

Der Tod

Der Tod: Die Karte meint nicht das irdische Ableben, sondern den Übergang von einem Zustand in einen anderen. Doch bevor das Neue beginnt, müssen wir von Altem Abschied nehmen und loslassen.
 

Januar 2008, Dahlem, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

„Atemu?“, fragte Yuugi. Sie waren noch keine zwei Meter gegangen. „Der Kuss…“, er sah Atemu an, seine Stimme zitterte. Und diesmal war es Atemu, der den Satz zu Ende brachte:„War nicht professionell.“ „Nein?“, fragte Yuugi, ohne, dass sein Gehirn richtig begriff, was vor sich ging. „Nein.“, sagte Atemu und eine Sekunde sahen die beiden sich in die Augen. Ihr Atem bildete wegen der Kälte kleine Rauchwolken.

Im nächsten Augenblick fielen sie regelrecht übereinander her, wollten sich küssen, verfehlten dabei aber ihre Münder, Yuugi trat Atemu auf den Fuß, aber das alles war nicht wichtig als er ihn endlich, endlich küsste und dieses Mal brannte sich jede Sekunde in Yuugis Gedächtnis ein. Eine Weile standen sie im Schnee, keiner sagte ein Wort, keiner traute sich so recht, denn ausnahmsweise waren sie auf einem Gebiet angelangt, auf dem keiner sich auskannte. Yuugi hatte ohnehin noch nie eine Beziehung gehabt und Atemu nur One-Night-Stands. „Was…was wird jetzt?“, fragte Yuugi leise. Atemu trat langsam einen Schritt zurück um etwas Raum zwischen ihnen beiden zu schaffen. Ein wenig befangen standen sie dann voreinander. „Ich liebe dich…“, wisperte Yuugi, seine Stimme ein Wispern im Wind. Atemu sagte nichts, er zog Yuugi nur in seine Arme, so fest, dass Yuugi kaum noch Luft bekam und Angst hatte, Atemu könnte ihm eine Rippe brechen, aber er beschwerte sich nicht. Er wusste, dass er nicht erwarten konnte, dass Atemu so etwas sagte, dass dies seine Art war, sich auszudrücken und es genügte ihm in diesem Augenblick vollkommen. Er versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen sondern legte den Kopf an Atemus‘ Brust, obwohl die Jacke eisig kalt war. „Wir… wir versuchen es einfach, oder?“, sagte Atemu dann, fast ebenso leise und ließ Yuugi los. Der nickte, fühlte sich wie betäubt, überrollt von den Ereignissen, die so plötzlich über ihn hereingebrochen waren und ließ sich beinahe willenlos von Atemu zurück in ihr Zimmer führen. Die ganze Zeit über schlug sein Herz Purzelbäume und tat einiges mehr, was anatomisch gesehen nicht möglich sein sollte, aber Yuugis‘ Verstand kam nur langsam hinterher, noch war nicht ganz zu ihm durchgedrungen, was diese neuen Veränderungen bedeuten würden. Ihre wenigen Sachen waren schnell gepackt, sie verabschiedeten sich von ihrer Gastgeberin, froh, die beiden Mädchen nicht mehr zu sehen, und stiegen ins Auto.

Es war bereits dunkel und eigentlich war Yuugi müde, aber er wollte nicht schlafen, er wollte jene kostbaren Augenblicke in dem Wald vor seinem geistigen Auge wieder und wieder erleben. Aufmerksam sah er zu, wie sie den Ort verließen, den Yuugi mit Sicherheit nicht mehr vergessen würde. Atemu fuhr langsam, der Tiere wegen, die des Nachts hier auf der Straße unterwegs waren. Sie waren in der Tat nur eine halbe Stunde gefahren und waren bereits zwei Rehen und einem Fuchs ausgewichen, Atemu befand, dass sie in der vergangenen Woche genügend Tiere getötet hatten und Yuugi war ihm dankbar dafür. Er saß mal wieder auf dem Beifahrersitz und beobachtete Atemu beim Fahren, er wollte so gerne etwas sagen, irgendein Gespräch mit ihm anfangen, aber er wusste nicht, was er sagen sollte, jetzt, wo sein Traum plötzlich wahr geworden war, fühlte sich sein Kopf wie leer gefegt an. „Wohin fahren wir?“, fragte er nach einer Weile, da hatten sie Deutschland schon verlassen. „London.“, antwortete Atemu, räusperte sich und fragte dann:„Wir brauchen noch eine Wohnung – ein oder zwei Schlafzimmer?“ Yuugi schwirrte der Kopf bei der Vorstellung. „Eins.“, flüsterte er und sah Atemu an, als sei der der Weihnachtsmann. Atemu lächelte. „In Ordnung, ich kläre dass dann nachher.“ „Warst du schon mal in London?“, fragte Yuugi neugierig, er war immer noch müde, wollte dem Schlaf aber keineswegs nachgeben. Atemu verzog den Mund:„Einmal, aber nur kurz, im letzten Jahr.“ „Wie ist es da?“, löcherte Yuugi Atemu weiter, doch die Antwort befriedigte ihn nicht sonderlich:„Ich weiß es nicht. Ich war im Juni dort… ein Auftrag – der letzte Auftrag vor dir, im Übrigen.“ Yuugi dachte ein paar Minuten nach, ehe sich sein Gesicht aufhellte:„Der Banker! Es kam sogar in Japan in den Nachrichten! Das warst du?!“ Atemu neigte zustimmend den Kopf. „Wow.“, machte Yuugi. Belustigt registrierte Atemu, dass Yuugi eher bewundernd und nicht erschrocken klang. Das Gespräch verebbte, Atemu musste sich auf die Fahrbahn konzentrieren und Yuugi schlief bald ein.

Als er wieder erwachte, ging die Sonne auf und sie befanden sich auf einer Fähre, Richtung Portsmouth. Atemu schlief. Da Yuugi ihn nicht wecken wollte, sah er sich um, viel, freilich, gab es nicht zu sehen, er fand ein Ticket für die Überfahrt mit der Fähre über den Ärmelkanal – von Cherbourg-Octeville nach Portsmouth. Auf der Rückseite stand etwas, krakelig von Atemu hingeworfen. „Buckingham Road, South Woodford“ stand darauf, aber das sagte Yuugi nichts. Er sah zu Atemu und konnte nichts anders als zu strahlen. Es war so unglaublich…
 

Februar 2008, London Borough of Redbridge, Großbritannien

Sich in London einzuleben, war herrlich leicht gewesen. Das lag nicht nur daran, dass sowohl das Wetter als auch das Essen in England besser waren, als sein Ruf, oder daran, dass sie beide sehr gut Englisch sprachen und daher – sobald sie sich einmal an den niedlichen britischen Akzent gewöhnt hatten – keine Probleme mit der Kommunikation hatten. Nein, es lag hauptsächlich an den Engländern selbst. Diese nämlich waren so unglaublich freundlich und entgegenkommend, dass man gar nicht anders konnte, als sich binnen weniger Tage heimisch zu fühlen. Die Adresse, welche Yuugi vor über einem Monat auf der Fähre gefunden hatte, hatte sich als ihre neue Adresse entpuppt. Die Buckingham Road lag in South Woodford, Teil des übergeordneten Bezirks London Borough of Redbridge, was wiederum ein im Nordosten von London liegender Stadtteil der besagten Stadt war, nur eine Viertelstunde von der nächsten U-Bahn Station entfernt. Ihre Nachbarn hatten anfangs ein wenig neugierig geschaut, aber nach einer Weile ging es, besonders die junge Frau, welche links neben ihnen wohnte hatte sich bald als eine gute Freundin erwiesen. Sie war ursprünglich aus Deutschland, klein und blond – und die wohl beste Köchin der Welt. Ihr Name war Jessica und die verbrachten nicht selten ihre Abende bei ihr.

Dennoch wusste sie selbstverständlich nichts von dem, was die beiden taten, oder wie sie wirklich hießen. Mit Atemus‘ falschen Pässen war es ein Kinderspiel gewesen, englische Staatsbürgerschaft vorzutäuschen und sich somit in aller Ruhe hier niederzulassen. Eigentlich hätten sie also glücklich sein können. Aber Yuugi war es trotzdem nicht. Er hätte sich denken können, dass es nicht leicht sein würde, mit Atemu zusammen zu sein. Ein Auftragsmörder, das brachte zwangsweise Schwierigkeiten mit sich. Aber das machte ihnen erstaunlich wenig Schwierigkeiten, nicht zuletzt, weil Yuugi Atemu auf allen Aufträgen begleitete und mittlerweile den ersten Auftrag selbst ausgeführt hatte – unter Atemus‘ Aufsicht, selbstverständlich. Beruflich hatten sie wirklich keinerlei Schwierigkeiten – oder besser, nur die üblichen. Nein, das eigentliche Problem war, so harsch das auch klang, Atemu selbst. Atemu hatte nie eine Beziehung gehabt, die über bedeutungslosen Sex hinausging. Zwar hatte auch Yuugi niemals eine Beziehung gehabt, aber er hatte davon geträumt, er hatte Ideale – Atemu nicht. Yuugi wusste, dass Atemu in Paris noch One-Night-Stands gehabt hatte und auch, wenn es ihm damals weh getan hatte, so hatte er doch gewusst, dass er sich darüber schwerlich beklagen konnte. Zwar hatte Atemu keine mehr, seit sie nun ein Paar waren, aber das bedeutete nicht, dass er aufgehört hätte, schönen Frauen hinterher zuschauen. Lange hinterher zuschauen und bei jeder Gelegenheit ein wenig zu flirten. Yuugi verbiss es sich, etwas dazu zu sagen, er wollte Atemu nicht mit lästiger Eifersucht vergraulen. Dennoch störte es ihn mit jedem Tag mehr. Einmal hatte er Atemu darauf angesprochen, der jedoch hatte gesagt:„Ich bin liiert, aber nicht blind.“ Er wusste, dass Atemu nicht homosexuell war, nicht einmal bisexuell. Er mochte Frauen – und Yuugi war die eine, große Ausnahme. Er wusste das und er fühlte sich auch gebührend geehrt – aber als Atemu in ihrer ersten Nacht in ihrem neuen Heim das Haus auf eine recht eigenwillige Art mit ihm hatte „einweihen“ wollen, da hatte Yuugi sich ihm verweigert und Atemu hatte seither auch nicht mehr versucht, mit Yuugi zu schlafen, gleichwohl er nicht wusste, worauf Yuugi da warten wollte. Er akzeptierte es. Yuugi seinerseits dachte gar nicht daran, mit Atemu zu schlafen solange dieser ständig mit irgendwelchen Frauen anbandelte. So war die Stimmung beständig gereizt, auch jetzt, während Atemu und Yuugi sich auf einen weiteren Auftrag vorbereiteten – den vierten innerhalb eines Monats, weswegen es fürs erste auch der letzte sein würde. In gewisser Weise freute Yuugi sich darauf, da es bedeuten würde, endlich mehr von London zu sehen, als nur rasch über die Tower Bridge zu laufen und dabei am anderen Ufer kurz den berüchtigten Tower of London zu sehen. Andererseits war er auch besorgt, denn in letzter Zeit war alles, was sie noch zusammenhielt, die Aufträge.

Alle diese Gedanken lasteten schwer auf Yuugis‘ Haupt, während sie mit der „District-Line“ Richtung Wimbledon fuhren. Die Fahrt dauerte anderthalb Stunden, gut die Hälfte davon hatten sie hinter sich und noch immer hatten sie nicht ein Wort gewechselt. Daran sollte sich auch nichts mehr ändern, Atemu schnappte sich eine der Zeitungen, welche in der Tube immer auslagen und verschanzte sich hinter selbiger, während Yuugi entnervt die schäbige Gegend draußen betrachtete. Als die Umgebung begann, nobler zu werden, legte Atemu die Zeitung weg und sie stiegen in Southfields im Stadtteil Wimbledon aus. Es war später Nachmittag und dementsprechend bereits vollkommen dunkel, erst recht hier, in dieser privaten Wohngegend. Rechts von ihnen lag das Gelände des „All England Lawn Tennis and Croquet Club“, Austragungsort des berühmtesten Tennisturniers der Welt. „Glaubst du, wir schaffen es, dort Mitglieder zu werden?“, fragte Yuugi um endlich ein Gespräch in Gang zu bringen. „Wenn du gut Tennis spielst…“, sagte Atemu und sah zu den hohen, grünen Gebäuden hinüber. „Tz.“, machte Yuugi, „Du weißt, dass ich das so nicht meinte!“ Atemu neigte den Kopf:„Natürlich. Aber da bringe selbst ich dich nicht illegal hinein, das musst du schon selbst schaffen – und es wird nur dann zu schaffen sein, wenn du exzellent Tennis spielst.“ Yuugi seufzte:„Schade… dazu bin ich wohl nicht gut genug.“ „London hat noch andere Tennisclubs.“, gluckste Atemu und Yuugi strahlte, weil sie wieder ein so normales Gespräch führen konnten.

Dann aber waren sie vor einem jener typischen Londoner Reihenhäuser angelangt, welches ihr Ziel gewesen war. Eine junge Mutter und ihr kleiner Sohn lebten dort. Prinzipiell hatten sie sich nichts zu Schulden kommen lassen – es handelte sich um eine Sippenvendetta, mit anderen Worten die Frau und ihr Sohn würden sterben müssen, weil ihr Bruder beziehungsweise Onkel sich mit den Yakuza überworfen hatte. Es würde eine Warnung für ihn. Dieser war der erste Auftrag, bei dem Yuugi sich schwer getan hatte, ihn zu akzeptieren, so schwer, dass Atemu ihm angeboten hatte, zu Hause zu bleiben, aber das hatte Yuugi dann auch wieder abgelehnt. Das lag weniger daran, dass der Auftrag Yuugi wichtig gewesen wäre, sondern viel mehr, dass er fürchtete, sich noch mehr von Atemu zu distanzieren, wenn er nicht mitkäme. Dass er aber den erst fünfjährigen Jungen nicht anrühren würde, hatte er von vornerein klar gemacht und Atemu war einverstanden gewesen. Es war das erste Mal, dass Atemus‘ Kaltblütigkeit ihn hatte erschrecken können. Dass er einfach so ein kleines Kind töten konnte… Atemu hatte versucht, ihm das zu erklären, gesagt, dass durch eine Mitgliedschaft bei den Yakuza, jene zum wichtigsten Lebensinhalt wurden und es durchaus ehrenhaft sein konnte, einen Fünfjährigen zu töten – zumindest ehrenhafter, als die Yakuza zu verraten, weswegen es gerechtfertigt war, bei einem Verräter solche Maßnahmen zu ergreifen. Zwar war Atemu kein Mitglied mehr, aber die Denkweisen, mit denen er aufgewachsen war, ließen sich nicht einfach abschalten.

Sie befanden sich jetzt im Inneren des Hauses, Yuugi stand im Flur und versuchte, die Photos zu ignorieren, welche Mutter und Sohn zeigten. Atemu war im Schlafzimmer des Jungen. Die Sehnsucht, mit der Yuugi plötzlich seine Freunde herbeisehnte, kam so plötzlich und unerwartet, dass es ihn beinahe von den Füßen riss. Schmerzhaft spürte er die Leere in sich und Schuldgefühle kamen in ihm auf, als er sich fragte, was sie von ihm halten würden, wenn sie wüssten, was er nun tat. Atemu trat aus dem Schlafzimmer, da war kein Blut an seinen Händen, aber Yuugi konnte ihm trotzdem nicht in die Augen sehen. Er fragte sich, wie er diesen Menschen hatte küssen können. „Willst du gehen?“, wisperte Atemu und seine Stimme erinnerte Yuugi ziemlich genau daran, weswegen er ihn hatte küssen können. Yuugi schüttelte langsam den Kopf – nicht, weil er Angst hatte, Atemu zu verlieren, sondern, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, Atemus‘ Handlungen nachzuvollziehen – wenn er ihn schon nicht verstehen konnte, was das betraf. Während er also seine widerstrebenden Gefühle versuchte niederzukämpfen, folgte er Atemu ins Schlafzimmer der Frau. Sie lag auf dem Bauch, den Kopf in einem Kissenmeer vergraben. Durch die dicke Daunendecke sah man nur ihr dunkles Haar, welches sich über die Kissen ergoss. Yuugi und Atemu sahen sich in die Augen, Yuugi senkte den Blick allerdings schnell wieder um seinem Gegenüber auf diese Art und Weise verständlich zu machen, dass er wollte, dass Atemu es tat. Der nickte, zog sein Messer und schlug die Decke zurück. Die Frau war nackt. Sie war noch recht jung, vielleicht dreiundzwanzig, und hatte die Figur eines Modells. Das Messer lose in der Hand haltend machte Atemu keinerlei Anstalten, sie zu töten, stattdessen glitt sein Blick langsam über den zierlichen Körper. „Atemu!“, rief Yuugi empört. Der blickte auf, sah Yuugi mit einem schiefen Lächeln im Mundwinkel an und mahnte nur leise:„Nicht so laut.“ Doch darauf achtete Yuugi nicht mehr:„Wenn ich leise sein soll, dann gib mir keinen Grund! Bring die Frau um, anstatt sie anzustarren, das ist doch keine verdammte Piepshow!“ „Warum sollte ich nicht schauen?“, fragte Atemu zurück und in seiner Rage bemerkte Yuugi den lauernden Unterton nicht sondern schrie zurück:„Ich dachte, wir wären ein Paar! Sagt dir der Begriff Treue denn gar nichts?!“ „Doch.“, erwiderte Atemu trocken, „Ich habe sie ja auch nicht angerührt.“ Yuugi wollte grade zu einer hitzigen Erwiderung ansetzen, als eine neue Stimme ihren Streit unterbrach:„What’s going on? Who are you people and what are you doing in my bedroom?“ Atemu und Yuugi drehten sich synchron um – ihr Opfer war bei ihrem lauten Streit erwacht, hatte sich aufgesetzt und hielt sich die Decke vor, um ihre Blöße zu bedecken. Gehetzt sah sie von Atemu zu Yuugi und wieder zurück. „Na toll.“, grummelte Atemu, verdrehte genervt die Augen und zog seine neue Walther P99. Er hatte den Schalldämpfer schon vorher aufgeschraubt gehabt, sodass er die Frau erschoss, ohne richtig hinzusehen. Sie hatte nicht einmal mehr die Zeit gehabt, zu erschrecken, da traf sie Atemus‘ Kopfschuss. Ihr Kopf sank auf ihre Brust und die Hände, die die Bettdecke umklammert hatten, erschlafften. Die Decke rutschte ein Stück herunter und entblößte ihre Brüste. Yuugi behielt Atemu scharf im Auge, aber der wusste, dass er jetzt besser nicht hinsah, sodass er Yuugi nur einen auffordernden Blick schenkte. „Gehen wir dann?“, fragte er. Seufzend willigte Yuugi ein, aber er weigerte sich, ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln, sondern warf ihm nur böse Blicke zu. Atemu, der seinerseits nicht verstand, was Yuugis‘ Problem war, schwieg gleichfalls. Die einzige Stimme, die zu hören war, als sie die mit Werbeplakaten gesäumte Rolltreppe zur U-Bahn hinunterfuhren, kam somit aus dem Lautsprecher:„There is no service on the Hammersmith and City line. All other lines are offering a good service.“

Das Schweigen hielt auf dem Bahnsteig jedoch nicht lange an. „Wie geht es dir?“, fragte Atemu leise. Yuugi warf ihm einen übelgelaunten Blick zu. „Das kannst du dir denken, oder?“, fragte er zurück. Atemu blickte geradeaus über den Bahnsteig ohne Yuugi anzusehen. „Vermutlich.“, stimmte er zu. Seufzen. Keiner von beiden wusste so recht, was er sagen sollte, Yuugi wusste, dass es in diesem Augenblick enden könnte, er könnte einfach Schluss machen und zu seinen Freunden zurückkehren. Es wäre leicht. Und doch schnürte ihm der Gedanke die Luft ab. Der Zug fuhr ein und die Stimme aus dem Lautsprecher warnte:„Mind the gap!“ Yuugi erschien diese Warnung seltsam auf sich bezogen. Und doch wusste er nicht, was er tun sollte. Atemus‘ Verhalten verletzte ihn zutiefst und auch, wenn seine Gefühle für ihn keineswegs erkaltet waren, so wusste er dennoch nicht, ob er mit einem Menschen, der ihn so sehr verletzte, zusammen sein könnte. Unentschlossen darüber, was er tun sollte, stieg er nach Atemu in die U-Bahn.

Die nächsten Tage – ja, Wochen, änderten nichts daran. Es wurde März, bald würde Atemus‘ einundzwanzigster Geburtstag sein, doch Yuugi wusste weder, was er ihm schenken könnte, noch, ob er ihm überhaupt etwas schenken sollte. Als eine Beziehung konnte man ihr Zusammenleben kaum mehr bezeichnen, eine Zweckgemeinschaft kam dem schon näher. Nicht selten fragte Yuugi sich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie nie ein Paar geworden wären, denn zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich noch besser verstanden. Im Grunde genommen hätten sie ihren Streit wohl mit einem Gespräch beilegen können, so schlimm war es eigentlich ja nicht, aber das lange, eisige Schweigen hatte die Situation zugespitzt und aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Selbst Jessica fiel es auf, als sie zum Abendessen mal wieder bei ihr zu Gast waren. Eine Weile blickte sie nur fragend von einem zum anderen, dann lehnte sie sich zurück, verschränkte Arme und Beine und fragte:„In Ordnung, was ist los mit euch beiden?“ Die angesprochenen wechselten einen unbehaglichen Blick, räusperten sich und fühlten sich nicht wirklich verantwortlich, die Frage zu beantworten sondern warteten darauf, dass der jeweilige andere das tat. Aber Jessica mochte die beiden zu sehr um mit anzusehen, wie sich durch ihre Dickköpfigkeit ihre Beziehung aufs Spiel setzten. Unter ihrem bohrenden Blick gaben sie schließlich nach und Yuugi hob den Blick um Atemu trotzig in die Augen zu sehen:„Ich würde mich sehr viel besser fühlen, wenn du nicht ständig anderen Frauen hinterher schaust.“ Atemu seufzte. „Aber ich schaue doch nur, ich tue ja gar nichts!“, hielt er dagegen. „Wartet einen Moment!“, unterbrach Jessica sie, „Das ist der Grund, weshalb ihr euch so benehmt? Wegen ein oder zwei Blicken?“ „Diese Blicke lassen mich mein Vertrauen verlieren!“, begehrte Yuugi auf. „Himmel, Yuugi, wird erwachsen!“, rief Atemu entnervt aus. „Dazu hab ich keine Lust…“, grummelte Yuugi. Jessica hieb mit der Hand so fest auf den Tisch, dass die beiden Streithähne zusammenfuhren und sie ansahen. „Schon besser.“, sagte sie befriedigt. „Also, ihr zwei hört mir jetzt zu. Atemu, du versuchst, Rücksicht auf Yuugis‘ Gefühle zu nehmen und nimmst dich zusammen, wenn Frauen an dir vorbeilaufen. Und du, Yuugi, denkst daran, dass Atemu nie eine Beziehung hatte und deswegen nicht an diese Situation gewöhnt ist – und bedenkst, dass er dir ja immer treu gewesen ist. Und jetzt…“, sie machte eine bedeutungsschwere Pause, „jetzt zieht ihr ein wenig zu zweit um die Häuser und denkt über das nach, was ich gesagt habe.“

Wie zwei begossene Pudel standen die beiden auf und kamen ihrer Aufforderung nach. Am Ende landeten sie in einem Kaiten-Zushi, also einer Sushi-Bar, in welcher das Essen auf dem Fließband serviert wird, vielleicht aus der Sentimentalität heraus, ihre Heimat zu vermissen. Eine Weile saßen sie nur da, nahmen sich ab und zu etwas von dem Band und schwiegen, allerdings war es kein unangenehmes Schweigen, beide dachten über Jessicas Worte und die Konsequenzen, die sie für sich daraus zogen, nach. „Also gut, es tut mir leid.“, sagte Atemu nach einer Weile. Yuugi lächelte. „Mir auch, denke ich… also, weniger Blicke?“ Atemu verzog das Gesicht:„Ich versuch’s.“ Yuugi öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Atemu sprach rasch weiter:„Die meisten Blicke für dich.“ Yuugi grinste: Damit konnte er leben. Er nickte. Und Atemu beugte sich vor um ihn zu küssen, mitten in der Bar.
 

Ein paar Tage später hatte sich ihr Verhältnis tatsächlich normalisiert, wofür Atemu und Yuugi sich bei Jessica mit einem Essen bedankt hatten. Yuugis‘ größtes Problem wurde somit Atemus‘ Geburtstag in einer Woche. Verglichen mit all‘ dem, was sie bisher durchgemacht hatten, erschien ihm dieses Problem aber gering und zweitrangig. Immerhin hatte Yuugi nun eigenes Geld, er und Atemu teilten sich die Bezahlung für die Aufträge, welche sie auf gemeinsame Konten in der Schweiz und im Vatikan einzahlten.

Es ging ihnen wirklich gut. Vor allem jetzt, wo sie erst einmal nicht arbeiteten, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – gleichwohl sie in einer Metropole wie London relativ gut geschützt waren, nicht zuletzt, weil sie immer darauf achteten, nicht die gleiche Vorgehensweise anzuwenden. Hin und wieder gelang es ihnen sogar, den Mord als Selbstmord zu tarnen und einmal war ein Fremder für ihre Tat ins Gefängnis gewandert. Das hatte Yuugi ein schlechtes Gewissen beschert, gleichwohl er mittlerweile drei Menschen getötet hatte. Manchmal hatte er Albträume deswegen, wälzte sich unruhig im Bett hin und her und wachte schreiend auf. Wenn Atemu davon erwachte, dann nahm er ihn sofort in den Arm, wisperte liebe Worte in sein Ohr und hielt ihn solange fest, bis er sich beruhigt hatte. Tagsüber verschwanden die Schatten, grade jetzt, wo er beinahe täglich mit Atemu nach London hineinfuhr, um sich die Stadt anzusehen. Bei einer riesigen Stadt wie London, welche ein derart gewaltiges, kulturelles Erbe besaß, ein Unterfangen, dass Wochen in Anspruch nahm. Vom Millennium Eye aus genossen sie die Skyline Londons‘, bei einer Themserundfahrt sahen sie sich alles aus der Nähe an. Es dauerte nicht lange, bis Yuugi sehr froh war, ausgerechnet in London zu leben.

Heute hatten sie sich den Tower of London vorgenommen – oder, wie er richtig hieß, Her Majesty’s Royal Palace and Fortress. – was von Yuugi als beeindruckend und beängstigend zugleich empfunden wurde. Beeindruckend aufgrund der Größe, denn obwohl es der Tower hieß, gab es nicht einen, sondern so viele, dass Yuugi bald nicht mehr wusste, welcher Turm wo stand und welche Funktion er einst innegehabt hatte. Natürlich blieben ihm die Kronjuwelen und das königliche Salzfass in positiver Erinnerung, er fragte Atemu, ob sie die wohl würden stehlen können. Der wiegte bedächtig den Kopf hin und her, konnte sich aber nicht so recht entscheiden, nur, dass es schwierig würde, da war er sich sicher. Bei den dicken Tresortüren wunderte Yuugi das keineswegs. Als sie allerdings den Bloody Tower und den White Tower besichtigt hatten, wollte Yuugi nur noch raus. Das Schicksal der beiden Prinzen, welche im Bloody Tower – der ihretwegen umbenannt worden war, vorher hatte er Garden Tower geheißen – gefangen gehalten worden waren, ehe man sie im zarten Alter von zehn und zwölf Jahren im White Tower getötet hatte, erschütterte ihn. Dass sie auf dem Weg nach draußen auch noch am ehemaligen Hinrichtungsplatz vorbeikamen, besserte Yuugis‘ Laune keineswegs.

Draußen vor der Tower Bridge jedoch waren die Sorgen schnell vergessen, nicht zuletzt, weil Atemu ihn in die Arme schloss und aufs Haar küsste – Dinge, die er in der Öffentlichkeit eigentlich nie tat. Und es war wohl dieser Augenblick, der Yuugi bewusst machte, dass er nie wieder in sein altes Leben zurück wollte, dass er hier bleiben wollte, bei Atemu. Seine Eltern hatten ihm nie Geborgenheit vermitteln können, Atemu dagegen konnte das. Vielleicht grade weil sie einen Konflikt hinter sich gebracht hatten und somit wussten, dass sie mit so etwas umgehen konnten, fühlte Yuugi sich gestärkt. Ihre Situation mochte außergewöhnlich sein, aber Yuugi wusste, dass er es nicht anders wollte. Eng an Atemu gedrückt, verabschiedete Yuugi sich von seinem alten Leben und ließ sich von Atemu hinter dem Tower Fish and Chips kaufen.

Er grinste, als ihm plötzlich das ideale Geburtstagsgeschenk für Atemu einfiel.

Der Ausgleich

Der Ausgleich: Gemeint sind innere Harmonie, Gelassenheit und Seelenfrieden. Wir bleiben mit uns und unserem Umfeld im Einklang und meistern dadurch schwierige Situationen des Alltags.
 

Mai 2008, London Borough of Redbridge, Großbritannien

Mit angezogenen Beinen saß Yuugi auf dem großen Bett und sah Atemu beim Umziehen zu. Seit Februar hatten sie keine Aufträge mehr ausgeführt und der kommende würde von Atemu alleine durchgeführt werden, denn er war sehr kurzfristig gekommen und zu schwierig für einen Anfänger wie Yuugi, so Atemu. Im Grunde genommen hätte Yuugi mit Atemu gehen können, aber das lehnte Atemu ab. Zuerst hatte Yuugi etwas einwenden wollen, doch dann hatte er den Ausdruck in Atemus‘ Augen gesehen, der ihm klar gemacht hatte, dass Atemu ihn nicht mitnahm, weil er Angst hatte, Yuugi könne etwas geschehen. Also hatte er nicht widersprochen. Aber während er nun zusah, wie Atemu seinen besten Anzug, Perücke und Kontaktlinsen anlegte und danach seine Waffen am Körper verstaute – mehr Waffen, als normalerweise – wurde ihm doch mulmig zumute. Es verdeutlichte Yuugi, dass selbst Atemu nicht sicher war, ob er wieder kommen würde. Und das ängstigte Yuugi mehr als alles andere. Als Atemu fertig war und sich verabschieden wollte, sprang Yuugi vom Bett auf, warf seine Arme um den Hals des anderen und presste sich fest an ihn. „Du kommst wieder, oder?“, wisperte er ängstlich. Atemu lächelte Yuugi beruhigend zu, schloss ihn in seine Arme und streichelte ihm beruhigend über Haar und Rücken. „Natürlich, mein Kleiner.“, sagte er. Normalerweise hätte Yuugi jetzt protestiert, normalerweise mochte er es nicht, wenn Atemu ihn „Kleiner“ nannte, aber heute sagte er nichts dazu. Heute verschränkte er seine Hände in Atemus‘ Nacken und zog ihn so zu sich herunter um ihn innig zu küssen. Die Angst, Atemu nicht mehr wiederzusehen, ließ ihren Kuss leidenschaftlicher werden, als jeden anderen. „Pass auf dich auf.“, murmelte Yuugi, den Kopf gegen Atemus‘ Brust gelehnt. „Immer.“, versprach Atemu, „Du weißt, dass ich gut bin, also mach dir keine Gedanken, ja?“ Yuugi seufzte. Das war leichter gesagt als getan! „Ich versuch‘s…“, murmelte er ohne recht daran zu glauben, dass ihm das gelingen würde. Atemu zerzauste Yuugi in einer zärtlichen Geste das Haar. „Versuch, dich abzulenken… ich glaube, unser Kühlschrank ist leer und wenn ich nach Hause komme, werde ich Hunger haben.“, sagte er und grinste. Yuugi lächelte zurück, er wusste den Versuch Atemus‘ ihn aufzuheitern durchaus zu schätzen. Nach einem erneuten Kuss also verließ Atemu das Haus und Yuugi brauchte eine Stunde, die er zusammengekauert auf dem Bett verbrachte, ehe er seine flatternden Nerven beruhigt hatte. Dann ging er langsam zum Kühlschrank und fertigte eine Liste der benötigten Lebensmittel an. Atemu hatte Recht, er musste sich ablenken, wenn er nicht den Verstand verlieren wollte. Als er das Haus verließ, schlug sein Herz dennoch viel zu schnell.
 

Atemu dagegen war mittlerweile reichlich genervt. Da er nur wenige Stunden gehabt hatte, um sich vorzubereiten und sein Opfer spätestens um ein Uhr würde tot sein müssen, blieb ihm nur noch eine Stunde – was bedeutete, dass er bereits seit zwei Stunden darauf wartete, dass der Mann endlich einmal alleine sein würde. Er war Richter, doch der Prozess, den er heute beginnen sollte, kam zu früh, als dass die Yamaguchi-gumi ausreichend darauf vorbereitet wären. Demnach musste der Prozess vertagt werden – und außerdem mochte Tsukasa-sama den Richter nicht, er war zu voreingenommen. Jedoch befand sich besagter Richter nun seit zwei Stunden in einer Besprechung, war also demnach nicht alleine, was bedeutete, dass Atemu schlecht an ihn herangekommen wäre – es war immerhin schon Herausforderung genug, ihn im Gerichtsgebäude zu ermorden, wo es von Beamten und Polizisten nur so wimmelte. Atemu hatte sich als Zeuge in dem Fall ausgegeben, was leicht gewesen war, denn alle nötigen Informationen hatten die Yamaguchi-gumi ihm übermittelt. Es war ja aber auch nicht das Problem, zu dem Richter zu gelangen – sondern unbemerkt wieder zu verschwinden. Atemu lungerte in diese Zeit also im Vorzimmer herum und musste sich mächtig am Riemen reißen, um nicht mit der hübschen Sekretärin zu flirten, deren viel zu kurzer Rocke nahezu danach zu schreien schien, dass er sie hinter die Regale mit den Ordnern zog. Aber das wollte er Yuugi nicht antun, auch, wenn selbiger das niemals herausfinden würde – aber er würde es dennoch nicht tun. Und das nicht nur, weil endlich die Tür aufging und drei Männer heraustraten.

Atemu erhob sich augenblicklich und schlüpfte durch die Türe, ehe die Sekretärin auf ihren Stilettos hinter ihm war und ihn daran hindern konnte. Sorgfältig verschloss Atemu die Tür hinter sich und wandte sich dann zu dem Richter um. Er war ein älterer Herr, vielleicht sechzig Jahre alt mit grauem Haupt- und Barthaar. Seine Augen waren tiefblau und freundlich, sahen ihn aber verwirrt an. „Guten Tag, Euer Ehren.“, grüßte Atemu übertrieben höflich. „Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?“, erwiderte der Richter, immer noch verwirrt. „Indem Sie den Prozess gleich nicht leiten werden.“, erklärte Atemu höflich lächelnd. Ärgerlich runzelte der Richter die Stirn:„Was wollen Sie?“ Seine Stimme verriet deutlich seinen Ärger. Aber Atemu lächelte weiterhin und antwortete mit ausgesuchter Höflichkeit in der Stimme:„Ich möchte, dass Sie sterben, Euer Ehren.“ Zu diesen Worten zog er seine Walther und richtete sie direkt auf den Richter. Der zuckte erschrocken zusammen, sein Blick huschte zum Telephon, doch Atemu gestikulierte ihm mit der Waffe, davon Abstand zu nehmen. Der Mann gehorchte ängstlich und beobachtete jede von Atemus‘ Bewegungen mit schreckensgeweiteten Augen. Grade, als Atemu ihn jedoch erschießen wollte, ging sein Handy. Er hatte es heute ausnahmsweise mitgenommen, wegen Yuugi. Und Yuugi war es auch, der ihn anrief, weswegen Atemu das Handy in aller Seelenruhe aus der Innentasche seines Jackets nahm, den Richter mit einem entschuldigenden Lächeln „Eine Sekunde, Euer Ehren.“ vertröstete und an sein Handy ging.

„Ja?“ Er sprach Englisch, sodass der Richter seine Worte verstand. „Hi Atemu, ich hoffe ich störe nicht, aber weißt du, ich stehe grade im Supermarkt und frage mich, was ich zum Abendessen kaufen soll – worauf hast du Lust?“ Atemu lachte leise. „Du rufst mich wegen des Abendessens an, Schatz?“ Normalerweise sprach er Yuugi nie mit „Schatz“ an und er tat es auch jetzt nur, um seinen Namen nicht dem Richter preiszugeben. Yuugi wusste das, aber es hinderte sein Herz nicht daran, ein paar Dinge zu tun, die anatomisch eigentlich nicht hätten möglich sein sollen. „Ja… störe ich?“, fragte Yuugi und endlich verstand Atemu, dass es nicht um das Abendessen ging, sondern darum, ob es ihm gut ging. Atemu antwortete wahrheitsgemäß:„Ich stehe grade vor dem ehrenwerten Richter, er ist gleich tot, dann komme ich nach Hause. Was hältst du von Bami Goreng zum Abendessen?“ Er hörte Yuugi am anderen Ende der Leitung lachen. „Dann komm schnell nach Hause, ich habe dann gekocht.“, versprach er. „Werde ich, bis gleich, Schatz.“, sagte Atemu und legte auf. Er blicke wieder auf und sah den Richter, der mit fassungsloser Miene zusah, an. „Ich muss um Verzeihung für mein Verhalten bitten, es war nicht höflich, Sie auf Ihren Tod warten zu lassen.“, sagte er und schoss ihm ins Herz. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der Mann tot war, verließ er das Büro wieder, lächelte der Sekretärin überaus charmant zu und sagte, der Richter habe sie gebeten, ihm ein belegtes Brötchen aus der Bäckerei gegenüber zu bringen. Sie schien ein wenig überrascht, aber Atemu erbot sich, sie gleich mit hinunter zugeleiten, damit sie ja nicht in das Arbeitszimmer des Richters ging und dessen Ableben zu früh bemerkte. Draußen verabschiedete er sich immer noch lächelnd von der Sekretärin und suchte dann schnell den U-Bahn Bahnhof auf, entledigte sich in der Bahnhofstoilette der Kontaktlinsen und der Perücke und fuhr dann nach Hause. Als er eine halbe Stunde später dort eintraf, roch es verführerisch nach gebratenen Nudeln und Sambal. Besser als das Essen war nur die Umarmung, mit der er von Yuugi begrüßt wurde, ohne Worte zeugte sie von so viel Erleichterung und Liebe, dass Atemu keine Worte zur Erwiderung fand und Yuugi stattdessen innig küsste.
 

Juni 2008, London Borough of Redbridge, Großbritannien

Yuugi war sprachlos. Ehrlich sprachlos. Es war sein neunzehnter Geburtstag und Atemu hatte einen großen Aufwand darum betrieben, gleichwohl er laut japanischem Gesetz erst in einem Jahre volljährig wurde und laut englischem Recht bereits seit einem Jahr volljährig war – und immerhin täuschten sie englische Staatsbürgerschaft vor. Zwar fühlte Yuugi sich nicht wirklich volljährig, aber er war zu gerührt von Atemu, als dass er das gesagt hätte. Atemu war lange vor Yuugi aufgestanden um alles vorzubereiten, sodass Yuugi beim Erwachen ein traditionelles japanisches Frühstück erwartete. Zu diesem ließ Atemu es sich auch nicht nehmen, Yuugi die Treppe hinunter und in die Küche zu tragen. Yuugi protestierte erst und zappelte mit den Beinen, aber im Grunde genommen war er gerührt und schlang seine Arme um Atemus‘ Hals und legte seinen Kopf an dessen Schulterbeuge. Er war schon beinahe enttäuscht, als Atemu ihn absetzte. Voller Begeisterung entzweite er die Essstäbchen und begann zu essen, während Atemu nur daneben saß und lächelte. Er hatte lange überlegt, was er Yuugi schenken und ihm Gutes tun könnte, er selbst hatte sich vor drei Monaten sehr über Yuugis‘ Geschenk gefreut. Das mochte zwar klein und wenig aufwendig gewesen sein, hatte aber genau Atemus‘ Geschmack getroffen und war vor allem von Herzen gekommen. Es hatte sich um zwei Cappuccino Tassen, zwei Espressotassen, zwei Latte Macchiato Gläser und außerdem das entsprechende Kaffeepulver gehandelt. Grade jetzt, während er Yuugi beim Essen zusah, hielt Atemu seine Cappuccino Tasse mit beiden Händen fest und leckte sich genüsslich den Schaum von den Lippen. Er hoffte, Yuugi mit seinem Geschenk eine ebenso große Freude machen zu können. Und innerlich schüttelte er den Kopf über sich selbst, weil es ja so untypisch für ihn war, sich irgendwie romantisch zu zeigen. Andererseits hatte er auch festgestellt, dass er, sobald er aufgehört hatte, anderen Frauen hinterher zu schauen, so viel von Yuugi bekommen hatte, dass er gar nicht anders konnte, als etwas zurückzugeben.

Als Yuugi also aufgegessen hatte, schob Atemu das Geschirr beiseite und begegnete Yuugis‘ neugierigem Blick mit einem Lächeln. Er beugte sich vor, nahm Yuugis‘ Gesicht in seine Hände und küsste ihn zärtlich. „Alles Gute zum Geburtstag.“, wisperte Atemu und reichte Yuugi sein Geschenk. Es war nicht verpackt und im Grunde genommen war es kein Geschenk – denn es gehörte Yuugi bereits. Aber das minderte Yuugis‘ Freude keineswegs, nein, er schrie entzückt auf und sah begeistert von Atemu zu dem Handy, welches Atemu ihm vor einem Jahr gestohlen hatte. „Einen Anruf.“, erklärte Atemu, „Ruf an, wen immer du willst – nur sag nicht, was du tust und wo wir sind.“ Yuugi nickte glücklich – seine Freunde anrufen zu können war das schönste Geburtstagsgeschenk, was man ihm hätte machen können. Atemu erhob sich um zu gehen, was von Yuugi mit einem fragenden Blick kommentiert wurde. „Ich würde doch nicht bei deinem Telephonat lauschen!“, sagte Atemu, der, auch, wenn er eigentlich keine Freunde hatte, schon immer der Ansicht gewesen war, dass Freundschaften wesentlich wichtiger seien als Beziehungen und deswegen befand, dass Yuugi in keinem Falle den Kontakt zu seinen Freunden verlieren durfte – sofern das möglich war, natürlich, was bei ihrem Beruf ja nicht ganz einfach war. Als Atemu also den Raum verlassen hatte, ging Yuugi sorgfältig sein Telephonbuch durch und überlegte, wen er anrufen solle. Nach einigem hin und her entschied er sich schließlich für Jono. Mit zittrigen Fingern wählte er, wusste nicht so ganz, was er sagen sollte, immerhin hielt sein Freund ihn seit beinahe einem Jahr für tot. Es dauerte lange, ehe Jono sich meldete, seine Stimme klang fragend, beinahe ängstlich. Yuugis‘ Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sagte:„Hi Jono… ich bin’s, Yuugi…“ Eine Weile herrschte Schweigen. So lange, dass Yuugi nachfragte:„Jono?“ Und endlich kam eine Reaktion:„Yuugi? Yuugi, bist du das wirklich? Ich… wir dachten alle…“ Seine Stimme klang immer noch nicht überzeugt. Yuugi konnte es ihm nicht verdenken, aber er antwortete mit möglichst fester Stimme:„Ich sei tot? Ja, ich weiß und es tut mir schrecklich leid, dass ich euch nichts sagen konnte! Es war so… jemand wollte mich töten, aber jemand anders hat mich gerettet und damit das nicht auffällt musste ich halt… na ja meinen Tod vortäuschen.“ Deutlich hörte er Jono am anderen Ende der Leitung tief durchatmen. „Oh man… also… bist du das wirklich, Yuugi?“ Es klang jetzt hoffnungsvoll. Yuugi lächelte. „Ja, ich bin’s wirklich.“, bestätigte er und sein Freund lachte in einer seltsamen Mischung aus Freude und Hysterie.

Nachdem er sich einmal beruhigt hatte, bestürmte er Yuugi sogleich mit Fragen:„Wo steckst du denn jetzt? Kommst du bald mal vorbei? Wissen die anderen schon, dass du- ach du liebes bisschen Yuugi, du hast ja Geburtstag, alles Gute!“ Jetzt war es an Yuugi zu lachen, ehe er dann antwortete:„Danke, Jono, wirklich!“ Bewusst sagte er zu dem Rest nichts, was ihm jedoch nichts nutzte, denn sogleich hakte sein bester Freund nach. Seufzend erteilte Yuugi ihm Auskunft, so gut er das denn konnte:„Ich denke nicht, dass ich sobald vorbeikommen werde, aber ich bin sicher da, wo ich bin. Du bist auch der einzige, den ich angerufen habe und erst einmal anrufen werde. Ich wäre dir dankbar, wenn du es niemandem erzählst, außer vielleicht Honda und Anzu…“ „Klar, versteh ich.“, stimmte Jono zu Yuugis‘ Erleichterung sofort zu – aber das hieß nicht, dass er keine Fragen mehr hatte:„Bist du alleine?“ „Nein, der Mann, der mich gerettet hat, ist die ganze Zeit bei mir.“, erklärte er schnell. „Und du kommst klar, es geht dir gut, oder?“ Yuugi lachte angesichts der vielen Fragen, die ihm gestellt wurden. „Ja, es geht mir sehr gut, wirklich, ich bin ja mit A- chrm, mit meinem Retter zusammen!“, sagte er. Jono sagte ein paar Sekunden nichts, dann aber sagte er langsam:„Du magst ihn, oder, Yuugi?“ Ertappt wurde der Angesprochene rot, wollte es reflexartig abstreiten – aber wem, wenn nicht seinem besten Freund könnte er es anvertrauen? „Ja.“, murmelte er in den Hörer, „Wir sind ein Paar, seit einem halben Jahr.“ Erneut dauerte es ein wenig, eh Jono etwas sagte, doch als er dann antwortete, klang seine Stimme zweifelnd:„Ahm… Yuugi, hast du schon mal was vom Stockholm-Syndrom gehört?“ Das Geburtstagskind fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Natürlich wusste er, dass dieses Syndrom bedeutete, dass sich eine Geisel in den Geiselnehmer verliebte, oder zumindest mit ihm sympathisierte, aber diesen Gedanken schob er schnell von sich. Er war doch nie Atemus‘ Geisel gewesen! Eine Entführung war es in gewissem Sinne schon gewesen aber dennoch… Er liebte Atemu und das hatte nichts, aber auch rein gar nichts damit zu tun! Er schob den Gedanken weit von sich, als er sagte:„Ja, hab ich. Aber das ist hier nicht so.“ „Okay, okay!“, lenkte Jono schnell ein und begann dann von den neusten Gegebenheiten in Domino zu berichten. Yuugi lächelte und genoss das Telephonat in vollen Zügen. Er sprach noch eine ganze Stunde mit Jono, solange, bis sein Ohr ganz warm war und der Arm, mit dem er sich das Handy ans Ohr hielt, steif geworden war. Bedauernd beendete er dann das Gespräch und fühlte sich seltsam leer, als er auflegte. Langsam stand er auf um Atemu zu suchen, was nicht schwer war, denn der saß mit einem Buch in der Hand im Wohnzimmer. Langsam ging er auf ihn zu, stellte sich hinter ihn und legte die Arme um ihn. „Dankeschön.“, flüsterte er in dessen Ohr. Atemu grinste, drehte den Kopf, sodass er Yuugi küssen konnte. Überrascht, aber alles andere als widerwillig, erwiderte Yuugi sodass er gar nicht bemerkte, wie Atemu das Handy wieder aus seiner Hand entwendete und einsteckte. Als sie sich voneinander lösten, deutete Atemu auf den Beistelltisch vor sich, auf welchem eine kunstvolle Torte stand. „Jessica war da. Sie gratuliert dir aufs herzlichste.“, erklärte Atemu und Yuugi strahlte. Neugierig begutachtete er die Köstlichkeit und ließ es sich nicht nehmen, seinen Finger gleich in die Sahne zu tunken um zu kosten. Atemu lachte:„Du hast doch grade erst gefrühstückt! Komm, wir stellen den Kuchen in den Kühlschrank und machen uns dann auf den Weg.“ Wehmütig verabschiedete sich Yuugi von seinem Kuchen und machte sich mit Atemu auf den Weg nach London – was ihn dort erwartete wusste er noch nicht, aber er vertraute sich Atemu blind an und verdrängte den Gedanken an das von Jono erwähnte Stockholm-Syndrom. Dies war sein Geburtstag und er gedachte, ihn gebührend zu feiern! Atemu hatte durchaus nicht zu viel versprochen und es wurde ein wunderbarer Tag. Dennoch musste Yuugi dann und wann an die Zeit vor einem Jahr zurückdenken, dieser Tag war zwar nicht annähernd so schön gewesen, aber er war in Domino gewesen, bei seiner Familie und seinen Freunden. Das Gespräch mit Jono schien sein Heimweh verschlimmert zu haben, doch das verbarg er vor Atemu, er wollte nicht undankbar erscheinen.

In den nächsten Wochen verbesserte sich dieses Heimweh leider nicht, die beiden führten noch einen Auftrag aus, außerhalb Londons‘, in Stratford-upon-Avon, wo sie auch gleich die Dreifaltigkeitskirche mit dem Grab des berühmtesten Dichters dieses Ortes – um nicht zu sagen der ganzen Welt – besuchten. Sightseeing nach einem Mord, Yuugi erschien das makaber, aber andererseits quälte ihn dabei auch kein schlechtes Gewissen. Stockholm-Syndrom hin oder her, er kam mit der Situation mittlerweile klar – wenn da nur nicht dieses Heimweh gewesen wäre!

Es war einige Tage später, als Yuugi endlich von seinem Heimweh sprach. Es war später Abend, die beiden lagen nebeneinander im Bett, eigentlich hatten sie schlafen wollen, das Licht war bereits gelöscht, doch trotz sommerlicher Temperaturen und der warmen Decke war Yuugi kalt. „Atemu?“, flüsterte er leise, um jenen nicht zu wecken, sollte er bereits schlafen. Doch das tat er nicht:„Ja?“, kam es ebenso leise zurück. Da er nun wusste, dass Atemu nicht schlief, sprach Yuugi mit normaler Lautstärke:„Weißt du schon, wann wir vielleicht mal zurück nach Japan können?“ Das Rascheln der Kissen verriet Yuugi, dass Atemu sich zu ihm umdrehte. Sekunden später spürte er, wie starke Arme ihn an eine breite Brust zogen. Wohlig seufzend kuschelte er sich an den Körper des Anderen. „Ein paar Monate vielleicht, nicht mehr lange.“, versprach er. Yuugi seufzte, halb glücklich, halb sehnsüchtig. Es war so dunkel im Zimmer, dass es keinen Unterschied machte, ob man die Augen offen oder geschlossen hielt – sehen konnten die beiden so oder so nichts. Aber spüren dafür umso besser und Yuugi spürte, wie Atemus‘ Hände ihn sanft streichelten, wie seine Lippen ihn zärtlich küssten und er gab sich in diesem Augenblick vollkommen dem Gefühl hin, genoss Atemus‘ Hände auf seinem Rücken, seinen Armen, seiner Brust. Langsam begann er, die Zärtlichkeiten zu erwidern, oft kam es immerhin nicht dazu, Atemu war einfach kein Typ für romantische Liebesgeständnisse und ein Dutzend roter Rosen. Yuugi ebenfalls nicht. Aber hin und wieder brauchte er das doch. So wie jetzt, grade jetzt. Aber er wollte mehr als Zärtlichkeit, er wollte das Wissen, dass Atemu bedingungslos für ihn da war und er wollte Vergessen suchen. Seine Hände glitten schüchtern unter das T-Shirt, welches Atemu trug. Er wollte mehr von ihm, in dieser Nacht. Sie waren nun seit beinahe sieben Monaten ein Paar, hatten aber nie miteinander geschlafen. Das war vollkommen natürlich und nie hatten ihnen etwas gefehlt. In dieser Nacht aber liebten sie sich, aus einer stummen Verzweiflung heraus.

Es war Yuugi, der den Anfang machte, der Atemu langsam und schüchtern das Oberteil auszog – und ihm dabei fasste die Schulter ausrenkte, aber darüber verlor Atemu kein Wort, zog sich selbst das Shirt aus und küsste Yuugi. „Sicher, dass du das willst?“, wisperte er an Yuugis‘ Ohr. Seit der Nacht ihres Einzuges hier hatte er nie mehr versucht, mit Yuugi zu schlafen, hatte gewartet, bis Yuugi von sich aus die Initiative ergriff, um ihm die Zeit zu geben, die er brauchte und ihn zu nichts zu drängen. Für jemanden, der für gewöhnlich häufiger Verkehr hatte, war das anfangs nicht ganz einfach gewesen, aber nach einer Weile war es zu Atemus‘ eigenem Erstaunen leichter geworden. Nun aber, da Yuugi zurückflüsterte:„Ja, ich bin sicher.“, da gab es kein Halten mehr. Stürmisch küsste er ihn und begann schon dabei, Yuugi zu entkleiden. Der war recht dankbar dafür, denn obgleich er den Anfang gemacht hatte, kehrte nun die Unsicherheit zurück, da er selbst noch völlig unberührt war, was bei Atemu bekanntlich ganz anders aussah. Aber da Atemu das ja wusste, nahm er Rücksicht darauf, verwöhnte Yuugis‘ Körper langsam und zärtlich mit Händen und Lippen, bis dieser sich unter ihm wand und bittend wimmerte. Atemu grinste, küsste Yuugi kurz und entkleidete den Kleineren dann gänzlich. Yuugi atmete tief durch, eine seltsame Mischung aus Nervosität, Vorfreude und Lust hatte sich in ihm breitgemacht und er wusste nicht, welches Gefühl denn nun das dominanteste war. Angenehm war es aber allemal, mehr als nur das… Herrliche Lust durchströmte seine Adern und dann schienen Atemus‘ Hände überall gleichzeitig zu sein, aufgrund der Dunkelheit war es nur noch aufregender, keiner der beiden sah etwas und Yuugis‘ Sinne schienen geschärfter als normalerweise, er reagierte empfindlicher als je zuvor auf jede noch so kleine Berührung Atemus‘ und obwohl er es eigentlich nicht wollte, entschlüpften seinem Mund immer häufiger kleine Laune, die Atemu bezeugten, dass er gut war. Als ob er das nicht schon gewusst hätte… Dennoch war es diesmal etwas anderes, immerhin hatte Atemu mit vielen Frauen geschlafen, aber nie mit einem Mann. Er hatte, wenn er darüber nachgedacht hatte, geglaubt, dass es vielleicht seltsam sein würde, aber das war es nicht, überhaupt nicht, es war anders, natürlich, aber es war aus zwei Gründen anders. Der eine natürlich blieb, Yuugi war ein Mann. Der zweite aber war, dass er Yuugi – im Gegensatz zu jeder Frau vorher – liebte, auch, wenn er das niemals sagen würde.

Den Frauen vor Yuugi war er ein guter Liebhaber gewesen und so kam Yuugi nun voll auf seine Kosten, sein Verstand war vernebelt und er wusste am Rande seines Bewusstseins zwar, dass es ungerecht war, nur hier zu liegen und zu genießen ohne Atemu etwas zurückzugeben – aber Atemu war so verdammt gut und er konnte sich nicht dazu überwinden, auf diese Berührungen zu verzichten… Überwältigt stöhnte Yuugi den Namen des Anderen und suchte Halt in den zerwühlten Laken. Atemu beschwerte sich nicht über den Mangel an Berührung für sich selbst. Das hieß zwar nicht, dass er nicht gerne von Yuugi berührt worden wäre, aber da es Yuugis‘ erstes Mal war, drängte er seinen Egoismus in den Hintergrund. Zu spüren, wie Yuugi unter seiner Hand hart wurde und seine Hände in Atemus‘ Rücken grub, wobei er immer lauter keuchte, war ebenfalls durchaus erregend. Und das ließ er Yuugi auch spüren, wofür er von jenem ein hohes Fiepen zur Antwort erhielt. Atemu lachte. „Was hast du denn gedacht, Yuugi?“ Aber Yuugi war zu sehr mit Stöhnen beschäftigt, als das er hätte antworten können. Natürlich war es nicht so, als hätte er sich niemals selbst berührt, aber das hier war besser, viel besser! Er hatte natürlich daran gedacht, aber dass es so war… Sein ganzer Körper zitterte vor Erregung und er wollte, dass es nie endete. Ohne es bewusst bemerkt zu haben, hob er Atemu sein Becken entgegen, sodass er überrascht war, als Atemu plötzlich seine Beine spreizte und sich zwischen selbige legte. Er konnte Atemus‘ Erregung gegen seine eigene gepresst fühlen, sich dabei aber nicht daran erinnern, wann Atemu sich die Zeit genommen hatte, sich selbst auszuziehen. Aber ihn beschäftigte auch eher etwas anderes.

„Atemu?“ Yuugis‘ Stimme klang höher als normalerweise, nervös. „Ja?“ Der tiefe Ton der Stimme des Älteren hatte etwas Beruhigendes. „Wird es sehr weh tun?“ Jetzt, da es soweit war, wurde Yuugi plötzlich doch nervös war sich seiner Sache nicht mehr so sicher. Atemu zögerte mit der Antwort. Dann sagte er langsam:„Ich weiß es nicht. Ich war nie… in deiner Position. Aber ich werde vorsichtig sein, versprochen.“ Yuugi nickte, obwohl Atemu das in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Da Besagter sich aber nun wieder um Yuugis‘ Erregung kümmerte, wurden seine Zweifel hinfort gespült und er spreizte seine Beine noch ein wenig weiter. Dann aber zuckte er zusammen, als er etwas Kühles an seinem Eingang spürte. „Was?“, entkam es ihm überrascht. „Gleitgel…“, schnurrte Atemu. „Von wo hast du das?“, fragte Yuugi unter Stöhnen, während er sich der Wonne entgegen drückte. „Hab’s vor einem Monat gekauft… ich dachte, dass macht es besser.“, kam die Erklärung zurück. „Jaaa“, Yuugis‘ Zustimmung klang mehr nach einem Stöhnen als etwas anderem und Atemu grinste, während er vorsichtig einen zweiten Finger einführte und sie dann bewegte. Yuugi verkrampfte sich kurz, entspannte sich aber unter Atemus‘ erfahrenen Fingern und seinen beruhigenden Worten bald wieder. Sobald er sich einmal an das anfangs seltsame Gefühl gewöhnt hatte, war es einfach nur noch gut und schrie nahezu nach mehr. So war er beinahe enttäuscht, als Atemus‘ Finger wieder verschwanden, auch, wenn er sich gierig dem Kuss widmete, den Atemu ihm schenkte.

Jedoch unterbrach er ihn, als Atemu langsam ihn drang. Oh Gott… Yuugis‘ Hände krallten sich so fest in Atemus‘ Rücken, dass es weh tat, er konnte spüren, wie sich die Fingernägel in sein Fleisch gruben. „Atemu… Atemu es tut weh!“, wisperte Yuugi verzweifelt. „Ganz ruhig… es wird besser werden!“, versprach Atemu und strich Yuugi zärtlich durchs Haar. Er hatte Gleitgel benutzt, aber dass Yuugi Schmerzen litt war deutlich. Aber wenn er jetzt aufhören würde, würde Yuugi sich den Rest seines Lebens ängstigen – und das wollte Atemu nicht. So hielt er zwar kurz inne, drang dann aber weiter in den kleinen Körper unter sich. Es war schwer, sich so zurückzuhalten, Yuugis‘ Enge, die ihn umschloss, erregte ihn ungemein, aber er zwang sich, Zurückhaltung zu üben. Bald würde der Schmerz vorbeigehen… Yuugi hatte es fast geschafft. Aber das wusste er ja nicht, er wimmerte:„Atemu, bitte hör auf, bitte…“ „Gleich, Yuugi, gleich!“, versprach Atemu und küsste den Hals des Jüngeren. Yuugi biss sich auf die Lippen und sagte nichts mehr, klammerte sich nur an Atemu. Er wusste, dass Atemu vorsichtig war und er liebte ihn zu sehr, als dass er widersprechen wollte. Immerhin hatte Atemu ihm eben auch solche Wonnen bereitete – und sicher würde er das auch bald wieder. Atemu jedenfalls verharrte nun, wartete, bis Yuugi sich an die neue Situation gewöhnt hatte. Er küsste den Hals seines Liebsten, saugte sich kurz an einer Stelle fest, wodurch der Jüngere leise aufseufzte und den Kopf so drehte, dass Atemu mehr Platz hatte. Es tat so gut und Yuugi spürte, die Leidenschaft zurückkehren. „Geht es?“, wollte Atemu wissen. „Ja.“, murmelte Yuugi, auch, wenn das nur die halbe Wahrheit war, „Verdammt, Atemu, was musst du auch so groß sein?!“ Atemu lachte leise.

Dann begann er, sich langsam in Yuugi zu bewegen. Der Schmerz verschwand deswegen zwar nicht, aber ein unbändiges Gefühl der Lust gesellte sich dazu, erst recht, als Atemu Yuugis‘ Glied wieder umfasste. Nun, wo er einmal begonnen hatte, wurde es für Atemu schwieriger, sich zurückzuhalten, er wusste, er hätte vorsichtiger sein sollen, aber es tat so gut… Endlich keuchte auch er, aber Yuugi erging es da nicht anders, nicht mehr, als Atemu seine Prostata traf und Yuugi leise Atemus‘ Namen schrie. Dessen Antwort bestand aus einem Keuchen. Atemus‘ rhythmische Stöße wurden schneller und Yuugi bewegte sich dem entgegen, vollkommen gefangen in dieser Welt. Im Grunde genommen war es kein romantisches erstes Mal, es begann verzweifelt, dann wurde es schmerzhaft und schließlich liebten sie sich mit einer rauen, wilden Leidenschaft, erwachsen aus dem Bedürfnis, die Nähe des Anderen zu spüren und der schieren Lust, die sie stark wie selten zuvor verspürten. Es dauerte indes auch nicht lange, sie kamen beide schnell, hatten beide so lange gewartet.

Hinterher lagen sie nebeneinander im Bett, Atemu hatte Yuugi in seine Arme geschlossen, obwohl es so warm war. „Ich liebe dich.“, flüsterte Yuugi und Atemu küsste ihn auf die Stirn.

Der Hierophant

Der Hierophant: Er steht für die Welt des Glaubens und für das Vertrauen, das aus dem Glauben entsteht. Er ist der Berater, der Meister, von dem wir uns leiten lassen können, unser Schutzengel. Die Karte ist auch ein Zeichen für moralische Werte.
 

Juli 2008, Richmond upon Thames, London, Großbritannien

Das Schloss war gewaltig und aus rotem Stein erbaut. Yuugi staunte mit offenem Mund, während Atemu da mehr Selbstbeherrschung besaß. Aber es war nicht zu leugnen, dass der Hampton Court Palace einen überwältigenden Anblick bot. Obwohl sie seit einem halben Jahr in London lebten, hatten sie immer noch nicht alles gesehen – zugegeben gab es aber auch sehr viel zu sehen. Heute also besuchten sie den im Londoner Außenbezirk Richmond liegenden Hampton Court Palace, welchen Kardinal Wolsey einst Henry VIII. geschenkt hatten, um sein Leben zu retten – was ihm nicht genutzt hatte. Henry aber hatte der Palast gefallen und was einst ein bescheidenes Jagdschloss gewesen war, war heute eine gewaltige Anlage, durch welche sie nun der Audioguide führte. Ihr erstes Mal war eine Woche her, Yuugi hatte sich am nächsten Tag schwer mit dem Sitzen getan, deswegen jedoch nichts bereut und da sie grade keinen Auftrag zu bearbeiten hatten, war das nicht so schlimm gewesen. Sie hatten keinen Job, führten nur in unregelmäßigen Abständen ihre Aufträge aus, was ihnen ein recht luxuriöses Leben ermöglichte. Allerdings fragten sich ihre Nachbarn mittlerweile, woher ihr Geld kam. Heute aber dachten sie nicht daran. Heute genossen sie den Palast, in welchem Schauspieler jeden Tag die Hochzeit von Henry VIII. mit seiner fünften Frau Catherine Howard, deren Ehe auf dem Schafott geendet hatte, nachspielten.

Während sie ihren Rundgang in den Küchen des Palasts begannen, drehte Yuugi sich beständig um die eigene Achse, um auch ja alles zu sehen, worüber Atemu schmunzelte. Eine Weile sprachen die beiden nicht, lauschten nur der Stimme aus dem Kopfhörer – dankenswerterweise auch in Japanisch erhältlich. Die Küchen waren unglaublich weitläufig und mit vielen liebevollen Details lebensnah nachgebaut. In einem der gewaltigen sechs Kamine prasselte sogar ein Feuer. „Ich bin wirklich froh, dass wir hierher gezogen sind.“, sagte Yuugi, als die beiden grade den Weinkeller verließen und die Treppe zum Rittersaal emporstiegen, „Es ist wirklich schön hier – grade hier, man fühlt sich richtig in die Vergangenheit zurückversetzt.“ Atemu neigte den Kopf. „Es ist beeindruckend.“, stimmte er zu. Yuugi schüttelte den Kopf, es war mal wieder typisch für Atemu sich in stiller Zurückhaltung zu üben. Am liebsten hätte er sich in diesem Augenblick bei ihm eingehakt oder geküsst, irgendetwas in der Art, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass sich das für die nächsten Tage negativ auf ihre Beziehung auswirken würde. Also durchschritt er nur den Festsaal und gelangte in die Wartehalle, in welcher Besucher auf eine Audienz bei seiner Majestät hatten warten müssen. Auch jetzt lagen große Kissen im Raum verstreut und Sitzgruppen waren um Tische mit Brettspielen gruppiert, mit welchen die Wartenden sich die Zeit hatten vertreiben können. Im Augenblick nutzten einige Besucher diese Möglichkeit und zwei kleine Mädchen in pinken Kleidern saßen auf den Kissen und fühlten sich als Prinzessin. Yuugi zog es vor, sich auf eine der ausladenenden Fensterbänke zu setzen, welche zu diesem Zweck gepolstert war. Atemu stand gegen die Wand gelehnt daneben, aber Yuugi zog ihn resolut neben sich. Er wollte ihn etwas fragen.

„Ahm… Atemu. Jessica fragte mich vor kurzem, was wir beruflich machen und ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen soll. Außerdem ist sie nicht die einzige, die fragt!“, erklärte er besorgt. „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen…“ Nachdenklich sah Atemu aus dem Fenster, auch, wenn besagtes Fenster lediglich auf den Innenhof blickte. Yuugi war nicht klar, wie Atemu dabei so ruhig bleiben konnte:„Sie schauen uns immer so komisch an, sie stellen auch Fragen! Glaubst du, sie wissen etwas?“ Das leise Lachen Atemus‘ hätte Yuugis‘ Ansicht nach nicht unpassender sein können. „Lach nicht darüber, das ist eine gefährliche Situation!“, fuhr er auf. „Schon gut.“, beruhigte Atemu ihn und hörte tatsächlich auf zu lachen. „Aber die Situation ist nicht gefährlich, sie können gar nichts wissen. Sie tratschen bloß, wie Nachbarn das nun mal so tun.“ Yuugi seufzte. Zugegebenermaßen hatte Atemu ja schon recht, woher hätten die Nachbarn denn etwas wissen sollen, wo sie doch immer so vorsichtig waren? Der Gedanke daran, dennoch entdeckt zu werden, ließ ihn jedoch panisch werden. „Bleib ruhig!“, riet Atemu ihm und nahm ihn nun doch noch in die Arme – was einige befremdliche Blicke der Schlossbesucher nach sich zog. Aber die Umarmung währte ja auch nicht lange, denn die Audioguides, die sie beide um den Hals hängen hatten, hinderten sie daran. Also standen sie leicht verschämt lächelnd auf und durchquerten den Rest des Schlosses und anschließend die bezaubernden Gärten, ehe sie in den Bus zurück zur U-Bahn stiegen.

„Ladies and Gentlemen.“, klang die freundliche Stimme aus dem Lautsprecher, „In this hot weather it’s advisable to carry a bottle of water with you.“ Yuugi lächelte. Nein, London war viel zu schön und zu freundlich, als dass er es jemals wieder verlassen wollte.

Zu seinem Entsetzen war es aber genau das, was Atemu ihm eine Woche später vorschlug, als sie die Westminster Abbey verließen und durch die wenigen Straßen zum Buckingham Palace gingen, um der Wachablösung beizuwohnen. Das hatten sie zwar schon mehrfach getan, aber es war immer ein lohnender Anblick und die Zeit drängte im Grunde ja nicht. Allerdings kam es Yuugi nun doch so vor, wenn Atemu wollte, dass sie fortzogen. Er wollte das nicht. Er hatte sich an diese Stadt gewöhnt, an dieses Leben, er mochte beides. Dafür, dass er Atemu auf die Fragen der Nachbarn aufmerksam gemacht hatte, könnte er sich nun ohrfeigen. „Meinst du nicht, gleich woanders hinzuziehen, wäre etwas zu übertrieben?“, hielt er rasch dagegen. Seine Sorgen erschienen ihm dagegen plötzlich hoffnungslos übertrieben. Atemu zuckte nur mit den Schultern, scheinbar kümmerte er sich nicht großartig um ihren Wohnort. „Bei diesem Beruf musst du häufiger mal umziehen, wenn du erst die Koffer packst, wenn die Polizei deine Haustür eintritt, ist es zu spät. Ich sage also, in ein bis zwei Monaten spätestens sind wir hier weggezogen.“ Yuugi schnaubte:„Ich habe ja wohl ein Mitspracherecht. Was also lässt dich glauben, dass ich deine Entscheidung einfach so akzeptieren würde?“ Atemu lächelte während er den Wachen bei ihrem Aufmarsch zusah und würdigte Yuugi keines Blickes, als er sagte:„Keine Ahnung. Aber ich hoffe, dass es nichts mit der Tatsache zu tun, dass ich derjenige mit den meisten Waffen bin.“
 

August 2008, Square Mile, London, Großbritannien

Es war unglaublich windig, was eigentlich niemanden hätte wundern sollen. Sie hatten wohl einfach nicht daran gedacht, dass es an einem so warmen Sommertag auch einen Ort in der Stadt geben konnte, der kalt war. Aber ganz oben auf der golden Gallery der St. Paul’s Cathedral war es nun mal zugig – dafür wurde man aber auch mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt. Yuugi hielt sich die Haare aus dem Gesicht, damit sie seine Sicht nicht behindern konnten. Zu seiner linken schlängelte sich die Themse und wenn man genau hinsah, konnte man das Millennium Eye in der Ferne erkennen, welches von hier oben unglaublich klein aussah, dabei hatten sie, als sie damit gefahren waren, sich hoch hinaus gewähnt. Staunend genoss er die Aussicht, Atemus‘ Hand lag warm zwischen seinen Schulterblättern und hielt somit ein wenig die drängenden Touristenmassen von ihm fern. „Das ist toll! Warum sind wir erst jetzt hier?“, fragte er und blickte hinter sich zu Atemu, der sich in keinster Weise um das Haar kümmerte, welches sein Gesicht umwehte. „Erst hatten wir keine Zeit, dann waren wir nicht da…“, meinte Atemu schulterzuckend und blickte über Yuugis‘ Kopf hinweg hinunter auf die Themse, deren Wasser in der Sonne glitzerte. Yuugi nickte und ging ein paar Schritte weiter, sodass er jetzt in Richtung des Towers sah, gleichwohl er bloß wusste, dass der Tower sich in dieser Richtung befand, sehen konnte er ihn nicht, dafür aber das große Bürogebäude, welches, obgleich es auf den Namen 30 St Mary Axe hörte, von den Londonern aufgrund seiner prägnanten Form nur die Gurke genannt wurde. Ja, Atemu hatte recht, die letzten drei Wochen hatten sie außerhalb Londons‘ verbracht. Zuerst hatten sie gezwungenermaßen nach Paris fliegen müssen, was besonders für Yuugi zu einer angstvollen Tortur geworden war, da er befürchtet hatte, dass man sie wegen Mordes anzeigen würde. Natürlich hatte Atemu ihn beruhigen wollen, natürlich hatte er ihm gesagt, dass es lediglich um den Mordanschlag auf ihn gehen würde und natürlich hatte es nichts genutzt. Es war dann aber alles glimpflich verlaufen, die Polizei hatte Atemu zerknirscht mitteilen müssen, dass sie die Ermittlungen in seinem Fall einstellen mussten, was Atemu herzlich wenig kümmerte, gleichwohl er natürlich Besorgnis geheuchelt hatte. Das hatte die Polizei ihm selbstverständlich nicht geglaubt, allerdings hatten sie auch nichts dagegen tun können, sodass die beiden so schnell es ging wieder verschwunden waren. Obgleich Yuugi nämlich Paris mittlerweile sehr mochte – wenn auch nicht so sehr wie London oder gar Rom – hatte er dennoch so viel Angst gehabt, dass sie schnellstmöglich wieder in den Flieger gestiegen waren – allerdings nicht zurück nach London, sondern auf Wohnungssuche, da sie ja umzuziehen gedachten. Noch einmal hatte Atemu seine Tante deswegen nicht behelligen wollen, da sie dies ja im Augenblick sehr gut selbst konnten. Es war somit das erste Mal gewesen, dass sie gemeinsam mehrere Wohnungen ansahen und sich zum Schluss auch für eine entschieden, nun ja, es war weniger eine Wohnung als vielmehr schon ein Loft. Trotz des Preises war es mit den großen, lichtdurchfluteten Räumen aber zu schön gewesen, um nein zu sagen.

Jetzt aber waren sie wieder in London, für zwei Wochen noch und in diesen zwei Wochen holten sie alles an Sight-Seeing nach, was noch ausstand. Außerdem aßen sie beinahe jeden Tag das englische Nationalgericht Fish and Chips weil Yuugi darauf bestand. Im Grunde genommen waren es unbeschwerte Tage, die sie mit Sport und Sehenswürdigkeiten ansehen verbrachten, nur die Trauer ob es hastigen Aufbruchs trübte die Stimmung ein wenig.

Ihren Mietvertrag hatten sie bereits gekündigt, Yuugi hatte den Eindruck, dass sie ihren Nachbarn durch ihre Abreise nur noch verdächtiger wurden, obwohl sie zu ihrem Abschied ein Barbecue gegeben und fast die ganze Straße eingeladen hatten. Er versuchte, die Zeit zu genießen, die ihnen noch blieb, aber ganz leicht war das nicht – was nicht nur an der Kälte auf der Kuppel der Kirche lag. Yuugi trug aber auch nur ein sommerliches Hemd auf Jeans, da sich der Sommer eigentlich von seiner besten Seite präsentierte. Atemu dagegen trug wie immer einen seiner Anzüge. Er trug immer Anzüge, außer, bei einem Auftrag. Yuugi hatte Atemus‘ gesamte Garderobe durchwühlt, aber alles, was er fand, waren dunkle Anzüge und Tarnkleidung gewesen. Auch jetzt, mit einem schwarzen Anzug und der dunklen Sonnenbrille, wirkte Atemu, als sei er einem Matrix-Film entsprungen. Und somit absolut unnahbar, wie immer. Selbst wenn er lächelte hatte man nicht das Gefühl, etwas von dem wahren Atemu unter dieser Schale zu erkennen. Es störte Yuugi nicht, vor allem, da er, je länger er Atemu kannte, diesen immer besser verstehen lernte.

Aber nichts von dem hätte Yuugis‘ Stimmung ernsthaft zu trüben vermocht – dafür war etwas anderes verantwortlich. Sie kehrten grade aus dem Kensington Palace zurück, einer eher enttäuschenden Etappe ihrer Reise, zugegeben, als Atemu mal wieder telephonierte. Da er sehr leise sprach, wusste Yuugi, worum es ging, ehe er etwas erklärt hatte. Immerhin telephonierte Atemu nur mit seiner Tante – wozu er die Stimme nicht senken musste – oder mit Auftragsgebern und die waren schon viel eher ein Grund zum Flüstern. Seufzend starrte Yuugi nach draußen. Mile End verkündete das Schild der Station, an der die U-Bahn, in der sie saßen, grade hielt. „This is Mile End. Change here for the District and Hammersmith & City line. Please, mind the gap between the train and the platform. This is a Central line train to Epping.” Menschen stiegen aus und ein und Atemu legte auf, um sich dann sogleich zu Yuugi umzudrehen und ihm einen eindeutigen Blick zuzuwerfen – als hätte Yuugi es nicht schon gewusst. In einer geflüsterten Unterhaltung setzte Atemu Yuugi von den Einzelheiten in Kenntnis, ein Mann, Ende fünfzig, der hohe Schulden hatte, weswegen sein Schuldner nicht länger warten wollte. Yuugi nickte, es klang nach nichts, worum man sich besondere Sorgen machen müsste, da der Mann in einfachen Verhältnissen lebte und vermutlich nicht einmal eine Alarmanlage besaß. Als sie in South Woodford ausstiegen und in einer in Fleisch und Blut übergangenen Bewegung die Oyster Card über das Lesegerät zogen, erklärte Atemu Yuugi jedoch die Besonderheit dieses Auftrags. „Ich werde nicht mitkommen.“, sagte er leichthin. „Was?“, rief Yuugi und blieb ruckartig stehen. Atemu blieb ebenfalls stehen, seine Silhouette spiegelte sich in den Fenstern des Nagelstudios hinter ihm. Er lächelte. „Es ist nicht besonders schwer, wie dir aufgefallen sein dürfte. Ich sehe kein Problem darin, ich werde dich bis zum Haus begleiten, aber davor warte ich. Im Notfall kann ich eingreifen. Aber versuch es erst mal alleine.“, erklärte er schmunzelnd und zog Yuugi weiter. Yuugi spürte kaum, wie er ein Bein vor das andere setzte. Natürlich war er oft genug dabei gewesen, hatte er es oft genug selbst getan, aber alleine? Das war etwas anderes, das war beängstigend. Er hatte nie viel über das Risiko für sich selbst nachgedacht, natürlich, daran, dass er verhaftet werden könnte, aber das hatte ihn nicht so sehr abgeschreckt, immerhin hätte Atemu ihn da ja sicher raushauen können. Aber das nun! Dass er verletzt werden könnte war etwas, was er nie bedacht hatte, er hatte sich immer auf Atemu verlassen, ein wenig wie in der Fahrschule, wo man glaubte, es könne nichts passieren solange der Fahrlehrer daneben saß. Aber das nun war die erste Fahrt alleine und nur bei dem Gedanken begann Yuugi zu zittern.

In ihrem Haus angekommen fiel Yuugi kraftlos auf die Couch und überlegte, wie er Atemu diese Idee ausreden könne. Aber Atemu schien keineswegs gewillt, sich diese Idee ausreden zu lassen. Leise lächelnd setzte er sich neben Yuugi, die linke Hand legte er auf Yuugis‘ rechtes Knie und lächelte aufmunternd. „Es wird doch gar kein großer Unterscheid sein, du hast es vorher schon alleine getan während ich nur daneben stand.“, meinte er. Doch Yuugi schüttelte den Kopf:„Das ist nicht das gleiche. Was ist, wenn ich deinen Rat brauche? Oder wenn sonst etwas geschieht?“ „Davor ist man nie gefeit. Ich könnte dich nicht vor allem retten. Aber es ist ja auch ein leichter Auftrag, deswegen traue ich dir das ja auch zu.“, erwiderte Atemu und strich Yuugi durchs Haar, „Ich bleibe in der Nähe.“, versprach er. Aber Yuugi seufzte nur. Das alles vermochte ihn nicht zu trösten. Er brauchte Atemu, um sich sicher zu fühlen, er wusste ja, dass er verhaftet, verletzt oder sogar getötet werden könnte, aber solange Atemu dabei war, fürchtete er das alles nicht wirklich, denn er vertraute darauf, dass Atemu ihn schon irgendwie vor alledem bewahren würde. Aber wenn Atemu nun nicht da wäre…! Der Gedanke war so beängstigend, dass Yuugi ihn nur noch verdrängen wollte. Aber als habe Atemu seine Gedanken gelesen, sprach er genau diese Situation, dass er nicht da sein könne, an:„Irgendwann wird vermutlich der Tag kommen, an dem ich nicht mehr für dich da sein kann und wenn dieser Tag gekommen ist, dann will ich, dass du alleine zurechtkommen wirst.“ Yuugi schüttelte den Kopf:„Atemu, sag so etwas nicht, du wirst immer hier sein, rede nicht davon, dass dir etwas zustoßen könnte!“ Obwohl er natürlich wusste, dass die Wahrscheinlichkeit, dass einem von ihnen etwas zustieß, überdurchschnittlich groß war, so war es doch nichts, woran er denken wollte. Dass Atemu sterben und er zurückbleiben würde… Doch Atemu ließ nicht zu, dass er sich Illusionen hingab. Seine Stimme klang zwar sanft, doch die Worte waren unbarmherzig:„In unserem Beruf ist die Wahrscheinlichkeit, dass dreißigste Lebensjahr nicht zu erreichen, sehr hoch, wie du weißt, also solltest du darauf vorbereitet sein. Ich sage nicht, dass es passieren muss, vielleicht können wir einiges ändern, wenn wir umziehen, aber du solltest in jedem Fall auf eine solche Situation vorbereitet sein.“ Yuugi nickte; nicht, weil er das gut fand, sondern, weil er einsehen musste, dass Atemu recht hatte. Daran denken wollte er aber trotzdem nicht, sodass er instinktiv näher an Atemu heran rutschte um ihn zu küssen. Und als Atemu begann, Yuugis‘ Hemd aufzuknöpfen, gelang es diesem spielerisch die angstvollen Gedanken beiseite zu schieben…
 

Die Northern line fuhr die beiden durch London, ihrem Ziel entgegen. Trotz jeglicher Verdrängungstaktik hatte der Tag des Anschlags natürlich kommen müssen und so stiegen sie nun an der Endstation Morden aus – hätten sie Deutsch gekonnt, wäre Atemu wohl die Ironie dieser Sache aufgefallen, aber so gingen sie nur zügig durch die Straßen Londons bis der Moment, vor dem Yuugi graute, gekommen war. Atemu zog sich in die Schatten der umstehenden Gebäude zurück, so gut, dass Yuugi ihn nur sah, weil er wusste, dass er da war. Seine Hand stärkte kurz Yuugis‘ Schulter, er lächelte flüchtig, aber dann verschwand er aus Yuugis‘ Blickfeld und der machte sich tief seufzend auf den Weg. Seine Arme und Beine zitterten beständig, was es schwer machte, sich fortzubewegen. Er brauchte zehn Minuten, in der er seine Atmung kontrollierte und dann schließlich langsam das Haus betrat. Es war ein Hochhaus, sodass Yuugi den normalen Weg zur Haustür wählte und diese dann mit einer aus dem Mülleimer geklaubten Telephonkarte öffnete. Langsam öffnete er die Tür, trat aber noch nicht ein sondern wartete, ob er von drinnen etwas hörte. Alles blieb jedoch still. Dennoch wartete Yuugi länger, als es nötig gewesen wäre, er spürte das Blut schmerzhaft in seinen Ohren pulsieren und sein Herz schlug so schnell, dass er meinte, es müsse ihm aus dem Brustkorb springen, während alles, was zu hören war, das Ticken einer Uhr aus dem Inneren der Wohnung war. Langsam trat Yuugi in den Flur. Mehrere Paare Schuhe lagen unordentlich auf dem Boden und hätten Yuugi beinahe zum Stolpern gebracht. Stumm fluchend fand er sein Gleichgewicht wieder und schlich dann weiter durch die Wohnung. Er öffnete eine Tür, woraufhin dumpf ein Gespräch zu vernehmen war. Das Blut gefror in seinen Adern und er wollte grade den Rückzug antreten, da kam Musik hinzu und die Rufe aus vielen Kehlen. Yuugi atmete hörbar aus – da lief nur ein Fernseher. Er brauchte erneut einige Sekunde ehe er sich beruhigt hatte. Mit Atemu an seiner Seite war er nie so nervös! Er wollte nur noch fort von hier, am liebsten hätte er sich auf dem Absatz umgedreht und wäre geflohen aber damit hätte er ja das Vertrauen, welches Atemu in ihn setzte, enttäuscht und außerdem wollte er es für sich selbst schaffen. Also schlich Yuugi vorsichtig weiter, öffnete die Tür zum Schlafzimmer und trat ans Bett. Die Vorhänge an den Fenstern waren zugezogen, sodass es sehr dunkel war. Yuugis’ Augen benötigten wertvolle Zeit, ehe sie sich an diese Dunkelheit gewöhnt hatten, Zeit, in der er furchtbare Angst hatte, dass der Mann in dem Bett erwachen und ihn bemerken könnte. Doch nichts geschah. Als er sein Umfeld erkennen konnte, bemerkte Yuugi auch, weswegen – der Raum war leer. Kurze Verwirrung machte Panik Platz – wo war der Mann? Yuugi verließ den Raum schnell wieder. Erneut hörte er die Stimmen aus dem Fernseher und unwillkürlich fragte er sich, ob der Mann wohl vor dem Flimmerkasten eingeschlafen sein mochte. Ängstlich schlich er in Richtung der Lärmquelle, inständig betend, dass der Mann nicht noch wach war. Vorsichtshalber zog er seine Waffe, Atemu hatte ihm dazu geraten, den Mann zu erschießen, das sei leichter, deswegen war der Schalldämpfer nun schon aufgeschraubt, damit ihm nicht noch einmal ein solcher Fauxpas wie in Paris unterlief.

Langsam und vorsichtig öffnete er die Tür, sein Blick glitt durch den Raum. Rechter Hand stand der laufende Fernseher, davor, also gegenüber der Tür, durch die Yuugi eingetreten war, stand eine Couch mit Beistelltisch. Den Schrank an der linken Wand bemerkte Yuugi kaum, denn sein Blick ruhte auf dem Mann, der auf der Couch saß. Er war wach. Seine Augen waren dunkel und musterten Yuugi dumpf. Er schien betrunken, denn auf dem Tisch sammelten sich Bierflaschen und ein unverkennbarer Geruch lag in der Luft. Die Unordnung, welche in der gesamten Wohnung herrschte, setzte sich hier fort und der Mann selbst trug einen fleckigen Jogginganzug. Sein Haar war ungewaschen und er schien keine Überraschung über Yuugis‘ Anblick zu empfinden, auch nicht, über den Colt in dessen Hand. „Thought I’d be sleepin‘, eh? Knew you’d come… did he send cha to me?“ Yuugi blinzelte. Der Mann war, nicht zuletzt aufgrund seines Promillewertes, kaum zu verstehen, sodass es ein wenig brauchte, ehe Yuugi begriffen hatte, was man ihm hatte mitteilen wollen. Aber auch, als er es verstanden hatte, wusste er nicht, was er sagen sollte. Diese ganze Situation irritierte ihn, er war es nicht gewohnt, dass ein Opfer noch wach war, noch weniger, dass es irgendetwas anderes als Schrecken empfand. Und vor allem war er es nicht gewohnt, alleine zu sein. Er wünschte, Atemu wäre da, er beschützte ihn doch sonst immer. Er fühlte sich klein und schutzlos, obwohl er derjenige mit dem Colt war und sein Gegenüber betrunken und somit scherfällig war. Es wäre klüger gewesen, Atemus‘ Rat zu befolgen, sofort zu schießen und dann schnell zu verschwinden, aber die Sekunde des Zögerns rief nun auch sein Opfer auf den Plan. „Don’t know whatta do, do ya? Think ‘u small kid could kill me. Guess I gotta teach you how to do better!” Den letzten Satz hatte der Mann geschrien. Er nahm eine der Bierflaschen vom Tisch und warf sie nach Yuugi. Da er betrunken war, prallte die Flasche nur gegen die Wand neben dem Eindringling, der Rest der Flüssigkeit darin benetzte die Wand und spritze auf Yuugi, der verzog das Gesicht angesichts des Geruchs, reagierte ansonsten aber nicht. Die Situation war dermaßen bizarr und machte ihm Angst, sodass er sich nicht rühren konnte und seine Beine ihm schlichtweg den Dienst versagten. Sein Gegenüber bemerkte das. Schwankend kam er auf die Beine, nahm eine weitere Flasche vom Tisch und zertrümmerte sie, indem er sie gegen die Tischkante schlug. Mit dieser Waffe in der Hand kam er auf Yuugi zu, viel zu schnell, für dessen Geschmack. Zittrig stolperte Yuugi zwei Schritte zurück, ehe er sich des Colts in seiner Hand wieder bewusst wurde. Seine Hand war zwar nicht ruhig, als er sie hob, aber er kniff das linke Auge zu, zielte und betätigte den Abzug, grade noch rechtzeitig, denn der Mann war schon dicht an ihn herangekommen, die Flasche in der erhobenen rechten Hand. Yuugis‘ Schuss fiel, der Mann taumelte noch zwei Schritte, aber dann fiel er vornüber zu Yuugis‘ Füßen. Darüber hätte er erleichtert sein müssen, aber alles, was er empfand, war ein scharfer Schmerz. Die Flasche des Mannes hatte noch im Fall Yuugis‘ linkes Bein verletzt. Eine Sekunde stand Yuugi starr. Es war weniger der Schmerz, der ihn lähmte, als vielmehr der Schock, verletzt worden zu sein – das war ihm bisher nie passiert und er hätte es zwar wissen müssen, war aber dennoch erst einmal schockiert. Dann erst wurde ihm die Situation wieder bewusst und fluchend stolperte Yuugi rückwärts und beeilte sich, die Wohnung zu verlassen, ehe sein Blut auf den Teppichfußboden tropfte und er somit DNS hinterließ.

Im Treppenhaus traf er auf Atemu, welcher wohl zu besorgt gewesen war, um länger zu warten. Atemus‘ Gesichtszüge entgleisten nur selten, aber in dem Augenblick, da er sah, dass Yuugi lebte, konnte man ihm deutlich ansehen, wie erleichtert er war. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und er schloss Yuugi erleichtert in die Arme. So sehr sich Yuugi im Normalfall darüber auch gefreut hätte, so wenig konnte er es jetzt, denn alles, was er sagen konnte war:„Atemu, mein Bein…“ Augenblicklich ließ Atemu Yuugi los, sah zu Yuugis‘ Bein. Wegen der schwarzen Hose und der Dunkelheit im Flur sah man allerdings nichts, sodass Atemu vor Yuugi auf die Knie ging und sich die Verletzung besah. „Atemu…“, kam es von Yuugi, dem es zum einen unangenehm war, dass Atemu vor ihm kniete und der zum anderen nur fort von hier wollte. Mit einer ganzen Packung Taschentücher befreite Atemu Yuugis‘ Bein von dem herablaufenden Blut, so gut dass in der Dunkelheit eben ging. Der Schmerz aber verging nicht. Dennoch nickte Yuugi tapfer, als Atemu ihn fragte, ob er es noch bis zu Hause aushalten würde. Entsprechender Weise machten sie sich auf den Weg zur U-Bahn, Yuugi gestützt von Atemu. Fragen stellte Atemu keine, er beobachtete stattdessen die ganze Zeit über Yuugi, als habe er Angst, dieser könne plötzlich tot umfallen. Kaum dass sie in ihrem Haus angelangt waren, scheuchte Atemu Yuugi schon ins Badezimmer und wies ihn an, seine Hose auszuziehen. Bei Licht betrachtet sah die Verletzung noch schlimmer aus, als sie sich angefühlt hatte, das Bein war voller Blut und in der Wunde selbst staken noch zwei Glassplitter. Yuugi mochte gar nicht hinsehen. Atemu kannte da schon weniger Bedenken, er ließ Yuugi auf dem Badewannenrand Platz nehmen, setzte sich daneben und säuberte als erstes das Bein von dem Blut, ehe er vorsichtig die Glassplitter entfernte. Der Verletzte verzog schmerzerfüllt das Gesicht, sagte aber nichts. Atemu versorgte die Wunde routiniert und verband sie abschließend. Anschließend trug er ihn bis ins Schlafzimmer und setzte ihn dort aufs Bett. „Hier bleiben! Ich bin sofort wieder da.“, versprach er warm lächelnd. Yuugi hätte sich gar nicht fortbewegen wollen, sodass er ruhig auf Atemu wartete, bis dieser das Licht löschte und sich dann zu Yuugi ins Bett kuschelte. In Atemus‘ Armen sah alles schon viel besser uns und leise begann Yuugi Atemu von dem Anschlag zu erzählen.

Der Stern

Der Stern: Er leuchtet über einer hoffnungsvollen Zukunft. Er zeigt uns, dass der Himmel bei uns ist, egal ob in Gefühlsdingen oder in materieller Hinsicht. Wir können beruhigt langfristig planen und auf ein gutes Gelinge bei allem hoffen.
 

September 2008, Manhattan, New York City, United States of America

Etwas kitzelte ihn. Atemu verzog unwillig das Gesicht, das Bett war so schön warm und weich und der Traum so angenehm, dass er nicht erwachen wollte. Doch etwas Weiches berührte seine Wange und es ließ sich nicht mehr ignorieren, sodass er mit einem Grummeln erwachte und die Augen aufschlug. Ganz dicht über sein Gesicht gebeugt war da Yuugi, der lächelte. Seine Haare streiften Atemus‘ Gesicht, was kitzelte, aber Atemu konnte ihm nicht mehr böse sein. Jedoch hinderte ihn das nicht daran, einen Schmollmund zu ziehen und zu sagen:„Ich wollte schlafen, Yuugi!“ Yuugi grinste:„Dir auch einen schönen guten Morgen. Und ich weiß etwas viel schöneres als Schlafen!“ „Ach ja?“, kam es interessiert von Atemu zurück. Er war zwar noch müde, aber dafür könnte man ihn von den Toten aufwecken. Erst jetzt bemerkte er, dass Yuugi rittlings auf seiner Hüfte saß und bereits anzüglich grinste. Atemu verschränkte seine Arme in Yuugis‘ Nacken um ihn erst in einen Kuss und dann die Bettdecke über sie beide zu ziehen.

Es war eine große Umstellung gewesen, nach New York zu ziehen, zwar war auch London eine Metropole gewesen, aber New York war nun mal um einiges größer und auch hektischer. Nichts desto trotz ging es ihnen sehr gut, hier. Immerhin war auch Yuugis‘ Bein wiederverheilt, die Wunde war nicht tief gewesen und unter Atemus‘ fachmännischer Pflege war alles, was zurückgeblieben war, eine kleine Narbe, die jedoch kaum zu sehen war, denn auch die Haare, die Atemu zwecks besserer Wundversorgung unter Yuugis‘ empörten Blick abrasiert hatte, waren wieder nachgewachsen und verdeckten die Wunde. Sie lebten jetzt seit gut einem Monat hier, ließen einfach nur die Seele baumeln und taten nichts weiter. Das einzige, was sie getan hatten, war sich in einem Fitnessstudio anzumelden, ansonsten hatten sie noch nicht eingesehen, weshalb sie arbeiten sollten. Zwar gab es im Bundesstaat New York keine Todesstrafe mehr, auch, wenn die Republikaner das gerne ändern würden, jedoch war dies ja kein Grund, die Gefahr extra zu suchen und da die beiden wahrlich genug Geld besaßen, überlegten sie zurzeit ernsthaft, ob sie jemals wieder dieser Tätigkeit nachgehen sollten. Sie schliefen zwar beide nach wie vor beide mit einer Waffe unter dem Kopfkissen, aber insgeheim hofften sie, diese nie wieder benutzen zu müssen. Yuugi rechnete sich bereits aus, irgendeiner ehrbaren Tätigkeit nachgehen zu können – nur so, zum Spaß – und im nächsten Jahr vielleicht seine Freunde wiedersehen zu können. Atemu hatte nicht einmal etwas dagegen. Im Grunde genommen lief alles so gut, dass Yuugi sich schon zu fragen begann, wo der Haken war, er war es gar nicht mehr gewohnt, dass alles gut ging, dass nichts ihnen in die Quere kam, aber er genoss es ganz außerordentlich.

Natürlich konnte es nicht ewig so weitergehen, und als sie das Halloweenfest überstanden hatten, ohne sich allzu sehr von den ihnen doch recht ungewohnten amerikanischen Feierlichkeiten zu dieser Gelegenheit mitreißen zu lassen, da wurde ihnen dies auch immer bewusster. Es waren diesmal zwar keine misstrauischen Nachbarn, nein, es waren nicht einmal die Yakuza, die sie dazu anhielten – vielmehr hatten sie selbst keine Freude daran, so lange untätig zu bleiben. So kam es, dass sie beim Frühstück – üblicherweise bestehend aus viel Cappuccino und einem Croissant – darüber diskutierten. Erst bei dieser Gelegenheit fiel Yuugi auf, dass er, da er seine Schulbildung ja unterbrochen hatte, keinen Schulabschluss besaß und somit kaum in der Lage wäre, irgendwo eine Stelle als Angestellter zu finden. Natürlich könnte Atemu die Dokumente einfach für ihn fälschen, vielleicht könnte Yuugi es sogar selbst, Atemu hatte ihm gezeigt, wie man das machte und es war nicht einmal besonders schwierig, aber Yuugi machte sich über das ihm fehlende Wissen Sorgen, was Atemu zwar nicht verstand, aber immerhin als Grund durchgehen ließ. Folglich schränkte dies die Jobauswahl stark ein und die Diskussion kam nur recht schleppend voran. Yuugi blätterte die Tageszeitung durch, immer auf der Suche nach einem Angebot, dass er gewillt wäre anzunehmen, aber dummerweise war er recht wählerisch, immerhin war er einmal von einer Führungsposition ausgegangen. Atemu war schon ziemlich genervt und entsprechender Weise bei seiner dritten Tasse Kaffee. Yuugi bemerkte es nicht einmal, er fluchte über die angeblich furchtbaren Angebote, während Atemu sich seine vierte Tasse einschenkte und den Kopf schüttelte. „Warum suchst du so krampfhaft nach einem Job?“, fragte er verständnislos. Yuugi hob den Kopf, offenkundig erstaunt darüber, dass Atemu diese Frage überhaupt stellte. „Wir gelten doch so als arbeitslos, oder? Wir können doch nicht von den Steuergeldern der Amerikaner leben, wo wir doch Geld genug haben und eigentlich sogar… Verbrecher sind.“ Es war das erste Mal, dass er das Wort Verbrecher benutzte und es kam ihm sichtlich schwer über die Lippen. Es war ein Aspekt, über den er nicht gerne nachdachte, verständlicherweise. „Mach dir keine Gedanken. Wir leben nicht von Steuergeldern, ich habe uns nicht als arbeitssuchend gemeldet.“, murmelte Atemu in seine Kaffeetasse. Yuugi schien allerdings nur wenig beruhigt und blätterte die Seiten so hastig um, dass er sie zerriss. „Wie hast du das in Japan gemacht, hast du von den Steuergeldern meines Vaters gelebt?“, fragte er ein wenig abwesend. Atemu lachte:„Nein, nur in Paris und London, weil ich da nicht sicher sein konnte, wie es um unsere Einnahmen stehen würde.“ Aufblickend legte Yuugi den Kopf schief:„Und es hat niemals jemand gefragt, von wo dein Geld kam?“ „Ich gehöre zur Familie der Yamaguchi-gumi. Es hat niemand gefragt.“ Atemu sagte das mit einer solchen Bestimmtheit, dass Yuugi lieber nicht nachfragen wollte, was geschehen war, wenn doch jemand auf den Gedanken gekommen sein sollte. Entnervt schob er die Zeitung von sich. „Nichts!“, rief er aus, „Es steht nichts drin!“ Mit der freien Hand – in der anderen hielt er die Tasse Cappuccino – angelte Atemu sich die Zeitung und sah selbst nach. Sehr bald schon protestierte er:„Das stimmt doch gar nicht. Hier, schau mal, dieses Diner sucht einen Tellerwäscher und dieses Restaurant einen Kellner. Außerdem könntest du hier für diese ältere Damen einkaufen gehen oder für einen alten Mann die Wohnung putzen. Da sind eine Menge Angebote, die man ohne Schulabschluss problemlos erledigen kann.“ Yuugi starrte Atemu an, als habe dieser den Verstand verloren. „Putzen? Andere Leute bedienen? Das hab ich ja noch nicht mal gemacht, als ich noch in Domino gewohnt habe, da hatten wir Personal für sowas.“, sagte er entrüstet. Erneut schüttelte Atemu den Kopf, nahm einen tiefen Schluck Cappuccino und nuschelte dabei etwas in die Tasse, das verdächtig nach „Verwöhntes Balg.“ klang. Yuugi überging diesen Kommentar wohlweislich, womöglich hatte Atemu ja Recht, aber als er daran gedacht hatte, selbst arbeiten zu wollen, da hatte er nicht so etwas im Sinn gehabt.

„Du könntest dich ja auch selbstständig machen.“ Dieser Einwand Atemus‘ klang verlockend, warf aber die Frage auf, womit er das denn tun solle. Dennoch ging Yuugi die Idee in den nächsten Tage nicht mehr aus dem Kopf und als die ersten Weihnachtsmärkte öffneten und Yuugi Atemu zwang, diese mit ihm zu besuchen, hatte er schließlich eine Idee. Begeistert berichtete Yuugi Atemu davon, als sie an einem Glühweinstand standen und Atemu mit säuerlicher Miene – wegen der Weihnachtsmannmütze, auf die Yuugi ebenfalls bestanden hatte – mehr Glühwein trank, als gut für den menschlichen Organismus sein konnte. Sein Atem roch eindeutig alkoholisiert und er hatte ein gewisses Problem damit, geradeaus zu laufen, aber das war ihm egal. „Kampfsport, ja?“, echote er und schaffte es irgendwie, dass seine Stimme ganz normal klang. Yuugi stellte nickend seine leere Kakaotasse ab. „Ja, das hast du mir doch mehr als gut beigebracht, warum also nicht?“, erklärte Yuugi begeistert. Bedächtig legte Atemu den Kopf schief. Sein Verstand arbeitete noch halbwegs normal, sodass er sagte:„Du hast nicht eine Prüfung abgelegt, die dich offiziell dazu berechtigen würde. Und du willst ja nicht, dass ich deine Dokumente fälsche.“ „Ja… aber du hast diese Prüfungen doch sicher gemacht, oder?“, fragte Yuugi hoffnungsvoll. Atemu bestätigte dies durch ein Nicken, während er weiter Glühwein trank. „Dann kannst du mir die Prüfungen doch abnehmen, oder?“, forschte Yuugi weiter. „Das kann ich tun, sofort, wenn du willst.“, stimmte Atemu zu und grinste. Doch sein Gegenüber schüttelte den Kopf:„Nein, du bist betrunken.“ „Nicht so betrunken, dass ich dich heute Nacht nicht noch-“ Weiter am Atemu nicht, da hielt ihm Yuugi rasch den Mund zu und zog ihn dann durch die Menschenmassen vom Weihnachtsmarkt herunter und in Richtung U-Bahn, um nach Hause zu fahren. Atemu störte das nicht, er zog sich die verhasste Mütze vom Kopf und warf sie in den Straßenrand.

Der nächste Morgen begann für Atemu viel zu früh, denn Yuugi war so begeistert von seiner Idee, dass er Atemu bereits um acht Uhr morgens weckte, damit sie sich um alles kümmern konnten. Atemu jedoch fand es gar nicht lustig, jetzt schon aufzustehen und drehte sich nur grummelnd auf die andere Seite. „Kann man denn hier nicht mal in aller Ruhe seinen Rausch ausschlafen?!“, nörgelte er. „Selbst Schuld.“, argumentierte Yuugi dagegen, änderte aber seine Strategie. „Komm schon, steh auf, es gibt auch Kaffee!“, drängte er. Sofort saß Atemu senkrecht im Bett. „Kaffee?“, fragte er. Yuugi grinste:„Ja, in der Küche. Musst du dir wohl erst noch machen.“ „Pff.“, kam es von Atemu, er warf eines der Kissen nach Yuugi und kuschelte sich dann wieder in die Decke.

Eine halbe Stunde und zwei Tassen Kaffee später war Atemu dann doch aufgestanden um Yuugi zu helfen, sodass sich die beiden nun mehr oder weniger wach am Frühstückstisch gegenüber saßen. Yuugi hatte das alles schon ganz genau geplant. Da Atemu ihm ja zuerst die Prüfungen abnehmen würde müssen, brauchte Atemu als erstes Dokumente, die bestätigten, dass er selbst diese Prüfungen absolviert und somit dazu berechtigt war. Die Yamaguchi-gumi hatten Atemu damals ausgebildet und er hatte die Prüfungen ordnungsgemäß abgelegt, sogar unter seinem richtigen Namen. Deswegen ließen sich die Originaldokumente nun natürlich nicht verwenden, sodass sie diese erst einmal fälschen mussten. Da dies eine ganze Menge an Dokumente war, beanspruchte diese Tätigkeit den gesamten Tag, gleichwohl Yuugi ebenfalls mithalf. Es war das erste Mal, dass Yuugi Dokumente nicht nur zu Übungszwecken fälschte, aber weil er wusste, dass Atemu ihm notfalls helfen könnte, blieben seine Hände völlig ruhig – was wiederum ein Eingreifen Atemus‘ vollkommen überflüssig machte. Erst, als es dämmerte wurden sie fertig. Yuugi ging zum Kühlschrank um zu schauen, was er kochen könnte – das war etwas, was er meistens übernahm, da Atemus‘ Kochkünste zwar nicht direkt schlecht waren, Atemu dafür nach dem Kochen zumeist diverse Verletzungen aufwies; um genau zu sein war Yuugi zu dem Schluss gekommen, dass es gefährlicher für Atemu war, zu Kochen oder zu Backen, als seinem Beruf nachzugehen – während Atemu noch einmal die gefälschten Dokumente durchsah. Schließlich nahm er einige zur Hand und begann, Eselsohren hinein zu knicken und zwei von ihnen einzureißen. Beinahe hätte Yuugi die Milch verschüttet, als er das sah. „Hey!“, protestierte er, „Ich dachte, die wären in Ordnung!“ Schnell trat er an dessen Seite, sein Blick eine Mischung aus Wut und Verständnislosigkeit. Aber Atemu lächelte nur:„Das sind sie auch. Aber ich habe diese Prüfungen im Alter von zwölf beziehungsweise dreizehn Jahren abgelegt – da kannst du nicht erwarten, dass sie noch in einem einwandfreien Zustand wären. Oder wie sehen so alte Sachen bei dir aus?“ Yuugi nickte beruhigt und trat zurück an den Herd, während er zugeben musste:„Meine Eltern haben meine Urkunden eingerahmt oder zumindest ordentlich abgeheftet.“ Atemu gab einen unartikulierten Laut von sich:„Du bist halt einfach nicht normal.“, attestierte er. Damit aber konnte Yuugi leben.

Bis er fertig gekocht hatte, hatte Atemu genug an den Urkunden gearbeitet, sodass er sie fortpackte, als Yuugi auftischte. Jedoch hatte Atemu noch keine Ruhe, nur, weil er Yuugis‘ Wunsch bezüglich des Kampfsportstudios erfüllt hatte. Denn Yuugi hatte noch mehr Pläne. „Duuu?“, fragte er Atemu mit jenem Ausdruck in den Augen, der es Atemu so entsetzlich schwer machte, ihm irgendetwas abzuschlagen. Aus diesem Grund blickte er bewusst nur auf sein Essen, als er kurzangebunden „Ja?“, sagte. Breit lächelnd führte Yuugi seine Gedanken aus:„Weißt du, es ist ja bald Weihnachten und auch, wenn du nicht einsiehst, das zu feiern, so würde es mir viel bedeuten, das zu tun, weil ich es mit meiner Familie nie konnte. Jedenfalls schenkt man sich doch normalerweise etwas zu Weihnachten, was bei uns ja nicht viel Sinn macht, da wir eh alles gemeinsam besitzen und ich außerdem wunschlos glücklich bin.“ Bestätigend nickte Atemu und dadurch bestärkt fuhr Yuugi fort:„Da es also nichts bringt, sich gegenseitig etwas zu schenken, dachte ich, wir könnten uns ja etwas gemeinsam gönnen… eine Reise, zum Beispiel…“ Yuugis‘ Tonfall machte Atemu klar, dass Yuugi sich alles schon sehr genau überlegt hatte, also fragte er nur weiter:„Und wohin sollen wir reisen?“ Yuugi lächelte zurück:„Ägypten.“ Mit dieser Antwort hatte Atemu nun keineswegs gerechnet. Verblüfft die Augenbrauen hebend fragte er:„Ägypten? Wie kommst du darauf?“ „Da solltest du doch wirklich selbst drauf kommen können!“, rief Yuugi aus und gestikulierte dabei wild meiner seiner Gabel:„Immerhin bist du zur Hälfte Ägypter, hast das Land aber nie gesehen, das sollte man doch ändern, meinst du nicht?“ Atemu lächelte. „Also schön. Ägypten.“
 

Bevor sie jedoch das Flugzeug betraten, geschah noch einiges mehr. Als erstes mieteten sie sich eine Halle, groß genug für ihr Unternehmen Kampfsportstudio, richteten sie ein und begannen dann in selbiger für Yuugis‘ Prüfungen zu üben. Denn obgleich Yuugi die Bewegungsabläufe beherrschte, so hatte Atemu ihm nie die entsprechenden Namen oder die dazugehörigen Riten erklärt – woher hätte er damals auch wissen sollen, dass das einmal von Nöten sein würde? Jedenfalls holten sie dies nun nach und genossen nebenbei den Umstand, selten so ideale Trainigsbedingungen gehabt zu haben. Erneut erwies Atemu sich als guter Lehrer, aber grade jetzt war das ja auch nicht mehr schwierig, denn im Grunde musste Yuugi nur noch die entsprechenden Namen lernen. So prasselte eine Flut von Namen auf Yuugi herab, während dieser versuchte, ihnen allen die richtige Bewegung zuzuordnen. An Motivation mangelte es ihm dabei sicher nicht, denn Atemu kannte eine Reihe drakonischer Strafen, wenn er sich zu häufig irrte. Liegestützen über zwei Dutzend brennender Kerzen oder auf den Knöcheln zählten dabei noch zu den milden Varianten und so kam es, dass Yuugi innerhalb von zwei Wochen nicht ein einziger Fehler mehr unterlief. Unter diesen Umständen dauerte es nicht lange, ehe Yuugi zu seiner ersten Prüfung zugelassen wurde. Zugelassen, freilich, war ein zu großes Wort, denn nur Atemus‘ Unterschrift war dazu nötig gewesen. Für die Prüfung aber waren zwei Prüfer nötig, weswegen sie sich an ein anderes Dojo wandten. Zusammen mit zwanzig anderen legte Yuugi dort seine erste Prüfung ab. Er erinnerte sich gut, als er vor mittlerweile anderthalb Jahren zuletzt eine Klausur geschrieben hatte – da war er schrecklich nervös gewesen. Nun aber war er überhaupt nicht nervös, im Gegenteil, er war viel ruhiger und selbstsicherer geworden, er wusste, dass er es konnte. Als erstes wurden ein paar Grundpositionen abgefragt, aber als der andere Prüfer – nicht Atemu, der saß nur in gespielter Bescheidenheit daneben – Yuugi die erste Aufforderung „Kiba-Dachi“ nannte, da wurde er ruhiger und über „Heisoku-Dachi“ gewann er an Sicherheit und meisterte erst die Grundstellungen und dann mit besonderer Bravour jede der Verteidigungstechniken. Atemu grinste und unterzeichnete schwungvoll die Urkunde, die Yuugi in den 5. Kyu-Dan erhob. Gleich darauf brannte er darauf, sich an die nächste Prüfung zu begeben, aber dazu würde er laut dem Reglement ein halbes Jahr warten müssen. Unterrichten durfte er aber trotzdem schon, zumindest unter Atemus‘ Aufsicht. Dennoch eröffneten sie ihr Dojo noch nicht. Immerhin stand eine Reise an.

Eine Woche bevor es endlich losgehen sollte – Yuugi hatte jeden Tag minutiös geplant und mit seiner Vorfreude sogar Atemu angesteckt, auch, wenn sich dessen Vorfreude eher darin äußerte, dass er sich bemühte, ein wenig arabisch zu lernen. Yuugi genügte das als Beweis seiner Vorfreude. Aber es gab noch etwas, das getan werden wollte, ehe sie aufbrachen, etwas, das sich kurzfristig dazwischenschob und Yuugi nicht grade gelegen kam. Es handelte sich mal wieder um einen Auftragsmord, dieses Mal einen Racheakt, die Frau war vermögend und schnell gekränkt, sodass sie ihren ehemaligen Geliebten nun tot sehen wollte und wohl auch konnte. Was genau der Mann getan hatte, um dieses Schicksal zu verdienen, danach hatte Atemu nicht gefragt, es interessierte ihn nicht, und Yuugi ebenfalls – jedes überflüssige Wissen könnte die Sache persönlich und somit schwieriger machen. Das Beste war es immer noch, schnell und aus der Distanz zu töten, ohne, dass eine persönliche Bindung entstehen konnte. An Yuugi hatte Atemu gelernt, dass das nur hinderlich sein konnte, auch, wenn er es in Yuugis‘ Fall keineswegs bereute.

Am Vorabend ihres Fluges also machten sie sich auf den Weg, den Mann zu töten. Sie hatten vorgehabt, das nicht wieder zu tun, aber dann hatten sie doch zugestimmt. Am Geld hatte es nicht gelegen, davon hatten sie genug, auch das Töten an sich war, auch, wenn es ihnen nichts mehr ausmachte, nicht unbedingt spaßig. Es war aber eher so, dass die Yamaguchi-gumi ein gewisses Interesse daran hatten, dass vor allem Atemu nicht aufhörte – Interesse an diesem speziellen Fall hatten sie zwar nicht, aber sie wünschten nun einmal, dass sie auch später noch auf Atemu würden zurückgreifen können. Atemu hatte im Grunde genommen auch nichts dagegen gehabt und Yuugi hatte schließlich seufzend zugestimmt – nachdem er Atemu das Versprechen abgerungen hatte, nicht mehr als vier Fälle pro Jahr zu bearbeiten. Mit diesem Arrangement konnten sie beide gut leben und mit der Aussicht auf den bald anstehenden Urlaub legten sie den Weg regelrecht beschwingt zurück. Es war früher Nachmittag, als sie in der Innenstadt ankamen, die Straßen waren belebt und man hatte Mühe, nicht von Touristen überrannt zu werden. Derartige Probleme kannte Atemu nicht, irgendwie machten die Menschen immer einen Bogen um ihn, weswegen Yuugi sich eng an ihn hielt. Ausnahmsweise trugen sie kein schwarz, hätten sie noch Kameras dabei, würden sie wohl als typische japanische Touristen durchgehen, scherzte Yuugi. Dieser Auftrag unterschied sich in vielen Aspekten von allen Vorherigen. Nicht nur, weil sie ihn mitten am Tag ausführten oder weil sie keine Tarnkleidung benötigten. Nein vor allem, weil sie in keine Wohnung oder Büro einbrechen mussten. Tatsächlich war alles, was sie tun mussten, Eintrittskarten zu kaufen – denn sie gedachten ihrem Opfer im Kino aufzulauern. Seine Exfrau hatte ihnen erzählt, dass er jeden Donnerstagabend dort zu finden sei, sodass sie, nachdem sie ihre Karten und um der Tarnung Willen zudem einen Eimer Popcorn gekauft hatten, nach und nach die einzelnen Säle abklapperten um den Mann zu suchen. Zu ihrem Glück mussten sie nicht lange suchen, bereits im dritten Saal wurden sie fündig. Da es sich um ein altes Retrokino handelte – auch der Film, der gezeigt wurde, war mindestens vierzig Jahre alt und schwarz-weiß – gab es auch keine Platzkarten. Viele Menschen waren nicht anwesend, das machte es leichter. Die beiden setzten sich hinter den Mann, den zu töten sie gedachten, blieben eine halbe Stunde sitzen, obwohl der Film himmelschreiend langweilig war. Yuugi bedauerte diesen Umstand regelrecht, denn eigentlich genoss er die nostalgische Atmosphäre und hätte er nicht gewusst, dass gleich ein Mensch sterben würde, hätte er sich sogar wohl gefühlt. Aber er durfte ja nicht mal Popcorn essen, denn Atemu bestand darauf, kein Risiko einzugehen, was Spuren anging. Yuugi bemühte sich, sich auf den Film zu konzentrieren, damit er nicht daran denken musste, was gleich geschah. Nach einer halben Stunde dann zog Atemu, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand mehr hinter ihm saß, ganz unauffällig einen Schraubenzieher aus der Tasche, den er von der Baustelle gegenüber dem Kino hatte mitgehen lassen. Diesen nutzte er nun um den Mann hinterrücks zu erstechen. Er starb schnell, sogar beinahe lautlos, aber da sie eine laute Stelle des Filmes gewählt hatten, fiel das nicht weiter auf. Yuugi sah gezwungenermaßen hin, er wollte sichergehen, dass nichts schief ging. Ihm waren die Morde am liebsten, bei denen er aus der Distanz jemanden erschoss. Obwohl es hier ging, immerhin musste er dem Mann nicht ins Gesicht sehen, er sah nur seinen Nacken und einen Kranz schütternen Haares. Anschließend mussten sie noch den Rest des Filmes ertragen, denn es würde ja auffallen, wenn sie früher gingen. Die ganze Zeit über war Yuugi mehr als nervös, denn nicht nur, dass eine Leiche gleich vor ihm auf dem Sitz lag – Atemu hielt auch noch die Mordwaffe in der behandschuhten Hand. Und obgleich Atemu es nicht zugab, so war er doch ebenfalls nervös und froh, als sie diesen Ort schnell verlassen konnten. Jedoch mussten sie auch hierbei Vorsicht walten lassen, um nicht auffällig schnell zu gehen. Es kam ihnen beiden quälend langsam vor. Das Entfernen von Perücke und Kontaktlinsen wurde in einem kleinen Café zwei Straßen weiter vollzogen, ehe sie nach Hause fuhren. Yuugi war mehr als froh, dass sie das Land bald verlassen konnten, denn dies war ihr vielleicht brisantester Mord gewesen, da er in aller Öffentlichkeit geschehen war.
 

Dezember 2008, auf dem Nil bei Memphis, Ägypten

Es war Mittag und Yuugi war angenehm überrascht, dass es überhaupt nicht heiß war. Er hatte angenommen, in Ägypten müsse es schrecklich heiß sein, aber es war Winter und in dieser Gegend bedeutete das, dass es nicht wärmer als zwanzig Grad wurde, sodass die beiden es sich bei höchst angenehmen sechszehn Grad auf dem Deck des Schiffes bequem gemacht hatten.

Ihre letzte Woche in New York war ein wenig unangenehm gewesen, da Yuugi schreckliche Angst wegen des begangenen Mordes gehabt hatte, über den in allen Zeitungen und auch im Radio und Fernsehen berichtete worden war, aber nie war die Polizei vor ihrer Haustür aufgetaucht, denn es wiesen einfach keine Spuren auf sie. Dennoch war die Erleichterung groß gewesen als sie vor drei Tagen in Kairo angekommen waren. Dort hatten sie erst einmal einen Tag verweilt um den Jetlag auszugleichen, aber dann hatten sie es nicht ausgehalten, den ganzen Tag im Zimmer zu bleiben und waren auf Kamelen hinausgeritten um sich die berühmten Pyramiden von Gizeh und die Sphinx anzusehen. Der Anblick war überwältigend gewesen, natürlich, auch der trockene Wüstenwind hatte sie nicht davon abgehalten, den ganzen Tag dort zu verbringen. Dazu mochte vielleicht auch die Tatsache beigetragen haben, dass Kairo keine wirklich schöne Stadt war, es war laut und stank. So waren sie am heutigen Morgen zu einer Nilkreuzfahrt aufgebrochen, deren erstes Ziel die Stadt Memphis war. Im alten Ägypten hatte man die Stadt, auch gerne als Waage der beiden Länder bezeichnet, Men-nefer geheißen und sie war eine Zeit lang Hauptstadt des ägyptischen Reiches gewesen. Entsprechend groß waren die Kulturgüter und entsprechend lang würde ihr Aufenthalt dort sein. Aber es war deswegen nicht so, als könnten sie ihre Ankunft kaum erwarten, vielmehr genossen sie die Fahrt über den Nil in vollen Zügen. Das Land Ägypten war von einer rauen Schönheit, das Land um den Nil war fruchtbar – weswegen es von den Ägyptern nach dem fruchtbaren Schlamm schwarzes Land genannt worden war – und um das Nilwasser wuchsen Papyrusstauden und Gräser von sattem grün. Palmenhaine säumten die Strecke, die sanft im Wind wogten. Dahinter begann das, was die alten Ägypter das rote Land genannt hatten – die Wüste. Über all‘ dem stand ein strahlend blauer Himmel. So schön sah all‘ dies aus, dass es Yuugi beinahe die Tränen in die Augen trieb – und auch Atemu konnte sich einer gewissen Ergriffenheit nicht erwehren. Er war nie hier gewesen, kannte nicht einmal die Mutter, der er seine ägyptischen Wurzeln verdankte, aber er fühlte sich auf eine Art mit diesem Land verbunden, die er bisher nicht gekannt hatte.

Gegen Abend machten sie am Ufer bei Memphis fest; Führungen, die von Seiten der Kreuzfahrtleiter angeboten wurden, würden jedoch erst am nächsten Tag stattfinden. Und dann, in ein paar Tagen erst, würden sie weiter fahren, nach Theben und nach Abu Simbel und zu allem, was man sonst noch gesehen haben musste. Aber erst einmal streiften die beiden durch die Stadt, die heutige Stadt, wohlgemerkt, nicht die Ruinen oder die Nekropole. Da sie sich nicht auskannten, gingen sie einfach aufs gradewohl los. Atemu war still und nachdenklich, gleichwohl seine Augen wach und aufmerksam alles um sich herum aufsogen. Yuugi aber hatte eine Ahnung, woran Atemu dachte:„Du denkst an deine Mutter, oder?“ Kurz trat ein überraschter Ausdruck auf Atemus‘ Gesicht, aber dann lächelte er, denn eigentlich es ja nichts Neues mehr, dass Yuugi seine Gedanken so gut erkannte. Obwohl es eine ganze Weile gedauert hatte, ehe Atemu sich damit abgefunden und daran gewöhnt hatte, dass es jemanden gab, der ihn kannte, der seine Gesichtsausdrücke und Gesten zu deuten wusste, der an der Art, wie er seine Kaffeetasse auf den Tisch stellte, erkennen konnte, wie er geschlafen hatte und der sich trotzdem niemals aufdringlich benahm. Manchmal war er immer noch überrascht, manchmal war es ihm auch unangenehm, denn er wollte kein offenes Buch für jemanden sein, nicht alles preisgeben. Andererseits waren seine Geheimnisse bei Yuugi gut aufgehoben. Nur änderte das nichts… In diesem Fall aber war es wirklich nicht schlimm, Atemu antwortete bereitwillig:„Ja… ich weiß nicht einmal, aus welcher Stadt sie kommt, dabei würde ich sie so gerne suchen, wo ich schon einmal hier bin. Aber es ist dumm, natürlich, Ägypten ist ein großes Land und ich kenne nicht einmal ihren Namen oder ihr Aussehen.“ Es ehrte Yuugi, dass er Atemu das zu verständnisvolle Lächeln ersparte sondern nur nüchtern sagte:„Das ist doch nur natürlich, jeder würde seine Mutter finden wollen.“ Seufzend gab Atemu ihm Recht, und auch, wenn die Stadt durchaus anziehend war, so ließ ihn der Gedanke nicht mehr los.

Erst der nächste Morgen verscheuchte diese Fragen, als sie nämlich vom Schiff aus mit ihren Mitreisenden und ihrem Reiseführer zu den Ruinen aufbrachen. In Memphis fanden sich die Ruinen verschiedener Tempel – so die der Gottheiten Ptah, Isis und Re – außerdem Wohnhäuser und Palastruinen. Die Nekropole und die Tempel außerhalb der Stadt würden am nächsten Tag folgen. Yuugi und – ja, Yuugi hatte seinen Augen erst einmal nicht getraut – auch Atemu verbrachten den größten Teil des Tages mit offenen Mündern und – wie könnte es anders sein? – mit gezückten Kameras. Yuugi schoss Unmengen von Bildern, Atemu selbst hielt wenig davon, aber auf Yuugis‘ Bitten posierte er dann doch vor einer Statue Ramses‘ II. Zur Mittagszeit hatten sie ein wenig Freizeit, die sie dazu nutzen, die Ruinen auf eigene Faust zu erkunden, soweit ihnen das erlaubt war. Sie kauften sich jeder eine Falafel und suchten sich ein schattiges Plätzchen, um jene zu verspeisen. Im Schatten eines gewaltigen Obelisken fanden sie dann einen solchen Platz. Während sie so dort saßen und die Hieroglyphen auf dem Obelisken betrachteten, legte Yuugi den Kopf schief und sah auf eine der unteren Stellen, wo Personen abgebildet waren. Atemu folgte seinem Blick neugierig und als er sah, was auch Yuugi sah, da starrten sie eine Weile schweigend und verblüfft auf die betreffende Stelle. „Der… ähm… der sieht uns ganz schön ähnlich, oder?“, fragte Yuugi dann mit Blick auf den betreffenden Pharao, welcher trotz der stilisierten Figur eine frappierende Ähnlichkeit mit ihnen beiden aufwies – denn er hatte die gleiche Frisur wie sie. „Das könnte einer meiner Vorfahren sein!“, meinte Atemu, klang dabei aber eher belustigt. Yuugi prustete los:„Du als Pharao! Etwas Dümmeres kann man sich wohl nicht ausdenken!“

Atemu sah ein wenig säuerlich aus.
 

Anderthalb Wochen später hatten sie beide einen Ort gefunden, der ihnen lieber war als Rom und das war Ägypten. Sie hatten am gestrigen Tag Theben erreicht. Diese Stadt übertraf Memphis noch an Bedeutung, auch hier hatten Pharaonen geherrscht, damals hatte die Stadt noch Waset geheißen. Heute aber genossen Atemu und Yuugi den Trubel, der jetzt in ihren Straßen herrschte. Es war Markttag und die Straßen waren zum Bersten voll. Atemu, der eigentlich keine Menschenmassen mochte, genoss es heute aber ausnahmsweise, sich von der Menge tragen zu lassen. Seit sie in Ägypten waren wirkte er gelöster und lockerer – nur nachts nicht, nachts dachte er an seine Mutter und es stimmte Yuugi traurig, den immer unglücklichen Ausdruck nicht aus Atemus‘ Gesicht verschwinden lassen zu können. Daran aber dachte Yuugi in diesem Augenblick nicht, als er sah, wie Atemus‘ Blick wie magnetisch von etwas angezogen wurde. Neugierig folgte Yuugi diesem Blick, aber was er daraufhin sah, gefiel ihm gar nicht. Atemu nämlich sah zu zwei Frauen hinüber, welche den Markt grade verlassen wollten. Offenbar zählten sie zu der christlichen Minderheit, denn sie trugen keine Kopftücher. Da sie grade fortgingen, konnte man sie nur von hinten sehen. Die junge Frau hatte langes, schwarzes Haar, das im Sonnenlicht bläulich schimmerte. Sie stützte eine Frau, die gebückt ging und deren Haar grau und zu einem Dutt geflochten war, aber der galt Atemus‘ Blick ja somit sicherlich nicht. Yuugi schnaubte und fasste Atemu wütend am Arm. „Ich dachte, wir hätten das Thema! Hör auf anderen Frauen hinterher zu sehen!“, sagte er wütend und zog Atemu hinter sich her. „Yuugi!“, protestierte Atemu, dessen Augenmerk gar nicht der jüngeren, sondern der älteren Frau gegolten hatte, und wollte sich losreißen, aber erbarmungslos zog Yuugi ihn hinter sich her, normalerweise war er nicht so stark wie Atemu, aber die Wut verlieh ihm Kraft. Atemu sah noch über die Schulter zurück zu den Frauen, aber dann zog Yuugi ihn weiter. Grade, als er den Blick wieder abwandte, drehten sich die Frauen ebenfalls um. Die ältere der beiden starrte ihnen hinterher, aber nun drehten sich weder Atemu noch Yuugi noch einmal um.

So entging ihnen, dass die Augen der älteren Frau ebenso rot leuchteten, wie die Atemus‘.

Die Welt

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Welt (zensiert)

Die Welt: Die Karte steht für Vollendung und ein Happy End. In unserem Leben herrscht Harmonie, alles ist so, wie wir es uns immer gewünscht haben. Pläne werden verwirklicht, oder es kann auch ein neuer, überraschender Kontakt winken.
 

Juli 2009, LaGuardia Airport, Queens, New York, United States of America

„Ach komm schon, Atemu, jetzt sag es mir doch endlich!”, bettelte Yuugi, aber Atemu grinste nur und schüttelte den Kopf. Yuugi zog einen Schmollmund, aber das nutzte ihm nichts. Atemu schwieg. Sie saßen nun seit einer halben Stunde in der Wartehalle des Flughafens, hatten eingecheckt, aber da Atemu dies wie immer für Yuugi mit übernommen hatte, hatte dieser keine Ahnung, was Atemu dieses Mal mit ihm vorhatte.

Sie waren Mitte Januar aus Ägypten gekommen, obwohl sie gerne länger geblieben wären. Aber sie konnten ja immer wieder kommen. Die Frau mit den roten Augen hatten sie nicht mehr wiedergesehen, sie hatten aber auch nicht gesucht. Atemu hatte Yuugi nämlich nicht gesagt, dass seine Aufmerksamkeit der älteren und nicht der jüngeren Frau gegolten hatte. Das hatte zwei Gründe. Der eine war beinahe erschreckend trivial: Es war eine Trotzreaktion, weil Yuugi ihn von den beiden Frauen fortgezogen hatte. Immerhin hatte er ihm versprochen gehabt, keinen Frauen mehr hinterher zu schauen und er hatte es auch nie wieder getan. Dass Yuugi ihm nun unterstellte, dieses Versprechen zu brechen, das hatte ihn verletzt. Der zweite Grund aber wog schwerer: Atemu war sich der Tatsache, wie unwahrscheinlich gering die Chance, seine Mutter zu finden, war, bewusst und er wusste, das Schicksal würde ihm eine solche Chance nicht noch einmal zuspielen. Und selbst wenn er es schaffen würde, diese alte, vor Gram gebeugte Frau wiederzusehen, was würde ihm das bringen? Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte, wie er sein Leben rechtfertigen sollte – aber auch, weswegen er es überhaupt rechtfertigen müsste, wusste er nicht, denn nach so vielen Jahren, in denen er niemals Kontakt zu ihr gehabt hatte, konnte er sich nicht vorstellen, eine normale Beziehung zu ihr aufbauen zu können, es war zu viel Zeit vergangen, die Zeit, in der er ein kleiner Junge gewesen war und eine Mutter gebraucht hatte, war vorüber. Diese Frau war eine Fremde für ihn und so sehr das schmerzte – er würde es nicht ändern können. Ein Gutes aber hatte das gehabt: Er hatte den Rest des Urlaubs genießen können, denn er musste sich keine Gedanken mehr um eine fruchtlose Suche machen. Dann aber waren sie nach New York City zurückgekehrt, wo sie in der Zwischenzeit ihr Kampfsportstudio eröffnet hatten. Auch, wenn Atemu anfangs überhaupt nichts damit zu tun haben wollte, so war er offiziell nun doch der Geschäftsführer und Trainer. Natürlich trainierte auch Yuugi, immerhin hatte er erst vor wenigen Wochen seine zweite Prüfung abgelegt und war somit nun berechtigt, den orangen Gürtel zu tragen. Auch, wenn er wusste, dass er prinzipiell schon weiter war, so erfüllte ihn der neue, höhere Gürtel mit Stolz. Mit Stolz erfüllte ihn auch das Geld, dass sie somit verdienten. Bis lang hatten sie auch niemanden mehr töten müssen, es war seltener geworden, was sie beide erleichterte. Einen gewissen Ruf in diesem Metier hatten sie dennoch und Yuugi hatte unter Schock gestanden, als im April jemand in ihre Wohnung eingebrochen war um sie zu töten – ein Mitglied der amerikanischen Mafia, wie sich später herausgestellt hatte, da diese offenbar Konkurrenz fürchtete. Es hatte eine ganze Weile gedauert, ehe Yuugi diesen Schock überwunden hatte, gleichwohl Atemu schnell mit dem Eindringling fertig geworden war und sie danach die Sicherheitsvorkehrungen erhöht hatten. Seitdem war nichts mehr geschehen – nichts, von dem Yuugi wusste. Dass es einen zweiten Übergriff gegeben hatte, dass hatte Atemu Yuugi verschwiegen, er hatte sich alleine darum gekümmert und als Yuugi am Abend nach Hause gekommen war, hatte Atemu getan, als sei nichts geschehen. Dadurch, dass aus Yuugis‘ Sicht seit drei Monaten also nichts mehr geschehen war, war er ruhiger geworden.

Nur jetzt merkte man von dieser Ruhe nicht viel, denn obgleich sein zwanzigster Geburtstag grade mal einen Monat zurücklag, erinnerte Yuugis‘ Benehmen in diesem Augenblick eher an das eines Kleinkindes, während er versuchte, Atemu das Ziel ihrer Reise zu entlocken. Er hatte da so einen Verdacht… Und in der Tat gelang es ihm nun doch, Atemu zum Reden zu bringen, da durch sein doch recht kindisch und keineswegs dezentes Verhalten mittlerweile einige Leute nach ihnen sahen und Atemu nichts so sehr zuwider war, wie Aufmerksamkeit auf seine Person zu ziehen, gab er doch nach, damit Yuugi endlich still war. „Also gut, also gut…“, wehrte er den Jüngeren ab und zog einen Umschlag aus der Tasche seines Jacketts. Grinsend ließ Yuugi von Atemu ab, setzte sich artig neben ihn und streckte die Hand nach dem Umschlag aus. Aber ehe er diesen ausgehändigt bekam, strich Atemu sorgfältig sein Jackett glatt. Dann erst öffnete er den Umschlag und zog Yuugis‘ Flugticket heraus, welches er ihm in einer beinahe feierlichen Geste aushändigte. Begierig schnappte Yuugi sich das Ticket um auf das Kürzel des Zielflughafens zu schauen. Und er hatte sich nicht getäuscht. NRT stand dort – der Flughafen Tokio-Narita. Es ging nach Hause, es ging nach Domino, endlich, endlich nach nunmehr zwei Jahren! Yuugi hatte es gehofft, er hatte es geahnt, und trotzdem hieb es ihn um, seine Ahnung nun bestätigt zu sehen. Mit einem Freudenschrei fiel er Atemu um den Hals, küsste ihn auf die Wange und umarmte ihn stürmisch. „Jaja… schon gut.“, brummte der, schob Yuugi sanft aber bestimmt von seinem Schoß und glättete sein Jackett erneut. Aber um seine Mundwinkel zuckte ein Lächeln. Er freute sich, Yuugi eine Freude machen zu können, er zeigte es nur nicht. Aber Yuugi verstand ihn und darauf kam es ja schließlich an. Der Nachteil der Tatsache, dass Yuugi nun wusste, wo es hinging, bestand aber darin, dass Yuugi nun schrecklich nervös war, er konnte keine fünf Minuten mehr still sitzen, lief ständig quer durch die Wartehalle, stand vor den Anzeigetafeln und sah höchst ungeduldig dabei zu, wie die Zeit verstrich. Anfangs hatte Atemu das noch amüsant gefunden, aber nach einer halben Stunde nervte es ihn dann doch, sodass er sich hinter einer Tageszeitung verschanzte und vorgab, Yuugi nicht zu kennen. Den kümmerte es nicht, er war selig in seiner Vorfreude. Als dann die Durchsage kam, sie könnten das Flugzeug nun betreten, zog Yuugi Atemu ungeduldig mit sich, als glaube er, das Flugzeug höbe schneller ab, wenn sie die ersten wären, die ihre Plätze erreichten. Natürlich geschah das nicht und Atemu begann irgendwann, seinen Entschluss, mit Yuugi zu fliegen, zu bereuen, denn dieser war nun wirklich nicht mehr ruhig zu halten. Entsprechend groß war die Dankbarkeit Atemus‘ als sie endlich landeten und Yuugi sozusagen auf Domino losgelassen wurde. Es konnte ihm auch gar nicht schnell genug gehen, was Atemu zum Anlass nahm, absichtlich zu Trödeln, aus Rache, für den unruhigen Flug, sozusagen. Als sie dann im Taxi saßen, wandten sich Yuugis‘ Gedanken dringlicheren Dingen zu. „Wo wohnen wir eigentlich? Und wissen meine Freunde schon, dass wir hier sind?“ Atemu schmunzelte. „Ich dachte schon, du fragst nie.“, meinte er und begann dann, zu erklären, „Ich habe mir die Freiheit genommen, ein Hotel für uns zu buchen, denn deine alte Wohnung hat einen neuen Vermieter, ebenso wie meine, was ja kein Wunder ist. Des Weiteren war ich so frei, mit deinem Freund Jono zu telephonieren, er weiß also, dass wir heute ankommen. Aber es ist spät, deswegen denke ich, dass wir bis morgen früh warten sollten, oder?“ Säßen sie nicht in einem Taxi, wäre Yuugi wohl aufgesprungen, aber so musste er sich darauf beschränken, die Stimme zu heben und wild mit den Armen herumzufuchteln, als er heftig sagte:„Spinnst du? Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, ich möchte sofort zu ihnen!“ Für solche Gefühlsregungen hatte Atemu herzlich wenig Verständnis, aber er ließ Yuugi dann doch seinen Willen, vorausgesetzt, der geduldete sich solange, bis Atemu geduscht hatte. Damit konnte Yuugi grade so leben.

Nur eine Stunde später also gingen sie durch die Straßen von Domino, Yuugi war bester Laune und drehte seinen Kopf beständig in alle Richtungen um auch ja nichts zu verpassen. Er wollte alles sehen, wissen, ob und was sich verändert hatte und war glücklich über jede Kleinigkeit, die Erinnerungen in ihm weckte, so wie das Eiscafé, in dem er so viele fröhliche Stunden mit seinen Freunden verbracht hatte. Er konnte es kaum erwarten, dies zu wiederholen. Nun aber musste er erst einmal Atemu am Ärmel zupfen, denn dieser war in die falsche Straße eingebogen – was gänzlich untypisch für ihn war, wie Yuugi sich schon wunderte. „Hey, um zu Jono zu kommen, müssen wir dort lang!“, sagte er und wollte Atemu mit sich ziehen, aber der schüttelte den Kopf. „Nicht mehr, als ich mit ihm telephoniert habe, sagte er, er sei umgezogen, er wollte nicht mehr bei seinem Vater bleiben und da er jetzt eine Ausbildungsstelle hat, verdient er auch genug Geld um sich eine eigene, kleine Wohnung zu leisten.“, korrigierte Atemu und ging selbstsicher weiter. Kopfschüttelnd folgte Yuugi, er hatte sich zwar daran gewöhnt, dass Atemu einen Haufen Details aus seinem Leben kannte – aber nun kannte er auch das Leben seiner Freunde besser als Yuugi, das war schon reichlich seltsam.

Aber wie immer hatte Atemu Recht behalten und führte sie zielstrebig zu Jonos‘ Wohnung. Yuugi musste ihn aber davon abhalten, einfach in die Wohnung einzubrechen. „Weißt du, diese Wohnung hat eine Klingel, wenn man die benutzt kommt man auch in die Wohnung.“, brummte Yuugi und betätigte den Klingelknopf. „Ach ja…“, kam es gedankenverloren von Atemu, „Stimm ja. Sowas brauche ich doch normalerweise nicht!“ Yuugi schüttelte nur den Kopf, kam aber nicht mehr zu einer Erwiderung, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Jono stand im Türrahmen, die Haare zerzaust, barfuß und einen halb aufgegessenen Apfel in der Hand haltend. Dieser aber fiel nun aus seiner Hand, als Jono die beiden vor seiner Tür sah. „Meine Fresse…“, kam es dann langsam von Jono und er blinzelte ein paar Mal. „Hi.“, begrüßte Yuugi ihn dann mit einem schüchternen kleinen Lächeln. Endlich fiel die Starre von Jono ab, sodass Yuugi sich von einer Sekunde auf die andere in einer ruppigen aber dafür umso herzlicheren Umarmung wiederfand. „Kommt rein…“, murmelte Jono dann, offenbar recht überrumpelt. Sie folgten der Einladung, wobei sie umsichtig sein mussten, denn Jonos‘ Wohnung war eine typische Junggesellenbude: Wohin man auch sah, überall herrschte eine Art liebevolles Chaos. Sie bahnten sich ihren Weg bis ins Wohnzimmer, nahmen den Stoß Zeitschriften – Yuugi bemerkte unter Erröten, dass es sich um den Playboy handelte – vom Sofa und legten ihn auf den Boden, um sich dann ihrerseits auf die Couch zu setzen. Jono saß ihnen gegenüber, sah vom einen zum anderen und sagte dann scherzhaft, als die Stille begann, ungemütlich zu werden:„Also… das ist dein Freund, Yuugi? Sicher, dass du dich in ihn verliebt hast oder ist das nicht eher Selbstverliebtheit, so ähnlich, wie ihr euch seht?“ „Nein!“, widersprach Yuugi ernsthaft, „Wir haben eine unterschiedliche Augenfarbe!“ „Tatsache…“, kommentierte Jono trocken, wandte sich dann aber interessiert Atemu zu:„Was machen Sie eigentlich beruflich?“ „Auftragsmörder.“, erwiderte Atemu todernst und mit Grabesstimme. Yuugi riss die Augen auf und starrte Atemu entsetzt an, aber das bekam Jono glücklicherweise nicht mit, denn der hatte den Kopf in den Nacken gelegt und lachte laut los. Atemu erlaubte sich ein Schmunzeln. Langsam atmete Yuugi aus, versuchte unauffällig, Atemu mit den Ellbogen in die Rippen zu stoßen und bemühte sich, sein hämmerndes Herz zu beruhigen, während Jono sich wieder beruhigte und weiterfragte, wie viele Menschen er denn noch umzubringen gedenke. Atemu lehnte sich zurück, musterte Jono eine Sekunde und fragte dann:„Wie viele gibt’s denn noch?“ Erneut konnte sich Jono vor Lachen kaum halten und diesmal konnte auch Yuugi mit lachen. Dann aber verlangte Jono eine ehrliche Antwort von Atemu. „Banker.“, sagte der und strich dabei wie unbewusst sein Sakko glatt. „Ah.“, machte Jono, „Ja, das glaube ich Ihnen schon eher. Wie ist das so?“ Atemu verzog das Gesicht:„Sterbenslangweilig. Ich sitze den ganzen Tag nur am Schreibtisch und starre auf meinen PC. Aber ich verdiene gut damit, also sollte ich mich nicht beschweren.“ Jono nickte und Yuugi hielt die Luft an um nicht sehr laut zu lachen – die Vorstellung von Atemu als Bankier war so unglaublich grotesk, dass Yuugi sich das beim besten Willen nicht vorstellen konnte – das einzige, was Atemu in einer Bank tun würde, war, sie auszurauben. Aber Atemu hatte dies auch noch mit einer Ernsthaftigkeit vorgetragen, dass Jono es ohne weitere Fragen glaubte. „Und was machst du?“, wandte sich Jono wieder an Yuugi. „Ich hab meinen Schulabschluss nachgemacht und fange demnächst an zu studieren… BWL.“, erklärte Yuugi, die vorher mit Atemu abgesprochene Lüge. Erwartungsgemäß verdrehte Jono bei etwas so langweiligem wie BWL die Augen und fragte nicht weiter. Stattdessen ging sein Blick immer wieder von Yuugi zu Atemu und wieder zurück, als versuche er, den Gedanken, dass die beiden ein Paar waren, in seinen Kopf zu bekommen. „Wissen Anzu und Honda, dass wir da sind?“, fragte Yuugi, dem diese Blicke unangenehm waren, schließlich. „Oh! Ich ruf sie an!“, rief Jono und sprang wie von der Tarantel gestochen auf um sein Handy zu suchen. In der kurzen Zeit, in der die beiden also alleine waren, sah Yuugi Atemu kopfschüttelnd an:„Banker, also wirklich…“ Atemu grinste flegelhaft, sagte aber nichts, denn Jono war ja immer noch in der Nähe, auch, wenn er so hastig in den Hörer sprach, dass seine Stimme sich beinahe überschlug. Es dauerte auch nicht lange, ehe er zu den beiden zurückkehrte und berichtete, dass die beiden sich sofort auf den Weg machten um herzukommen. Yuugi strahlte und verbrachte die Wartezeit damit, Jono mit Fragen über seine Ausbildung zu löchern.

Es dauerte nicht lange, da klingelte es an der Tür. Jono eilte rasch hin und kam beinahe noch schneller zurück, denn Honda und Anzu brannten selbstverständlich darauf, Yuugi wiederzusehen. Als sie ins Wohnzimmer traten, stockten sie jedoch kurz, irritiert von der großen Ähnlichkeit zwischen Atemu und Yuugi, aber es war Anzu, welche sich dann regelrecht auf Yuugi stürzte und ihn umarmte. „Anzu, du hast dir die Haare ja wachsen lassen! Das sieht super aus!“, rief Yuugi bei ihrem Anblick und sie strahlte. Dann kam Honda und schüttelte Yuugis‘ Hand, dass der ganze Arm mit durchgeschüttelte wurde ehe er dann kopfschüttelnd bemerkte:„Sag mal, was ist mit dir passiert? Wann hast du dich in so einen Schrank verwandelt?“ Yuugi und wohl auch Atemu waren eine Sekunde überrascht. Daran hatten sie nicht gedacht, dass durch das beständige Training Yuugi natürlich ebenso muskulös wie Atemu geworden war. Das war ihnen nicht aufgefallen, sie hatten sich ja jeden Tag gesehen und die winzigen Unterschiede von Tag zu Tag fielen kaum auf. „Fitnessstudio…“, murmelte Yuugi und schielte fragend zu Atemu, aber der lächelte ihm sanft zu. „Oh Gott…“, machte Anzu, welche das bemerkte hatte, „Ihr seid ja so süß.“ Dafür erntete sie sogleich zwei bitterböse Blicke. „Anzu!“, rief Yuugi protestierend und Atemu stellte klar:„Wir sind nicht süß.“ „Klar…“, sagte Anzu träumerisch, offenbar alles andere als überzeugt. Jono begann zu lachen, was so ansteckend war, dass alle mit einstimmten, selbst Yuugi und Atemu, wenn auch anfangs nur widerwillig. Immerhin hätte man meinen können, dass es von ihrem Freundeskreis seltsam aufgefasst werden könnte, wenn einer ihrer Freunde nach so langer Zeit wieder auftauchte und das nicht mit einer Freundin, sondern einem Freund an seiner Seite. Aber Yuugis‘ Freunde hatten schon lange gewusst, dass Yuugi Männern Frauen vorzog, sie hatten es sogar schon gewusst, bevor Yuugi es selbst wusste und es war nie ein Problem gewesen. Dagegen schien etwas ganz anderes Anzu auf dem Herzen zu liegen:„Weißt du eigentlich, dass du zwei Jahre weg warst?“, fragte sie, „Hast du nicht mal an uns gedacht?“ Das war eine Frage, mit der Yuugi zwar gerechnet hatte, die zu hören ihn aber dennoch betrübte. Seufzend sah er ihr in die Augen und antwortete dann:„Natürlich habe ich euch vermisst, schrecklich vermisst, aber es ging wirklich nicht. Da war ein Killer hinter mir her, nicht nur einer… zwei Mal hätte er uns beinahe erwischt! Atemu hielt das Risiko aber für zu groß… ich konnte es kaum erwarten euch wiederzusehen! Das müsst ihr mir glauben.“ Sein Blick glitt von einem zum anderen, bittend, ihm zu glauben. „Außerdem hatte ich sein Handy konfisziert!“, kam Atemu ihm schnell zur Hilfe, aber das wäre schon nicht mehr nötig gewesen, denn niemand zog Yuugis‘ Worte in Zweifel. So war bald eine rege Unterhaltung im Gange, denn immerhin hatten sie sich allerhand zu erzählen, nur Yuugi bedauerte, dass das meiste von dem, was er seinen Freunden erzählte, eine glatte Lüge war. Doch er war so glücklich, sie wiederzusehen, dass Atemu, der sich kaum am Gespräch beteiligte und stattdessen unverwandt Yuugi beobachtete, leise lächelte. Er hätte nie gedacht, dass das möglich sei, aber es machte ihn glücklich, Yuugi so fröhlich zu sehen.

Es war sehr spät, als sie in ihr Hotel zurückkehrten, so spät, dass sie nur noch müde ins Bett fielen und einschliefen. Die nächsten Wochen verliefen nach einem ähnlichen Muster, Yuugi traf sich täglich mit seinen Freunden, manchmal kam Atemu mit, aber es war ihm wichtig, Yuugi seinen Freiraum zu lassen, sodass er stattdessen seine Tante besuchte oder sich bei den Yamaguchi-gumi ein paar neue Waffen besorgte, nicht, dass er sie brauchte, aber er war gerne auf dem neusten Stand der Waffentechnik. So verging beinahe ein Monat, in dem Yuugi aufblühte. Seine Freunde taten ihm unwahrscheinlich gut, er hatte selbst nicht gewusst, wie sehr er sie vermisst hatte, aber nun erschien es ihm undenkbar, wie er es so lange ohne sie ausgehalten hatte. „Wir können sie jetzt viel häufiger besuchen, vielleicht zweimal im Jahr!“, versprach Atemu und machte Yuugi damit sehr glücklich. Durch die Gegenwart seiner Freunde wurde Yuugi aber auch selbstbewusster – nicht, dass er das nicht schon vorher gewesen wäre, aber es war eine andere Art von Selbstbewusstsein, eine natürlichere.

So war Yuugi auch nicht sehr traurig, als ihre letzte Nacht anbrach. Sie waren wie immer lange mit seinen Freunden zusammen gewesen und hatten sich dann schweren Herzens verabschiedet. Die Gewissheit, sich in nicht allzu ferner Zukunft wiedersehen zu können, machte es ihnen allen aber leichter und es herrschte keine wirkliche Trauerstimmung. Im Gegenteil erschien Yuugi Atemu sogar sehr übermütig, denn kaum, dass Atemu die Tür des Hotelzimmers hinter ihnen abgeschlossen hatte, zog Yuugi Atemu an dessen Krawatte zu sich und küsste ihn innig. „Ich will dich…“, wisperte er gegen Atemus‘ Lippen. Der grinste. „Dann, bei allem was mit heilig ist…“, sagte er und legte dabei bereits besitzergreifend eine Hand um Yuugis‘ schmale Hüften. Doch Yuugi hatte seinen Satz noch nicht beendet:„Ich will dich so, wie du mich hattest…“, sagte er. Atemu blinzelte. Er starrte Yuugi sprachlos an, öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und blinzelte erneut. „Was?“, fragte er ungläubig. Yuugi lächelte und strich mit dem Finger über Atemus‘ Lippen. „Du hast mich schon verstanden.“, gurrte er. Atemu wusste nichts darauf zu sagen.

Er erinnerte sich gut an ihr erstes Mal vor einem Jahr, es war nicht unbedingt romantisch gewesen, Yuugi hatte Schmerzen gelitten, aber das war normal, ein erstes Mal war nie schön.

[...]

Dennoch war der Gedanke, nun die Rollen zu tauschen, mehr als gewöhnungsbedürftig. „Warum?“, brachte er schließlich heraus. „Warum nicht?“, fragte Yuugi zurück, „Ich finde, dass das irgendwie… na ja, wichtig ist wenn… wenn wir gleichgestellt sind…“ Atemu legte den Kopf schief. Er verstand, was Yuugi meinte – aber ihm behagte der Gedanke schlichtweg nicht, er war das nicht gewohnt. „Lass es uns zumindest versuchen…“, bat Yuugi, der zu ahnen schien, wie es in Atemu aussah. Der konnte Yuugi das nicht abschlagen, denn immerhin hatte er Recht – es wäre wirklich fair und wenn Yuugi ihn darum bat, dann durfte er doch nicht so egoistisch sein, ihm das abzuschlagen. Zögerlich nickte er. Yuugi strahlte, fasste Atemu bei der Hand und zog ihn mit zu dem Hotelbett, welches sie bereits ausreichend auf diese Zwecke getestet hatten. Getestet und für gut befunden.

[...]

„Wow…“, kam es später erschöpft, aber glücklich von Atemu. Yuugi stützte sich auf einen Ellbogen um Atemu besser ansehen zu können, während er zurückfragte:„Wow? Alles, was ich von dir bekomme, ist ein Wow?“ Atemu grinste:„Vielleicht brauche ich ja noch etwas Inspiration…“ Yuugi erwiderte das Grinsen, legte seine Arme links und rechts von Atemus‘ Kopf ab, um ihn in einen leidenschaftlichen Kuss zu ziehen…
 

August 2009, Manhattan, New York City, United States of America

Es war unglaublich, wie gut es tun konnte, einfach nur spazieren zu gehen. Vor zwei Tagen waren sie aus Japan zurückgekehrt und Atemu hatte feststellen müssen, dass es eine unglaublich dumme Idee gewesen war, in der Nacht vor einem stundenlangen Flug zum ersten Mal auf diese Weise mit Yuugi zu schlafen. Entsprechend unbequem war der Rückflug für Atemu gewesen und Yuugi hatte Mühe, nicht darüber zu lachen – aber er schätzte zu sehr, dass Atemu sich wirklich dazu bereit erklärt hatte, sich von ihm nehmen zu lassen, als dass er sich zu einem Lachen hätte hinreißen lassen. Immerhin war es der größte Liebesbeweis, den Atemu hätte erbringen können – denn jene drei Wörter kamen ihm nach wie vor nie über die Lippen, was Yuugi jedoch nicht viel ausmachte, immerhin sagte er selbst es selten. Sie zeigten sich dies auf andere Weise. Nach ihrer Ankunft in Amerika jedenfalls, waren sie erschöpft in ihre Betten gesunken, gestern hatten sie den unangenehmen Aufgaben nachkommen müssen – Wäsche waschen, zum Beispiel, etwas, an das Yuugi sich nur schwer hatte gewöhnen können, Atemu hatte aufgehört zu zählen, wie oft er zu Beginn ihres Zusammenlebens für jede Kleinigkeit den Spruch „Dafür hatten wir Personal“ zu hören bekommen hatte, aber mittlerweile ging es.

Nun jedoch, da soweit alles erledigt war, waren sie am Abend zu einem Spaziergang in den Central Park aufgebrochen. Unterwegs hatte Atemu sich einen unvermeidlichen Coffe-to-go genehmigt, den Becher warf er nun in den Mülleimer, las ein paar Steine vom Boden auf und ließ sie über das Wasser des Reservoir-Sees springen. „Was machen deine Freunde jetzt?“, fragte er, während er zusah, wie die Steine die Spiegelung der Zwillingstürme der San Remo Kirche verschwimmen ließen. Yuugi lächelte. Es hatte ihn erleichtert, zu sehen, wie sie alle ihren Weg fanden, versuchten, ihre Träume zu verwirklichen und glücklich dabei waren. „Jono macht ja seine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, die wird er vermutlich bald beendet haben, Honda braucht noch länger, er studiert Sport und Mathe auf Lehramt und Anzu hat es auf eine Tanzakademie geschafft… es geht ihnen allen gut und sobald sie mal alle gleichzeitig frei haben, kommen sie in den Semesterferien vielleicht mal her… Ich habe ihnen gesagt, dass wir in New York City wohnen, die Stadt ist ja wahrlich groß genug…“, erklärte Yuugi und sah Atemu verträumt zu, der grade den letzten Stein geworfen hatte, welcher ein paarmal über das Wasser sprang, ehe er dann versank. „Natürlich.“, stimmte Atemu zu, wandte sich zu Yuugi um und küsste ihn kurz auf die Stirn. Es war bereits dunkel, man konnte kaum mehr etwas erkennen, sodass Yuugi hoffte, es wäre in Ordnung für Atemu, wenn er ihn auch küsste – in der Dunkelheit würden die wenigsten etwas erkennen können. Und in der Tat erhob Atemu keinerlei Widerspruch, legte seine Arme um Yuugi und sank mit ihm auf eine Parkbank. Ihr Leben war vielleicht nicht perfekt, aber es war vollkommen ausreichend, in diesem Augenblick wollte Yuugi auch gar nicht mehr, als mit Atemu auf dieser Parkbank sitzen und ihn küssen. Leider war es ihnen nicht vergönnt, das lange zu tun.

Ihre Ohren waren längst darauf trainiert, jedes noch so leise, verdächtige Geräusch wahrzunehmen, sodass sie blitzartig auseinanderfuhren, als ein eben solches an ihre Ohren drang. Mit einem Blick verständigten sie sich, suchten dann die Umgebung ab, doch sie konnten nichts finden, wer immer da hinter ihnen her war, er war gut. Sofort kam ihnen beiden die amerikanische Mafia „La cosa nostra“ in den Sinn. Beweisen freilich konnten sie das nicht, aber sollte es stimmen, wäre es wohl besser, das Weite zu suchen. Natürlich trugen sie beide je eine Schusswaffe bei sich, wie immer, aber je nach Anzahl der Angreifer könnte das nicht ausreichend sein… und Leichen im Central Park? Das wäre unschön.

Also liefen sie los, aber damit hatte man wohl gerechnet, denn bereits nach kurzer Zeit, da hatten sie grade eine mit Hecken bewachsene Allee erreicht, stellten sie fest, dass sie ihr Heil nicht in der Flucht finden würden. In der Dunkelheit war es schwer, ihre Gegner auszumachen, aber das Mondlicht reflektierte die Mündungen von sieben Handfeuerwaffen. Weder Atemu noch Yuugi zeigten besondere Angst angesichts dieser Situation.

Sie sahen sich an – das war eben Berufsrisiko. Aber jetzt musste es schnell gehen, ihre Hände schnellten zu ihren Waffen.

Da fiel auch schon der erste Schuss.

... - bang, bang

August 2009, Central Park, Manhattan, New York City, United States of America

Erneut wechselten Atemu und Yuugi rasch einen Blick, denn es waren nicht sie gewesen, die den Schuss abgefeuert hatten. Es war einer ihrer Angreifer aus dem Dunkeln gewesen, aber er hatte nicht getroffen, wovon sich die beiden mit einem Blick überzeugten. Fest stand aber, dass sie fort mussten, von hier aus waren sie so leicht abzuschießen, wie die Holzfiguren der Schießbuden zur Kirmes. Atemu schoss, ein einzelner Schuss nur, aber er traf. Die Sekunde, welche die Angreifer benötigten, um zu sehen, wen es erwischt hatte, nutzte Atemu, um Yuugi am Ärmel ins Gebüsch zu ziehen. „Halt dich zurück.“, wisperte Atemu Yuugi zu und Yuugi widersprach nicht, gleichwohl er nicht vorhatte, das wirklich zu tun. Atemu sagte das, weil er sich um ihn sorgte – aber Atemu war nicht auf die Idee gekommen, dass es Yuugi da ähnlich erging, sodass er sicher nicht dabei zusehen würde, wie jemand Atemu umbringen würde.

Aus dem Schutz der Hecke gaben sie beide noch ein paar Schüsse ab, zwei weitere Männer fielen, aber es blieben immer noch vier Gegner und die wussten nun, wo sie sich befanden. Durch das Gebüsch schlängelten Atemu und Yuugi sich durch den Park, eine alte Frau kam ihnen gestützt auf einen Rollator entgegen, woraufhin sie schnell die Waffen versteckten und möglichst unauffällig und gleichzeitig möglichst schnell weitergingen, ehe sie wieder rannten. Kaum, dass sie wieder ein wenig Vorsprung hatten, suchten sie sich ein Versteck, verharrten dort Rücken an Rücken, ehe Yuugi die Angreifer kommen sah und Atemu sich zu ihm drehte. Vier weitere Schüsse und zwei weitere Tote. „Ziel besser!“, zischte Atemu wütend, aber er war nicht wirklich wütend, nur besorgt und weil Yuugi das wusste, kommentierte er es nicht weiter. Erneut flüchteten sie, aber dieses Mal kamen sie nicht weit. Yuugi feuerte panisch seinen letzten Schuss ab, aber er traf seinen Gegner in den Bauch, was ihn zwar schwächte, aber nicht gleich umbrachte. Ein Kampf entbrannte zwischen Yuugi und dem vor Wut und Schmerz rasenden Gegner, in den Atemu gerne eingeschritten wäre, aber er wurde selbst ebenfalls angegriffen und musste sich zur Wehr setzen. Der Kampf währte nicht lange, schon alleine, weil Atemu ihn als Zeitverschwendung erachtete, da er ihn davon abhielt, nach Yuugi zu sehen. Seine Pistole war auch noch leergeschossen, sodass er sich darauf verlegte, seinen Gegner zu Boden zu ringen und anschließend zu würgen. Zu seiner Erleichterung sah er dabei, dass es Yuugi gelungen war, seinem Gegner die Waffe zu entwenden und er konnte ihn erschießen. Erleichtert konzentrierte Atemu sich wieder auf seinen Gegner, der noch immer viel zu munter war und Atemu in diesem Augenblick eine blutige Lippe schlug. „Könntest du mir hier mal helfen?“, presste Atemu mühsam zwischen den Zähnen hervor. „Oh, klar!“, kam es von Yuugi, er setzte dem bereits röchelnden Mann den Revolver an die Schläfe und schoss. Der brach zu Atemus‘ Füßen zusammen. Erleichtert seufzend richtete Atemu sich auf und sah Yuugi an:„Dass du nicht von alleine auf die Idee kommst…“, brummte er kopfschüttelnd, war aber nicht wirklich böse. Er hob den erstbesten leblosen Körper auf, um ihn zum See zu tragen und schwungvoll hinein zu befördern. Yuugi beeilte sich, ihm zu helfen und ihm fahlen Mondlicht kamen sie ihrer schaurigen Arbeit nach und warfen die sieben Leichen in den Reservoir-See.

Als sie dies erledigt hatten, wandten sie sich rasch ab und verließen den Park, Atemu hatte einen Arm um Yuugi gelegt. Es war ein Risiko, mit dem sie immer leben mussten, immer bestand die Gefahr, dass sie jemand töten wollte und sie sie selbst jemanden töten mussten – aber dazwischen, zwischen töten und sterben, da gab es ein drittes: Leben. Und das war es, was sie jetzt wollten, in vollen Zügen. Kaum, dass sie den Park verlassen hatten, ging es ihnen auch besser und Yuugi, sich eng an Atemu kuschelnd, fragte:„Weißt du, woran ich so denken muss, wenn ich unseren Lebenswandel betrachte?“ Erstaunt sah Atemu ihn an:„Nein, woran denn?“ Leicht grinsend gestand Yuugi:„An Bond…“ „Welcher Bond?“, fragte Atemu zurück und Yuugi erklärte grinsend:„James Bond.“ Atemu verdrehte die Augen. „Welcher Film?“ „Diamantenfieber.“, antwortete Yuugi, „Da gibt es zwei schwule Auftragsmörder…“

Eine Sekunde war es still.

Dann legte Atemu den Kopf in Nacken und lachte laut.



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Von:  Polarstern
2024-01-06T17:50:47+00:00 06.01.2024 18:50
Hallo Leuchtender Mond!

*Kommi #100 sich schnappt*

Nachdem ich vor ein paar Tagen deine FF "Do Mae`e" gelesen und kommentiert habe, bin ich nun bei dieser FF gelandet. Sehr krass, sehr strange, ein sehr verrücktes Thema - und dennoch eine sehr gute Story! Du hast einen sehr talentierten Schreibstil. Rechtschreib und Grammatikfehler findet man bei dir so gut wie gar nicht, so sollte es sein!

Die ganze FF war ein einziger Krimi! Ich habe sehr mitgefiebert jedesmal. Bei jeder gefährlichen Situation, bei jedem "Auftrag". Das Atemu hier kriminell ist, ist logisch erklärt, er ist so aufgewachsen in diesem Milieu. Da kann man nachvollziehen, dass er andere Wertvorstellungen, Moral und wohl ein anderes Gewissen hat, als unsereinst.
Allerdings dass Yugi irgendwann mitmacht... Es wird Storytechnisch gut erklärt und begründet, es ist daher nachvollziehbar und ansonsten wäre die Story nicht so spannend und reizvoll geworden, wie sie halt ist. ;-) Aber ich denke, damit ist er ziemlich OOC geraten, Yugi würde niemals einen Menschen töten. Aber gut, ich kann darüber hinwegsehen, da sonst die ganze Beziehung der beiden in dieser Konstellation ins Wanken geraten wäre und die beiden sonst in dieser FF wohl nicht zusammen gepasst hätten.

Ich würde dir empfehlen, ein paar mehr Absätze in deine Texte einzubauen. Da gab es auf einigen Seiten zu wenige.
Dann hab ich noch bei der wörtlichen Rede öfters gesehen, dass du Punkt und Komma hintereinander verwendest. z.B.: "Das ist gut." , sagte er. Hier muss der Punkt weg, das Komma allein genügt, sonst ist es ein Widerspruch.^^

Mir hat sehr gefallen, wie gut du die einzelnen Städte beschrieben hast. Das war sehr lebendig, fast so, als wäre man dort! Ich war selbst schon in Rom und habe einiges wiedererkannt! :D
Auch dass du italienische Sätze eingeflochten hast, passt gut zu der Atmosphäre. Du hast hier sehr detailliert und sehr liebevoll geschrieben!

Dann hat mir noch die Idee mit den Kapiteltiteln als Tarotkarten gut gefallen. Das habe ich noch nirgendwo gesehen und war sehr kreativ und originell! Die Karte hat auch größtenteils zur Handlung gepasst.

Ich war übrigens erleichtert, dass du keinen der beiden hast sterben lassen und dass es ein Happy End gab! :D
Ich war mir vom Gefühl beim Lesen der ganzen Story recht sicher, du bringst Atemu da im Central Park um... Hatte immer eine gewisse "Schweremut" beim Lesen. Da öfters erwähnt wurde, dass man mit dem "Job" nicht älter als 30 wird, immer in Gefahr lebt bei so vielen Feinden und Atemu Yugi mehrfach darauf vorbereitet, auch allein klar zu kommen. Aber ich war froh, dass es nicht so war :)

Insgesamt eine sehr schöne (wenn auch sehr spezielle) Liebesgeschichte der beiden, die ich in den letzten Tagen sogar Tag und Nach verschlungen habe! *Daumen hoch* - die kommt auf meine Favoliste)

Schade, dass du anscheinend schon lange nicht mehr als YGO FF Autorin aktiv bist. Ich lese deine Stories sehr gerne.

Viele Grüße
Polarstern
Von:  Lamello
2021-12-13T11:22:13+00:00 13.12.2021 12:22
Wow, eine wirklich atemraubende Geschichte. Es hat mir große Freude gemacht sie zu lesen und ich bin froh, dass ich sie gefunden habe. Auch wenn es schon lange her ist, seit dem sie hier online ist und der letzte Kommi auch schon etwas in der Vergangenheit liegt, möchte ich diese tolle FF nicht unkommentiert lassen. Dein Schreibstil ist mega. Die ganzen Orte die "wir" bereisen, so toll beschrieben. Hammer! Also wirklich, großes Schreibkino.

Vielen Dank dafür!

Ich hoffe, du bist beim schreiben geblieben. ;-)
Von:  Sunny-Yuki
2018-07-21T23:10:27+00:00 22.07.2018 01:10
Eine unglaublich tolle Geschichte!
Ich bin sowohl vom sprachlichen als auch von dem kulturellen Wissen beeindruckt
Die beiden sind sowas von süß, auch wenn sie das nicht hören wollen :D
Auch mich hast du durch den Epilog dazu verleitet mir diesen Bond Film mal anzuschauen, und das, wo ich noch nie Interesse dazu hatte

Glg
Von:  Merylex
2010-11-28T20:53:30+00:00 28.11.2010 21:53
hui du bringst mich irgendwie dazu diesen Bond zu sehen obwohl ich Bond sonst aus seltsamen Gründen verachte.
(wahrscheinlich weil der letzte so ein Playboy mit 100 Frauen war, und null Grips hatte....)
Ein wenig kurzer Epi ich hatte gehofft sie im neuen Haus zu sehen, mit Hund, Bediensteten oder sogar zugelaufenen Kindern.
schade das es zu enden ist, hoffe es gibt bald wieder was von dir zu lesen. XD
cu Glu
Von: abgemeldet
2010-11-28T20:22:34+00:00 28.11.2010 21:22
xD....
das ist doch mal ein ende
nein, mir gefällts. erinnert mich an eine gute novelle, die kein ende hat, die immer weitergeht sozusagen mit einem offenen ende. kein happy end aber auch kein nicht-happy end. das mag ich
allerdings hätte ich den lebensweg wenn ich yugi wäre einfach nicht eingeschritten, zu riskant ich würde immer spannung und stress empfinden und daran eher zugrunde gehen, als von einer pistole zu boden gestreckt zu werden xD

naja ich freue mich (fast noch mehr) auf die nächtste ff
obwohl ich meine schwester und andere leute immer damit nerve, dass das hier mit abstand die beste ff ist, die ich jemals gelesen habe...
Von: abgemeldet
2010-11-28T20:18:05+00:00 28.11.2010 21:18
oh schön


"Zu dieser Fanfic sind noch keine Kommentare verzeichnet." o.o Okay....
naja was ich sagen wollte, oh schön , ich bin die erste die dieses zensierte kapitel kommentiert(HA HA)
und ich habe sogar alles gelesen
löl

naja aber das fand ich schon lustig, ati als banker....und das mit der bank ausrauben passt natürlich
schön ist das man merkt worauf sie die ganze zeit gearbeitet hatten, also man konnte es hautnah mitverfolgen, erst wurde man schockiert mit atis beruf, dann kam yugis training und man fieberte mit, und man kam sich vor als sei man selbst ein auftragsmördernoob und jetzt ist alles so automatisch und gekonnt un dwie gesagt, man fühlt sich fast als sei man selbst einer
Von: abgemeldet
2010-11-28T15:45:15+00:00 28.11.2010 16:45
Ein würdiges Ende für eine lange, aber sehr schöne FF, die ich von Anfang an mitverfolgt, gelesen und immer als sehr gut bewertet habe. Es tut mir ja schon etwas leid, dass sie nun zu Ende ist, aber wenigstens ist es für die beiden gut ausgegangen und das ist es, was zählt^^
Ich hätte es dir auch mehr als übel genommen, wenn einer der beiden die Schießerei nicht überlebt hätte *frech grinse*
Somit bin ich allerdings mehr als zudrieden und wie deiner ENS entnommen habe, arbeitest du schon fleißig an deiner nächsten Story über mein erstes und einziges Lieblingspaar. Wenn es soweit ist, dass das erste Kapitel davon hier veröffentlicht wird, vergiss nicht, mir bescheid zu sagen.
Note 1 für eine klasse Geschichte und ich freue mich auf die nächste.
Deine TeufelchenYami

Von:  Merylex
2010-11-27T18:30:33+00:00 27.11.2010 19:30
so ein gemeiner cut.
wie süss Yugi ist
"Ich will dich"
"So wie du mich gehabt hast", ich hab mich echt weggeschmissen vor lauter Lachen.
auch die Beschreibung vom Sex war ein wenig ausgeklügelter.
Für andere ff darfst du den Seme mal als ersten kommen lassen, oder sonst was untypisches einbauen, das er nicht reinkommt weil .... verkrampft, oder nicht trifft, das wäre doch lustig.
freu mich auf das letzte kapi
Von:  Anuugi
2010-11-21T19:15:51+00:00 21.11.2010 20:15
"Atemu lächelte. „Also schön. Ägypten.“"

Da ende ich ersteinmal mit lesen und gebe dir bis dahin ein kommi.
Ich fonde es wirklich schln das die beiden dieses Weihnachten etwas schönes zusammen machen wollen denn. ich muss sagen das hatte mich das letze mal ziemlich gewurmt.
Ich fand es traurig wirklich GAR nichts zu machen aber dieses mal ändert es sich X3~
Was ich auch wirklich schön fand ist das stück auf dem weihnachtsmarkt. Warum hat Yuu ihm denn den mund zugehalten ><
ich hätt gern gehört was ati zu sagen hatte *hmpf*
Und was auch interessant zu wissen ist, hat denn der liebe Ati das noch durchgesetzt? XDDDD

bis hierher wirklich schön.
Auch die idee mit der kapfsportschule gefällt mir.
Liegt auch nahe XD
Dann bis nach dem weiterlesen gelle

Teufelchen
Von:  Anuugi
2010-11-21T18:48:38+00:00 21.11.2010 19:48
Ah man das kspitel ist wirklich schön QQ
Erst dachte ich, bor du kalter klopf nimm Yuugi in den arm und daaann tat er es *-*
zwar kurz aber es war so süß.
Und ich... weis nicht ob ich das sagen sollte aber...
Ich bin Stolz auf yuugi.
Nur schade das du nicht im nachhinein übersetzt was da gesagt wurde es gibt leute die können kein englisch.
Ich hab nur verstanden "Glaubst du kind mich töten zu können? denke ich das es das war so in der art zumindest. Aber weder was da im bus gesagt wurde noch in der u bahn oder die anderen sachen sind leider für mich unverständlich.
Am allerbesten gefällt mir das kapitel ab der stelle auf der treppe.
Da ist atemu so süß und ich verstehe arum yuugi ihn liebt.
Ati hat es bestimmt in diesem moment auch bereut Yuugi allein gehen gelassem zu haben.
Ein wirklich schönes kapitel.

Teufelchen


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