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Bruder Geist

Wichtel-FF für Rei17
von

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Bruder Geist
 

Eine Geschichte, die sich im Winter ereignete
 

Die Zeichen, in der Reihenfolge ihres Erscheinens: eine versehentlich nicht geschlossene schwule Pornoseite auf dem Familiencomputer, ein Lippenstift im Badezimmer, an den gekauft zu haben Frau Schröder sich nicht erinnern kann, zwei Gestalten auf dem zugefrorenen See hinter dem Haus, nachts, sich umarmend oder küssend, Eiswasser mit Spuren von Schminke, ein schlammiger Damenschuh am Ufer, im Frühling
 

Dramatis Personae
 

Bruder Geist: älter, nicht weiser

Bruder Frohsinn: jung und beliebt, aber nicht verrückt

David: schön, trinkt sich andere ebenso

Frau Schröder: mit Herrn Schröder verheiratet

Herr Schröder: gegen Lebenswandel
 

Lebenslauf eines Winters
 

Im November rieselten die ersten Flocken Schnee. Ab Mitte Dezember wurde der Garten weiß. Der See war von Dezember an bis in den frühen März zugefroren. Die meiste Zeit erreichte die Eisdecke eine Dicke, die problemlos Menschen tragen konnte. Da es keine Berge in der Nähe gab, war Eislauf der liebste Wintersport der Bevölkerung. Gegen März setzte Tauwetter ein.
 

Auszug aus dem Tage- und Gedankenbuch (Bruder Geist), früher
 

Ich nenne mich hier selbst Bruder Geist, obwohl ich einen Namen habe. Das ist jetzt schon ein alter Name, den niemand kennt, außer mir und Bruder Frohsinn. Bruder Frohsinn ist auch so ein Name. Ich bin unscheinbar. Ich trage eine Brille und habe viele Pickel. Außerdem bin ich zu dick. Ich könnte die Brille abnehmen und stattdessen Kontaktlinsen tragen. Es würde mir nichts nützen. Ich wäre immer noch zu dick und hätte zu viele Pickel. Bruder Frohsinn lacht über mich. Der hat es gut, der kann über alles lachen. Wir sind drei Jahre auseinander, aber er sieht älter aus als er ist und ich jünger.
 

Kussstatistik Bruder Frohsinn, aufgestellt an seinem 15. Geburtstag, 23. November: 0 geküsste Mädchen; Mädchen, die Bruder Frohsinn küssen wollten: 15, für jedes Jahr eines
 

Kussstatistik Bruder Geist, aufgestellt an seinem 18. Geburtstag, 1. Dezember: 2 geküsste Mädchen (Flaschendrehen), Mädchen, die Bruder Geist küssen wollten: 0
 

Am Morgen nach seinem 15. Geburtstag änderte Bruder Frohsinn seinen Stil. Er ging in einem kurzen Rock (obwohl es zu kalt dafür war), mit rasierten Beinen, einer gestreiften Bluse, Schminke im Gesicht zur Schule.
 

Bruder Geist hielt nichts von Stil. Er begriff die Bedeutung von Überbekleidung nicht.
 

Frau Schröder fragte ihren Sohn nicht, ob er schwul war. Das sah sie auch so. Es war überhaupt nicht ihre Welt, aber sie schimpfte nicht, wie Herr Schröder es sicher tun würde, sobald er etwas mitbekam. Sie hätte Bruder Frohsinn ansprechen sollen, ließ es aber bleiben.
 

Auszug aus dem Tage- und Gedankenbuch (Bruder Geist), 24. November
 

Ich verstehe nicht, weshalb Bruder Frohsinn sich freiwillig mobben lässt. So wie der rumläuft. Der hat doch gute Voraussetzungen. Alle Mädchen himmeln ihn an. Ich gebe mir wenigstens Mühe, nicht gemobbt zu werden. Ich weiß zum Beispiel, dass ich kein Stilgefühl habe, also trage ich nur schlichte Sachen, mit denen man nichts falsch machen kann. Hilft alles nichts.

Auf der Weihnachtsfeier des Gymnasiums wollte David was von Bruder Frohsinn, doch der ließ ihn nicht ran. Davor und danach wurde Glühwein getrunken. Der Veranstaltungsort der Feier war der zugefrorene See, sie war inoffiziell.
 

Das Weihnachtsfest der Familie Schröder lief schief, kein Mitglied der Familie wollte hinterher noch darüber reden. Herr Schröder hatte in der Chronik seines Internetexplorers Entdeckungen gemacht, die er sich nicht erklären konnte. Frau Schröder hatte ebenfalls etwas entdeckt, jedoch im Badezimmer. Im Gegensatz zu ihrem Gatten sprach sie nicht darüber.
 

Im Winter sind die Wege um das Einfamilienhaus der Familie Schröder wesentlich kürzer als im Sommer, einfach über den See, nicht drum herum.
 

Treffpunkt der Brüder Geist und Frohsinn: Der Wald am Seeufer, Daten der Treffen: 1. Januar, 12. Januar, 20. Februar, 7. März
 

Wo Bruder Frohsinn schlief: Da, wo sein Schlafsack war, im Bahnhof, bei David, es war kalt.
 

Was Bruder Geist zu Bruder Frohsinn sagte: „Komm zurück!“(1. Januar)

„Wie konntest du?“(12. Januar)

„Ich will dich nicht mehr sehen.“(20. Februar)

„Schwule Sau!“(7.März)
 

Auszug aus dem Tage- und Gedankenbuch(Bruder Geist), früher

Es gibt so viele Dinge, die ich gerne mag. Die Blumen, warum kümmert sich niemand um die Blumen? Alle sagen, dass sie sie gerne mögen, aber niemand kennt ihre Namen, wo sie wachsen, wie viel Wasser sie brauchen. Ich weiß so etwas. Mama hat ein Buch darüber, aber sie schaut nie rein. Ich weiß auch, was die E-Stoffe sind, die hinten auf den Lebensmittelverpackungen aufgeführt sind. Weil ich mich dafür interessiere. Die meisten Menschen interessieren sich überhaupt nicht. Sie wollen gar nichts wissen. Ich sehe Steine und ich finde die Steine schön, weil sie schön sind und ich finde die Bäume schön, weil sie schön sind und die Häuser und ich möchte alles über die schönen Dinge wissen, was es zu wissen gibt.
 

Nach ihrem Streit am 7. März lief Bruder Frohsinn über den See zurück. Er war sehr schnell weg. Bruder Geist schaute sich die Bäume an, auf denen noch alter Schnee lag. Die Sonne war hindurchgebrochen. Er war sicherlich traurig, wegen Bruder Frohsinn und David und wegen sich selbst, aber so schön, wie der Schnee unter der Sonne aussah, spürte er doch auch Bewunderung dafür, dass alle Dinge immer und immer wieder schön und gut sein können. Zum ersten Mal seit Einsetzen des Winters fühlte er sich draußen ein wenig warm, so warm, dass er die Jacke öffnete. Bevor er sich dem See nach umdrehte, waren sieben Minuten vergangen. Bruder Frohsinn war fort.
 

Was Bruder Frohsinn antwortete, als David ihn fragte: „Nein.“
 

Was David Bruder Frohsinn fragte: „Bist du überhaupt schwul?“
 

Was Bruder Frohsinn antwortete, als er beim Flaschendrehen gefragt wurde: „Nein“
 

Was Bruder Frohsinn beim Flaschendrehen gefragt wurde: „Stehst du eigentlich wirklich auf Mädchen?“
 

Bruder Frohsinn hat keine Erklärungen abgegeben. Erklärungen hatte er nicht nötig. Er hatte nichts getan, was in irgendeiner Weise ungewöhnlich war. Er hatte seinen Stil geändert. Er trug Röcke und Kleider, weil er das schöner fand. Genau das taten viele tausende Menschen, denen er täglich in der kleinen Stadt oder der Schule begegnete. Die meisten dieser Menschen hatten zufälligerweise einen Busen. Manche nicht, sie waren entweder zu jung, um einen Busen zu haben oder zu dünn oder sie hatten ein Y-Chromosom, wie er. Bruder Frohsinn verstand nicht, was falsch daran war, zu tun, was er wollte, wenn es niemandem schadete und es so viele andere Menschen doch offensichtlich auch taten, ganz ohne Aufsehen zu erregen. Ein paar Mal wurde Bruder Frohsinn gefragt, ob er gerne eine Frau sein wollte. Bruder Frohsinn fand den Gedanken seltsam. Er hatte einen Penis. Den benutzte er zum Pinkeln. Das war genauso gut oder schlecht, wie eine Vagina zu haben, außer dass er im Stehen pinkeln konnte und dass ihm kein Blut aus dem Penis lief, also war es vermutlich doch ein wenig vorteilhafter, einen Penis zu haben. Er konnte alles tun, was eine Frau auch tun konnte und wäre er eine Frau gewesen, hätte er alles tun können, was ein Mann auch tun konnte. Das einzige, was er nicht tun konnte, war schwanger werden, doch Bruder Frohsinn mochte keine Kinder, deshalb machte es ihm nichts aus.
 

Als David Bruder Frohsinn seine Gefühle gestand, war Bruder Frohsinn überrascht. Er hatte David immer gemocht und unternahm sehr gerne verschiedene Dinge mit ihm. Zum Beispiel ins Kino gehen. Sie konnten über dieselben Filme lachen. Doch küssen? Küssen und Umarmen machte Bruder David keinen Spaß. Er hatte durchaus viele Interessen: Backen, Sport, Lesen. Gerade Küssen war, so fand Bruder Frohsinn, eine sehr langweilige Tätigkeit. Es war schleimig, nass, nahm Zeit weg für interessantere Tätigkeiten. Bruder Frohsinn wollte David nicht wehtun. Doch als er, zwei Wochen nach der missglückten Weihnachtfeier, zum ersten Mal wieder bei David in der Tür stand, mit all seinen Sachen unterm Arm an einem ersten Weihnachtsfeiertag, wusste er, dass er genau das getan hatte. Auch wenn er sich, so sehr er es auch versuchte, einfach nicht erklären konnte, was David so verletzt hatte.
 

David war sehr betrunken gewesen, als er Bruder Geist geküsst und umarmt hatte. Bruder Geist nahm an, dass er sogar so betrunken gewesen war, dass er sich später nicht mehr dran erinnern konnte. Doch für Bruder Geist war es die beste Weihnachtsfeier seines Lebens gewesen.
 

Bruder Geist wusste nicht, warum niemand an ihm Interesse hatte. Er hatte an allen Interesse. Auf der Erde gab es schätzungsweise sechs Milliarden Menschen, da wäre es doch sehr tragisch, wenn sich einer für gar niemanden interessierte. Bruder Geist fand etwa sechs Milliarden Menschen attraktiv. Das war nicht schon immer so gewesen, erst seit er in die Pubertät gekommen war. Vorher hatte er Obsessionen an Dingen entwickelt, nun geschah ihm dies mit Menschen. Jeder Mensch, egal, ob jung oder alt, erschien David schön, wenn er lachte, wenn er den Dingen nachging, die er wirklich tun wollte. Eines Tages hatte David sich in eine Frau verliebt, die einer Bettlerin Geld gegeben hatte, obwohl sie selbst in ziemlich billiger Kleidung umher lief. Wochenlang hatte er nur an sie denken können. Mit David aber war es etwas Besonderes gewesen, in ihn war er verliebt, auch wenn er gleichzeitig für viele andere Menschen schwärmte, war das Gefühl David gegenüber besonders stark. Er wollte ihm nah sein, genau so nah wie sein Bruder, der David mitunter mit nach Hause brachte, und noch näher. Doch David hatte das Interesse von Bruder Geist nie bemerkt, genau so wenig wie irgendjemand sonst. Es war, als wenn Bruder Geist unsichtbar wäre, als wenn er wirklich ein Geist wäre. Deshalb war er unheimlich eifersüchtig auf seinen jüngeren Bruder gewesen. Bruder Geist hatte nämlich versucht, seinen Eltern zu gefallen. Er wusste, dass seine Eltern Enkelkinder wollten. Er hatte auch versucht seinen Klassenkameraden zu gefallen. Immer hatte er ihnen Hilfe angeboten, doch sie wollten ihn nie dabei haben, weil er die Witze nicht verstand, über die sie lachten oder sie unendlich gemein fand, weil er Dinge erzählte die die anderen nie interessierten, weil er kein Alkohol trank. Wenn er sich betrank würden ihn seine Eltern für einen noch hoffnungsloseren Idioten halten, als er war, wenn es nicht tat, dachten seine Klassenkameraden genau das von ihm. Solche Zwickmühlen gab es immer und überall. David wusste nicht, wie alle anderen andauernd damit fertig wurden. Er sah jedoch wie sehr David Bruder Frohsinn mochte und wie egal Bruder Frohsinn das war. Bruder Frohsinn scherte sich nicht darum, was andere dachten und er nutzte Davids Verliebtheit aus. Bruder Frohsinn hatte Mut genug sich seinen Eltern entgegenzusetzen, doch jetzt, wo er so offensichtlich schwul war, schlug er jede Möglichkeit für Liebe aus. Deshalb war Bruder Geist am 7. März so wütend auf Bruder Frohsinn.
 

Manche Menschen sterben, weil sie schwul sind und andere sie deswegen hassen. Bruder Frohsinn starb, weil Anfang März Tauwetter einsetzte und weil die Frühlingssonne, die am 7. März endlich durchbrach, den Schnee so schön zum glitzern brachte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Idris
2010-05-27T17:23:44+00:00 27.05.2010 19:23
So, dann nochmal richtig und offiziell. :-)
Also vielen lieben Dank für diese unheimlich originelle und schön geschriebene Geschichte.
Sie ist definitiv anders als vieles was man hier auf Mexx findet und weit weg von jedem Mainstream. Du hast eine wunderschöne Art mit Sprache umzugehen, was ich als großer Fan von kunstvollen Sätzen unheimlich genießen kann.
Mir hat sehr gut gefallen, wie du die eigentlich so dramatische Handlung so hauchzart anreißt/andeutest, so dass man die ganzen Geschehnisse nur wie durch einen Schleier erahnen kann.
Ich liebe es wie du mit Statistiken, Dialogausschnitten und Vor- und Rückblenden spielst. Ich finde es toll, wenn man als Autor seine Geschichte so geschickt im Griff hat - das sage ich vor allem deshalb, weil ich das nicht immer habe. Mir entgleitet die Handlung immer und von der Form ganz zu schweigen. Also viel Respekt dafür.
Wie schon im Zirkel erwähnt, fand ich es manchmal ein bisschen schade, dass die Charaktere mehr skizziert wurden und man sie nicht wirklich zu fassen bekam. Sie waren mehr Schattengestalten als wirkliche Personen.
Aber wie auch schon erwähnt, ist das auch nicht wirklich schlimm, da die ganze Geschichte von der originellen Erzählperspektive und dem wunderschönen Stil lebt.
Form ist Wolllust, wie meine Freundin immer sagt. ;) Recht hat sie.

Vielen Dank! ^___^


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