Zum Inhalt der Seite

Gefühle

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

5.

Als wir bei den Jungs ankamen, wurde ich begrüßt, als sei ich schon ewig dabei gewesen. Wir saßen wieder wie am Montag davor – also ich wieder neben Francis. Und diesmal wurden die Worte, die zwischen uns gewechselt wurden, schon mehr.
 

In der nächsten Zeit lebte ich nur noch für die Montage. Alles andere schien mir völlig bedeutungslos. Da meine Eltern nicht damit rechneten, dass ich sie anlog, fiel es mir nicht schwer, Paul und unsere gemeinsamen Lernstunden dauerhaft einzuführen. Und er hatte natürlich immer nur am Montag Zeit. Meine Eltern schluckten es und lobten mich für meinen Einsatz.

Ich hatte immer mehr das Gefühl, zwei Leben zu leben, von denen eins mich völlig gefangen nahm. Und immer noch tat ich so, als hätte ich keine Ahnung, warum das so war.

Die Freundschaft zwischen mir und Francis wurde immer beständiger und irgendwann war sie so weit, dass wir uns nicht mehr nur Montags trafen. Meistens saßen wir bei ihm in seinem chaotischen Zimmer, spielten auf der Konsole oder redeten einfach nur. Francis wurde nicht müde, mir seine Sicht auf die Dinge in der Welt zu erklären und ich wurde nicht müde, ihm zuzuhören. Meinetwegen hätte er auch ein Lexikon vorlesen können, es wäre mir egal gewesen. Ich war einfach nur überglücklich, da zu sein, wo ich war.

Ich lernte eine ganze Menge über ihn und fing an, mich ihm völlig anzupassen. Plötzlich hatte ich Meinungen von Sachen, die mich vorher nicht die Bohne interessiert hatten.

Diese Harmonie wurde dann schließlich durch die Bio-Arbeit gestört. Unter ihr stand ein dickes, fettes Befriedigend. Dazu warf mir meine Lehrerin einen halb fragenden, halb enttäuschten Blick zu, als sie mir das Heft aushändigte.

Ich starrte auf das mit kräftiger roter Tinte geschriebene Wort. Befriedigend. Eine Drei. Die erste Drei meines Lebens. Wie sollte ich das bloß meinen Eltern beibringen?

Kai warf einen Blick über meine Schulter. „Eine Drei? Du hast eine Drei geschrieben?!“

Ich murmelte irgendetwas und klappte das Heft zu.

Heute ließ ich mir besonders viel Zeit für den Heimweg. Aber nicht, weil ich mal wieder vor mich herträumte, sondern weil ich voll und ganz damit beschäftigt war, mit eine gute Ausrede für meine Drei auszudenken. Und da ich immer noch nicht besser im Lügen geworden war und auch noch nie in die Situation gekommen war, wegen einer schlechten Note zu flunkern, brauchte ich entsprechend lange, bis mir mir, in meinen Augen Gutes eingefallen war, das anschließend noch verfeinert werden musste. Außerdem wollte ich es möglichst lange vermeiden, meine Mutter gegenüber zu treten.

Doch auch der am längsten hinausgezögerte Schulweg hat einmal ein Ende und schließlich stand ich vor unserer Haustür. In der Hoffnung, wenigstens noch ein paar Minuten Ruhe vor dem großen Sturm zu haben, klingelte ich nicht wie sonst, sondern schloß die Tür auf und wollte hoch in mein Zimmer huschen, aber was Noten anging, hatte meine Mutter schon immer einen unglaublichen Instinkt gehabt, jedenfalls was mich anging. Kaum hatte ich die Haustür einen Spalt geöffnet, als sie aus der Küche gelaufen kam und mir die Klinke aus der Hand riss. Sie strahlte mich an, weil sie sich sicher war, dass sie die Antwort auf die Frage: „Und? Wie ist die Bioarbeit ausgefallen?“ schon kannte und sie sie zufrieden stellen würde.

Das lange Nachdenken und das anschließende Tüfteln und Feilen an meiner Ausrede hätte ich mir sparen können, denn als ich sie ansah, war in meinem Hirn nur noch ein großes, schwarzes Loch. Ich konnte gar nichts mehr sagen, sondern stand einfach nur da und starrte sie an. Und vermutlich stand mein Mund dabei offen.

Da sie diese Reaktion noch nie erlebt hatte, wusste sie zuerst gar nichts damit anzufangen, sondern glotzte nur verwirrt zurück. Dann begann sie nachzudenken und erinnerte sich an die letzte Zeit, in der es mit meinen schulischen Leistungen bergab gegangen war. Dann zählte sie eins und eins zusammen. „Julian, welche Note hast du in der Bioarbeit?“

Es war sinnlos, noch weiter da zu stehen und gar nichts zu sagen. Sie würde es ja sowieso bald herausfinden. „Ich... ich habe eine Drei.“, gab ich deswegen sofort zu.

Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Eine Drei?! Wie konnte denn das passieren? Was ist nur los mit dir? Ich erkenne dich nicht wieder. Ist dir denn nicht klar, wie sehr du dir grade deine Zukunft verbaust?“ Sie seufzte einmal tief. „Geh auf dein Zimmer! Wenn dein Vater nach Haus gekommen sind, werden wir ausführlich drüber sprechen.“

Sie verschwand wieder in der Küche und ich ging mit schweren Schritten die Treppe hoch. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals.

In meinem Zimmer schmiss ich meinen Rucksack in die Ecke und warf mich aufs Bett, wo ich mich zusammenrollte. Ich hatte keine Lust, irgendetwas zu machen. Ich zog mir die Decke über den Kopf und lag dann einfach nur da und starrte in die Dunkelheit um mich herum. Mir kam es vor, als würde ein tonnenschwerer Fels auf mir liegen und ich bildete mir ein, dass es die Enttäuschung meiner Eltern war. Wieder einmal hasste ich mich selbst von ganzem Herzen. Ich hasste mich dafür, dass ich nicht genug gelernt, deswegen eine Drei geschrieben und meine Eltern enttäuscht hatte. Ich hasste mich dafür, dass ich mich wieder so von meinen Eltern beeinflussen ließ. Und in diesem Moment hasste ich Francis und das, was er mit mir gemacht hatte. Doch dieses Gefühl verschwand sofort wieder, als ich ihn vor meinem inneren Auge sah und bald war mein Verstand wieder voll von ihm. Egal, was mir auch passierte, ihn würde nichts verdrängen können. Ich musste an die Gespräche denken, die wir geführt hatten, an seine Stimme, die sich gerne überschlug, wenn er sich so richtig in Fahrt geredet hatte, sein Lachen...
 

„Julian!“ Jemand rüttelte mich an der Schulter.

Ich schreckte hoch und wusste für einen Moment nicht, was los war. Dann wurde mir bewusst, dass ich eingeschlafen war. Zum ersten Mal war ich nachmittags eingeschlafen. Ich schlug die Bettdecke zurück und erkannte in dem dunklen Schemen, das vor mir stand, meinen Vater. Hinter ihm war das Fenster, es war schon dunkel. Ich musste mindestens drei Stunden verpennt haben.

„Hast du etwa bis jetzt geschlafen?“, schrie mein Vater mich an. „Unglaublich! Du schreibst eine Drei in deiner Biologiearbeit und hältst es dann nicht einmal für nötig, zu lernen und legst dich stattdessen hin und schläfst?!“

„Tut... tut mir Leid.“, murmelte ich mit schwerer Zunge. Ich fühlte mich, als hätte mich ein Zug überfahren. Diese unfreiwillige Mittagsschlaf war anscheinend alles andere als erholsam gewesen.

„Tut dir Leid?“, wiederholte er. „In letzter Zeit hast du wirklich einiges, was dir Leid tun muss. Aber tust du etwas? Zeigst du uns, dass es dir wirklich Leid tut? Nein, du treibst dich mit irgendwelchen Leuten herum und schläfst!“ Er riss mir die Decke weg. „Steh sofort auf und komm runter ins Wohnzimmer! Deine Mutter und ich haben mit dir zu reden!“ Er ging vor und um seine Worte zu unterstreichen knallte er die Tür in Schloss.

Für einen Moment, einen winzigen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mir einfach wieder die Decke über den Kopf zu ziehen und weiterzuschlafen. Ich hatte keine Lust mehr auf irgendwas. Vorallem nicht darauf, mich mit meinen Eltern auseinander zu setzen.

Aber der Teil in mir, der ein guter Sohn sein wollte, raffte sich schließlich hoch, zog die Klamotten zurecht, fuhr sich einmal durchs Haar und ging dann nach unten ins Wohnzimmer.

Wie üblich bei solchen Gesprächen saßen meine Eltern auf dem Sofa an der Wand und ihnen gegenüber stand der Hocker, auf den ich mich nun zu setzen hatte. Mir war ziemlich übel, als ich mich drauf niederließ und von meinen Eltern mit Blicken durchbohrt wurde. Wie sonst auch übernahm mein Vater das Sprechen, meine Mutter saß nur da, starrte mich an, runzelte die Stirn und schüttelte in unregelmäßigen Abständen den Kopf.

Ich erwartete einen Schrei-Monolog von meinem Vater, aber was er sagte, überraschte mich. „Julian, wir wissen, dass du in einem schwierigen Alter bist, in dem dich alles andere viel mehr interessiert, als die Schule.“ Seine Stimme war sanft und mein Herz machte einen Hüpfer. Fingen sie etwa an, Verständnis dafür zu zeigen, dass ich keine Maschine war, die gute Noten am Fließband produzieren konnte. Doch sein nächster Satz brachte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. „Aber trotz allem geht es nicht so weiter! Ich glaube, du verstehst es nicht, wie wichtig harte Arbeit und gute Noten heutzutage sind, um nachher ein gutes Leben zu führen! Wir hatten gehofft, dir das durch unsere Erziehung klar zu machen, aber damit sind wir wohl gescheitert. Vielleicht sollten wir uns jemanden suchen, der das besser kann und dich zurück auf den richtigen Weg schubst.“

Ich seufzte einmal innerlich. Bei der Internatsdrohung wusste ich, dass ich jetzt wirklich zu weit gegangen war und ihnen zu Kreuze kriechen musste. Ich senkte den Kopf. „Entschuldigung. Es ist alles meine Schuld. Ich werde morgen zu Frau Heins gehen und sie darum bitte, bei ihr ein Referat zu halten. Ich werde mir große Mühe geben und dadurch werde ich die schlechte Drei ausgleichen können! Das verspreche ich!“ Ich sah meinem Vater ernst in die Augen.

Der nickte. „Gut. Dann zeig mir, dass wir doch nicht alles falsch gemacht haben bei dir. Du kannst gehen.“

Erleichtert stand ich auf und verließ das Wohnzimmer. So schlimm wie ich gedacht hatte, war es dann ja doch nicht geworden, was ich echt erstaunlich fand.

Wie versprochen ging ich in der nächsten Biostunde zu meiner Lehrerin und bat sie darum, ein Referat zu halten. Wie wohl die meisten Lehrer schloß sie die Schüler, die in ihrem Unterricht durchweg gute Leistungen brachten besonders ins Herz und war sofort bereit, mich das Referat halten zu lassen. Ich durfte mir sogar das Thema selbst aussuchen. Ich entschied mich für Vererbungslehre, das hatte mich schon immer interessiert. Und weil es mich interessierte, fiel es mir auch nicht schwer, mich dort richtig einzuarbeiten.

Ich fuhr sogar extra zwei Stunden zur Unibibliothek, um mir passende Literatur herauszusuchen. Ich genoß die Busfahrt, starrte aus dem Fenster und dachte an Francis.

Weil ich meinen Eltern beweisen wollte, dass ich das alles ernst nahm, verbrachte ich die nächste Woche jeden Tag mit meinem Referat. Meine Eltern sahen es mit Zufriedenheit. Meine Mutter kochte mir einen Tag sogar mein Lieblingsessen.

Doch wenn ich mich mal nicht mit dem Referat beschäftigte, musste ich an Francis denken. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte und ich wollte vor mir selbst nicht zugeben, wie sehr ich ihn vermisste und wie enttäuscht ich war, dass er sich in der ganzen Zeit nicht meldete und fragte, was mit mir los war. Vermutlich war ich ihm überhaupt nicht wichtig und er hatte sich nur mit mir abgegeben, weil ich ihm immer begeistert zugehört und ihm in allem, was er gesagt hatte, Recht gegeben hatte. Sicher brauchte er nur Publikum und jetzt, wo ich nicht mehr da war, hatte er jemand anderen gefunden.

Der Gedanke kam mir eines Abends, als ich mir die Zähne putzte. Ich spürte einen heftigen Stich, natürlich war es Eifersucht und natürlich wusste ich es tief in mir.

Ich starrte mich im Spiegel an. Würde Francis so etwas wirklich tun? War ich ihm eigentlich völlig egal? Ich schüttelte heftig den Kopf. Nein, ich lag völlig falsch, ganz sicher.

Ich spülte mir den Mund aus, stellte meine Zahnbürste zurück, ging in mein Zimmer und legte mich ins Bett. Ich war ziemlich müde, doch der Gedanke hatte sich in meinem Kopf festgesetzt und ließ mich erst sehr spät einschlafen.

Auch in den nächsten Tagen musste ich ständig darüber nachdenken, ich vernachlässigte meine Arbeit und verbrachte die meiste Zeit damit, aus dem Fenster zu starren. Wieder hatte ich dieses Gefühl der Lustlosigkeit. Warum war ich eigentlich hier? Warum machte ich das Ganze überhaupt?

Die düsteren Gedanken bescherten mir etwas, was jeder in meinem Alter schon mindestens einmal hatte durchstehen müssen, was für mich aber völlig neu war: eine schlimme Krise. Mein Referat wurde mir völlig gleichgültig. Nur um vor meinen Eltern den Schein zu wahren setzte ich mich jeden Nachmittag an meinen Schreibtisch und tat so, als würde ich arbeiten. In Wirklichkeit saß ich meistens nur da, hatte den Kopf in die Hände gestützt und befand mich in meiner eigenen völlig grauen Welt. Abends war ich jedes Mal froh, wenn ich schlafen gehen und den ganzen Mist wenigstens für ein paar Stunden vergessen konnte. Zwar waren meine Träume in dieser Zeit auch alles andere als fröhlich, aber immer noch besser als das, was mich in der Realität erwartete.

Der Tag, an dem ich das Referat halten sollte rückte immer näher, ich war zwar so gut wie fertig, aber die Qualität hatte sich stetig verschlechtert. Das würde sicherlich keine Eins geben, mit der ich die Drei in der Arbeit ausgleichen konnte. Das hieß weiterhin Stress mit meinen Eltern und vielleicht würden sie mich ja wirklich auf ein Internat schicken. Nachdem mein Vater die Drohung damals zum ersten Mal ausgesprochen hatte, wusste ich, dass sie sich auch schon eins ausgesucht hatten. Er hatte mir damals sogar Bilder in einer Broschüre gezeigt.

Aber es war mir völlig egal. Sollten sie mich eben wegschicken. Schlechter als jetzt konnte es mir eh nicht mehr gehen.

Das Wetter passte ich meiner Stimmung an. Der Winter kam mit aller Macht, es wurde eisigkalt und alle waren sich sicher, dass wir bald Schnee bekommen würden, aber stattdessen gross es wie aus Kübeln und alles war grau und matschig. Genau so, wie es auch in meinem Inneren aussah und während alle anderen über das Wetter meckerten, genoß ich es. Ich liebte es, am Fenster zu sitzen, an meinem Stift rumzukauen und in den Regen zu starren.

Doch noch nicht einmal das Wetter meinte es gut mit mir, denn irgendwann fing es dann doch an zu schneien. Der Schnee blieb sogar liegen und überzog die Welt mit einer glitzernden weißen Schicht. Eigentlich liebte ich Schnee, doch in diesem Winter verabscheute ich ihn.

An einem Tag, an dem es mir besonders mies ging, schneite es extrem stark und nachdem ich den ganzen Nachmittag am Schreibtisch gesessen, in das Schneegestöber gestarrt und zugesehen hatte, wie es dunkel wurde, beschloß ich, ins Bett zu gehen. Ich würde heute sowieso nichts Produktives mehr auf die Reihe kriegen und wenn meine Eltern meckern wollten, dann sollten sie es eben tun.

Grade, als ich aufstand, klingelte es. Meine Schwestern waren beide unterwegs und soviel ich wusste, erwarteten meine Eltern keinen Besuch. Deswegen war es vermutlich für mich, sicher Kai. Er hatte heute mal wieder den ganzen Schultag auf mich eingeredet, weil er wissen wollte, was mit mir los war. Ich hatte ihm nichts gesagt. Ich wusste nicht warum, aber irgendetwas stand zwischen uns... seitdem ich Francis kennengelernt hatte.

Als ich an der Treppe war, hatte meine Mutter die Tür bereits geöffnet.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück