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Gefühle

von

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2.

Die nächsten Tage herrschte der übliche Alltagstrott. Essen, Schlafen, Schule, Lernen. Vor allem lernen. Wenn ich nicht morgens und mittags den Schulweg gehabt hätte, wäre ich gar nicht mehr an die Luft gekommen. Mathe, Geschichte, Englisch… es schien kein Ende zu haben. Und ich biss die Zähne zusammen und lernte brav bis in den Abend hinein und nahm mir dann eine Stunde für mich allein, bevor ich schlafen ging. Ich hasste den Lernplan, den ich, natürlich mit Unterstützung meiner Eltern, aufgestellt hatte, an den ich mich aber trotzdem strikt hielt.

Manchmal fragte ich mich, ob ich nicht vielleicht schizophren sei.

Glücklicherweise gab es nach dem ganzen Klausurstress zwei Wochen Herbstferien und ich nahm mir eine Woche eine komplette Auszeit. Ging abends spät ins Bett, schlief am nächsten Tag lange, packte meine Bücher nicht mehr an und tat nur noch Dinge, die mir Spaß machten.

Am Mittwoch rief Kai mich an. „Tut mir Leid, dass wir bis jetzt noch nichts zusammen gemacht haben, aber Mam hat uns von einer Verwandtenfeier zur nächsten geschleppt. Und apropos Verwandtenfeier: Bea gibt Freitag eine Party, ihre Eltern gehen abends auch weg und kommen die Nacht nicht wieder. Und sie hat extra betont, dass du auch unbedingt kommen sollst.“

„Sie weiß, dass sie in mir jemanden hat, der ihr brav zuhört.“, entgegnete ich.

„Du kommst also?“, erkundigte sich Kai und ich bejahte es.

„Super. Wir sollen am Freitag alle so gegen sieben, halb acht bei ihr sein. Sie wohnt hinten am Schwimmbad.“ Er beschrieb mir den Weg in allen Einzelheiten und legte erst auf, nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich mir auch alles aufgeschrieben hatte, denn wir konnten uns leider erst da treffen. Seine Eltern hatten anscheinend beschlossen, jede einzelne Minute der Ferien mit ihrem einzigen Kind zu verbringen.

Ich drückte auf den Knopf am Telefon und ließ mich in den nächstbesten Sessel fallen. Eine Party war immer eine willkommene Abwechslung und ich freute mich, dass Bea an mich gedacht hatte… doch trotzdem wollte ich irgendwie nicht hingehen. Ich redete mir die ganze Zeit ein, dass es dafür keinerlei Grund gab. Obwohl ich ganz genau wusste, dass da einer war. Ich schlug mir gegen die Stirn und rief mich zu Ordnung. Ich hatte Francis jetzt zwei Wochen nicht mehr gesehen, er hatte den Vorfall sicherlich schon längst vergessen und das sollte ich jetzt auch tun.

Von da an begann ich, mich auf die Party zu freuen. Ich erzählte meinen Eltern am Donnerstagabend davon und da sie meinen Entschluss, wenigstens eine Woche für die Ferien zu nutzen, respektierten, hatten sie nichts dagegen. Als sie hörten, dass ich von einem Mädchen eingeladen worden war, bestanden sie darauf, dass ich ein kleines Geschenk für sie kaufte. Meine Mutter ging sogar mit mir einkaufen, weil sie behauptete, Männer hätten keine Ahnung, was Frauen gefiel. Am Ende stand ich mit einem kleinen Blumenstrauß und einer Schachtel Pralinen da und meine Mutter war zufrieden.

Ich rechnete mir aus, wie lange ich zu Beas Haus brauchen würde und unterschätzte mich mal wieder grandios. Es war grade einmal halb sieben, als ich mit meinen Geschenken im Arm an der Haustür klingelte. Die ganze Sache hatte aber auch einen Vorteil: Ich konnte Bea die Geschenke überreichen, ohne dass andere anwesend waren. Denn ich war sicherlich der einzige, der was mitgebracht hatte.

Ich ordnete noch einmal hastig meine Kleidung und fuhr mir mit der Hand durchs Haar, da wurde die Tür auch schon schwungvoll aufgerissen und vor mir stand… Francis.

Mein Herz machte einen Hüpfer, ich konnte nix dagegen tun. Wieder starrten wir uns erst einige Zeit in die Augen, ich fassungslos, dass er tatsächlich da stand und er, weil er mich zuerst einordnen musste. Dann fiel sein Blick auf die Blumen und die Pralinen und er grinste. „Das wird Bea gefallen. Jemand, der Geschenke mitbringt. Das wird für sie der Gipfel der Höflichkeit sein.“ Er prustete einmal vergnügt. „Aber du bist dann doch etwas zu früh für die Party, Kollege.“

Ich schluckte einmal, mein Mund war plötzlich ganz trocken. „Ich bin zu früh losgegangen.“, krächzte ich und war über den Klang meiner Stimme ziemlich erschrocken.

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kein Thema. Wenn du Bock hast, kannst du gerne die Zeit bei mir absitzen, Bea ist nämlich noch unterwegs. Mein Zimmer ist aber nicht das Ordentlichste.“

„Nein, nein, nein!“, schrie alles in mir. „Mach das nicht. Lauf lieber noch ein wenig herum.“ Und mein Mund sagte. „Klar, wenn’s kein Problem ist.“

Er grinste, machte eine Kopfbewegung, die mich aufforderte, einzutreten und schloß die Tür hinter mir. „Dann komm mal mit,“ sagte er und stieg die Treppe hoch, die rechts direkt hinter der Tür begann. Er machte kein Licht an und ich stolperte hinter ihm her und hätte mich ein paar Mal fast langgelegt, konnte mich aber in letzter Sekunde noch fangen.

Ich kam mit einiger Verspätung oben an und er schnalzte mit der Zunge. „Tut mir Leid, ich hätte wirklich das Licht anmachen sollen.“ Noch während er sprach drückte er auf einen Schalter und das Licht ging an. Ohne wäre ich verloren gewesen, denn der Flur, durch den wir nun gingen, war voll gestopft mit kleinen Schränken, auf denen alle möglichen zerbrechlichen Sachen standen.

Francis riss die Tür ganz am Ende auf. „Herzlich willkommen.“, rief er und als er sagte, sein Zimmer wäre nicht ordentlich, hatte er nicht übertrieben. Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch nebst Stuhl auf dem sich Bücher stapelten und überall lagen Papierbälle herum. Das Bett in der rechten hinteren Ecke war voller Klamotten. Neben der Tür stand eine Couch und davor ein Tisch – ebenfalls alles belegt. Der riesige Sessel, in den Francis sich grade mit wenig Anmut fallen ließ und der aussah, als hätte er auch schon bessere Tage gesehen, war das einzige freie Möbelstück.

Ich stand im Türrahmen, mit meinen Blumen und Pralinen und wusste nicht, was ich tun sollte. Das Zimmer war erst ein richtiger Schock gewesen. So etwas hatte ich noch nie vorher gesehen. Selbst meine Schwestern waren ordentlicher. Ich blickte zu Francis, der gemütlich im Sessel lümmelte, den Controller einer Spielkonsole in der Hand hielt und konzentriert auf den Fernseher an der Wand gegenüber starrte.

Wieder hatte es mir die Sprache verschlagen, ich konnte nicht auf mich aufmerksam machen sondern stand einfach nur da und wartete darauf, dass Francis mir wieder Beachtung schenkte, was eine ganze Weile dauerte. Erst dann wurde ihm bewusst, dass er grade Besuch hatte. Er drückte auf einen Knopf und sah zu mir hin. „Schieb die Sachen auf der Couch einfach zur Seite, meinetwegen auch auf den Boden und mach’s dir bequem.“ Dann wandte er sich wieder seinem Spiel zu.

Ich legte die Blumen und die Pralinen einfach auf einen der Stapel auf den Tisch, schob die Sachen auf dem Sofa so zusammen, dass ich mich setzen konnte und hockte dann da und wusste nicht, was ich machen sollte. Sollte ich irgendetwas sagen? Irgendeine Bemerkung über das Spiel machen, das er grade spielte, irgend ein Autorennspiel? Ich hatte keinerlei Ahnung von diesen Dingen. Ich hatte mal einen Game Boy besessen, den dann aber meine Schwestern beschlagnahmt hatten.

Francis schien es nichts auszumachen, dass ich nichts sagte. Er tat es auch nicht, sondern konzentrierte sich ganz auf das Spiel und fluchte manchmal oder schimpfte auf seine Mitfahrer.

Es klopfte und nachdem Francis ein ,Ja’ genuschelt hatte, trat eine Frau ins Zimmer, die ich sofort als seine Mutter identifizierte. Sie ließ ihren Blick durchs Zimmer schweifen und ich lehnte mich unwillkürlich ein wenig nach hinten, weil ich auf ein Donnerwetter wartete. Bei meiner Mutter hätte es jetzt eins gegeben, dass die Wände gewackelt hätten.

„Du solltest vielleicht wieder einmal aufräumen.“, meinte sie stattdessen nur, sie hob noch nicht einmal die Stimme und für einen Moment starrte ich sie verwirrt an.

„Hm.“, machte Francis nur.

„Und vielleicht solltest du auch langsam mit dem Lernen anfangen.“, redete sie weiter. „Schreibst du nicht nächste Woche eine Arbeit?“

„Hm.“, kam es wieder von Francis und dann fluchte er.

Spätestens jetzt musste doch die Predigt kommen. Ich war innerlich schon ganz angespannt. Aber stattdessen drehte sie sich um und ging aus dem Zimmer. Und schloß die Tür hinter sich.

„Wow.“, entfuhrt es mir. Selbst, wenn ich alle meine Willenskraft zusammengekratzt hätte, das hätte ich nicht unterdrücken können.

„Was ist?“, fragte Francis, ohne seine Augen vom Bildschirm zu nehmen.

„Meine Mutter hätte sich jetzt furchtbar aufgeregt.“, erklärte ich.

„Hat sie früher auch. Aber irgendwann hat sie dann endlich eingesehen, dass es nichts bringt und wieder damit aufgehört.“

Ich seufzte. „Ich wünschte, meine Eltern wären auch so.“

Er sah mich über die Schulter hinweg an. „Sind deine Eltern auch so Spinner wie die von Kai?“

Ich zog unbehaglich die Schultern zusammen. „Ja, schon, aber als Spinner würde ich sie nicht unbedingt bezeichnen.“

„Vielleicht siehst du das so, weil sie deine Eltern sind.“, meinte er gönnerhaft, dann stieß er sich mit dem Fuß am Teppich ab und drehte den Sessel so, dass er mir direkt gegenüber saß. „Pass auf.“, sagte er und setzte dann zu einem hitzigen Monolog an. Er wetterte auf die Gesellschaft, in der es anscheinend nur um Leistung ging und sich der kleine Mann sein ganzes Leben abschuftete, damit die Bonzen in ihren Chefetagen immer reicher und reicher wurde, ohne selbst dafür irgendetwas zu tun. Man hätte doch nur dieses eine Leben und sollte es doch genießen, aber stattdessen verbrachte man die meiste Zeit damit, Dinge zu tun, die einem keinen Spaß machte. Und nachher, wenn man alt und grau war, saß man da und blickte zurück und fand, dass man sein Leben nicht gelebt hat. So, wie es heutzutage ablief, das war doch nicht menschlich. Menschen sollten so nicht leben. Aber diese Gesellschaft ließe ja nichts anderes zu.

Er redete und redete, wobei er mich ganz stark an seine Schwester erinnerte, und starrte mich dabei die ganze Zeit an. Ich konnte seinem Blick aber immer nur ein paar Sekunden standhalten und musste dann den Kopf senken.

Er beendete seine Ansprache mit einem triumphierenden „So!“, atmete einmal tief ein, lehnte sich zurück und machte ein zufriedenes Gesicht, als hätte er grade einen erfolgreichen Vortrag vor einem sehr anspruchsvollen Publikum gehalten. Er drehte den Sessel wieder zurück und widmete sich dem Autorennen.

Ich saß da und ließ mir durch den Kopf gehen, was gesagt hatte. Ich wusste jetzt, warum Kai ihn nicht mochte. Er war zwar mit dem ganzen Druck, den ihm seine Eltern machten, nicht einverstanden, doch trotzdem war er der Meinung, dass man in diesem Leben viel Leistung bringen musste. Francis sah das ganz anders und ich? Ich hatte mir eigentlich noch nie Gedanken darüber gemacht, was ich von all dem halten sollte. Ich war immer nur genervt von meinen Eltern, aber über das große Ganze, das dahinter steckte, hatte ich noch nie nachgedacht. Tendierte ich eigentlich mehr in die Richtung von Kai? Oder in die von Francis?

Ich starrte Francis' Hinterkopf an und versuchte mir klarzumachen, was ich von all dem hielt. Als er plötzlich die Faust in die Höhe riss und einen Jubelschrei ausstieß, weil er als erster über die Ziellinie gefahren war, gleichzeitig die Tür aufgerissen wurde und Bea ihren Kopf hindurchsteckte zuckte ich erschrocken zusammen.

„Francis.“, rief sie, dann fiel ihr Blick auf mich, sie zog überrascht die Augenbrauen hoch und dann lächelte sie. „Du bist schon da?“

Ich sprang hastig auf und hielt ihr die Blumen und die Pralinen hin. „Ja, ich bin zu früh von Zuhause losgegangen. Hier, das ist für dich.“

Sie starrte auf die Geschenke und ihre Wangen färbten sich leicht rosig. „Oh, das ist ja total lieb von dir. Komm, dafür kriegst du auch n Stück von meinem selbstgebackenen Kuchen, bevor die anderen ihn alle essen.“ Sie fasste mich am Arm und zog mich aus dem Zimmer.

„Bis dann,“ sagte ich zu Francis, der mich selbstzufrieden angrinste. „Viel Spaß.“
 

Ich war alles andere als ein angenehmer Gast an diesem Abend. Um mich herum lachte und unterhielt sich alles oder tanzte zur der Musik, die aus den großen Boxen dröhnte. Der Keller, in dem wir feierten, war zwar noch nicht fertig, aber man sah ihm jetzt schon an, dass aus ihm einmal ein großartiger Partykeller werden würde. Eine Stereoanlage stand in der Ecke und in der anderen war die Bar schon soweit aufgebaut, das man hinter ihr Getränke fertig machen konnte.

Doch von all dem bekam ich kaum etwas mit, obwohl ich die Musik ziemlich gut fand und es mir eigentlich auch Spaß machte zu tanzen. Und an Aufforderungen mangelte es an diesem Abend wirklich nicht.

Aber ich stand in der Ecke, hielt mich an meinem Glas Cola fest und musste die ganze Zeit an das denken, was Francis gesagt hatte. Es war ja nicht so, dass diese Einstellung etwas vollkommen neues für mich gewesen wäre. Ich hatte einige Leute in der Klasse, die man als faul bezeichnen konnte, die niemals lernten und denen es völlig egal war, was sie in der Arbeit für eine Note bekamen. Sie machten lieber Dinge, die ihnen Spaß machten.

Ich hatte mit diesen Leuten niemals mehr als ein paar Worte darüber gewechselt und niemand von ihnen hatte mir ihre Ansicht vom Leben so direkt entgegen geschmettert, wie Francis. Meistens standen sie auch gar nicht dazu, sondern sagten immer Dinge wie „Vor der nächsten Arbeit lern ich diesmal bestimmt, vielleicht kannst du mir ja auch dabei helfen.“. Was sie dann aber letztendlich natürlich nicht taten.

Kai stand einige Zeit bei mir und wir führten eine ziemlich verkrampfte Unterhaltung mit vielen Pausen. „Was ist bloß los mit dir?“, meinte er irgendwann. Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß auch nicht. Ist wohl nicht mein Tag heute.“

Er sah mich kurz komisch an, lehnte sich an die Wand und trank einen Schluck aus seinem Glas. Aber als ich schließlich nichts mehr sagte, ging er und gesellte sich zu einem Grüppchen, das in der Nähe stand und sich wohl irgendwelche Witze erzählten, denn alle lachten lauthals.

Die Zeit verging, ich wechselte hier und da mal einen Satz mit Beas Freunden, die alle eigentlich ziemlich nett waren und selbst dabei musste ich über Francis' Worte nachdenken. Und je länger die Party ging, desto mehr dachte ich nicht mehr über das nach, was Francis mir entgegengeschmettert hatte – nein, ich dachte über Francis nach. Darüber, dass seine Augen gar nicht blau waren, wie die seiner Schwester, sondern eher grün. Das seine Haare einen leichten Wirbel über der Stirn hatten. Und das er ein sehr schönes Lächeln hatte.

Als ich soweit mit meinen Gedanken gekommen war, war ich von mir selbst schockiert. Ob Bea doch etwas in die Cola getan hatte, obwohl ich sie um Cola pur gebeten hatte? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie so etwas machte, aber irgendwo her mussten diese komischen Gedanken ja kommen.

Ich schüttelte den Kopf, um sie zu verscheuchen, was mir allerdings nicht gelang.

Als ob ihr jemand gesagt hätte, dass ich grade an sie gedacht hatte, kam Bea plötzlich zu mir und lächelte mich an. „Na du? Alles klar bei dir?“

Ich erwiderte das Lächeln. „Ja, alles klar. Dieser Keller ist wirklich toll. Da wirst du später super Partys drin feiern können.“

Sie musterte mich einmal kurz. Vermutlich besaß sie soviel weibliche Intuition, dass sie genau wusste, dass mich etwas völlig anderes beschäftigte als der Keller. Sie fasste mich erneut am Oberarm, eine Geste, die ich mittlerweile als total Bea-typisch eingeordnet hatte. „Komm, du stehst schon ewig alleine hier in der Ecke, es wird Zeit für etwas Gesellschaft. Ich hab schon ein paar Leuten von deinen süßen Geschenken erzählt, die wollen dich jetzt unbedingt kennen lernen.“

„Ach wirklich?“ Die Geschenke wurden mir immer unangenehmer.

Bea zerrte mich in eine Ecke, in der auf dem Boden eine Decke ausgebreitet war, ein paar Kissen lagen herum und vier Leute saßen im Kreis und unterhielten sich.

„Hey!“, rief Bea und schob mich vor. „Das ist Julian, der mit den Geschenken.“

Vier Köpfe drehten sie zu mir, blickten zu mir hoch und lächelten. Ich lächelte zurück, Bea drückte mich auf einen freien Platz und setzte sich mir gegenüber.

Sie diskutierten grade über den Klimawandel und nachdem ich einen Moment zugehört hatte, wie sie sich gegenseitig ihre Argumente an den Kopf warfen und manche von ihnen richtig hitzig wurden, wurde mir bewusst, dass ich wohl grade in einen Diskussionszirkel geschleppt worden war. Und irgendwie hätte es mir bei Bea auch gleich klar sein können, dass sie gerne diskutierte.

Ich beteiligte mich mit ein paar Beiträgen, so dass es nicht auffiel, dass ich die meiste Zeit dasaß und mit meinen Gedanken ganz woanders war.

Als ein Mädchen namens Livia behauptete, ihrer Meinung nach könne der Klimawandel durch den Egoismus der meisten Menschen gar nicht aufgehalten werden, ging mir die ganze Situation plötzlich tierisch auf die Nerven. Die Leute gingen mir auf die Nerven, vermutlich alles Einser-Schüler, die nicht tagelang zuhause eingesperrt waren und lernen mussten, um ihren Schnitt zu halten, bei denen nicht die Eltern bei jeder zwei, die sie nach Hause brauchten, total ausrasteten und sicher lag ihnen auch nicht ständig jemand in den Ohren, dass sie später unbedingt und auf jeden Fall Medizin oder Jura studieren sollten. Oder beides.

Der Krach ging mir auf die Nerven, die Lieder, die ich vorher noch so toll gefunden hatte, fand ich nun einfach nur noch scheiße und am liebsten hätte ich geschrieen, das jemand die Lautstärke leiser drehen sollte.

Aber ganz besonders ging ich mir selbst auf die Nerven. Warum konnte ich nicht aufhören, an Francis zu denken? Warum musste ich immer und immer wieder gebetsmühlenartig seine Worte in meinem Hirn wiederholen?

Livia redete sich immer mehr in Rage, aber ich fiel ihr einfach ins Wort. „Bea, kannst du mal eben mitkommen?“

Sie nickte und stand sofort auf. „Klar.“

Wir gingen in den kleinen Vorratsraum, in dem es nicht ganz so laut war.

„Es tut mir Leid.“, sagte ich. „Aber mir geht es nicht wirklich gut und ich hoffe, du bist nicht böse, wenn ich jetzt nach Hause gehe?“

Wieder musterte sie mich mit diesem Blick, als könne sie auf den Grund meiner Seele blicken. Dann lächelte sie. „Du siehst auch ein wenig blass um die Nase aus. Natürlich bin ich nicht böse, wenn du gehst. Hauptsache, dir geht es bald wieder besser.“

An der Garderobe wühlte sie unter einem Dutzend Jacken meine heraus und brachte mich zur Tür. „Komm gut nach Hause.“, sagte sie, umarmte mich einmal fest und blieb dann so lange im Türrahmen stehen, bis ich hinter der nächsten Ecke verschwunden war.

Ab da begann ich zu laufen und ich rannte den ganzen Weg nach Hause, in der Hoffnung, meine verdammten Gedanken dadurch endlich loszuwerden.



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