Zum Inhalt der Seite

Our Heartbeats

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Collision

Für MarukaHazmierski, weil ihr Traumauto ein '67 Chevrolet Impala ist.

______________________________________________________________________________
 


 

COLLISION
 


 

CONTROL YOURSELF, TAKE ONLY WHAT YOU NEED FROM IT
 

Den Sonntagvormittag verbrachte ich bei Tess. Sie wusste bereits, dass Sally heute kommen würde. Dion hatte ihr davon erzählt und meine beste Freundin war offenbar aufgeregter als Bambi selbst. Tess war unglaublich scharf darauf, Sally endlich kennenzulernen. Zwar hatte Dion Tess angeboten, mit zum Flughafen zu kommen, aber sie hatte abgelehnt. Sie war der Meinung, es wäre besser, wenn nur er und ich fuhren. Dabei hatte sie verheißungsvoll gelächelt und mir ein unschuldiges Zwinkern zugeworfen. Wer wusste, was schon wieder durch Tess’ krankes Hirn spukte. Ich wollte es mir gar nicht vorstellen. Während ich in Tess’ Zimmer in ihrer Hängematte lag und langsam hin und her schaukelte, ließ ich Edward Cullen über meine Hände krabbeln. Tess war nach unten gegangen, um uns Frühstück zu machen. Nachdenklich betrachtete ich die Spinne auf meiner Hand.
 

Die wenigen Informationen, die Dion mir über Sally gegeben hatte, formten ein unklares Bild von ihr in meinem Kopf. Sie mochte Opern und hatte auch mal eine Vogelspinne gehabt. Irgendwie schienen diese Tatsachen überhaupt nicht zusammenzupassen, wie die Pluspole zweier Magneten, die sich gegenseitig abstießen. Wie sollte man einen solchen Menschen einschätzen? Ich hatte absolut keine Ahnung. Andererseits waren ihr die Haare wieder heilig. Das schien alles keinen Sinn zu ergeben.
 

Als ich Tess von unten rufen hörte, hievte ich mich vorsichtig aus der Hängematte und steckte Edward Cullen zurück in sein Terrarium, bevor ich die Treppe hinunter lief. Am Tisch saß Tess’ Dad Nathan, die heutige Tageszeitung vor dem Gesicht und in der rechten Hand einen Kaffeebecher. Julie und die Jungs waren nicht zu Hause. Tess hatte gesagt, sie wären zu Julies Mom gefahren, Nathan kam mit seiner Schwiegermutter nicht gut aus und blieb bei solchen Besuchen deswegen immer zu Hause.
 

»Hey, Nathan«, grüßte ich, als ich mich ihm gegenüber sinken ließ. Er ließ die Zeitung sinken, schenkte mir ein freundliches Lächeln und sagte: »Guten Morgen.«
 

Tess setzte sich neben mich und griff nach einem Croissant, das in einem Korb zusammen mit Brötchen und Brot vor uns stand. Sie hatte eine CD eingelegt und wippte im Takt der Musik auf dem Stuhl mit. Nathan wiegte den Kopf, während er weiter in seiner Zeitung las. Ich beobachtete die beiden kurz dabei. Sie hatten beide größtenteils einen übereinstimmenden Musikgeschmack. Im Gegensatz zu vielen anderen Dads ging Nathan mit der Zeit und hörte auch aktuellere Musik. Oft zapfte er Tess’ Ressourcen an.
 

Schließlich nahm ich mir ebenfalls ein Croissant.
 

»Wann genau kommt Sally denn eigentlich an?«, fragte Tess, während sie die Spitze ihres Croissants in Marmelade tunkte. Ich seufzte gedanklich. Irgendwie kamen wir immer wieder auf Sally zurück. Was war es nur mit diesem Mädchen? Tess kannte sie nicht mal und war trotzdem total versessen auf sie. Verrückt. Vielleicht würde sie eine Ernüchterung erleben, wenn Tess Sally zum ersten Mal traf. Vielleicht mochten sie sich gar nicht. Wer konnte das jetzt schon sagen?
 

»Spät«, brummte ich. »Irgendwann gegen acht erst.«
 

Tess gab ein undefiniertes Geräusch von sich, das nicht sehr begeistert klang. Nathan blätterte die Zeitung um und schaute kurz auf. »Dions beste Freundin? Die Sally?«
 

Ich starrte ihn ungläubig an. Woher wusste er das denn? Doch bevor ich mein Sprachzentrum wieder gefunden hatte, hatte Tess schon bejaht und blubberte aufgeregt vor sich hin, wie sehr sie sich schon darauf freue, Sally endlich kennenzulernen und ihr die Stadt zu zeigen, bla bla bla. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Tess heimlich schon eine To-Do-Liste erstellt hätte, die sie kontinuierlich abarbeiten wollte, solange Sally hier war. Aber das hinterfragte ich nicht. Tess wiegte immer noch zur Musik, dann stieg sie beim Refrain selbst ein und sang mit. Es war sichtbar, dass sie ausgesprochen gute Laune hatte.
 

Irgendwie kam es, dass alle Sallys Ankommen zufieberten, während ich mit jeder Stunde, die mich ihrer Ankunft näher brachte, nervöser wurde. Es war so verrückt, so irrsinnig und bekloppt. Ich kam mir so bescheuert vor, dass es fast wehtat. Eigentlich konnte es mir doch egal sein, ob sie mich mochte oder nicht. Nur, weil sie Bambis beste Freundin war, musste das nichts Besonderes heißen. Es gab genug andere Leute, die nicht mit mir klar kamen; sie wäre bei Weitem nicht die erste. Und auf einen Menschen mehr oder weniger, der mich hasste, kam es auch nicht an.
 

Soweit zu meinem gewöhnlichen Gedankengang.
 

Dion tauchte zum Mittag bei Tess auf und leistete uns Gesellschaft. Er hatte uns sechs Tüten McDonalds Futter mitgebracht, und so hockten wir zu dritt in Tess’ Zimmer und stopften uns mit Fast Food voll, während Bambi und sein(e) beste(r) Freund(in) Klopfer aufgeregt über Sallys Ankunft schnatterten. Tess hatte viel mehr mit Bambi gemeinsam als ich. Manchmal geisterte unweigerlich die Frage in meinem Kopf herum, ob die beiden nicht besser zusammenpassten — zumindest in einem Paralleluniversum, in dem Dion hetero war.
 

Tess schaute mich herausfordernd an. Das Grinsen in ihrem Gesicht verriet, dass sie nichts Gutes im Sinn hatte. »Ich wette, du schaffst es nicht, dir einen ganzen Cheeseburger in den Mund zu stecken«, sagte sie spitzbübisch zu mir. Ich schnaubte. Das war eine Provokation zu Dummheiten, ich wusste es, aber ich war ein Mann und so etwas konnte ich nicht einfach auf mir sitzen lassen. Abgesehen davon würden Dummheiten mich von Sally ablenken, deswegen waren sie mir willkommen, obwohl ich wusste, dass ich es früher oder später vermutlich bereuen würde, dass ich mich hatte provozieren lassen.
 

»Ich wette dagegen«, sagte ich trocken, nahm mir einen Cheeseburger und wickelte das Papier ab. Kurz betrachtete ich den Burger, dann begann ich ihn systematisch in meinen Mund zu stopfen.
 

Man sollte meinen, es wäre einfach, einen ganzen Cheeseburger in den Mund zu kriegen. Immerhin ist er rund und weich und nicht sonderlich groß.
 

Irrtum.
 

Als der Burger endlich drin war, konnte ich den Mund nicht mal mehr richtig zumachen, ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste ersticken. Tess schüttelte es am ganzen Körper vor Lachen und sie konnte ihre Kamera, die sie selbstverständlich dazu genutzt hatte, um Beweisfotos zu schießen, nicht mehr gerade halten. Dion lachte auch, aber auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Unglauben, Erstaunen und Belustigung wider.
 

Nachdem ich es nach einer gefühlten halben Stunde endlich geschafft hatte, alles zu zerkauen und zu schlucken, lachten Tess und Bambi immer noch. Mein Mund fühlte sich wahnsinnig trocken an. Ich griff nach meinem Wasser und leerte den Becher in einem Zug.
 

Damit sollte unser kleiner Wettbewerb natürlich noch nicht beendet sein. Tess ließ sich dazu treiben, die sechs Ketchuptütchen … zu … trinken? Kann man Ketschup trinken? Jedenfalls, sie nahm den Ketschup ohne irgendwelche Zusätze wie Pommes oder Nuggets zu sich. Alle sechs Tütchen. Sie verzog schon nach dem ersten angewidert das Gesicht, aber Tess wäre nicht Tess, wenn sie einfach so vor fünf anderen Tütchen Ketschup kapituliert hätte. Ich glaube, nachdem sie schließlich alles heruntergewürgt hatte, wäre sie am liebsten aufs Klo gerannt um alles wieder ins Porzellan wandern zu lassen, aber stattdessen schob sie sich einen BigMac in den Mund.
 

Bambi bekam sein Fett natürlich auch weg. Tess und ich schmierten ihm eine dicke Schicht Eis auf einen Hamburger, den er anschließend essen sollte. Einer Schwangeren hätte das vielleicht geschmeckt, aber Dion wurde ein wenig blasser um die Nase, als er sich dazu zwang, den Hamburger zu essen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Tess und ich hingegen ziemlich unseren Spaß daran hatten. Bambi war aber wieder einmal tapferer als man es ihm ansah, denn er aß alles ohne Klagen auf. Allerdings kippte er anschließend einen Becher Cola.
 

Dion und ich verbrachten den Großteil des Nachmittags bei Tess, bis wir zwei Stunden vor Sallys Ankunft zu Bambi nach Hause fuhren … besser gesagt, gefahren wurden. Tess hatte sich großzügigerweise dazu hinreißen lassen, uns herumzukutschieren. Dion versprach ihr, als sie uns vor dem van Dorve’schen Anwesen ablud, dass sie Sally direkt morgen kennenlernen würde. Meine beste Freundin schien ziemlich zufrieden damit zu sein, denn sie grinste selig, als sie umdrehte und wieder zu sich nach Hause fuhr. Es war fast gruselig. Tess hatte so etwas wie eine beste Freundin nicht, deswegen machte mir der Gedanke von ihr zusammen mit Sally umso mehr Angst. Ich wusste nicht, was schlimmer wäre: wenn Sally und Tess zu Busenfreundinnen wurden oder sich hassten.
 

Das interessante an Frauenhassgemeinschaften war, dass sie sich nicht prügelten, nicht offen den Mittelfinger zeigten oder sich gegenseitig die Spinde mit einem Baseballschläger einschlugen. Frauen blieben immer beherrscht, lächelten ihre Feindin frostig-freundlich an und spannen hinterrücks heimlich und voller Hingabe ein feines Netz aus den boshaftesten Intrigen, die die Welt sich vorstellen konnte … oder auch nicht vorstellen konnte. Weiber kamen diesbezüglich auf Ideen, die Kerlen nicht einmal im hintersten und zurückgebliebensten Teil ihres Hirnes einfallen würden. Sie stellten sich auch nicht vor versammelte Mannschaft und versuchten allen klarzumachen, Schlampe 1 hätte kleine Brüste oder so. So was klappte sowieso nicht.
 

»Was ist los?«, fragte Dion, als wir das Haus betraten. Offenbar hatte mein Gesichtsausdruck mich verraten. Ich schaute ihn kurz an, dann teilte ich ihm meine Gedanken mir. Bambi grinste wortlos, schüttelte den Kopf, aber ich hätte schwören können, dass er etwas wie »Worum du dir Sorgen machst …« gesagt hatte. Ich stand kurz davor, eine Diskussion zu beginnen, aber ich biss mir im letzten Moment auf die Zunge. Mein Beziehungsberatungsbuch sagte auf Seite zweiunddreißig, dass man nicht über jede Kleinigkeit diskutieren sollte. Das konnte schwerwiegende Folgen haben. Ich seufzte geschlagen.
 

Die restliche Zeit verbrachten wir damit, Dions Zimmer für Sallys Ankunft herzurichten. Ich half ihm dabei, zwei Matratzen aufeinanderzustapeln und das Bettzeug zu beziehen. Irgendwie verstand ich nicht ganz, warum sie mit Bambi zusammen in einem Zimmer schlief, wenn das Haus ein Gästezimmer hatte, in dem Madame auch wohnen konnte. Während ich das Kissen mit dem Bezug überspannte, räumte Dion ein paar Regale in seinem Schrank frei, damit Sally ihr Zeug dort verstauen konnte. Ganz schön viel Aufwand für ein Mädchen …
 

Es war bereits dunkel draußen, als wir zum Flughafen fuhren, um Sally abzuholen. Wir waren sogar fast zu spät, weil Bambi darauf bestand, einen Parkplatz in direkter Nähe zum Ausgang zu bekommen. Warum auch immer. Wir liefen hastig zum Terminal, wo Sally ankommen sollte. Uns blieben zehn Minuten, bis der Flieger landen würde. Ich bereitete mich mental darauf vor, Dion für zwei Wochen an seine beste Freundin abzugeben. Ein letztes Mal versuchte ich, mir das Mädchen, an dem Bambi so hing, vorzustellen; wie sie wohl aussehen würde, wie sie drauf war.
 

Ich warf einen Blick auf eine der großen Digitalanzeigen, die auflisteten, wann welche Flüge landen würden. Sallys Flug blinkte an oberster Stelle und als das Blinken aufhörte, stand dahinter »gelandet«.
 

»Ich glaub, ich muss mal …«, sagte ich und wollte mich gerade, umdrehen und gehen, als Dion fest nach meiner Hand griff und mich zurückzog.
 

»Grace«, nörgelte er und verzog flehentlich das Gesicht.
 

»Ich muss wirklich«, brummte ich. Dion seufzte, bevor er mich losließ.
 

»Beeil dich und komm ja wieder hierher zurück«, sagte er und drückte mir seinen Finger gegen die Brust. Ich musste grinsen.
 

»Weißt du eigentlich, wie niedlich du bist, wenn du so herrisch wirst?«, wollte ich amüsiert wissen und sah zu, wie Dions Ohren glühend rot wurden. Er setzte seinen Ich-will-wütend-auf-dich-sein-Gesichtsausdruck auf, aber trotzdem sah er mehr verlegen aus als alles andere.
 

»Ich bin nicht niedlich«, stammelte Bambi mit hochrotem Kopf. Ich gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze, dann wandte ich mich um und suchte nach den Klos. Auf dem Weg ging ich an einer Sitzreihe vorbei und erspähte ein Mädchen mit gigantischem Koffer neben sich auf einem der Sitze. Sie hatte Ohrhörer in den Ohren, ihre Augen waren geschlossen und sie hatte ihre Lippen zu einem Schmollmund verzogen, während sie Luftschlagzeug spielte. Ihre Haare waren ein Farbton, der etwas zwischen weinrot und violettrot sein musste, und schulterlang. Sie hatte helle Haut und ihre Fingernägel waren schwarz lackiert. Ihre Augen waren geschminkt, sie trug eine dunkle Strumpfhose und blaue, hochhackige Schuhe mit einem grün-roten, schottisch karierten Minirock. Darüber hatte sie ein Stoffjackett an, das die Farbe ihrer Schuhe hatte, und einen gestrickten Schal, der sich zu beiden Enden hin verjüngte und in einen Knoten überlief, von dem aus ein Haufen Fransen hing. Wäre ich nicht mit Dion zusammen gewesen, hätte ich das Klo vergessen und hätte Operation: Prince Awesome meets Princess Gorgeous eingeleitet. Sie hob den Kopf, öffnete die Augen und sah mich kurz an. Bevor sie aus meinem Blickfeld verschwand, sah ich, wie sie mir ein breites, einladendes Lächeln schenkte.
 

Als ich vom Klo zurückkam, hing Princess Gorgeous in Dions Armen. Ich blieb stehen und schaute dabei zu, wie die beiden hin und her wiegten. Keiner von beiden sagte irgendetwas. Gut, offensichtlich brauchten sie keine Begrüßungsreden, aber wer brauchte die auch schon, wenn er so eine Umarmung stattdessen bekam? Ich beobachtete die beiden dabei, wie sie sich gegenseitig ins Koma drückten, aber dann ließen sie erstaunlicherweise voneinander ab. Princess Gorgeous war also Sally. Dion und Sally strahlten sich an, als wären sie die beiden Teile eines Paars, das sich verloren und wiedergefunden hatte.
 

Als ich schließlich näher kam, hörte ich, wie Sally sagte: »Ich hab dich so vermisst.« Dabei griff sie nach Dions Händen und begann sie hin und her zu schwingen.
 

»Ich dich auch«, meinte Bambi und wollte gerade ansetzen, noch etwas zu sagen, da sprach Sally weiter.
 

»Gerade ist hier so ein rattenscharfer Junge vorbei gerannt. Oh Gott, du hättest ihn sehen müssen. Er hätte dir bestimmt auch gefallen. Vielleicht sehen wir ihn noch einmal, wenn wir noch ein bisschen auf dem Flughafen herumlaufen«, meinte sie und ich sah, dass sie mit den Augenbrauen wippte. Ich trat an die beiden heran und räusperte mich leise. Dion wandte sich zu mir um und schnappte sich meine Hand.
 

»Sally — Grace. Grace — Sally«, stellte er uns atemlos vor und strahlte dabei, als wäre er der Generator, der den Flughafen mit Licht versorgte. Sally war so groß wie ich, doch ihr Blick war ein wenig erstaunt, als sie mich anschaute.
 

»Oh hallo, rattenscharfer Junge«, sagte sie und schnipste mit den Fingern. »Wusste ich es doch, dass er dir gefallen würde.«
 

Der letzte Teil war wohl an Dion gerichtet, obwohl Sally immer noch mich ansah. Ich wusste nicht, ob ich zufrieden oder erschrocken über ihren Titel für mich sein sollte, aber mir blieb nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Im nächsten Augenblick hatte Sally mich umarmt und drückte mich an sich. Sie roch angenehm, aber nicht nach Parfüm. Es hatte eher den Eindruck, dass es ihre persönliche Note war — oder wie auch immer man das erklären konnte. Ich war so perplex, dass ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte. Es war, als würde ich auf einer Ladung Sprengstoff stehen, die hochging, wenn ich mich bewegte. Das war wohl ein schlechter Vergleich, aber ich war es nicht gewohnt, dass mich fremde Menschen umarmten — schon gar nicht so innig, wie Sally es tat.
 

Sie lächelte breit, als sie mich wieder losließ. Ihre Hände lagen auf meinen Schultern und sie betrachtete mich, als wollte sie mich abschätzen. Ihre Augen hatten einen hellen graugrünen Ton. Während ich Sally anschaute und sie mich, ging mir durch den Kopf, dass die echte Sally keiner einzigen meiner Vorstellungen entsprach. Allein optisch konnte ich verstehen, warum Dion meinte, man müsste Sally erleben. Sie wirkte nicht wie ein kleines Modepüppchen, aber auch nicht wie ein halbes Mannsweib. Offensichtlich war Sally irgendetwas dazwischen. Vielleicht aber auch nicht, aber mir blieben zwei Wochen, um es herauszufinden.
 

»Grace«, sagte Sally, und es schien, als würde sie ausprobieren, wie mein Name aus ihrem Mund klingt. Ich schaute sie verdutzt an, während sie mich fachmännisch musterte. Mir sollte niemand wieder jemanls erzählen, wie schrecklich es wäre, seinen Schwiegereltern zum ersten Mal vor die Augen zu treten. Schwiegereltern waren nichts im Vergleich zur besten Freundin.
 

»Sally«, brachte ich schließlich im Ein-Wort-Modus meines Sprachzentrums hervor. Ein spitzbübisches Grinsen legte sich auf ihre Lippen. Doch dann seufzte sie theatralisch und sah ziemlich enttäuscht aus. Sie legte kumpelhaft einen Arm um meine Schulter, schaute einen Moment lang auf meine Lippen und dann in meine Augen.
 

»Warum sind alle scharfen Kerle entweder schwul oder vergeben?«, fragte sie mich mit dramatischem Ton in der Stimme.
 

»Arschlöcher«, fügte ich hinzu, »Du hast die Arschlöcher vergessen.«
 

Sie sah mich schief grinsend an und ich wusste immer noch nicht, was ich tun sollte. Mir gefiel ihr Arm um meine Schulter nicht. Es war nicht mein Ding, wenn Leute einfach so taten, als wäre man gut befreundet, obwohl man sich noch gar nicht kannte. Ich nahm Sallys Arm und löste ihn von meiner Schulter, doch sie blieb dicht an mir dran. Irgendwie berührten wir uns immer, egal, wie weit ich versuchte, sie auf Abstand zu bringen. Sie war mir vom ersten Eindruck nicht unsympathisch, aber … es war einfach zu viel auf einmal.
 

»Und was bist du?«, wollte Sally wissen, ihr Gesicht meinem so nah, dass unsere Nasenspitzen sich beinahe berührten. Ich machte einen Schritt nach hinten, um Raum zwischen Sally und mich zu bringen, doch für den Schritt, den ich nach hinten machte, für den machte sie einen nach vorn. Das war der Moment, in dem Dion sich einmischte. Zwar sagte er nichts, aber er zog Sally zwei Schritte zurück.
 

»Ich bin alles davon — zumindest teilweise«, antwortete ich schließlich. Sally schaute mich prüfend an, mit einem süffisanten Ausdruck in den Augen, dann lächelte sie wieder und wandte sich an Dion.
 

»Wollen wir?«, fragte sie. Sally ging zu ihrem Koffer, schnappte sich den Griff und warf sich ihre Handtasche über die Schulter. Die Absätze ihrer Schuhe klackerten auf dem Boden. Dion nahm Sally den Koffer ab und wir machten uns auf den Weg nach draußen zum Auto.
 

»Wieso hast du eigentlich schon da gesessen, während alle anderen erst rausgekommen sind?«, fragte Dion, als wir den Wagen auf dem Parkplatz anpeilten. Sally zuckte die Schultern und tat ziemlich gelassen.
 

»Na ja, es hat sich irgendwie so ergeben, dass ich früher gelandet bin«, meinte sie, während Bambi den Kofferraum des Autos öffnete und mit meiner Hilfe den tonnenschweren Koffer hineinhievte. Dann sah er sie mit einer Mischung aus Ärger und Verwunderung an.
 

»Warum hast du nicht angerufen? Wir hätten dich geholt«, sagte er entrüstet und boxte sie scherzhaft gegen die Schulter. Das war vermutlich das Gewalttätigste, was er je getan hatte. Ich wandte den Blick von den beiden ab und verzog das Gesicht, als Dion ›wir‹ sagte. War es denn so selbstverständlich, dass ich mitgekommen wäre, wenn ich kurzfristig erfahren hätte, dass Sally früher gelandet war? Als würde ich für sie alles stehen und liegen lassen …
 

»Ich wollte dir keine Umstände machen. Krieg dich wieder ein, es war nur eine halbe Stunde. Kein Drama«, erwiderte sie und wuschelte durch Bambis Haare. »Du lässt deine Haare endlich wieder länger wachsen.«
 

Sie schien zufrieden mit der letzten Tatsache zu sein. Dion schüttelte ihre Hand ab, ein verlegenes Lächeln auf den Lippen. Sally kam herum, doch ich hatte nicht vor, mich auf die Rückbank zu verziehen. Ich glitt schnell auf den Beifahrersitz. Für einen kurzen Moment dachte ich, Sally würde eine Diskussion beginnen, doch dann öffnete sie die hintere Tür und rutschte in die Mitte des Rücksitzes.
 

Sally beugte sich zu uns vor, als Dion losfuhr. »Und, rattenscharfer Junge, wie bist du zu deinem Namen gekommen?«
 

Was hatten die Leute nur alle mit meinem Namen?
 

»Meine Mutter hat sich nicht sagen lassen, ob ich ein Mädchen oder ein Junge bin, aber sie hat bis zum Schluss daran geglaubt, ich würde ein Mädchen. Als sie dann festgestellt hat, dass ich ein Junge bin, ist ihr auf die Schnelle kein anderer Name eingefallen und sie hat mir einfach den gegeben, den sie auch einem Mädchen gegeben hätte«, erklärte ich trocken. Diese Erklärung hatte ich schon so oft gegeben, dass ich es sogar fast selbst glaubte. Es fiel nicht mehr schwer, zu lügen. »Oder meintest du meinen neuen Spitznamen?«
 

Ich warf einen Blick über die Schulter, um Sally sehen zu können. Sie grinste verwegen, ging allerdings nicht auf meine Bemerkung ein, stattdessen wandte sie den Blick von mir ab und schaute Dion an.
 

»Hab ich eigentlich schon erwähnt, dass Jonah sich seinen Arsch abärgert, weil er nicht mitkommen konnte?«, sagte sie. Sally hatte ein irres Leuchten in den Augen, doch das änderte sich schlagartig und ein träumerischer Ausdruck legte sich auf ihre hübschen Züge. »Ich vermisse die guten alten Zeiten. Jonah, du und ich. Na ja, oder Jonah, Will, du und ich.«
 

Ich biss die Zähne zusammen und versuchte nicht, über ›die guten alten Zeiten‹ nachzudenken, in der Bambi noch mit Will zusammengewesen war. Es war absolut irrational, dass ich so reagierte, aber ich konnte das Gefühl nicht einfach abschalten. Ich lehnte den Kopf gegen die Lehne hinter mir und schaute aus der Windschutzscheibe, wo die Lichter der Straßen vorbei flogen.
 

»Ja, es ist schade, dass er nicht kommen konnte«, meinte Dion. Er klang niedergeschlagen, obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Wir müssen uns nach den Abschlussprüfungen treffen, in den Sommerferien oder so.«
 

»Auf jeden Fall. Wir können unsere Schulzeit nicht einfach so vorbeigehen lassen, ohne uns alle nicht mindestens noch einmal zu sehen«, stimmte Sally zu. »Oh, aber zu deinem Geburtstag werden Jonah und ich es noch irgendwie auf die Reihe kriegen und dich besuchen. Wir haben noch nie einen deiner Geburtstage verpasst.«
 

Bambi lachte bei der Erinnerung daran. Ich warf ihm einen Blick zu, als ich mich selbst an meine Freunde aus meiner Kindheit erinnerte. Damals hatte ich noch viele Freunde gehabt, von denen sah ich jetzt kaum noch jemanden und selbst wenn — inzwischen waren sie mir auch fremd geworden. Kein Wunder, wir hatten nach meinem Umzug kaum noch Kontakt gehabt. Das hatte hauptsächlich an mir gelegen und für einen Moment fragte ich mich, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich den Kontakt nicht beendet hätte. Es war immerhin noch dieselbe Stadt, nur unterschiedliche Standorte, andere Schulen …
 

»So«, sagte Sally dann und ich hatte das Gefühl, dass sie das Thema wechseln wollte — was sich bestätigte. »Du spielst also auch Volleyball.«
 

Sallys Hand lag auf meiner Schulter, ich wandte mich wieder ihr zu. »Ja.«
 

»Das ist schön. Jonah und ich interessieren uns gar nicht dafür. Gut zu wissen, dass Dion endlich jemanden gefunden hat, mit dem er sein größtes Hobby teilen kann. Wie lange spielst du schon?«, erzählte sie. So, wie Sally darüber sprach, schien sie ein wenig schuldbewusst, dass sie die Leidenschaft für Volleyball nicht mit Bambi teilte, und sie schien sich ehrlich zu freuen, dass ich auch Volleyball spielte.
 

»Seitdem ich auf der High School bin«, antwortete ich. »Dion ist eine Bereicherung für uns. Er ist einer der besten.«
 

Sally strahlte zufrieden und mächtig stolz. Sie war bester Laune, klatschte einmal in die Hände und fragte: »Was machen wir heute Abend noch?«
 

___

tbc.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (27)
[1] [2] [3]
/ 3

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  meanae
2010-04-29T09:50:17+00:00 29.04.2010 11:50
Ganz ehrlich?

Die und die Vorgeschichte dazu sind die lustigtes und bestgeschriebensten Geschichten die ich seit langem gelesen hab.
Grace` Gedankengänge zum Thema Bambi sind einfach zu genial... selbst ne Freundin, die normalerweise nichts von solchen Geschichten hält, musst tierisch lachen, als sie das gelesen hat.

es macht einfach irre Spaß, weiterzulesen. :D
Weiter so! ^o^ *gespannt aufs nächste Kapitel wart*
Von:  Pataya
2010-04-02T20:50:32+00:00 02.04.2010 22:50
ja, nicht schlecht^^...freu mich aufs nächste kapi und bin gespannt wies weitergeht^^

grüße pat
Von:  Inan
2010-04-02T01:17:15+00:00 02.04.2010 03:17
Sally ist echt...unconventionell, aber auf eine irgendwie coole art und weise xD
Grace tut mir halt leidt, der mag das ja nich so, aber vllt gewöhnt er sich ja dran xD
Jaah...auf jeden Fall echt toll bis jetz, über ne ens, wenns weiter geht, würd ich mich echt freun^^
Von:  Pataya
2010-03-29T10:51:22+00:00 29.03.2010 12:51
da ich ja auch ma wieder n paar ens haben möchte, schreib ich dir jetzt hier schon ma was rein, obwohl ich nocht dazu gekommen bin dieses kapitel zu lesen. ich werd es aber defenetiv die nächste tage machen, also, wenn du in der zwischenzeit schon ein neues hochgeldane hast, dann schick mir doch bitte trotzdem schon ma ne ens. ich versprech dir, spätestens am wochenende hast du dann den richtigen kommentar zum kapitel.

Lg, pat
Von:  W-B-A_Ero_Reno
2010-03-27T19:09:18+00:00 27.03.2010 20:09
das ist wirklich eine asolut geile ff!
ich hab den heutigen tag fast ausschließlich deine ff gelsen, also erst den ersten teil und nun diesen und ich bin wirklich begeistert! ich liebe deinen schreibstil und deine charaktere. ich fand es toll, dass du deinen charakteren so viel zeit zum entwickeln gibst. das war spannend zu lesen und man konnte sich richtig in die personen hineinversetzen.
naja ich bin jetzt jedenfalls sehr gespannt wie das mit sally wird. im moment find ich sie auch noch etwas seltsam, aber wer weiß wie sich das entwickelt =)

alles liebe <3
MugenNoHana
Von:  tubame
2010-03-16T20:00:03+00:00 16.03.2010 21:00
hmm .. ich kann mich noch nicht entscheiden ob ich sally mag oder nicht :|
mal gucken :)
aber sonst tolles kapi :D sally bringt stimmung in ihr leben
aber armer grace *grace streichel* xD
na ob tess sich gut mit ihr versteht :D
freu mich wenns weiter geht :)

Von:  Amenity
2010-03-16T19:53:18+00:00 16.03.2010 20:53
Hallo ^^

Also Sall bringt echt leben in die Sache glaube ich. Ich mag ihre offen herzige Art. Und bin auch schon gespannt was Tess zu ihr sagen wird.
Und auch wie es weiterhin mit Grace und Dion laufen wird.
:) Du entwickelst hier richtig eine Fan Gemeinschaft die du glücklich machen kannst wenn du schnell weiter schreibst.
Ich danke dir für jedes Kapitel. Und es macht immer spass deine Geschichten zu lesen und man freut sich riesig über die Nachricht das es was neues gibt :)
Von: abgemeldet
2010-03-14T13:27:31+00:00 14.03.2010 14:27
Ich bin noch gar nich zum Kommischreiben gekommen^^''
Also erstmal: Sally ist mir total symphatisch! Ich mag sie einfach x3
Die Art, wie sie mit Grace umgeht is so..kA, ich mags einfach xD

Und auch der rest hat mir mal wieder super gefallen :D
Freu mich schon sehr auf das erste Zusammentreffen von Sally und Tess xD
Von:  _silent_angel_
2010-03-13T21:35:31+00:00 13.03.2010 22:35
Spaaet, aber immerhin! :D

Ich find' es lustig zu sehen [oder lesen ;D], wie unterschiedlich Tess und Grace auf Sallys Besuch reagieren :D Deswegen bin ich auch schon gespannt darauf, wie das Zusammentreffen von Tess und Sally wird. Ich denke, die beiden werden sich moegen. Irgendwie sagt mir mein Gefuehl, die beiden verstehen sich auf anhieb. Mal sehen, ob das stimmt :D
Auf jeden Fall waer' Grace ja dann wieder irgendwie alleine da. Er sagt ja zwar, dass Sally nett ist, aber er haelt sie ja trotzdem auf Abstand. Die Stelle, an der Dion Sally von Grace wegzieht, hat mir sehr gefallen. Auch wenn ich mich frage, ob Sally nicht gemerkt hat, dass Grace sich immer wieder von ihr entfernt hat. Aber so ist sie vielleicht einfach (: Liebenswert, auf ihre eigene Art & Weise. Ich kan verstehen, wieso Dion sie so mag (:
Ihr Art - bzw das, was man bis jetzt von ihr kennengelernt hat - ist einfach toll. Vor allem, dass sie Grace einfach mal so 'rattenscharfer Junge' nennt :D:D
Ich glaube, sie ist so ein Mensch, der mit fast jedem klar kommt. & der einem seine Meinung ins Gesicht sagt. So schaetz' ich sie ein, so auf den ersten Eindruck. Bin gespannt, wie sich das so entwickelt ;D

Bis zum Naechsten (:
Von:  MissTea
2010-03-13T16:53:33+00:00 13.03.2010 17:53
...ich mag Sally...irgendwie.
Aber mir tut Grace leid *grace pat*
Jetzt wird er zu körperkontakt beinahe gezwungen!

Ob das auf die Dauer gut geht und hinter wen sich Dion im zweifelsfall wohl stellen würde?
Blubb O.O

Schreib schnell weiter!

Glg
kruoi <3


Zurück