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23 days - L's Last Note

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Taten

VORWORT
 

Menschen. Geschöpfe mit Gefühlen, Stärken und Schwächen. Letztere habe ich am ehesten in Erfahrung bringen müssen. Sie scheinen schier ihren gesamten Lebensablauf zu bestimmen. So jedenfalls war es bei Marti der Fall - "meinem" Menschen, den ich "hatte". Dem Menschen, der sich als mein Schicksal erkoren hatte. Ihr gegenüber wurde ich unweigerlich meiner Berufung gerecht, die ich mir selber letzten Endes gesetzt hatte, und ich tat mein Bestmöglichstes. Scheinbar jedoch war dies nicht ausreichend oder einfach unmöglich. Ich weiß es nicht ...
 

Marti war eine junge, durchschnittlich hübsche Frau von 26 Jahren; Martina Sakamoto, alleinlebend in einem Appartment in Tokyo, Japan. Sie war schon immer ein Großstadtmensch gewesen. Sie war geprägt von Fantasie und einer hohen Vielfalt an Einfallsreichtum. Zu ihren großen Stärken zählte die Fähigkeit, nahezu alles Erdenkliche ins Illustrative umzusetzen. Ich kann mich noch gut daran erinnern wie sie manchmal Abende lang damit verbrachte, gewisse Auftragsbilder fertig zu stellen, die dann gegen ein spärliches Taschengeld an interessierte Abnehmer gingen. Ich hielt viel auf Martis Talent und sie konnte wirklich was draus machen. Zu schade, dass sie die Chance nicht ergreifen konnte, weil sie gejagt wurde von ihren stetigen Schwächen. Sie holten sie täglich ein und ließen die eigentlich recht standfeste, einst lebensfrohe, etwas schrill gepolte junge Frau nahezu hernieder fallen. Von diesen Schwächen werdet Ihr erfahren während und nachdem ich euch alle Umstände ihrer Geschichte erzählt habe. Denn alles ist zu komplex und zu tiefgehend um es in einem einzigen Schritt auf den Punkt zu bringen ...
 

KAPITEL 1 - Taten
 

- Prolog -
 

Martina Chista Sakamoto, 26 Jahre alt, lebend in Tokyo, Japan, freiberufliche Auftragszeichnerin. So beschrieb man die junge brünette Japanerin, die in der Lotusgasse 127 lebte. Ein etwas abgelegenes Stadtviertel henseits der stark belebten Innenstadt Tokyos, in der Tag ein Tag aus riesige Menschenmassen einher gingen und die erfüllt war von den höchsten Wolkenkratzern. Auch Marti (so nannte man sie) war da nicht anders. Morgens verließ sie ihre Wohnung (ein 2-Zimmer-Appartment), ging ihrer schlecht bezahlten mickrigen Arbeit nach, kam abends wieder, ging dann entweder noch in ihrem Stamm-Fitnesscenter trainieren oder ließ sich von ihrem gleichaltrigen Freund Akiba aushalten und bevormunden. Marti war einst munter, lustig und selbstsicher. Leider jedoch war sie ebenso schon immer sehr naiv gewesen - bis heute! Sie geriet bisher nur an jene Männer, die ihr anfangs die schönsten Augen machten, sie aber letztlich, sobald sie meinte, nicht mehr von ihnen lassen zu können, mit Vorlieben ausnutzten, ihr alles vorschrieben und, ja, sie halt ganz und gar zu besitzen meinten. Und Marti war zeitlebends eine naive Seele, die das Alleinsein fürchtete. Darum erduldete sie stets alle Demütigungen, Vorwürfe und Vorschriften als sich entgültig loszureißen und selbst zu behaupten. Ja, sie war, was das anging, eine sehr schwache Person und schlichtweg beklagenswert. Mit Akiba hatte es sie nun besonders schwer getroffen: Er hatte die vollste Kontrolle über ihr Leben. Nach dem Tod ihrer Eltern vor einigen Jahren konnte sie sich ein Leben ganz ohne ihren Partner nicht mehr vorstellen und war der größten Überzeugung, sich umzubringen, sollte es doch dazu kommen. Daher tat sie alles daran, Akiba bei sich zu halten, auch wenn ihre Beziehung schon seit einer Ewigkeit unglücklich war. Dies wusste der junge Mann, ausgebildeter Medientechniker, gut verdienend, mit Studiumsabschluss, entsprechend hoch gebildet und mit einem nahezu peinlichen Fimmel für Ordnung und Struktur, bestens auszunutzen. Er wusste, von seiner Marti würde er alles bekommen. Kam sie abends nach Hause, musste sie ihn erst noch "bedienen", indem sie ihn bekochte, ihm stets Neues zu trinken brachte, seine Sachen auf- und wegräumte und für ihn zu waschen hatte. Natürlich war es ihr nicht gestattet, großartig was für sich selbst zu tun. Sie durfte kein fernsehen, keinen ihrer Freunde sehen, ja, nicht einmal mit ihnen telefonieren oder gar chatten. In ihrem Leben hatte es nur IHN zu geben. Wehrte sie sich doch mal dagegen oder tat sie all die ersehnten Dinge heimlich und es kam früher oder später raus, so war der Ärger natürlich umso größer. Er machte sie fertig bis ihr alles schließlich leid tat und sie um Gnade winselte. Er erniedrigte sie, warf ihr die schlimmsten Dinge vor, beleidigte sie und drückte sie auch gern schon mal körperlich nieder, wenn sie daraufhin einen Tobsuchtsanfall bekam, weil ihre eh schon stark strapazierten Nerven entgültig zu zerreißen drohten. So war ihr regulärer Alltag geprägt. Ihre einst so schönen, blauen Augen hatten mit all der Zeit eine trübe, glasige Leere erhalten mit ganz leichten Fältchen darunter, die durch ihre zahllosen Weinkrämpfe entstanden waren. Sie wirkte zunehmend älter als sie es eigentlich war. Im Laufe der ganzen letzten Jahre war sie still, nachdenklich und depressiv geworden; konnte nur noch selten lachen ... Sie war froh, wenn sie wenigstens durch ihre Zeichenaufträge und eigenen Bilder, die sie in eine komplett andere Welt entführten, für eine Weile abgelenkt wurde. Doch dies war auch nur von kurzer Dauer und oftmals fühlte sie sich aufgrund ihrer Depressionen nicht einmal dazu in der Lage und musste ihre Sachen häufiger vernachlässigen ...
 

Der ausgiebige Wandel ereignete sich an einem ohnehin schon sehr trüben Tag. Wieder einmal kam Marti erschöpft von ihrer Arbeit nach Hause. Als hätte sie eine gewisse Vorahnung gehabt, ging es ihr seltsamerweise bereits den ganzen Tag schon auffällig schlecht. Sie fühlte sich schwer, traurig, müde und verzweifelt; mehr denje.

Als sie sich dann an jenem Abend an ihrem Computer begab um einfach gedanklich ein wenig abzuschalten, fiel ihre Aufmerksamkeit auf eine frisch erhaltene E-Mail, die ihr bester Freund Kaito Shiva geschrieben hatte. Kaito kannte sie nun mehr seit zwei Jahren und beide besaßen sowas wie eine Seelenverwandtschaft miteinander. Sie verstanden sich nahezu ohne große Worte und doch verloren sie stets von diesen so viele aneinander; ganz einfach, weil sie sich sehr mochten und gerne beisammen saßen um ausgiebig miteinander über alles mögliche zu reden, zu lachen und zu diskutieren. Umso mehr war diese Freundschaft Akiba ein Dorn im Auge. Er interpretierte immer wieder eine "heimliche Liebesaffäre" in sie hinein, die er Marti böswillig andichtete, was auch immer wieder für die schlimmsten Auseinandersetzungen sorgte. Doch diesen Abend sollte dieser Problemfall eskalieren ...

"Wollen wir uns die Woche wieder aml treffen?" war Kaitos Frage, die er Marti schon in so vielen Mails stellte und immer wieder mit Freuden bejaht wurde. Sie sahen sich oft ohne des Wissens von Akiba. Doch diesen Abend war er schneller. Mir nichts, dir nichts drehte sich jener Zweitschlüssel von Martis Wohnung, den sie Akiba für seine dauerhaften Besuche hatte anfertigen lassen. Akiba trat ein. Er kam ebenfalls gerade von seiner Arbeit. Wie immer schloss Marti das E-Mailfenster eilig bevor er das Zimmer betrat. Er wirkte diesen Abend besonders gestresst; man sah an seinem Gesicht, dass er keine sonderlich gute Laune hatte. Marti verdrehte bei diesem Anblick schon innerlich die Augen. Sie wusste, es würde wohl gleich mal wieder "das I-Tüpfelchen" für ihren eh schon gefrusteten Tag geben.

Er grüßte sie mit einer müden Umarmung und einem schnellen, eher routinemäßigen Bussi. Dann setzte er sich an den PC und ließ sich erstmal seelenruhig fallen. Er öffnete seine täglichen Stamm-Webseiten und durchsurfte sie geistesabwesend. Er wollte sichtlich nicht gestört werden. Anscheinend war es mal wieder ein besonders stressiger Tag für ihn.

Alles war ruhig. Lediglich das ungehaltene Klicken seiner Maus war zu hören. Marti seufzte und wusste noch nicht recht, was sie jetzt mit sich anfangen sollte. Doch sie erhielt schon gleich einen Hinweis:

"Was gibt's heute zu essen?" war Akibas kalte Frage, ohne seinen Blick von dem Monitor zu wenden.

"Ich habe heute Baguettes mitgebracht!", sogleich Martis treue Antwort.

"Aha. Und sind die schon im Ofen?!" fragte Akiba, wobei dies auch gleichzeitig ein Appell war. "Und zu trinken kannst du mir gleich auch was bringen!"

Mit diesen Worten legte er seine beschuhten Füße auf den PC-Tisch und ließ sich nach seinem höllisch anstrengenden Arbeitstag gebührend gehen. Er hatte es ja selbstverständlich verdient...

Marti ging währendessen in die Küche und heizte den Backofen für die Baguettes vor. Sie bereitete schon mal das Backblech mit diesen vor und schenkte ihrem "Göttergatten" was zu trinken ein. Sie brachte es ihm und er nahm es müde dankend entgegen ohne natürlich die Schuhe vom Tisch zu nehmen. So ging Marti wieder in die Küche, lud die Baguettes auf dem Blech in den Ofen und nutzte die Wartezeit um ihre Zeichensachen auszupacken und ein wenig an ihren anstehenden Projekten weiter zu arbeiten. Ihr "Lover" schien sie ja so oder so nicht sonderlich wahrzunehmen...

Die Baguettes fingen nach guten 15 Minuten an appetitlich zu brutzeln. Marti "erlöste" sie nun aus dem Ofen und tischte sie Akiba auf. Sie stellte den Teller auf den PC-Tisch, doch seine Reaktion war, im Gegensatz zu sonst, diesmal eine überraschend andere. Er reagierte nicht drauf, sondern klickte weiterhin mit gehibener Aufmerksamkeit am PC herum. Nachdem Marti sich wunderte, fiel ihr Blick daraufhin auch schon gleich auf den Monitor ihres PCs und zugleich in jene Mail ihres besten Freundes Kaito, die sie vorhin noch mit Freuden empfangen hatte. Sie wusste genau, was nun bevorstand und erhielt sofort einen überhöhten Puls.

"Sag mal, was soll das?" kräckzte Akiba entgeistert: "Warum betrügst du mich?"

"Wie oft denn noch", entgegnete Marti sofort: "da ist nix! Er ist'n guter Freund und Kumpel - mehr net! Warum darf ich keine Freunde haben?"

Akiba sah Marti darauf nur wütend an und schnauzte: "Niemand verbietet dir hier was, aber ich hasse es, wenn du dich hinter meinem Rücken dauernd mit irgendwelchen perversen Kerlen triffst! Dir kann ich eh nicht vertrauen!!"

"Bitte, wenn du mir nicht glauben kannst, dann ist es halt so..." versuchte Marti noch einigermaßen selbstnewusst rüberzukommen, bemerkte aber schon jetzt, wie sonst auch immer, dass sie es nicht mehr lange aushielt und schnell wieder in ihr typisches "sich selbst" zurück zu fallen drohte.

Akiba begann nun aml wieder auch alle anderen von Marti gesendeten Mails durchzugucken. Unter denen waren natürlich noch einige weitere Verabredungen mit Kaito-san und auch einpaar anderen guten Freunden von Marti. So z.B. auch Yukozuna Mattori, der in einer Nachbarstadt wohnte und mit dem sich Marti auch hin und wieder gern aml traf; wenn auch seltener. All diese Treffen musste sie stets bewusst vor Akiba geheim halten, weil sie es von ihm zu gut kannte, immerzu aufs Neue eine Standpauke wegen dieser Kontakte zu erhalten. Sie durfte einfach gar nichts! Durfte schon gar nicht "Gefahr laufen", sich bei anderen Menschen wohl oder sogar wohler zu fühlen!

"Bist mich wohl permanent am bescheißen, was?!" motzte Akiba. Marti schmollte: "Wenn das deine Ansicht ist, dann back dir doch 'n Eis!!!"

Dieser Spruch reizte Akiba erst recht und er stand von seinem Stuhl auf um sich nun dominant vor Marti aufzubäumen, was diese ziemlich erstaunte, weil das nämlich sonst nie seine Art war. Meistens blieb er stumm hocken und ignorierte sie für den Rest des Abends wenn sie mal wieder einen ihrer ja so zahlreichen Fehler begangen hatte...

Diesmal jedoch schien Akiba wirklich absolut gereizt und provoziert zu sein. Seine dunklen großen Augen blitzten Marti wütend an.

"Mir reicht's jetzt mit dir!" schrie er sie plötzlich an: "Du meinst, du kannst hier mit mir machen, was du willst, was?! Ich schufte mich tagtäglich von morgens bis spät abends kaputt, nur damit es uns beiden einigermaßen gut geht und das ist dein Dank! Immer! Die ganze Zeit!"

Nun fühlte sich aber auch Marti völlig zu Unrecht beschuldigt und sie knatschte zurück: "Was hab ich denn gemacht? Was bitte ist schon wieder alles falsch an meinem Verhalten?"

"Wenn du das nicht weißt, dann ist dir echt nicht mehr zu helfen..." meinte Akiba nur mit seinem typischen rechthaberischen Tonfall, der immerzu auf seine Ansicht schließen ließ, stets im absoluten Recht zu sein, weil er sich ja als so viel gebildeter und vernünftiger empfand als es Marti jemals hätte sein können mit ihrem mickrigen Minijob. Weshalb also sollte sie je etwas zu melden haben?! Sie hatte nach seiner Pfeife zu tanzen und zu denken - nichts anderes!

Da riss auch nun bei ihr der Geduldsfaden. In einem Gemisch aus packendster Wut und gleichzeitig auch Angst, bebte sie ihren Partner an: "So lasse ich nicht mit mir umspringen!! Halt, verdammt nochmal, endlich dein scheiß freches Maul und lass mich tun, was ich will!!!" >:-(

Da ergriff Akiba schließlich wieder zu seiner "altbewährten Technik", die bislang immer ein fragloser Erfolg war wenn es darum ging, Marti wieder "zur Vernunft" zu bringen: Er ließ sie links liegen und wich aus dem Zimmer, mit den Worten: "Nagut, dann lass ich dich eben in Ruhe!"

Schon war Marti wieder in ihre krankhafte Angst verfallen, ihn zu verlieren; eben einfach deshalb, weil sie panische Sorgen vor dem Alleinsein hatte. So eilte sie ihm also sogleich wieder wie ein untergebenes, winselndes Schoßhündchen hinterher und verlangte nach einem klärenden Gespräch, welches Akiba natürlich wieder bewusst ablehnte. Dies ließ sie nur noch panischer werden und sie hoppste ängstlich und flehend um ihn herum. Ja, sie war schlichtweg eine kranke, verzweifelte Seele ohne jede Spur von Selbstachtung mehr! Nachdem Akiba darauf sichtlich immer sturer reagierte und sie immer mehr abzuwimmeln versuchte, erlitt Marti schließlich einen erneuten, wutgeprägten Tobsuchtsanfall. Sie fing an, körperlich gegen Akiba vorzugehen, indem sie wutentbrannt auf ihn einschlug. So weit ging sie bisher noch nie; aus Angst vor den Folgen, ihn wahrscheinlich wirklich nie mehr wieder zu bekommen. Doch diesmal war sie nervlich so am Ende, dass sie gar nicht mehr nachdachte, sondern nur noch handelte. Diese Maßnahme versetzte Akiba ins Staunen, ja, er war richtig geschockt. Jedoch handelte darauf auch er blitzschnell im bloßen Affekt seiner eiskalten Wut: Er holte aus und verpasste Marti einen kräftigen Schlag ins Gesicht, gefolgt von wüsten Schubsereien, in deren Folge er sie barsch zu Boden drückte und so stark festhielt, dass sie schier keine Luft mehr zu bekommen drohte. Beinahe hätte er sie erstickt, hätte sie ihn nicht noch mit letzter Kraft durch einen Tritt mit dem Knie in seinen Bauch außer Gefecht gesetzt. Schnell rannte sie aus ihrer Wohnung; ohne Schlüssel, ohne Jacke, ohne irgendwas!

Sie wollte nur noch vor diesem Ungeheuer flüchten. Egal wohin! Es regnete draußen in Strömen und es herrschte obendrein ein höllischer Sturm.

Marti schrie und wusste einfach nicht, was sie tat und was sie noch amchen sollte. Krank, wie sie war, wollte sie sogar im selben Moment erst noch wieder bei ihrer Wohnung anklingeln und Akiba anflehen, sie wieder rein zu lassen, doch davor hatte sie nun Angst! Weniger vor Akibas gewaltsame Wut, sondern eher davor, ihn nun für immer "verspielt" zu haben und das durch seine kalte Abfuhr zu erfahren.

Sie sackte vor ihrer Wohnungstür draußen im Regen völlig entkräftet und heulend zusammen. Sie wollte am liebsten nur noch sterben. Sie wälzte sich regelrecht auf dem nassen, verregneten Bürgersteig in den Fützen herum.
 

Wie viele Stunden nach diesem Zusammenbruch vergangen waren, konnte Marti nicht einschätzen als sie irgendwann wieder zu sich kam. Der Regen schien nun aufgehört zu haben. Es war stockdunkel und tiefste Nacht. Kalter Wind bließ durch Martis klitschnasses Haar und ihre ebenso nasse Kleidung. Sie fröstelte stark, doch war sie ganz klar bei Besinnung. Sie wusste, weshalb sie nun hier draußen war und jede Einzelheit des sich zugetragenen Geschehnisses. Sie fühlte einen sehr tiefen Schmerz in ihrer Seele und auch körperlich tat ihr der Nacken weh, aufgrund des wüsten Herniederdrückens Seitens von Akiba. Auch behielt sie spürbar ein Veilchen im Gesicht zurück durch seinen kräftigen Schlag. Dies war das erste Mal von all ihren schlimmen Auseinandersetzungen, dass es dermaßen eskaliert war und sogar zu körperlicher Gewalt überging.

Müheselig wollte Marti sich von dem nassen Boden aufrichten als ihr zu ihrer linken Seite auf einmal etwas Seltsames ins Auge sprang. Neben ihr lag plötzlich ein Buch. Sogleich schossen ihr Gedanken durch den Kopf, wie viele Passanten, die selbst zu so später Stunde noch unterwegs waren, sie in ihrem Elend wohl gesehen haben mussten, und sie ging davona us, dass jemand von ihnen wohl versehentlich dieses Buch verloren haben musste. Warum so auffällig? Wahrscheinlich weil sich dieser gewisse Passant wohl besonders neugierig über ihren qualvoll darliegenden Körper gebeugt hatte und dabei alles andere vergaß; selbst sein Notizbuch, welches ihm aus seiner Tasche entglitten war... Eigentlich war Marti stets davor abgeneigt, Dinge anzufassen, die auf der Straße herum lagen. Erst recht wenn diese bereits auch noch durch Regen aufgeweicht waren, wie es bei diesem Buch auch bereits der Fall war. Es musste anscheinend schon ein Weilchen hier auf dem durchnässten Bürgersteig neben Marti gelegen haben. Neugierig nahm sie es nun trotzdem an sich. Es war ein schwarzes Notizbuch des Formates A5 und mit etwa 40 linierten Seiten, die jedoch allesamt unbeschrieben waren.

"Hat sich das wohl grad erst gekauft..." meinte Marti zerfressen und war schon im Begriff, diese nasse, eklig aufgeweichte Teil wieder zurück in die nächste Fütze zu werfen als sich vor ihr auf einmal eine riesige Gestalt auftat, in deren leuchtend helle Augen sie sofort blickte und sich erschrocken abwandte. Marti war ganz perplex und wusste gar nicht, was sie nun glauben sollte. War's etwa real oder lag sie noch immer bewusstlos da und hatte grad einen wüsten Traum? Sie blickte in zwei völlig weiß gefüllte, scheinwerferartige Augäpfel, ohne jene Form von Pupillen, die die völlig erschrockene Marti in einer blendend hellen Stärke anstrahlten. Gleichzeitig fiel ihr direkt das Gesicht auf, zu dem diese Augen gehörten: Eine völlig leblos dreinblickende Miene, deren Elemente denen eines fast vermoderten Schädels glichen. Lediglich einpaar graue Muskelstränge zierten sich noch um das Gesicht, die jene Ansätze von Nase, Wangen und Mund zuließen. Man sah bereits die Zähne ein wenig hervorlugen und ihre nur noch halbwegs erkennbaren Lippen zierte ein kräftiger purpurner Lippenstift. Ansonsten wirkte ihr Antlitz nahezu wie ein Totenschädel.

Allerdings besaß diese fremde Gestalt noch auffallend fülliges Haar, welches ihr ziemlich struwwelig über ihren ovalen Kopf wehte. Es schien gerner recht trocken zu sein. Die Gestalt hatte einen breiten Körperbau. Ihre Brustmitte zierte ein Kreuz, welches sich mit seiner Spitze bis zu ihrem Kinn erstreckte. Ihre Arme waren lang und klapprig dürr. Sie besaß eine erkennbare Oberweite, was darauf schloss, dass sie weiblich sein musste. Ihr ganzer Körper war ledern schwarz mit einigen silbernen Nieten dran befestigt. Ihre ebenfalls arg dürren Beine waren abwechselnd ledern und weiß gekringelt gestreift. Eine Strähne ihrer spröden aber fülligen, blonden Haarpracht hing ihr im Gesicht. Ausdruckslos blitzte sie Marti an ohne etwas zu sagen. Konnte sie überhaupt sprechen? Marti stand völlig starr vor Schreck dar und wusste gar nichts zu machen, denn wer wusste ob jede ihrer Regungen dieses seltsame Monster nicht hätten verärgern können? Ein Monster?... aber gab es solche überhaupt? Das konnte doch nicht sein, war sich Marti sicher und doch wurde ihr mit einem Mal ganz unbehaglich. Die "Unbekannte" ergriff plötzlich eine dunkelgläserne Brille aus ihrem ledernen Seitengestrüpp und setzte sie sich auf ihre kleine angedeutete Nase. Ihre scheinwerferartig leuchtenden Augen erloschen daraufhin; das Licht wurde durch die Brille angenehm gedämpft, dass diese nur noch ein angenehm bläuliches Glühen zuließ.

"Du hast es gefunden, Mensch?!" sprach die mysteriöse Gestalt mit einer kratzigen weiblichen Stimme, die stark an Bonnie Tyler erinnern ließ.

Marti blickte die fragwürdige "Person" nur weiterhin erschrocken an. Sie wusste erst gar nicht ob sie ihr antworten sollte, entschied sich aber, es doch zu tun: "W-was denn?"

Sie fragte dies ziemlich leise und zaghaft.

"Mein Death Note", krächzte die Fremde und griff nach dem Buch, welches Marti immernoch in ihrer Hand hielt. Natürlich überließ sie es ihr gleich.

"Danke!" sagte das fremde Wesen und nahm das Buch an sich. Sie stand gekrümmt dar und durchblätterte das Buch nun prüfend.

"Wie ich es nur fertig bringe, es andauernd zu verlieren?!" murmelte das Wesen kopfschüttelnd: "Ich bin wohl einfach nachlässig, unachtsam ..."

Dann schaute es Marti wieder ins Gesicht: "Jedenfalls... danke nochmals! Ich sollte künftig wohl einfach vorsichtiger sein!"

Marti verstand noch immer rein gar nichts. Sie sah das fremde Wesen fragend an.

"Noch was?" ging dieses auf ihren ziemlich dumm dreinblickenden Gesichtsausdruck ein. Es merkte, dass dieses "Menschlein" offenbar reichlich verwirrt war und das alles nur seinetwegen. Das Wesen fühlte sich nun schuldig, Marti wohl doch lieber ein Stückchen aufzuklären.

"Na, mein Death Note..." krächzte es etwas barsch und genervt: "Sag mal, guckstu eigentlich nie Nachrichten, oder so?"

Nun wurde Marti noch verwirrter. Schließlich stellte sie jene Frage, die ihr von Anfang an auf der Seele brannte: "Wer oder was, um Himmels Willen, bist du?

"Muse! Ich bin Muse und ein Shinigami!" antwortete das Wesen knapp und bevorzugte es nun lieber schnellstmöglich wieder aufzubrechen, denn ihr wurde es sichtlich unangenehm, einen weiteren Menschen über die Existenz ihrer Art wissen zu lassen. Es war seit den vergangenen Geschehnissen der letzten Jahre zwar ohnehin viel zu spät, aber wie es aussah, schien es immernoch einige Menschen zu geben, die es nicht mitbekommen hatten. Oder war Marti bloß eine vereinzelte Ausnahme? Jedenfalls verstand diese auch weiterhin rein gar nichts und hakte nach: "Ein Shini-was? Du-du bist also wirklich r-real?!?"

Sie erschauderte. Das fremde Wesen hatte auf sie eine sehr beängstigende Wirkung. Immerhin war sich Marti immernoch nicht sicher ob es in guten oder in bösen Absichten erschienen war.

Muse seufzte etwas genervt: "Hach... ein Shinigami! Wir sind Todesgötter! Wir leben in einer eigenen Welt jenseits von dieser und existieren einfach vor uns hin. Wir wachen allezeit abseits über euch, mischen uns aber eigentlich zu keiner Zeit in eure Dinge ein. Das ist bei uns tabu!"

"Dann... bin ich also... TOT? Bist du zu meiner Erlösung gekommen??" Marti schluckte erschrocken.

Muse konnte nicht anders und schlug sich mit einer Hand an ihre Stirn. Marti wusste offenbar rein gar nichts.

"Mensch", begang sie: "stell dich doch bitte nicht so trottelig an! Das tut doch verdammt weh, ey! Nein, du lebst und bist natürlich immernoch im Diesseits! Du hast weder etwas falsch gemacht, noch habe ich auch nur irgendetwas mit dir zu tun! Ich bin lediglich gekommen um mein Death Note zurück zu holen, welches ich versehentlich habe in diese Welt fallen lassen; an dieser Stelle halt zufällig! Das kann halt passieren! War einem anderen von uns damals auch mal passiert, nur hatte dies verheerende Folgen. Dieses Buch ist nichts für euch Menschen! Ihr seid dafür einfach zu charakterschwach; ihr verfallt zu schnell in Gier und Habsucht! Das kann ich nicht auch noch verantworten. Es reicht schon, was Ryuk für dieses unsägliche Versehen alles zu büßen hatte ...!"

"Und was ist dieses Buch... dieses Death Note...?" Marti wollte einfach alles wissen. Je mehr Muse erzählte, umso vertraut menschlicher kam sie ihr plötzlich vor. Muse war drauf und dran, lieber ihren Mund zu halten und Marti wortlos allein zurück zu lassen, jedoch hinderte sie irgendwas daran. Sie tat sich schwer darin, einfach so loszuziehen. Sie hatte das Gefühl, dass das einfach nicht richtig war, egal weshalb und warum. Allerdings fragte sie sich ebenso, ob es denn wiederum richtig war, Marti wirklich von dem Buch zu erzählen. Sie musste wieder an die damaligen Ereignisse denken, die ursprünglich auch nur entstanden waren, weil einer ihrer Artgenossen sein Buch versehentlich in die Menschenwelt hatte fallen lassen, worauf dieses, wie es das Schicksal leider zum Schlechten hin wollte, von dem falschen Menschen gefunden worden war. Dies zog, im Laufe der Zeit, ein schweres Blutbad mit sich und noch mehr... Sollte Muse der völlig perplexen Marti also tatsächlich alles erzählen? - Nein! Muse wendete sich ab.

Dabei vergrub sie ihr Gesicht schützend in ihrer spröden Haarmähne, die ihr locker durch den nassen Wind wehte. "Tut mir leid, aber es ist besser, ich gehe jetzt!"

"Warum? Was stimmt denn nicht mit diesem Buch?" wollte Marti aufgeregt wissen.

"Mit dem Buch stimmt alles, aber weitere Einzelheiten gehen einen Menschen nun mal nichts an!" setzte Muse nun ganz klar die Grenze. Doch Marti erhielt ihre hartnäckige Ader. Wenn einmal ihre Neugier geweckt worden war, konnte sie nichts mehr aufhalten und sie tat alles daran, alles zu erfahren. So nun auch jetzt!

"Bitte, erzähl's mir!" verlangte sie frech.

Muse zischte sie genervt an: "'Nein, hab ich gesagt und dabei bleibt es!!!"

"Was kann denn so schlimm daran sein, mir kurz und knapp zu erklären, was ein Death Note ist?!" meinte Marti verständnislos. Sie hob skeptisch eine Augenbraue. Schließlich wendete sich Muse ihr nochmal zu. Sie musterte Marti einen Moment lang schweigend, was ihr wiederum Hoffnung gab, dass sie ihr doch dieses scheinbare "Geheimnis" um das seltsame Notizbuch verraten würde. Wieder seufzte Muse: "Nun... du siehst eigentlich nicht so aus als wärst du habgierig und danach gesinnt, alles nach deinem Ordnungssinn anzupassen. Du wirkst stattdessen eher gequält... wenn ich mir dich nun näher betrachte...!?"

Sie deutete auf martis klätschnasse Kleidung und ihr Veilchen im Gesicht. Ferner erkannte Muse eine deutliche Erschöpfung in ihrer Gestik und Mimik. Scheinbar sehnte sich Marti nach Hilfe bzw. sie brauchte sie dringend.

"Martina Sakamoto." sagte Muse schließlich und Marti erschrak.

"Woher weißt du meinen Namen??"

"Steht da über dir...!" antwortete Muse gelangweilt: "Wir Shinigami können über euren Köpfen sowohl eure vollen Namen als auch eure noch verbleibende Lebenszeit sehen!"

Marti wurde wieder ganz unheimlich zumute. Das klang schon alles sehr gruselig. Sie traute sich gar nicht zu fragen, wollte jedoch dazu ansetzen, da sagte Muse gleich:

"Nein, ich verrate dir deine restliche Lebenszeit nicht, vergiss es! Jetzt sag du mir lieber mal, was mit dir abgeht oder besser gesagt abgegangen ist!"

Sie musterte Marti dabei wieder eindringlicher.

"Ach, bei mir und meinem 'Freund' geht doch jeden Tag etwas ab und damit meine ich nicht im Bett..." antwortete Marti in einem äußerst gereizten Tonfall.

Muse blickte etwas verwirrt auf: "Ach ja?"

"So ist es! Tag ein, Tag aus nur Qualen, Demütigungen, Motzereien, Sklavereien, Hetzereien... schlichtweg einfach die Hölle...!" Marti hatte schon wieder Mühe, mit den Tränen zu kämpfen.

"Was du nicht sagst..." Muse wurde nachdenklich: "So, und deshalb hockst du hier bei der Kälte vor der Tür und hebst nasse Notizbücher auf?"

"Du hast ja keine Ahnung, was vorhin vorgefallen war..." Marti schniefte und erlitt schließlich einen neuen Heulkrampf. "Tut mir leid, aber..."

Sie konnte nicht mehr weiterreden.

Muse stand nur weiterhin regungslos da ohne einen Hauch von einer Emotion in ihrem Gesicht. Da sagte sie schließlich: "Du bist also unglücklich?!?"

"Ach nee", weinte Marti nur sarkastisch.

Beide verstummten einige Sekunden lang. Muse dachte erneut nach. Sie war wirklich hin und her gerissen. Einerseits empfand sie schon einen klitzekleinen wenig Mitleid mit Marti, andererseits sollte sie lieber schleunigst empor kehren, zurück in ihre Welt ins Reich der Totengötter, denn sie war sich sicher, dass es niemals gut gehen würde, die Menschen erneut mit dem Death Note zu konfrontieren. Martis Anblick war allerdings zu erbärmlich; Muse war von Natur aus kein übler Shinigami. Sie ließ sich häufig zu leicht um den Finger wickeln, was all ihre bisherigen männlichen Bekanntschaften stets nur auf üble Weise ausnutzten und sie daher selbst nur allzu gut wusste, was es hieß, von einem Typen aufs Erbärmlichste misshandelt zu werden. Sie spürte, ganz tief in ihrem Inneren, dass sie mit Marti etwas gemeinsam hatte - etwas sehr Bedeutungsvolles! Diese Erkenntnis, eher aus der reinen Seele ausgelöst, hinderte sie daran, Marti einfach allein zu lassen. Muse fühlte sich mit ihr auf einer sehr mysteriösen Art verbunden, obwohl sie sich grad eben erst vor einpaar Minuten kennen gelernt hatten. Scheinbar wollte es jenes Schicksal so, dem man sich eh nicht zur Wehr setzen konnte. Muse ließ trübselig den Kopf hängen während sie dabei in ihrer starren Haltung verharrte. Sie erkannte, wie dringend Marti Hilfe nötig hatte; dass sie einen Menschen kannte, an welchem sie auf einer unwünschenswerten Weise gebunden, nein, gefesselt war und nun einfach nicht los konnte. In ihren Augen schien Marti nur noch als gequältes Opfer zu existieren ohne jede Form von Selbstrespekt und Ehre. Das erkannte Muse ohne vieler großen Worte...

Mit einem letzten leidigen Schnauben beugte sie sich zu der immer noch kläglichst weinenden Marti hinunter und hielt ihr das geheimnisvolle Buch entgegen. Marti registrierte dies zuerst gar nicht, denn sie konnte vor lauter Tränen ohnehin kaum mehr aus ihren Augen gucken. Erst als Muse sie mit dem Buch leicht anstupste, schaut sie das Buch an und daraufhin gleich einen fragenden Blick zu Muse. Dabei wischte sie sich die Tränen aus den Augen.

"Nimm es!" forderte Muse sie auf: "Nimm das Buch an dich und schreibe den Namen jener Person hinein, die dein Leben zu der Hölle gemacht hat, in der du jetzt steckst!"

Marti sah Muse nur entgeistert an: "Ich soll... aber was bringt das? Willst du ihn dann aufsuchen und töten?"

"Hör mir zu!" forderte Muse, zögerte ein letztes Mal, erklärte aber dann: "Es ist so:

Dies ist ein Death Note, ein Notizbuch aus unserem Reich der Todesgötter! Es ist kein gewöhnliches Buch wie es dir vielleicht erscheinen mag! Jeder, dessen Vor- und Nachname in dieses Buch eingetragen wird und dessen Antlitz du gesehen hast, stirbt, und das unweigerlich nach 40 Sekunden und zwar an einem Herzinfakt. Allerdings steht es dir frei, die Todesart und den Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen, sofern dieser nicht über ein Jahr hinaus geht. Dies kannst du innerhalb der nächsten 30 Sekunden nach Eintragung des Namens noch mit reinschreiben und festlegen. Jede Person, deren Name jemals in ein Death Note vollständig eingetragen worden ist, ist ihrem Schicksal rückzugslos ausgeliefert!"

Marti hielt schockiert inne. Ein lauter, ohrenbetäubender Donner, in Begleitung eines leuchtend hellen Blitzes, wütete auf und erhellte Muses unheilvolles Antlitz, welches Marti wie ein totes, skelettiertes Gerippe anstirrte. Die Worte dieses Shinigami klangen so unheimlich wie unglaublich.

"Das... ist doch nicht möglich!" meinte Marti naserümpfend: "Wie kann denn..."

"Ihr Menschen seid eben ungläubige und naive Volldeppen!" schnauzte Muse: "Also entweder tu es und nimm mein Hilfsangebot an oder ich nehm's halt wieder und zieh endlich Leine hier! Liegt halt an dir! Du musst entscheiden, was für dich besser ist..."

Marti überlegte:"Und wenn ich es mache, gehe ich dann einen Pakt mit dir ein? Was verlangst du als Gegenleistung? Das Ganze hat doch bestimmt noch einen Harken!?"

"Süße", seufzte Muse langsam nur noch genervt: "Deine Zögereien machen mich krank und ich bin wirklich schon alles mögliche gewohnt, aber du schaffst selbst einen Shinigami wie mich..."

Marti schwieg. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so gezögert wie in diesem Moment, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam nach welcher sich alles entscheiden würde. Andererseits war sie sich nicht mal sicher ob sie die Sache überhaupt glauben sollte. Dennoch hatte sie große Furcht, denn immerhin schien ja auch dieses Wesen mehr als realistisch. Marti senkte den Kopf. Dann blickte sie wieder fragend zu Muse.

"Na...?" machte diese darauf und neigte dabei erwartungsvoll ihr Haupt zur Seite. Es begann wieder zu regnen, gefolgt von weiterem Donnern und Blitzen. Marti schlug eine schwarze Seite des Buches auf; den Vorband, der noch unliniert war. Dem folgte eine weitere schwarze Seite; diesmal weiß beschrieben mit einer altdeutschen Schrift, die dem Leser Auskunft über alle Regeln des Death Notes gaben. Doch Marti war schlichtweg zu irritiert und aufgeregt um all diesen Text jetzt durchzulesen. Noch dazu, wo es grad wieder zu regnen angefangen hatte und ferner ein neuer kalter Wind die beiden Seelen durchbließ. Marti schauderte. Was sollte sie nun tun? Muse starrte sie immernoch erwartend an. Sioe war selber froh wenn das Ganze hin und her endlich vorbei und Martis Entscheidung besiedelt sein würde. Marti nahm nun den kleinen Kugelschreiber in die Hand, der sich an dem Buch befestigt in einer kleinen Halterung befand, die extra dafür gedacht war. Es handelte sich um einen solchen Kuli, er nahezu in jeder Hosentasche Platz hatte. Er war sehr dünn und gerademal an die 5 cm lang. Marti eröffnete seine kleine MInie nach außen als sie an seiner Hintersete leicht drehte. Dann blätterte sie die erste beschreibbare linierte Seite auf. Einige Regentropfen prasselten sogleich darauf hernieder. Mit diesen auch Martis letzte Tränen. Sie zögerte noch ein allerletztes Mal als ein heller Blitz, gefolgt von tobendem Donnern, die Gasse beherrschte.

"Nun entscheide dich!" drängte Muse langsam ungeduldig: "Du weißt eigentlich, was du willst, stimmt es?! Du kannst es nur nie durchsetzen!"

In diesem Moment verspürte Marti eine Energie, die ihr bisweilen völlig fremd war. Sie hatte mit einem Mal den Drang, entgültig etwas Entscheidenes zu verändern. Sie schöpfte neuen Mut, neue Kraft, und wusste zugleich, dass sie es wahrscheinlich bereuen würde und dennoch konnte sie sich diesem nicht entziehen. Sie fühlte sich dazu berufen, den Schritt nun tun zu MÜSSEN, egal was auch käme.

Plötzlich wendete sie ihr Gesicht ein letztes Mal zu Muse als sie schrie: "NEIN!! ICH KANN MICH DURCHSETZEN!!!!"

Sie nahm das Death Note verstärkt an sich, setzte den Kugelschreiber an und schrieb in gut leserlicher Schrift den Namen A K I B A C H E M I T O S H I

Die Tinte wurde sogleich von einigen Regentropfen aufgeweicht. Demonstrativ und mit rasendem Herzen schlug Marti das Buch zu.

"Sehr gut!" sagte Muse dann: "In 40 Sekunden ist all dein Leid Geschichte! Meinen Glückwunsch!"

Marti war zu aufgeregt um tatsächlich die Sekunden zählen zu können. Zugleich wurde sie nun viel mehr von einem sehr mulmigen Gefühl heimgesucht. War das jetzt wirklich richtig?, fragte sie sich in wachsender Verzweiflung. Sie verspürte den Drang, am liebsten nun doch wieder alles rückgängig zu machen. Muse bemerkte Martis Gewissensbisse natürlich und strich ihr neckend durch den Kopf.

"Du hast dich halt jetzt entschieden und ich glaube, es ist gut so!" meinte sie.
 

Die 40 entscheidenden Sekunden waren nun rum. Muse hob nun auf einmal vom Boden ab und begann zu schweben als sich aus ihrem Rücken zwei große, schwungvolle Flügel, gleichend denen eines Drachen, erstreckten. Marti zitterte aufgeregt und nahm ihr ganzes Umfeld kaum noch für voll. Wie apartisch stand sie dar und hielt das Death Note dabei fest mit beiden Händen umklammert. Den Kuli ließ sie auf den nassen Asphalt fallen. Muse drang durch das Gemäuer von Martis Wohnung hindurch. "Ich gehe jetzt gucken, ob alles geklappt hat...!"

Ihr Körper schlüpfte augenscheinlich durch alle Hindernisse wie als wenn sie ein Geist, jenseits jeglicher Materie, wäre. In gewisser Weise scheinen Shinigami dieser Eigenschaft ja gerecht zu sein!

Marti wäre beinahe ohnmächtig geworden, so dermaßen verstört hatte sie ihr eigenes Werk zu welchem sie der Shinigami angestiftet hatte. Sie wollte das Ergebnis, welches Muse gleich wohl verkünden würde, am liebsten gar nicht hören. Wie von ihrer Angst gepackt, rannte sie einfach davon; mit dem Death Note in der Hand. Den Stift ließ sie dabei außer Acht in der Fütze auf dem Bordstein liegen. Sie wollte einfach nur noch weg und hoffte bloß, dass Muse ihr nicht folgen würde. Sie wusste nicht, wohin sie nun flüchten sollte, nur irgendwo, wo man sie möglichst nicht finden sollte. Der Regen wurde stärker und stärker. Man erkannte im Zuge der Dunkelheit kaum mehr etwas von der Umgebung. Hinzu kam ein tosendes Gewitter.

Umstände

Kapitel 2: Umstände
 

Die Regentropfen des starken Graupelschauers schlugen mit ziemlichem Gewetter gegen die Fensterscheiben eines großen, geräumigen Zimmers. Kein Licht brannte und es herrschte, abgesehen von dem grollenden Donner und dem Lärm der Regentropfen, bedrückende Stille. Erst bei genauerem Zuhören bemerkte man das leise Ticken einer Wanduhr, welches aber von den aufprallenden Regentropfen stets übertönt wurde.

An seinem leer gefegten Schreibtisch saß L Lawliet, mit dem Gesicht vergraben in seinen Armen, welche ausgestreckt über dem Tisch lagen. Schlaflos auch in dieser Nacht - Schlaflos wie eh und je! Das leise Ticken der Uhr in seinem kleinen Zimmer auf einem Dachboden erinnerte ihn daran, dass er sehr bald genug Zeit zum schlafen haben würde, denn der ewige Schlaf erwartete ihn nun sehr bald. Dieses Wissen machte ihn fertig, doch es musste sein. Nur so war er vor gut einem Jahr einem zu frühen Tod entronnen. Es war der Fall KIRA, an welchem er zwei harte Jahre zu schaffen hatte und letztlich durch seine List siegte; allerdings zu einigen hohen Einbußen. Etlich viele Leben mussten gelassen werden. Viele FBI-Agenten, sämtliche Unbeteiligte, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, endlos viele Schwerverbrecher, deren gebürdige Zeit noch nicht bestimmt worden war und

letztlich auch Personen, die L einst sehr nahe waren, wie sein hochgeschätzter, ewig treuer Diener Watari. Auch für diesen gab es im Ablauf unglücklicher Geschehnisse keine andere Wahl mehr, als sein Leben einzubüßen... Und all diese schrecklichen Begebenheiten waren nur allein durch ein Death Note ausgelöst worden, welches der Shinigami Ryuk, ähnlich

wie Muse, an einem verhängnisvollen Tage versehentlich in die Menschenwelt hatte fallen lassen, worauf es ein junger Mann namens Light Yagami gefunden hatte und damit im Laufe der danach folgenden Umstände irgendwann eigene Pläne zu machen begann, mit Hilfe des Death Notes eine "neue Welt" zu erschaffen, in der es fortan keine bösen Menschen mehr geben würde, denn er würde sie alle, als neuer "Gott", auslöschen. Schließlich wurde er

irgendwann von einer Art Größenwahn regelrecht besessen und seine menschliche Seele hatte sich mit der Zeit gewandelt. Light wurde beherrscht von Machthunger und jener Gier, immer mehr zu wollen. Nur "seine Auserwählten" würden am Ende überleben. Er würde das Leben eines jeden allein bestimmen. Diese unbeherrschte Macht des Death Notes wurde sowohl von Light, als auch noch von einigen anderen Menschen tadellos ausgenutzt als dieses auch noch in manch andere Hände fiel, in welche es besser niemals hätte geraten sollen. Die Konsequenzen waren hart und hätten nahezu die ganze Welt in ihren entgültigen Abgrund stürzen können. Letzten Endes war es an L, das zu verhindern. Zu Lights treuesten Anhängern zählte die junge Frau Misa Armane, welche unsterblich in Light verliebt war und welche ebenfalls ein Death Note besaß, welches wiederum den Shinigami Rem zu ihr gebracht hatte, die in Misa soetwas wie eine Tochter sah. Sie fühlte sich stets dazu berufen, sie allezeit zu beschützen und stets nur ihr Bestes zu wollen. So hatte sie für Misa sogar letztlich ihr Leben gelassen als diese sich für Light opfern wollte. Durch einen Deal lief es darauf hinaus, dass sich Misas Lebenszeit enorm verkürzt hatte und es nun an Rem war, zwei verfügbare Menschen ins Death Note einzutragen, um Misas verlorene Lebenszeit wieder zurück zu holen. Und Rem war Light dabei einen Gefallen schuldig, L entgültig auszuschalten, wofür Light wiederum sein Wort gab, ewig für Misa da zu sein. Die Folgen waren allerdings, dass Rem, nach der Eintragung der betreffenden Menschen in das Death Note, in dessen Folge selbst dem Tode geweiht wurde, denn Shinigami war es unter Todesstrafe untersagt, Menschen zu töten. Dies jedoch hatte Rem einfach in Kauf genommen, schlichtweg weil Misa ihr alles bedeutete. So wählte sie als Todeskandidaten jene Menschen

aus, die Light am ehesten von der Bildfläche verdrängt sehen wollte, da er selbst nicht im stande war, Ls wahren Namen in Erfahrung zu bringen: Zum einen L, zum anderen seinen Diener Watari, der ebenso viele Informationen über alle Ermittlungen gegen Light alias KIRA parat hatte.Doch ging diese Aktion nur teilweise auf; zuvor war es L nämlich gelungen,

eine Seite aus dem Death Note zu entwenden und sich selber darauf einzutragen, was an dem 31. Oktober 2004 geschah. Eine Regel des Death Notes besagt, dass jemand, der bereits eingetragen ist, nicht nochmals eingetragen werden kann. Es zählt dann der erste Eintrag und alle nachfolgenden Einträge derselben Person fallen ohne Wirkung aus. So trug Rem also L und Watari in das Death Note ein. Für Letzteren kam jede Hilfe zu spät; zu Ls großer Trauer und Schock zugleich, denn das hatte er wirklich nicht kommen sehen. Dieser wiederum täuschte seinen Tod gekonnt vor und verschwand, so dass er von nun an heimlich aus dem Untergrund gegen Light weiter vorging, denn er war sich nach wie vor sicher, dass dieser der Ursprung allen Übels war. Diese Ansicht teilte, bis auf Watari, im übrigen keiner mehr mit ihm, weswegen es für ihn noch umso sinniger erschien, offiziell nie wieder in Erscheinung zu treten, sondern als verschollen und "wahrscheinlich tatsächlich verstorben" zu gelten. Die ganzen darauf folgenden Monate stellten seine überaus gehobene Intelligenz und seine Ausdauer auf eine harte Probe. Rund um die Uhr hatte er Maßnahmen anzustellen, die zur

Ergreifung von Light und zugleich auch zum Beweis seiner Schuld führen sollten. Er kommunizierte indirekt mit seinem ehemaligen Kollegium der FBI und gab verschlüsselte Hinweise, stellte Überwachungen an, beauftragte unter falschen, sich immer wieder wechselnden Identitäten, Auftragsspione und, und, und... Das alles hatte ihm nahezu seine letzten Kräfte gekostet, doch am Ende siegte dann doch noch das Gute als Light dermaßen in die Enge getrieben worden war, dass er nur noch gestehen konnte. Was dann war, darüber wurde unter den Menschen nur noch spekuliert. Wahrscheinlich waren es die drei Kugeln eines FBI-Agenten, die Light zum erliegen gebracht hatten. Andererseits jedoch trafen diese keine der lebenswichtigen Organe. Soviel konnte man feststellen. Vermutlich hatte er sich irgendwie selbst gerichtet...

Nun war der einstige, von allen ernannte "Genie-Agent" also wieder zurück in Japan. Er hatte sich in jener Villa ansäßig gemacht, die einst Watari selbst gehörte und die er ihm bereits Jahre zuvor in einem geheim aufgesetzten Testatemt zugesprochen hatte, dass er über diese nach seinem Ableben frei verfügen durfte. Noch immer hatte niemand mehr etwas von Ls immernoch verbliebenen Existenz erfahren und er hielt es, weiß Gott, für besser so. Er hatte alle seine Verpflichtungen getan und wollte sich nun zu seiner gebührenden Ruhe setzen; sich entgültig zurück ziehen. Er wusste ja, sein Tod war ihm nun näher denje. So besagte es leider nun mal jene weitere Regel des Death Notes: Hat man sich bzw. wen anders einmal in das Buch eingetragen, so kann sich der Todeszeitpunkt nicht länger als ein Jahr nach Datum des Eintrages erstrecken. Ls vorgesehener Todestag würde nun also der 31. Oktober 2005 sein und jener Tag dieser betrübenden, ereignisreichen Nacht schrieb bereits den 8. Oktober 2005... Ls Lebenszeituhr würde also schon ziemlich bald ihre letzten Sekunden zählen.

L wusste über alle Abläufe und Regeln des Death Notes genauestens bescheid, denn er hatte sich im Laufe des Falles KIRA so eingehend mit dem Buch zu beschäftigen, dass jegliche Zweifel ausblieben und er allen Fakten absolut Herr war.Er war allein, aber er liebte die Einsamkeit. Auch zuvor war zeitlebends sein Diener Watari sein einziger persönlicher Kontakt. Mit allen anderen kommunizierte er im Rahmen seiner vergangenen Fälle stets lediglich anonym über seinen Computer oder über Watari selbst, der bisweilen sein

persönlicher Nachrichtenübermittler an die Außenwelt war. Lediglich in dem Falle KIRA zeigte L sich zum ersten Mal der Öffentlichkeit und das würde auch auf ewig seine einzige Ausnahme gewesen sein. Dessen war er sich sicher und es war auch gut so. Immerhin hatte er sich über all die Jahre hinweg den gefährlichsten und kompliziertesten Fällen angenommen; die schlimmsten Straftäter konnten unter seiner Führung entlarvt und gefasst werden. Da war

es auch klar, dass er sich unter diesen, nach all der Zeit, auch eine Menge Feinde gemacht hatte. Doch niemand kannte L, wusste rein gar nichts über diese Person, die stets als Schatten eines vermeintlichen Genies in Erscheinung getreten war und sich niemand wirklich sicher sein konnte, ob es sich dabei nur um ein Gerücht oder tatsächlich einer real existenten Person handelte. Adererseits hätte es für ihn ansonsten auch so manch verhängnisvolle Folgen haben können, wenn er seine Ermittlungen, wie jeder andere, offen durchgezogen hätte. Früher oder später hätte man sich an ihm gerächt und er wäre schneller ans Messer geliefert worden als man hätte denken können. Alles, was er machte und plante, war von tiefstem Sinn geprägt und genaustens durchdacht. L hatte einen äußerst scharfen Verstand

und dachte meist immer um 10 Ecken weiter als alle anderen. Man verstand ihn daher auch nicht immer und hielt seine Vorgehensweisen auch oftmals für absurd und völlig fehl am Platze, aber letztendlich konnten alle FBI-Kollegen, die sich im Falle KIRA mit ihm verbündet hatten, auf seine Fähigkeiten vertrauen und davon profitieren. L war zeitlebends Vollwaise. Über seinen Ursprung wusste niemand etwas; nicht eimal er selbst, denn er war von Watari eines Nachts vor dessen eigener Haustür aufgefunden worden; lediglich in einem Strampler von einer weichen Decke umhüllt in einer größeren Tasche. L war damals gerademal 3 Monate alt wie man später nachweisen konnte. Mit 5 Jahren wurde er in Wataris eigens gegründetes "Wammy-Waisenhaus" gebracht, welches unter seiner Leitung bestand und selbst heute noch besteht. So war Watari auch zugleich zum großen Teil für Ls Erziehung zuständig. Er war für ihn wie ein Vater, was seinen Verlust natürlich umso schmerzvoller machte. L hatte ihm praktisch alles zu verdanken. Aus ihm war ein junger, gebildeter Mann mit einem äußerst hohen Intelligenzquotient geworden und nun stand er ganz allein dar. L spürte diese schmerzhafte Leere, den Kummer, die vollkommene Einsamkeit in dieser leeren alten Villa, die einst von Watari und zuvor von dessen Familie bewohnt gewesen war. Nichts von früher war nun mehr dort wiederzufinden. Niemand da, der sich nach seinem Befinden erkundigte, niemand der mit ihm sprach, niemand der ihm seine heißbegehrten Süßigkeiten brachte, niemand der ihn zudeckte, wenn ihn doch einmal die Übermüdung packte... L war allein! Ganz allein! Für den Rest seines noch verbleibenden Lebens allein!

Seufzend hob er seinen Kopf, was ihm äußerst schwer gelang, denn er hatte ziemlich lange in dieser unbequemen Sitzlage an seinem Tisch verweilt und sein Nacken war daher schmerzhaft steif geworden. Seine tiefschwarzen, mit dunklen Rändern versehenen Augen brannten ihm. Es fiel ihm schwer, die Uhrzeit wahrzunehmen als sein Blick auf seine Wanduhr fiel. Erst war alles verschwommen, dann jedoch erkannte er schleierhaft 4:05 Uhr - tiefe Nacht; fast schon morgens. Sein Gesicht krampfte sich zu schmerzhaftem Leid zusammen. Ihm hingen einige Strähnen seiner schwarzen, völlig durcheinander geratenen Haare im Gesicht. Langsam richtete er seinen Oberkörper von dem Tisch auf. Zusammengekauert hockte er auf seinem Drehstuhl in seiner für ihn angenehmsten Sitzlage, in der er seine Beine bis zu seiner Brust anwinkelte und dabei seine entblößten Füße auf den Stuhl aufsetzte. Dabei hielt er mit den Händen meist noch seine Knie umfasst bzw. er stützte diese darauf ab. Das verschaffte ihm seinen persönlichen Komfort, wenn auch sich das kaum jemand vorzustellen vermochte, doch er erklärte es immer damit, er könne in dieser Position am besten nachdenken und dies tat er nahezu permanent; man konnte davon ausgehen, dass er es sogar im Schlaf tat, was im übrigen bei ihm nur sehr selten mal der Fall war.

Die vergangenen letzten Monate hatten ihm stark zugesetzt. Zu niemandem hatte er Kontakt; nicht einmal mehr über seine Umwege in Form von geheimen Nachrichten über das Internet oder seiner Sprechanlage. Er ging nur selten aus dem Haus; eigentlich nur dann, wenn es wirklich nicht mehr zu vermeiden war und zwar wenn es darum ging, jene Besorgungen zu tätigen, die einst Watari immer für ihn gemacht hatte. Doch nun, wo er ganz allein auf sich gestellt war, musste er selbst für sich sorgen und das war für ihn jedes Mal eine einzige Qual, denn er hasste die Öffentlichkeit. Wollte er sich dieser doch einst auf ewig entziehen und sein Gesicht niemals jemandem zeigen mit Ausnahme von Watari, Light und später jenen FBI-Agenten, die den Fall KIRA mit ihm zusammen ermittelt hatten. Doch L musste schließlich irgendwie noch einigermaßen über die Runden kommen, wenn auch es sich, wie er selbst meinte, ja eigentlich eh nicht mehr groß lohnte, wo er doch schon bald seinem Schicksal erliegen würde... Er kam sich so elendig hilflos vor, was ihn natürlich obendrein auch manisch depressiv gemacht hatte. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst; ein einziges Wrack des einst so raffinierten, geheimnisvollen, jungen Meisterdetektives, der in diesem Jahr 2005 gerademal 26 Jahre zählte.

Seufzend stand er von seinem Stuhl auf, kratzte sich seinen wuschelhaarigen Kopf und rieb sich seine eingefallenen Augen.

"... Wie lange noch?" hauchte er leise zu sich selbst. Seine Stimme klang heiser. "Ich sollte besser heute damit beginnen, ehe es noch später wird."

Er setzte sich an seinen iMäc und rief sein E-Mailprogramm auf. 'Keine neuen Nachrichten', wie immer. In all den Wochen vor dem Fall KIRA bekam er nahezu täglich E-Mails von den verschiedensten Kommissariaten, die mit ihrem Rat bezüglich diverser schwerer Kriminalfälle nahezu am Ende waren und auf die Hilfe des "geheimnisvollen L" hofften, worauf es dann immer Watari war, der im Auftrag von L, mit ihnen näher korrespondiert hatte. Nun aber hatte L ja rein niemanden mehr und es war ihm nur allzu recht. Er wollte schließlich alles Gewesene hinter sich lassen und die letzten Tage seines Lebens allein beschreiten...

Doch eine kleine Ausnahme schien da wohl doch noch zu sein. L betätigte den Button 'Neue E-Mail verfassen', klickte in seinem Adressbuch einen Namen an - "Near", dessen E-Mailadresse nur durch die Eingabe eines Passwortes zu erreichen war. Dann verfasste er einpaar knappe Worte:

"23 Tage noch. Werde noch ein letztes Mal meinen Weg zu dir finden und du wirst alles erfahren. Warte aber nicht drauf. L."

Dann klickte er auf den 'Senden'-Button und schaltete seinen iMäc wieder aus.

Das Gewitter ließ langsam nach. L trat aus seinem gemütlich hergerichteten Dachzimmer, eine Treppe hinab und schritt in schleichenden Schritten in ein großes, geräumiges Wohnzimmer an dessen große Fenster er nun trat. Vier waren es an der Zahl und L kam an dem Dritten zum stehen. Letzte Regentropfen klatschten gegen die Scheiben, ehe der Regen dann schließlich ganz verstummte. Wortlos blickte er mit leerem Blick auf die dunkle, trübe Landschaft, außerhalb von Wataris Villa. Einige Bäume hatten inzwischen fast völlig ihre Blätter verloren und es wehte der nasse Laub auf dem Boden umher. In L machten sich so viele Gedanken breit.

"So wie die Blätter von den Bäumen fallen und als Laubreste in der Ferne zergehen, so wird mein Leben bald mit ihnen ziehen..."
 

An einer anderen Stelle schwirrte zur gleichen Zeit der Shinigami Musein eine alte Kirche hinein. Sie hasste eigentlich Orte dieser Art, doch war ihr daran, ihrem neu erkorenen "Schützling" Marti eine nicht ganz unerhebliche Nachricht zu überbringen. Und sie wusste, dass sie sich dort in Sicherheit gebracht hatte, nachdem sie eilig das Weite gesucht hatte.

"Hi Marti!" erschien sie dem völlig fertigen Nervenbündel vor einer Sitzbank, hinter der sie erbärmlich zusammen kauerte.

"Wie hast du mich gefunden?" fragte Marti aufgeregt. Sie zitterte immernoch.

"Shini eben! Wir sehen so einiges!" antwortete Muse lässig: "Wollte dir auch nur eben mitteilen, dass er hinüber ist und dir, bei dieser Gelegenheit, außerdem noch das hier wiedergeben! Haste nämlich vorhin in deiner Eile verloren!"

Und sie streckte Marti jenen Taschenkuli entgegen, der ihr bei ihrer hastigen Flucht runter gefallen war. Der war entsprechend noch halb nass. Doch Marti konnte nur alles andere als dankbar sein: "Was habe ich nur getan? Er ist... wirklich tot? Die Sache mit dem Buch hat echt geklappt??"

"Glaub mir doch endlich mal!" grummelte Muse langsam etwas eingeschnappt: "Du hast ihn eingetragen - in mein Death Note! Und wenne mich fragst, es war gut so! Nachdem, was du mir erzählt hast und ich geh mal stark davon aus, dass auch alles gestimmt hat...?!"

Marti schluckte. Jene Tatsache, die sie am liebsten nicht hätte erfahren wollen, hatte sich nun tatsächlich als die reine Wahrheit entpuppt: Akiba war nun tot! Marti wusste gar nicht, wie sie sich nun verhalten sollte, geschweige denn, was sie nun fühlte. Freude? Erleichterung? Gewinnensbisse? Selbstmmitleid? Stolz? Oder doch auch Trauer? Irgendwie fühlte sie im Moment alles davon... vor allem aber grenzenlose Überwältigung und im stetigen Kampf mit sich, ob das alles nicht doch nur ein böser Traum war.

"Toll. Und was soll nun werden? Was soll ich tun? Ich gehe nicht mehr in meine Wohnung zurück!!" bebte Marti ganz verzweifelt.

Muse grinste: "Musste doch auch gar nicht! Dann bleibter eben da liegen... Irgendwann werden Nachbarn schon drauf aufmerksam, hihi!"

Sie schien sichtlich amüsiert über die ganze Situation zu sein.

"Ja toll, echt klasse!" maulte Marti immer hysterischer: "Und wo soll ich bitte jetzt hin? Ihr komischen Todesgötter mögt das vielleicht nicht kennen, aber wir Menschen brauchen Obdach; einen Platz zum schlafen, was zu essen, Klamotten..."

"Schön für euch!" fiel Muse ihr ins Wort: "Wir nicht!"

Marti sah sie darauf ganz entgeistert an.

"Jetzt sag bloß, du willst dich jetzt aus der Affäre ziehen und mich mit meinem Schicksal allein lassen??" fragte sie.

"Hab ich das gesagt? - Nein!" grollte Muse.

"Ja, aber, a-a-aber..." In diesem Moment kam eine Nonne aus einem der kirchlichen Hinterräume hervor. Sie hatte Marti offensichtlich gehört und sagte ihr nun freundlich, aber bedacht: "Bitte etwas leiser, ja? Doch... mit wem redest du?"

Marti schaute die Nonne etwas überrascht an, da sie diese zuvor überhaupt nicht bemerkt hatte. "Es tut mir leid und wir verschwinden auch gleich!" war ihre rasche, beschämte Antwort.

"Wir?" Die Nonne sah sich fragend um. Sah sie etwa nur Marti allein da sitzen? Muse schwebte aber doch definitiv vor den Sitzbänken herum!? Diese kicherte nur. Leicht errötet stand Marti von ihrem Platz auf und hastete eilig aus der Kirche; Muse glitt ihr hinterher. Die Nonne schaute dieser für sie sehr merkwürdig erscheinenden jungen Frau nur verwirrt nach. "Aber... du musst doch nicht gleich... gehen?" Es schien zwecklos, Marti nachzurufen. Viel zu schnell war diese auch schon zur Kirche raus. Zum Glück regnete es nicht mehr. Eine sanfte Windbrise wehte einige Herbstblätter an Marti vorbei. Es war immer noch stockdunkel. In herbstlichen Monaten wie dem jetzigen wurde es erst spät hell und dementsprechend viel zu früh wieder dunkel. Nachdem Marti sich Richtung Innenstadt begeben hatte, rastete sie auf einer dort befindlichen Bank unter einer Laterne, welche immer noch leuchtete. Muse schwebte zu ihr hin und senkte sich zu Boden, worauf ihre prächtig großen Schwingen mir nichts, dir nichts, wieder in ihren Rücken verschwanden. Sie zückte plötzlich wieder den kleinen Kuli hervor und bot ihn Marti erneut an.

"Hier, so nimm ihn doch endlich wieder an dich! Ich trag dir den nicht durch die halbe Welt hinterher!" forderte Muse. Marti reagierte darauf jedoch gar nicht weiter, sondern fragte Muse direkt: "Wie kam das grad, dass die nur mich gesehen hat? Bist du für andere etwa unsichtbar oder doch nur ein Hirngespinst?"

"Wenn du mich als Letzteres wirklich abtun willst..." grummelte Muse wieder einmal leicht verärgert: "Ne, ne, ne, du bist schon komisch drauf! Ersteres trifft es eher! Ich bin bisher in dieser Welt nur für dich allein sichtbar! Wir Shinigami treten vor euch Menschen erst dann in Erscheinung nachdem ihr unser jeweiliges Death Note berührt habt! Vorher könnt ihr uns nicht wahrnehmen! Merke: Ich kam vor dir erst ins Bild, nachdem du mein Death Note aus der Fütze gefischt hattest..." Muse zwinkerte.

"Ach, so ist das!" Marti verstand nun, wusste aber immer noch nicht weiter.

"Und nun?" war ihre Frage.

"Ich an deiner Stelle würde, wenn du dein ersehntes Zuhause wirklich so doll brauchst, mal deinen verblichenen Göttergatten von einer ärztlichen Kraft aus deiner Wohnung schaffen lassen!" meinte Muse nun im Guten: "So 'n Herzstillstand kann jederzeit jeden treffen. Dich wird nie einer verdächtigen, damit etwas zu tun zu haben!"

"Was wenn doch?" Marti hatte einfach immer noch zu große Zweifel und machte sich selbst die größten Vorwürfe, sich zu dieser Sache überhaupt überreden gelassen zu haben.

"Nix, gar nix 'wenn doch'! Vertrau mir, auch wenn ich vielleicht nicht sonderlich vertrauenserweckend auf dich wirken mag!"

Marti schwieg und überlegte. Sollte sie es wirklich wargen? Allerdings müsste sie dann sogar persönlich bei einem Arzt vorsprechen, denn auch ihr Handy hatte sie immer noch in ihrer Wohnung. Sie entschied sich, Muses Rat zu folgen und nahm bald ihren Weg zu ihrem Hausarzt auf, um möglichst erschrocken wirkend den "plötzlichen Vorfall" zu melden. Auf dem Weg dorthin versuchte Muse es dann noch einmal: "Nimmst du jetzt endlich den Kuli?!??"

Seufzend nahm Marti ihn nun endlich an sich und steckte ihn in die dafür vorgesehene Halterung von Muses Death Note zurück.

"Na also, es geht doch!" lobte Muse frech.

Es war noch sehr früh. Marti würde noch einpaar Stunden warten müssen bis die Praxis ihre Pforten öffnete. Zu schade, dass sie ihr Handy nicht bei sich hatte...
 

Der Morgen graute. L verspürte ein unerträgliches Hungergefühl, wenn auch er bereits seit Wochen keinen richtigen Appetit mehr hatte. Er schaffte es daher auch prima, mal mehrere Tag gänzlich ohne Essen auszukommen. Das ersparte nur all diese lästigen Gänge an die Öffentlichkeit... Früher hatte er nahezu pausenlos und mit größter Leidenschaft etliches verputzt, was auch nur ansatzweise süß war. Tagtäglich, rund um die Uhr, genoss er den zahlreichen Konsum von Bonbons, Donuts, Schokolade, Kuchen, Plätzchen, Torten, Pralinen, Pudding, diverse speziell glasierte Backwaren, und und und... Er ernährte sich permanent ausschließlich von Süßigkeiten, denn diese verhalfen ihm stets zu seiner immer benötigten Energie, Ausdauer und der Unterstützung seines scharfen Verstands. Auch in seine mindestens 15 Tassen Kaffee am Tag gehörten locker an die 8-10 Würfel Zucker. Trotz all dem blieb er rank und schlank und es bildeten sich an ihm sogar seine Rippen ab. Er schien den besten Stoffwechsel zu haben, den man sich wünschen konnte. Viele beneideten ihn darum. Andere wiederum erklärten ihn für einen Freak. L selbst jedenfalls wusste, dass jede von den zu sich genommenen Energien sofort in seinen ewig arbeitenden Geist investiert wurde, so dass jede überschüssige Kalorie sofort verbrannt wurde. Dies war ihm von Nöten, denn nur so gelang es ihm, selbst seine kompliziertesten Fälle mit viel durchdachter Ruhe und List zu bewältigen. Daher musste er auch ständig für Nachschub sorgen.

Heute jedoch gab es nun aber keine Fälle mehr zu lösen. Warum also noch diese "Energieversorger"? Warum Genuss und Freude erleben, wenn doch eh sehr bald alles vorbei sein würde? So waren nun Ls depressionzerfressene Gedanken während der ganzen vergangenen Monate über und er aß nur noch winzige Kleinigkeiten und überhaupt auch nur noch, wenn ihm vor Unterernährung bereits dermaßen schlecht war, dass er nahezu zusammenzubrechen drohte. Exakt so war ihm auch an jenem Morgen wieder einmal zumute. Mit zittrigen Schritten schlich er vorsichtig die Treppe in den Vorratskeller hinunter um die Schränke seiner Küche mit Kleinigkeiten aufzufüllen, die für ihn jenseits von Bedeutung waren. Jedoch musste er, nachdem er etliche Kisten und Vorratsregale des Kellers nach was Essbarem durchgeschaut hatte, zu seinem Leiden feststellen, dass absolut nichts mehr da war. "Oh nein..." seufzte er nur und wusste natürlich, welch grauenerregendes Hindernis ihm mal wieder bevorstehen würde. Und dann konnte er sich obendrein auch noch kaum mehr auf den Beinen halten...

"Na, dann versuch ich mal wieder mein bescheidenes Glück, sofern ich nicht vorher schon an meinem nächsten Schwächeanfall krepiere..." stöhnte er kläglich, schaute auf seine Uhr und hielt es für angebracht, lieber gleich loszugehen. Es war grad 8:30 Uhr morgens, da würden noch nicht allzu viele Menschen unterwegs sein, dachte er in guter Hoffnung. In seinen schlabberigen Klamotten aus einem weißen, langarmigen Oberteil und einer blauen Jeans, welche ihm beide stets eine Nummer zu groß waren, taumelte er barfüßig aus der Villa hinaus. Er konnte sich kaum mehr richtig auf den Beinen halten und ihm war einfach nur noch schwindelig und schlecht. Wenn auch nur ansatzweise noch irgendetwas in seinem Magen gewesen wäre, hätte er sich garantiert jetzt erbrochen...
 

Inzwischen hatte auch die Praxis des Hausarztes von Marti und Akiba geöffnet. Marti tat ihr Bestes um überzeugend entsetzt und traurig rüberzukommen als sie der Sekräterin an der Rezeption den Vorfall eines plötzlichen Zusammenbruchs ihres Partners in der Wohnung schilderte. Dies fiel Marti auch nicht sonderlich schwer, denn sie stand zu diesem Zeitpunkt selbst noch genug unter Schock und war angemessen zittrig und kreidebleich im Gesicht. Die Tippse hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. Da dies entsprechend ein Notfall war, wurde sogleich ein Notarztwagen eingeleitet, in dem Marti nun mitfahren musste. Ihr war dabei überhaupt nicht wohl als der Arzt und eine Helferin von ihm, die ebenfalls mitgefahren war, sie nach der Ankunft aufforderten, mit in die Wohnung zu kommen. Diesen Schritt konnte und wollte Marti einfach nicht gehen; sie wollte nie wieder mit Akiba konfrontiert werden und ihn erst recht nicht auch noch leblos da in ihrer Wohnung liegen sehen, was sie ja obendrein selbst zu verantworten hatte. Wenn doch nur alles schnell vorbei sein würde, aber scheinbar gab es doch noch so einige Dinge, die geklärt und getan werden mussten. Doch Marti war geradezu einem Nervenzusammenbruch nahe als man sie erneut aufforderte, mit hoch in die Wohnung zu gehen. Sie hatte noch nicht einmal den Schlüssel zu ihrer Wohnung. So konnte der Notarzt also auch erstmal nichts machen; die Polizei musste benachrichtigt werden, um Zugang in die Wohnung zu veranlassen als sich durch mehrfaches Anklingeln nichts tat. Marti hatte ein äußerst ungutes Gefühl, wenn nun auch die Bullen kamen, doch irgendwie war auch das ja ersichtlich gewesen...

Nicht mal eine halbe Stunde später kam ein Streifenwagen vor Martis Wohnung zum halten. Zwei kräftig gebaute Polizisten stiegen aus ihm und musterten Marti sofort kritisch, worauf sie nur zitternd in dem Notarztwagen auf dessem Rücksitz kauerte.

"Dein Rat war sowas von ein Reinfall!" maulte Marti leise zu Muse, welche, für die anderen unsichtbar, neben ihr auf der Rückbank saß.

"Nun warte doch erst einmal ab, herrje!" antwortete Muse sichtlich genervt von Martis permanenten Angstzuständen.

Der Notarzt ging sogleich auf die zwei Beamten zu und schilderte ihnen den Fall und dass sich Marti schier weigerte, mit ihnen nach dem Rechten zu sehen. Die Beamten nickten und wendeten sich nun Marti zu.

"Hey Sie, so kommen Sie doch bitte mal raus!" forderte der eine von ihnen sie mit ernster Stimme auf.

"Sie bekommen mich da nicht in die Wohnung rein!" zischte Marti.

"Sie brauchen das doch auch nicht, wenn es Sie so stark belastet!" gab sich der Beamte nun überraschend verständnisvoll: "Wir brauchen lediglich einpaar Angaben von Ihnen für's Protokoll!"

Muse stupste Marti leicht von der Seite an, was als Aufforderung an sie galt, den Bullen lieber zu folgen, doch das war nun nicht mal mehr so nötig. Marti hatte durch die Worte des Beamten ein wenig Erleichterung genossen und erklärte sich nun bereit, eine Aussage zu machen. Dabei natürlich immer noch deutlich verstört und aufgeregt.

Nachdem man sie über alle Verhältnisse befragt hatte, machten sich die Beamten nun daran, Martis Wohnungstür aufzubrechen während diese mit Muse allein im Wagen zurück blieb und auf die Diagnose des Arztes wartete, der den Beamten, mitsamt seiner Helferin, mit in die Wohnung gefolgt war.

"Siehste", hauchte Muse ruhig: "War doch alles gar nit so tragical..."

"Wer weiß, was noch alles kommen wird!" wendete Marti ein: "Ich will nicht länger mit der Sache konfrontiert werden!"

"Wirste auch nicht!" beruhigte Muse: "Du hast doch nix weiter mehr mit dem Kerl am Hut! Wat meinste, wie viele meiner Kerle auffer Abschussliste stehen... Und mir sind'se auch alle wurscht! Am besten nie wieder binden und wenn, dann nur unter ganz bestimmten Einschränkungen. Ist besser für uns, glaub ma'..."

In dem Moment kamen die Beamten mit langsamen Schritten und gesenkten Köpfen wieder aus der Wohnung heraus. Marti wusste genau, was sie jetzt zu sagen hatten. Sie baten sie noch einmal aus dem Wagen hinaus. Dann begann einer von ihnen schwermütig: "Tut uns sehr leid, Frau Sakamoto-chan, aber für Ihren Partner kommt leider jede Hilfe zu spät. Absoluter Herzstillstand - ohne irgendwelche ersichtlichen Hintergründe! Wir werden zwar noch prüfen, ob eine eventuelle Gewalteinwirkung stattgefunden hat, jedich ist eigentlich schon jetzt alles offensichtlich... Er ist auch bereits seit ungefähr vier Stunden tot. Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt.Wir haben bereits einen Leichenwagen hierher bestellt."

Marti wusste es natürlich, konnte aber dennoch nicht anders, als sich die ganze Tatsache noch einmal vor Augen zu führen und bewusst zu machen. All das nochmal so sachlich und konkret bestätigt zu hören hatte ihr stark zugesetzt. Ihre Beine begannen zu zittern bis sie schließlich nachgaben. Marti wurde schwarz vor Augen - Sie fiel in tiefe Bewusstlosigkeit.
 

Muses Gesicht wurde in einem verschwommenen Hauch, der umher flimmerte, langsam immer klarer.

"Na, ausgeschlafen?" scherzte sie zynisch.

Marti blinzelte benommen. "W-was ist passiert?" Sie wusste gar nicht, wo sie nun war und konnte sich für einige Sekunden an gar nichts mehr erinnern bis es ihr dann plötzlich wieder einfiel. Sie fand sich in einem strahlend weiß tapezierten Krankenzimmer wieder, in einem ebenso reinlich weiß bezogenen Krankenbett. Offenbar hatte man sie nach ihrem spontanen Schwächeanfall schleunigst versorgen können.

"Mir ist schwindelig!" stöhnte Marti und hielt sich gequält ihren Kopf.

"Dat is ambulant! Sobald'e dich besser fühlst, machen wa die Fliege!" erklärte Muse, während sie ganz unbetroffen aus dem Zimmerfenster schaute. Der Anblick draußen gefiel ihr deutlich besser als jener Sterile hier in diesem langweiligen Zimmer.

"Ist es denn nun vorbei?" fragte Marti unsicher.

"Sicher! Jetzt komm! Sach denen, du bist fit und wir sind zwei freie Damen!" lachte Muse ungeduldig. Dann zückte sie noch was Bestimmtes hervor: "Übrigens, das Death Note habe ich natürlich bewusst wieder in meinen Besitz genommen, damit'se nicht noch irgendwelche ungünstigen Fragen stellen!"

"Danke." sagte Marti nur müde: "Ich glaube, das war auch gut so!"

Plötzlich öffnete sich die Zimmertür und eine Ärztin trat ein. Sie schaute Marti sehr freundlich an.

"Wie geht es Ihnen, Sakamoto-chan?" Sie lächelte.

"Vielen Dank! Es geht mir schon wieder besser. Wenn ich also gehen darf..." leitete Marti sogleich ihren Appell zum Verlassen dieses Krankenhauses ein.

"Oh, oh, oh, warten Sie lieber noch! Immerhin sind die Umstände alles andere als gut bei Ihnen momentan und ich rate Ihnen dringendst, lieber noch einpaar Tage hier zu bleiben und die Hilfe eines unserer Psychologen hier in Anspruch zu nehmen! " wies die Ärztin Marti sichtlich besorgt zurecht. Doch Marti richtete sich in diesem Moment von ihrem Bett auf und dankte freundlich, aber direkt: "Sehr nett, wirklich, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich schon klar komme!"

"Aber ihr Partner ist d-doch eben erst...?" die Ärztin schaute Marti ungläubig und traurig zugleich an. Sie schien großes Mitgefühl für ihre bedenkliche Situation zu haben.

"Ach, so intim war unsere Bindung nicht!" versuchte Marti sich nun gekonnt rauszureden: "Deshalb geht das schon irgendwie alles..."

Ganz verdutzt meinte die Ärztin: "Aber... er war doch Ihr Partner, oder nicht?" Sie wurde immer verdutzter.

"Trotzdem war es nicht die Welt! Gut, es ist traurig und ein großer Schock für mich, aber ich denke, ich schaff's auch künftig allein, durch das Leben zu kommen!" rechtfertigte sich Marti.

Die Ärztin hielt einen Moment lang inne. Auch Muse blickte mit deutlicher Erstaunis zu Marti auf. Diese flackse Erklärung hätte sie von der vorhin noch so schüchternen und geschockten Marti wirklich nicht erwartet.

"WOW, Marti!?" sagte sie nur und hob kurz ihre dunkelgläserne Brille an, worauf ein heller Lichtstrahl Marti zu blenden drohte.

Dann schließlich willigte die Ärztin mit einem Seufzen ein: "Na gut, es liegt halt allein in Ihrer eigenen Verantwortung! Wenn Sie wirklich meinen, dass es geht, dann soll es wohl so sein, obwohl ich Ihnen immer noch davon abrate, das Krankenhaus so frühzeitig zu verlassen..."

"Ich danke Ihnen herzlich!" beendete Marti höflich diese Diskussion und wurde nun von der Ärztin hinunter zur Rezeption gebeten, wo Marti noch einen Schein zu unterzeichnen hatte, der sie über jegliche Konsequenzen und ihrer Eigenverantwortung unterrichtete, die bei einem frühzeitigen Verlassen des Krankenhauses entstehen könnten. Dies stellte für sie jedoch überhaupt kein Problem dar, denn sie war sich über alles völlig im Klaren.

Nun lief sie, ausgehend vom Krankenhaus, Richtung Innenstadt, um dort noch einpaar übliche Einkäufe zu tätigen, ehe sie sich heimwärts begeben wollte. Das nötige Bargeld dazu hatte sie glücklicherweise noch in der rechten Tasche ihrer Jeanshose. Auch einen neuen Wohnungsschlüssel hatte man ihr für das neu eingesetzte Schloss ihrer zuvor aufgebrochenen Wohnungstür gegeben. Doch war Marti bei dem Gedanken, zurück in ihre Wohnung zu gehen, schon ziemlich mulmig zumute. Immerhin lag dort satte vier Stunden ihr toter Freund in ihrem Wohnzimmer herum. Marti wusste selber noch nicht, wie sie künftig damit umgehen sollte. Der Gedanke daran rief nahezu Übelkeit in ihr hervor. Sie überlegte nach wie vor, ob es wirklich gut war, dass alles dermaßen weit kommen musste... Zum Glück leistete Muse ihr treuen Beistand, wenn auch sie wirklich nicht immer eine richtige Hilfe war, denn sie nahm die ganze Situation stets gelassen und sprach ihr anscheinend keine sonderliche Bedeutung zu; höchstens nur insofern, dass Marti nun eine "freie Frau" war, was Muses Lebensstil doch sehr entsprach und sie befürwortete. Allerdings war Marti dies zu jenem Preis, nun als insgeheime Mörderin zu gelten und es stand für sie fortan eins fest: Sie musste unbedingt alles daran setzen, um zu verhindern, dass jemals jemand auch nur irgendwas von der Sache erfahren würde. Als klarer Vorteil galt dabei zumindest jene Tatsache, dass wahrscheinlich eh niemand glauben würde, dass sie diesen Mord lediglich durch einen Eintrag in ein sonderbares "Teufelsheft", wie sie es nannte, verübt hatte. Das war einfach zu verrückt!

Während sie so mit Muse durch die noch relativ ruhig besuchte Innenstadt spazierte, fragte diese: "Und? Was wirst du nun tun?"

"Sag du's mir!" meinte Marti nur kalt.

"Nun ja, das Death Note beliebe ich wohl besser bei mir zu behalten! Nicht weiter für für eine Seele wie dich..." sprach Muse nachdenklich und betrachtete dabei kritisch das Death Note in ihrer Hand.

"Behalte es ruhig!" stimmte Marti ihr zu: "Ich werd's sicher nicht nochmal benutzen! Bloß nicht!!"

Ja, so waren damals Martis Gedanken, die sie mit ihrer damaligen naiven Überzeugung versicherte und Muse die solche mit ihr auch teilte...
 

Marti verschlug es in einen Billig-Supermarkt, wo sie einige sogenannte "notwendige Einkäufe" tätigte. Muse verstand dabei nicht recht, was an denen so "überlebenswichtig" war, wenn sie dabei Dinge wie Schokoriegel, Kekse, gefüllte Getreidekissen und Tiefkühlpizza sah. Im übrigen hatte sie ohnehin mit Essen gar nichts zu tun, denn Shinigami benötigen diesen Konsum nicht zum leben. Ihre Organe hatten sich so angepasst, dass sie gänzlich ohne Nahrung auskommen. Nur manche von ihnen wollten, aufgrund des Genusses am Geschmack, nicht darauf verzichten und taten es den Menschen gleich. So waren ihre Bedürfnisse denen des Menschen manchmal auch gar nicht mal so unterschiedlich. Doch Muse gehörte zumindest nicht dazu und war auch ganz froh darum.

Marti nahm ihre gefüllte Einkaufstasche und machte sich nun auf den Heimweg. Sehr wohl war ihr dabei natürlich noch immer nicht. Ihr schnürte es förmlich die Kehle zu bei dem Gedanken, nun dorthin zurück zu kehren, aber irgendwie musste sie es... Sie bog in eine längliche Gasse ein, die eine gute Verbindung zwischen der Innenstadt und Martis Wohnung in der Lotusgasse bot. Dennoch wäre sie lieber noch so manchen Umweg gegangen. Ihre Schritte wurden zunehmend langsamer.

"Na, du lässt dir ja Zeit!" bemerkte Muse wieder in ihrem üblichen Zynismus.

"Du weißt schon, warum..." antwortete Marti scharf.

Einige wenige Passanten kreuzten ihre Wege. Es war nach wie vor kaum etwas los. Doch dann fiel Muse unter den wenigen Leuten einer auf, der sich scheinbar nach Hilfe sehnend und mit sehr wackeligen Beinen an einer der Hausmauern festhielt um nicht umzufallen. Marti hingegen war zu sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft, dass sie jenen jungen Mann nicht zu bemerken schien, obwohl er ziemlich auffällig aus dem gesamten Umfeld hervor ging; bereits schon reinoptisch. Er war hager, wirkte völlig kränklich und schwach aufgrund seines übermüdeten Ausdrucks und extremer Blässe im Gesicht, hatte völlig zerzauste Haare, trug herunter gekommene Schlabberklamotten und schien zu nichts mehr in der Lage zu sein. Muse wusste gleich bescheid, dass mit ihm etwas nicht zu stimmen schien und wies Marti auf ihn hin: "Sieh mal dort drüben! Der's ja voll am abnippeln gleich, der arme Kerl!"

Nun würdigte auch Marti dem geschwächten Fremden eines Blickes. Sie sah einen jungen

Mann, der auf sie sogleich ziemlich entkräftet wirkte und anscheinend kaum älter als sie selber war. Mit seinen letzten verbleibenen Kräften arbeitete er sich an einer der Hausmauern vor, was ein äußerst niederträchtiges, müheseliges Bild bot. Er drohte dabei regelrecht umzukippen. Erst hielt Marti ihn für einen Betrunkenen, doch als sie sich sein Gesicht und seinen Ausdruck darin näher betrachtete, hatte sie doch erhebliche Zweifel daran. In seinem Blick spiegelte sich nichts als grenzenlose Verzweiflung und Leid wieder. Es schien um seine Gesundheit alles andere als gut bestellt zu sein. Seine schwarzen durcheinander geratenen Haare verdeckten leicht seine Augen, und dennoch konnte Marti es ihm zweifellos ansehen: Sein ganzes Gesicht war schweißdurchtränkt nass und fast völlig weiß als wäre er bereits tot. Sie merkte ihm an, wie er wild keuchte. Anscheinend hatte er grad mit einem Schweißausbruch zu kämpfen und in Folge dessen sowas wie einen Anfallzustand erlitten.

"Ohje", so Marti, die sofort Mitleid mit ihm hatte: "Was hat der denn da bloß?"

Die anderen Passanten, die noch ihre Wege kreuzten, warfen dem bedauernswerten Kranken nur einen schnellen, gleichgültigen Blick zu und setzten ihre Wege, ohne auch nur ansatzweise zu zögern, weiter fort. Manche von ihnen tuschelten sich sogar verachtendes Zeug zu wie: "So früh am Morgen schon, pah! Diese elenden Penner!"

Martis Schrecken war groß als der seltsame Unbekannte plötzlich vollkommen zusammenbrach. Dabei versuchte er sich noch mit letzten vereinten Kräften zu stützen, aber es gelang ihm nicht. Er war zu schwach und ihm schien nur noch schwindelig und übel zu sein.

"Warten Sie, nein!!" rief Marti wie aus einem Reflex raus und rannte eilig zu ihm hin als er schließlich am Boden lag. Sofort versuchte sie den armen Jungen zu stützen, indem sie ihn mit beiden Armen aufsetzte und festhielt.

"Was ist los mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?" fragte die völlig besorgte Marti.

Der Fremde hustete kläglich und vergrub sein Gesicht in seine Arme.

"Es geht schon! Los, verschwinden Sie! Mir geht es bestens!" murmelte er abweisend ganz heiser.

"Ich bitte Sie! Es sieht doch ein Blinder, dass Sie dringend Hilfe benötigen!" meinte Marti entsetzt.

"Ich brauche lediglich Ruhe! So gehen Sie bitte...!" widersprach er erneut. Es schien als wollte er um keinen Preis Aufmerksamkeit erregen, geschweige denn, gesehen werden. Daher versuchte er nun sein Bestmöglichstes, um sein Gesicht zu verbergen.

Doch Marti ließ nicht mit sich reden. Mit all ihrer Kraft zog sie den Fremden hoch und stützte ihn sogleich indem sie seinen rechten Arm um ihre Schultern legte. Der Typ war dabei einfach zu schwach, um sich dagegen noch großartig wehren zu können, wenn auch er es zu gern getan hätte,denn ihm wure das alles immer unangenehmer. Innere Verzweiflung machte sich bei ihm breit. Wenigstens gelang es ihm, trotz dieser Prozedur, sein Gesicht weiterhin vor dieser fremden jungen Frau zu verbergen. Mit müheseligen Schritten schob Marti ihn stützend mit sich nach Hause; in ihrer anderen Hand ihre Einkaufstasche tragend. Der Fremde murmelte dabei nur noch unverständliches Zeug. Zuerst hinterfragte Marti dies noch, wusste dann aber recht schnell, dass es wohl zwecklos sein würde, mit ihm jetzt näher das Gespräch zu suchen. Auf einmal fiel es ihr nun gar nicht mehr so schwer, ihren Weg nach Hause in ihre Wohnung zu finden. Im Gegenteil: Plötzlich konnte es ihr gar nicht mehr schnell genug gehen, denn sie wollte diesen armen, jungen Mann in Sicherheit von sich lassen können...

Auch Muse folgte den beiden nun unauffällig hinterher und las über den Kopf jenes Fremden die folgenden Worte: "L Lawliet; verbleibende Lebenszeit: 23 Tage."

Gewissensbisse

Marti dachte nicht mal mehr im Geringsten an das, was sich in ihrer Wohnung ereignet hatte, als sie eilig die Haus- und Wohnungstür aufschloss und den Fremden mit letzten Kräften auf ihre Wohnzimmer-Couch schaffte. Nach einer Zeit war er ihr doch sehr schwer geworden und Marti war froh, ihn erst einmal "los zu sein". Sie atmete erleichert auf nachdem sie ihn möglichst sanft auf ihre Couch abgelegt hatte. Daraufhin erhielt sie zum ersten Mal die Möglichkeit, richtig in sein Antlitz zu blicken. Mit geschlossenen Augen lag er da vor ihr. Sein Gesicht war auffallend jung und eigentlich sogar ziemlich hübsch, wie Marti gleich feststellen musste. Die Wimpern seiner entspannt geschlossenen Augen waren dunkel und sogar ein wenig länglich, was aber nur in diesem Zustand so deutlich feststellbar war. Sein Mund war leicht geöffnet, so dass seine Zähne ein wenig zu sehen waren. Er wirkte mit einem Mal sehr entspannt ruhend. Sein Atem war nun spürbar ausgeglichen. Zwei Haarsträhnen hingen ihm im Gesicht. Diese strich Marti ihm sanft zur Seite. Sie schaute ihn lange an und schien sich in diesem engelhaft schlafenden Gesicht selbst zu verlieren. 'Der Arme scheint ja einiges mitgemacht zu haben!' dachte Marti dabei.

"Du bist mir lustig!" schmunzelte Muse, worauf sie Marti wüst aus ihre Gedanken riss: "Kaum ist dein einer Macker hinüber, schon hast du gleich den Nächsten hier liegen!"

Doch Marti reagierte nicht weiter auf sie. Viel eher stellte sie sich nun die Frage: "Was soll ich jetzt mit dem machen?"

"Du solltest ihn, denk ich, erstmal in Frieden lassen", antwortete Muse und musste nun wieder an das denken, was sie über Ls Kopf gelesen hatte: Nur noch mickrige 23 Tage Restlebenszeit. Normal durften Shinigami den Menschen keine Auskünfte darüber geben und Muse war wirklich bereits tief genug in den Schlamassel gerutscht, Marti überhaupt ihr Death Note zur Verfügung gestellt zu haben... So verblieb sie mit einem Schweigen.

"Ich hol ihm erstmal ein nasses Tuch." entschied Marti und hastete aufgeregt ins Badezimmer um einen kleinen Lappen zu befeuchten. Diesen legte sie dem Kranken dann vorsichtig auf seine Stirn nachdem sie mit ihrer Hand auch die anderen verbliebenen Haarsträhnen seines überaus langen Ponys nach hinten gestrichen hatte. Mit einem etwas verkrampften Gesicht stieß er einen kläglichen Seufzer aus.

"Oh Mann, was mach ich denn nur mit dir??" fragte Marti langsam völlig ratlos.

"Nun", mischte sich Muse ein: "Ich kenne mich ja mit all dem Kram nicht aus, aber du könntest ja versuchen, ihn mal zu füttern!?"

Marti sah ihn sich weiter an und überlegte: "Hm, sicher nicht schlecht! Wollte eh bald Mittagessen machen."

L verfiel wieder in eine Art Tiefschlaf; sein Gesicht entspannte sich wieder und fiel auf die linke Seite. Ein letzter langer Seufzer, dann war er wieder ruhig. Marti begab sich nun in die Küche, mit der zuvorigen Bitte an Muse, etwas auf ihn aufzupassen, was sie nur flacksig beantwortete: "Was kann ich groß tun? Der sieht doch noch nicht einmal, dass ich überhaupt da bin, sofern er denn überhaupt nochmal irgendwas sieht..."

"Jetzt laber keinen Scheiß!" grummelte Marti.

In der Küche bereitete sie alle Zutaten für eine köstliche Miso-Suppe vor. Während sie das Gemüse schnitt und alles nach und nach in einen mittelgroßen Kochtopf gab, gingen ihr einige sehr beklemmende Gedanken durch den Kopf. Ihr fiel wieder Akiba ein und sie wurde partout wieder von den grausigsten Tatsachen eingeholt, dass sie allein seinen Tod zu verantworten hatte. Sie waren immerhin stolze vierJahre zusammen gewesen und früher oder später würde sich seine hinterbliebene Familie an sie wenden. Sie trug immerhin als seine jahrelange Partnerin einen guten Teil an Verantwortung für ihn. Was also sollte sie ihnen bloß erzählen? Ferner musste sie wahrscheinlich auch selbst die Todesnachricht überbringen. Wie gerne hätte sie jegliche Verantwortung und Rechenschaft von sich geworfen und sich am liebsten vor allen versteckt. Das wiederum konnte sie allein schon mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren, welches ohnehin schon mehr als getrübt war. Marti fühlte sich nur noch am Ende, und es würde wohl grad erst angefangen haben... Und jetzt hatte sie sich auch noch einen Fremden aufgeladen, der nun ebenfalls in ihrer Verantwortung steckte. VERANTWORTUNG - ein Wort, welches Marti allmählich zu hassen begann. Das machte sie redlich charakterschwach, denn normal sollte sie schon zu dem stehen, was sie getan und verschuldet hatte. "Ohje!" sagte sie sich und wurde mit einem Mal wieder ganz betrübt. Sie hatte Angst. Noch eine ziemlich lange Weile saß sie schweigend mit gesenktem Kopf in ihrer Küche an ihrem Esstisch und malte sich die schrecklichsten Dinge aus, die ihr wohl noch bevorstehen würden.
 

Die Suppe wurde aufgesetzt und schon bald machte sich erster Geruch von den köstlichsten Gewürzen und Gemüsesorten breit. Marti gab noch Asianudeln dazu. Nun handelte es sich nur noch um wenige Minuten, dann würde es Essen geben.

Plötzlich klingelte das Telefon. Marti nahm ab. Wer konnte das denn um diese Zeit sein? Die häufigsten Anrufe kamen meist erst immer in der Abendzeit und selbst das war mittlerweile äußerst selten geworden.

"Chemitoshi-chan hier!" war sogleich eine leise, abgeschnitten klingende Frauenstimme zu hören, welche von deutlichem Schluchzen untermalt war. Es war Akibas Mutter.

"Es... t-tut mir... so... leid!" weinte sie hörbar zitternd: "Soeben hat mich die Polizei verständigt. Es... ist so schrecklich, Marti...!"

Martis Puls stieg auf 180; sie fühlte sich äußerst überrumpelt und hatte sich nun natürlich in die Situation gemäß hinein zu versetzen, was jedoch bereits auch hier schon wie von allein ging, da Martis übles Gewissen ihr wahrlich mit Schweißausbrüchen zusetzten. Sie hätte am liebsten selbst losgeweint.

"J-j-ja... ist es..." schluckte sie bitter.

"... ich kann es nicht glauben." weinte Mutter Chemitoshi-chan noch kläglicher: "Warum nur? Warum mein Junge? Warum ausgerechnet er??"

"Ich weiß es doch selber nicht! Es ist einfach nur furchtbar..." jammerte Marti, dass ihr plötzlich selbst Tränen in die Augen stiegen. Sie hätte zu gerne sofort aufgelegt, doch das konnte sie auch nicht so ohne Weiteres machen. So sagte sie leise: "Ich würde so gerne was tun, nur..." Sie hielt inne und schnappte gequält nach Luft.

"Hattest du in der ganzen letzten Zeit irgendwelche Auffälligkeiten in seinem Verhalten und seiner Gesundheit festgestellt?" wollte Chemitoshi-chan wissen und hatte größte Mühe bei all dem unwillkürlichen Schluchzen und Weinen überhaupt noch einigermaßen deutlich zu sprechen.

"Nein!" antwortete Marti schnell und direkt: "Gar nix!" Sie klang als konnte sie es selber auch noch nicht fassen. Alles, nur unter gar keinen Umständen irgendwas anmerken lassen, dass sie in Wahrheit über jede Einzelheit bescheid wusste... Sie hoffte bloß, dass niemand, mit Ausnahme von Muse natürlich, irgendetwas von dem Streit, den sie zuvor gehabt hatten, mitgekriegt hatte.

"Liebes Kind, willst du nicht besser zu uns kommen?" schlug Chemitoshi-chan mitleidig vor. "Du bist jetzt allein. Wir alle sind es! Komm doch besser für einpaar Tage zu uns! Arbeiten gehen wirst du wohl die nächsten Tage über sowieso sicher nicht können."

Marti japste. Das würde ihr grad noch fehlen, eine solch direkte Konfrontation ertragen zu müssen; sich stundenlange Diskussionen, Spekulationen und Trauerausbrüche über jenen Menschen anhören müssen, den sie selber auf dem Gewissen hatte. Und dann noch so zu tun als wäre sie selber völlig fertig und wüsste nicht, wie das alles nur passieren konnte. Nein, das wollte und konnte sie einfach nicht. Zwar war ihr Verhältnis zu seinen Eltern bisweilen immer ziemlich gut, aber sie wollte nun am liebsten auch ihnen möglichst für immer aus dem Weg gehen.

Zügig lehnte sie mit einem Ton von dankbarem Mitleid ab: "Wirklich sehr lieb, aber bitte hab Verständnis dafür, dass ich meine Ruhe brauche! Ich möchte in den nächsten Tagen einfach nur allein sein..."

In diesem Moment schwebte Muse aus dem Wohnzimmer zu Marti hinüber und befand sich nun stillschweigend an ihrer Seite im Flur bei dem Telefon, welches dort an der Wand montiert war. Sie lauschte dem Gespräch nun aufmerksam.

"Aber Marti..." wendete Chemitoshi-chan ein: "Meinst du, das ist auch wirklich gut, wenn man sich so vergräbt? Du musst grad jetzt offen und bereit sein, dich anderen über deinen Kummer anzuvertrauen. Nichts in dich rein fressen! Am Ende wirst du nur verbittert und verschlossen..."

Damit hatte die gute Frau, die eigentlich stets nach dem Besten gesinnt war, in Marti einen wunden Punkt getroffen. Entsprechend dem fauchte sie nach einigen Sekunden des Schweigens nur noch leise in den Hörer: "... Das bin ich doch bereits schon!"

Mit diesen Worten legte sie auf und steckte das mobile Telefonteil auf seine Station an der Wand. Dann begab sie sich zu der Telefondose und zog den Stecker. Sie wollte vorerst keine Anrufe mehr erhalten. Auch wenn ihr Akibas Familie nach all der Zeit ziemlich an Bedeutung gewonnen hatte, so wollte sie den Kontakt nicht länger aufrecht erhalten. Zu riskant wäre es für sie, wenn seine Eltern vielleicht am Ende "mehr sehen/befürchten" könnten als andere, denn meist haben Eltern ja ihren ganz eigenen gewissen Spürsinn... Marti war ganz mulmig bei dem Gedanken, es sich mit ihnen zu verscherzen, doch es gab nun mal kein Zurück mehr. Und der erste Meilenstein war gelegt, indem sie seine Mutter nun eiskalt abgewimmelt hatte. Gerade sie traf sowas bisweilen immer sehr hart und sie war da meist äußerst empfindlich.

Muse schmunzelte mal wieder auf ihrer zynischen Art: "Marti, du gewitztes Weibsbild, du..."

"Was bitte soll ich denn anderes machen?!!" fuhr Marti sie gereizt an.

"Ich hab doch nix gesagt!" grollte Muse zickig zurück: "Du fühlst dich aber auch jedes Mal gleich angegriffen...!"

"Sei du mal in so einer beschissenen Situation! Bin eben völlig durcheinander und weiß echt nicht, wie es nun weitergehen soll..." Martis Blick sank besorgt zu Boden.

"Du lebst jetzt dein freies, unbeschwertes Leben, genießt es und hast an neuer Erkenntnis gewonnen, das Richtige getan zu haben, indem du endlich mal über deinen Schatten gesprungen bist." riet Muse: "Glaub mir, nichts ist für eine Frau von höherer Wichtigkeit als Freiheit und die Tatsache, frei über sich selbst bestimmen zu können. Alles andere regelt sich immer irgendwie, aber DAS ist nun mal die absolute Grundvoraussetzung! Sieh mich an, ich tue laufend irgendwelche Dinge, deren Richtigkeit ich nur allzu häufig hinterfrage, und am Ende war ich bislang immer froh, es getan zu haben! Ich bereue nichts!" Und sie begann zu singen: "Je ne regret rien... Je ne regret rien...."

Dann schwebte sie einmal um Marti herum und stellte fest: "Nun, Marti, ich hab das Gefühl, eigentlich ganz froh zu sein, dass wir uns begegnet sind. Ich sehe so vieles von mir in dir wieder! Du bist nahezu das Ebenbild meinerseits als ich so jung war wie du!"

"Erleben denn Shinigami überhaupt einen Altersprozess?" hinterfragte Marti skeptisch.

"Na sicher!" grollte Muse: "Halt anders als ihr Menschen. Wir leben über Jahrhunderte hinweg bis in die Unendlichkeit; sind fast unsterblich. Wir haben vieles gesehen und erlebt und wir sind deshalb hocherhobene weise Wesen!" Muse begann ganz leicht über ihre eigenen Worte zu schmunzeln. Dies steckte Marti im Nu an, denn der Gedanke, sich eine derart durchgeknallte Lady wie Muse in irgendeiner Form als weise vorzustellen, war derart absurd, dass er schon wieder witzig war.

"Leg dich lieber nicht mit einem von uns an und unterschätze uns niemals!" warnte Muse etwas gekünstelt. Marti musste amüsiert lachen, was Muse sogar ein wenig Erleichterung verschaffte, denn sie war froh, sie ein wenig aufmuntern zu können.

Plötzlich vernahmen beide ein gequältes Stöhnen aus dem Wohnzimmer, gefolgt von einem Bewegungsgeräusch, ausgehend von der Couch. Marti wusste sofort bescheid und hastete ins Wohnzimmer hinein. Muse folgte ihr wieder. L war gerade dabei, sich auf der Couch aufzurichten zu versuchen. Er fasste sich an seinen schmerzenden Kopf und hielt darauf das noch immer etwas feuchte Tuch in seiner Hand. Fragend blickte er es an.

"Bleib liegen!" rief Marti und lief eilig auf die Couch zu um ihn festzuhalten. L sah sie mit kläglichen, irritierten Augen an. Er hatte erschöpfte dunkle Augenringe.

"Wie geht es dir?" fragte Marti und hockte sich zu ihm runter, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein.

"Geht. Danke." antwortete L knapp und musterte die Umgebung leicht.

"Du warst zusammen geklappt, da habe ich dich mit zu mir genommen." klärte Marti ihn auf: "Wr gar nicht einfach, dich den ganzen Weg über zu stützen."

"Aha." antwortete L müde: "Nun, danke jedenfalls. Ich werde dann jetzt besser..."

Er versuchte aufzustehen, doch ehe er auch nur einen Fuß auf den Boden aufsetzen konnte, hielt Marti ihn gleich zurück: "Den Teufel tust du! Du bleibst gefälligst liegen, kurierst dich aus und genießt gleich erstmal 'ne schöne warme Suppe, die dich wieder zu Kräften kommen lassen wird!"

"Aber..." L wollte sofort protestieren, wurde jedoch sogleich abgewimmelt.

"Kein 'aber'! Das ist doch kein Zustand, so wie du aussiehst! Bist doch ganz offenbar krank, armer Kerl!"

L hielt inne und sah Marti nur mit großen, runden Augen entgeistert an.

"Wie heißt du denn?" fragte diese nun.

L antwortete erst gar nicht. Viel zu perplex war er von dieser Situation gestimmt. Er wollte ja eigentlich von Grund auf jedem sozialen Kontakt aus dem Weg gehen; gar niemandem großartig auffallen, geschweige denn wissen lassen, dass es ihn gab. Das würde nicht gut sein, so war er sich sicher. Und nun war das eingetroffen, was niemals hätte passieren dürfen. Er hasste sich in diesem Moment selbst und warf sich innerlich bloße Unachtsamkeit vor. Er überlegte nun verzweifelt, wie er sich bloß schnell dieser Situation entziehen konnte. Was sollte er tun? Ihr antworten? Oder sie besser gleich grob zur Seite schubsen und aus der Wohnung flüchten? Dann

aber wäre die Frage, ob seine Kräfte dafür ausreichten... L wendete seinen Blick ganz von ihr ab. Er drehte sich zur anderen Seite hin und vergrub sich fast völlig in die Lehne der Couch. Dabei krümmte er seinen Nacken.

"Was denn?" Marti war überrascht über dieses fragwürdige Verhalten. Hatte er irgendetwas zu verbergen? Es wirkte jedenfalls so.

L murmelte leise: "Danke für Ihre Hilfe, aber ich kann schon selbst auf mich aufpassen. Daher beliebe ich es jetzt zu gehen. Haben Sie bitte Verständnis."

"So wie es um dich bestellt ist, hältst du vermutlich nicht mal mehr bis zur Wohnungstür durch und klappst mir erneut zusammen! Und lass es dir gesagt sein, nochmal stütz ich dich nicht!" sagte Marti konsequent.

"Und wenn schon..." L seufzte.

"Nun sei doch nicht so!" bat Marti und streckte sich ein wenig näher zu L hin, der ihr immernoch verschlossen den Rücken zu kehrte: "Sei froh, dass nicht alle so ignorante Gaffer sind wie die meisten Leute dort draußen in der Stadt!"

L schwieg. Marti begann langsam, sich etwas aufzuregen. Sehr geduldig war sie grundsätzlich noch nie und stelle dieser Typ sie wahrlich auf die Probe.

"Warum bist du nur so undankbar, verdammit???" wetterte sie ihn an. Von ihm kam keine Reaktion.

"Hach.." Marti knurrte: "Ich muss nach meiner Suppe sehen! Und du bleibst hier ja brav liegen!"

Sie stapfte beleidigt aus dem Zimmer hinaus Richtung Küche. Die Suppe kochte mittlerweile schon aromatisch und nachdem Marti sie mit einem Kochlöffel vorsichtig abgeschmeckt hatte, wusste sie, sie wäre nun in wenigen Minuten fertig.

Sie holte ein kleines Schälchen aus ihrem Küchenschrank und befüllte dieses mit der noch kochend heißen Suppe. Angenehm würziger Duft machte sich in der Wohnung breit und erreichte schließlich auch L im Wohnzimmer. Mit einem Mal begann sein Magen wieder extremst zu knurren. Er wendete sich auf der Couch wieder um und setzte sich leicht auf während er sich mit einer Hand seinen dürren Bauch hielt. Da kam auch schon Marti mit der Suppe und zwei Stäbchen ins Zimmer gelaufen. Sie warf L ein freundliches Lächeln zu.

"Hast wohl Hunger, wie?!" grinste sie und konnte ihm die Antwort praktisch von seinem großäugigen Blick ablesen. Sie hockte sich neben ihn auf die Couch und nahm mit den Stäbchen die ersten mit Gewürzen versehenen Nudeln aus dem Schälchen auf. Sie pustete einmal vorsichtig und führte die Portion schließlich zu Ls Mund hin.

"Na dann, guten Appetit!" wünschte sie ihm dabei. L jedoch musterte die Suppe nur kritisch, fragte dann vorsichtig: "Welche... Gewürze sind da alles drin?"

Marti blickte ihn darauf etwas verdutzt an: "Wie?"

"Ist sie denn mit i-irgendwas Süßem verfeinert?" fragte L mit leerer, müder Stimme.

Marti schaute ihn weiterhin nur fragend an, musste dann jedoch kichern.

"Ach, einfach probieren! Los, versuch einfach mal!" Sie lächelte ihn dabei erneut lieb an. So nahm L vorsichtig den ersten Bissen von den Stäbchen.

"Hmhmm, Miso ist es also!" stellte er ein wenig enttäuscht fest: "Naja, geben Sie halt her!"

Und er nahm Marti das Schälchen aus der Hand, verzichtete gänzlich auf die beiliegenden Stäbchen und kippte sich die ganze Suppe gierig rein als wenn er nahezu über Jahre schon nichts mehr gegessen hätte.

Marti warnte ihn dann nur noch völlig überwältigt: "Vorsicht! Die ist doch noch ganz... heiß!?"

L schmatzte ungeniert als er die ganze Suppe hastig hinunter schlang. Nur eine Minute später reichte er Marti die leere Schale zurück mit der bittenden Frage: "Noch mehr?"

Marti lächelte müde, erklärte sich aber gleich bereit, ihm einen kräftigen Nachschlag zu bringen. Bevor sie gänzlich aus dem Wohnzimmer schritt, rief L ihr noch nach: "Ach, und wenn Sie vielleicht auch noch etwas zu trinken hätten? Das wäre sehr nett."

Marti kicherte. Muse hatte das Ganze natürlich wieder weitestgehend mit verfolgt und schwirrte Marti in die Küche nach.

"Ich glaub, den haste an der Angel, Süße!" lachte sie hämisch: "Und wieder so'n Kerl, der dich ausnutzt!"

"Muse, bitte!" widersprach Marti: "Der Typ ist hilflos und krank! Der braucht eine dringende Stärkung!"

"Ich mein ja nur..." rechtfertigte sich Muse: "Gib einfach Acht!"

"Jaja!" Marti verdrehte genervt die Augen, ehe sie mit der nächsten Portion Suppe und einem Glas Mineralwasser wieder ins Wohnzimmer zurück ging.

Dankend nahm L beides entgegen und schlürfte genüsslich auch die nächste Portion in sich hinein. Dabei kleckerte er sogar ein wenig auf sein weites, weißes Oberteil. Marti schaute ihm dabei nur amüsiert zu. Sie freute sich, dass ihm ihre Suppe, trotz seiner anfänglichen Skepsis, sichtlich zu schmecken schien. Mit einem leisen Rülpser beendete er sein kleines "Festmahl" und reichte Marti die nun leere Schale mit den Stäbchen rüber: "Haben Sie vielen Dank! Ich muss gestehen, das hat mir wirklich ganz gut getan."

"Geht es dir denn schon ein wenig besser?" erkundigte sich Marti, während sie das Geschirr an sich nahm.

"Sicher, es wird schon." antwortete L in einem sehr trockenen Tonfall. Er schaute sie dabei reichlich nachdenklich an. Er verstand beim besten Willen nicht, dass und vor allem warum sich irgendjemand so um ihn kümmerte. Das war für ihn ein höchstbeklemmendes Gefühl, denn er hatte ja bisher, bis auf Watari, keine vertrauten Kontakte. Nun wurde für ihn seit einer Ewigkeit plötzlich gesorgt, obendrein noch von einer wildfremden Person, die anscheinend pures Mitleid mit ihm hatte, und er fragte sich, was das sollte. Mit erdrückender Bitterkeit im Gefühl fragte L sich verzweifelt, was denn das alles überhaupt noch für einen Sinn haben würde, da er doch eh bald sterbe. Zwar konnte diese Fremde das natürlich nicht wissen, aber es beeinflusste ihn insofern darin, ob er diese Hilfe denn überhaupt weiter groß zulassen sollte.

Marti bemerkte Ls traurig gestimmten Gesichtsausdruck.

„Aber, aber, was hast du denn nur? Warum so trübe? Bist doch in Sicherheit und es ist ja nichts passiert!“ Sie sah ihn eindringlich an, doch er erwiderte ihren Blick nicht länger als er nur trübselig seinen Kopf senkte und diesen auch noch bewusst von Marti abwandte.

„Ist meine Sache.“ murmelte er stur.

Marti wurde langsam ratlos. In diesem Moment kam er ihr sogar regelrecht undankbar vor. Sie versuchte es noch ein letztes Mal, indem sie vorsichtig seine Schulter berührte und mit sanfter Stimme zu ihm sprach: „Bitte, ich will dir doch bloß helfen!“

Doch L antwortete darauf nur direkt: „Ich brauche keine Hilfe mehr! Von nichts und niemandem!!“

„Bist wohl’n ganz Sturer, wie?!“ stellte Marti langsam etwas gereizt fest.

L schwieg wieder. Das provozierte sie nur zusätzlich. Sie fuhr aufgebracht hoch und schrie ihn plötzlich barsch an: „FEIN!!! Dann hau doch ruhig ab hier! Wenn du wirklich meinst, du packst das alleine! Also ehrlich, so einer wie du ist mir auch noch nicht untergekommen! PAH!“

Wütend drehte sie ihm den Rücken zu und hastete aus dem Wohnzimmer hinaus in die Küche. L erstarrte in dem Moment. Diese Reaktion kam ihm etwas überraschend und hatte ihn entsprechend erschrocken. Ihm war die ganze Zeit alles so gleichgültig, dass er dabei gar nicht bemerkt hatte, wie unhöflich er sich Marti gegenüber wohl benommen haben musste. Nun hatte er sie sichtlich verärgert, was er zu keiner Zeit gewollt hätte. Er senkte wieder bestürzt seinen Kopf. Ihm waren sein Verhalten und die ganzen Umstände an sich nun einfach nur noch peinlich. Er wollte hier weg – um jeden Preis!

Langsam versuchte er von der Couch aufzustehen. Anfangs mit zittrigen, schwachen Beinen, doch schließlich gelang es ihm doch, sich einigermaßen zu halten. Die Suppe hatte ihm wenigstens einen kleinen wenig seiner verschwundenen Kraft wieder gegeben. Auf dem Couchtisch stand immer noch das Glas Mineralwasser, welches Marti ihm mit der zweiten Portion gebracht hatte. Dieses trank er mit einem Schluck leer und er spürte, dass es ihm sehr gut tat und ferner, wie lange er wohl auch schon nichts mehr getrunken haben musste. Seine Kehle fühlte sich nun zunehmend belebter an. Mit schweren Schritten ging er aus dem Zimmer durch den Flur. Er bewegte sich zur Hautür hin, riskierte aber noch einen letzten, vorsichtigen Blick in die von dort aus gut einsehbare Küche, in der Marti auf dem Boden an ihrem Esstisch hockte und ihr Gesicht traurig in ihrer linken Handfläche vergraben hatte.

L wusste nicht recht, wie er sich nun verhalten sollte. Immerhin hatte sie ihm sehr geholfen und sich um ihn zu kümmern gemüht. Er wusste sehr wohl, dass sein Verhalten nicht richtig war und er diese junge, fremde Frau nun gekränkt haben musste. Dennoch hatte er große Hemmungen, noch mal zu ihr in die Küche zu gehen...

Mit einer Spur von Bedenken jetzt das Richtige zu tun, wandte er sich wieder der Haustür zu und öffnete diese schließlich, um sich leise aus der Wohnung zu schleichen. Marti allerdings hatte ihn die ganze Zeit über bemerkt; jeden einzelnen seiner Schritte. Und sie war ziemlich sauer. Muse hingegen belächelte die ganze Situation nur wieder.

„Ich glaube, da liegt wohl etwas Gewittriges in der Luft, wie?!“ lachte sie zu Marti, die immer noch nicht aufschaute. Diese fauchte Muse daraufhin diskret an: „Hau ab, los! Verpiss dich!“

„Hey, hey, hey, ich hab den nicht rausgegrault!“ wetterte Muse eingeschnappt entgegen.

Da Marti sprang plötzlich ganz überraschend von ihrem Platz auf mit ihrem wütenden Blick zu Muse gerichtet. Ihre Augen blitzten den Shinigami stocksauer an als sie sie wie von Sinnen anschrie: „Verschwinde!! Du bist hier jetzt absolut überflüssig!“

Muse schreckte ein wenig zurück, gab dann aber gleich kontra: „Biste nun völlig meschugge, oda wat? Nagut, dann bin ich halt erst einmal wech. Ganz los kannste mich eh nimmer werden, solange du an meinem Death Note gebunden bist! So ist die Regel! Na dann, bis dann wann! Ciao, du olle Zicke!“

Und sie verdünnisierte sich durch die Wand ihrer Küche bis sie ganz aus Martis Sichtweite glitt. Marti war einfach nur noch am Ende und wollte vorerst keine Gesellschaft mehr. Nicht einmal die eines Shinigami. Sie fühlte sich schlichtweg allein, unverstanden und vergolten. Warum da noch weitere Erniedrigungen und Spott? Das konnte sie nun wirklich nicht länger gebrauchen, auch wenn sie insgeheim wusste, dass Muse sie lediglich gern aufzog und ihr im Grunde eine Art „Freundin“ sein wollte...
 

L fühlte sich an diesem frühen Nachmittag nicht viel anders. So sehr er sich auch mühte, er konnte das Geschehene von vorhin einfach nicht vergessen und er machte sich selbst immer noch die bittersten Vorwürfe, sich falsch verhalten zu haben. Ferner spürte er, dass ihm die Suppe physisch schon ziemlich gut getan hatte, denn seine Kräfte kamen allmählich wieder. Ihm war zumindest nicht mehr ganz so schwindelig und sein erbärmliches Hungergefühl schien vorerst auch ein wenig gestillt. Er fühlte mit einem Mal wieder etwas mehr Appetit; das Bedürfnis, sich selbst etwas Gutes zu tun. Das hatte er seit Monaten nicht mehr in der Form gefühlt. Scheinbar war es wirklich notwendig, dass jemand ihm da geholfen hatte. Umso reumütiger war ihm nun zumute. Normal entsprach dieses Verhaltensmuster, welches er ihr gegenüber an den Tag gelegt hatte, wirklich nicht seinem Charakter. Ihn regte jener Undank, von dem unsere heutige moderne Welt großteilig beherrscht war, häufig schon selbst auf und nun war er selbst in dieses Muster gerutscht. Zwar war er nicht danach gesinnt, mit dieser Fremden näheren Kontakt zu suchen, aber irgendeine Gestik des Dankens wollte er schließlich dennoch vonstatten lassen. So schritt er nun durch die Innenstadt in einem jener Läden, die zu Wataris einstigen Stammläden gehörten, wenn es um ein hohes Sortiment an guten, qualitativen Süßwaren ging. Dort stellte er eine Vielfalt an Donuts, Schokolade, Erdbeereis, Pralinen, Bonbons und noch vieles mehr in Rechnung, was, nach seiner Einschätzung, wohl für die restlichen ihm noch zur Verfügung stehenden Lebenstage ausreichen würde. So nahm er sich vor, dass dies das letzte Mal sein würde, wo er sich an die Öffentlichkeit begeben hätte...
 

Im Totenreich der Shinigami herrschte zur gleichen Zeit auch eine angespannte Stimmung. Shiozzan, der Oberste aller Todesgötter, hatte von Muses „Ausflug“ in die Menschenwelt erfahren; ebenso was mit ihrem Death Note geschehen war, und er geriet schier in Aufruhr. Wütend befahl er Muse zu sich. Diese glitt nur lässig zwischen sämtlichen Gebeinen und Totenschädeln zu seinem Thron und fragte noch vollkommen kühl: „Joa, was gibt’s denn so?“

„Das fragst du mich auch noch??“ wetterte Shio sogleich ungehalten los: „Du weißt am allerbesten, warum ich dich zu mir gerufen habe!“

„Äh nö? Kein Plan, echt!“ tat Muse auf dumm, jedoch mit einer gewissen Vorahnung, die ihr insgeheim gar nicht behagte...

„Du hast dein Death Note in die Menschenwelt eingebracht, worauf schwere Folgen entstanden sind – durch DEINE Anstiftung!“ Shio hob seine ohnehin schon sehr laute, dominante Stimme an: „Weißt du eigentlich nicht, was für Unheil du damit angerichtet hast und noch anrichten wirst?!??“

Muse zuckte nur mit den Schultern. Shio konnte sie schon ewig nicht mehr richtig beeindrucken. Sie hörte mittlerweile über alles, was er ihr sagte, nur noch hinweg, denn er ging ihr mit seiner „Wichtigtuerei“ und seinem ewigen Gebrüll einfach nur noch auf die Nerven. Sie belustigte sich daran stets lediglich noch.

„War klar, dass du wieder so bist!“ grunzte Shio und wurde immer wütender, wenn auch das bereits jetzt kaum mehr möglich zu sein schien, so sehr wie er sich bereits in Rage geredet hatte.

„Was soll ich dazu denn jetzt groß sagen?“ tat Muse fast schon gelangweilt: „Es war Notwehr! Nicht mehr und nicht weniger...“

„Notwehr? NOTWEHR??“ Shio traute seinen Ohren nicht.

„Hab du erstmal ‚nen Macker, der dir dein Leben zur Hölle macht und du dir nur noch wünschst, dass er endlich abkratzt...“ versuchte Muse anzudeuten, erntete von Shio jedoch, wie erwartet, nur einen verständnislos verachtenden Blick.

„Hä? Muse, du nimmst die Sache mal wieder ganz leicht und denkst, das hier wäre alles nur eins deiner vielen blöden Spielchen, wie?!“ brüllte Shio weiter.

„Bist eben auch nur ‚n männlicher Volltrottel und kapierst rein gar nix, aber das war ja uch so was von klar...“ winkte Muse entnervt ab.

„SEI NICHT SO VERDAMMT VORLAUT!“ wetterte Shio ganz außer sich vor Zorn.

„Schon gut, schon gut!“ Muse wendete sich langsam nur noch genervt von ihm ab: „Und nun? Hab noch anderes zu tun als mir dein behindertes Gelaber anzuhören, welches sowieso nun frei von jeglichem Sinn ist, denn es ist nun einmal passiert. Und? Der Kerl ist jetzt hinüber, Marti eine freie, ungebundene Frau, was sie auch verdient hat, und ich halte mein Death Note doch bei mir. Es wird damit nix weiter Tragisches passieren...“

„Damit ist es nicht getan!“ klagte Shio: „Du bist nicht imstande, dieses Heft länger bei dir zu führen! Du bist dumm und unreif wie ein Mensch! Ich will, dass du mir dein Death Note aushändigst! Jetzt sofort hier und auf der Stelle!“

Shio machte mit seinem skellettierten, mit einem schwarzen eisernen Ring versehenden Finger eine deutliche Geste, indem er damit knallhart auf den Boden deutete; dabei schwenkte er seinen Finger immer wieder auf und ab.

„Hach, wenn du meinst, dass wir dann wieder alle glücklich sind, meinetwegen!“ seufzte Muse immer genervter. Natürlich gefiel es ihr alles andere als gut, ihr Death Note beschlagnahmt zu wissen. Das wies ihr Umfeld nur darauf hin, dass sie seiner nicht würdig war, was sie deutlich unreif und beschränkt aussehen ließ. Es kränkte sie merklich in ihrem Stolz.

Sie griff schließlich in die linke Tasche ihrer zerfetzten Lederjacke, wo sie ihr Death Note bisher immer sicher verwahrt hatte. Jedoch schien jene Tasche leer zu sein. Muse wühlte intensiver darin herum, knöpfte sich dann anschließend ihre rechte Tasche vor. – Auch nichts! Sie hatte noch einige weitere, in denen sie anschließend noch herumwühlte, doch alles, was sie letztendlich fand, war lediglich nur der kleine Taschenkuli, der ihrem Death Note stets angefügt war. Weiter nichts.

„Ähm... nun.... reicht auch der Kuli?“ Und sie wollte ihn dem Shinigami-Oberhaupt überreichen. Der jedoch schaute Muse nur ganz entgeistert an und schlug ihr den Kuli in einem Anfall von packender Wut aus ihrer Hand. Er landete zwischen einigen Gerippen auf dem Boden des Todesreichs.

„Hey, hey, ganz easy, ja?“ grummelte Muse außer sich.

„Jetzt sag ja nicht, du hast...“ Shio wollte es lieber erst gar nicht laut aussprechen. Er schüttelte nur stocksauer seinen Kopf: „Nein, nein, nein! Das kann doch nicht wahr sein!“

„Ich muss es wohl irgendwo in meinem Territorium haben! Wenn du also eben einpaar Minuten warten könntest!?...“ Schnell wendete sich Muse ab und zischte davon, noch ehe Shio dagegen dementieren konnte, was er nur zu gern getan hätte.

„Himmel, Blitz und Donner!“ wütete er: „Komm bloß schnell wieder, ich warne dich! Ansonsten hagelt es schwere Konsequenzen!“

Natürlich wusste Muse ganz genau, dass ihr Death Note nicht in ihrer Tasche war. Auch wusste sie, dass sie es nicht in ihrem Revier hier im Totenreich gebunkert hatte. Sie wusste ganz exakt, wo sie es hatte, da sie darauf vorbereitet war, dass Shio es ihr abnehmen wollen würde; bereits als dieser sie zu sich bestellt hatte. Also ließ Muse es gezielt in Martis Zimmer fallen, wo es fürs Erste sicher verwahrt sein würde. Und offiziell würde Muse vor Shio weiterhin den „verpeilten Tollpatsch“ spielen, der sie für ihn sowieso schon immer gewesen war. Niemals hätte sie es so einfach zugelassen, dass man ihr Death Note fortnehmen würde, wenn auch sie selbst wusste, dass sie schlichtweg besser drauf hätte Acht geben sollen...

Trotzhandlungen

04: Trotzhandlungen
 

Marti staunte nicht schlecht als sie sich am frühen Abend in ihr Zimmer begab und auf ihrem Bett das Death Note liegen sah.

„Wo kommt das denn jetzt her?“ fragte sie sich verwirrt und nahm es an sich. Sie betrachtete es aufmerksam und blätterte darin herum. Alle Seiten waren nach wie vor unbeschrieben, mit Ausnahme jener, auf der sie Akibas Namen geschrieben hatte. „Seltsam!“ meinte sie leise zu sich: „Ich bin fest davon überzeugt, dass Muse es mit sich genommen hat!?“

Ihr PC war seit gestern Abend, als sich die Tragödie mit Akiba abgespielt hatte, immer noch angeschaltet. Sie hatte außerdem vergessen, ihren Instant Messager offline zu setzen, weswegen nun nach all den vielen vergangenen Stunden so einige Nachrichten von verschiedenen Bekannten und Freunden von ihr eingegangen waren. Nun begab sie sich an ihren PC und schaute die ganzen angestauten Nachrichten erstmal in Ruhe durch. Das Death Note legte sie dabei neben ihren Monitor auf den PC-Tisch.

Es hatten sie sechs verschiedene Kontakte angeschrieben. Die meisten waren dabei allerdings eher nach reinem Smalltalk gesinnt und in den Nachmittagsstunden vermutlich aus Langeweile auf der Arbeit abgeschickt worden. Jedoch gehörte einer von ihnen nicht dazu: Yukozuna Mattori, ein guter Freund aus der Nachbarstadt Yokohama. Der liebte die Faulheit und die Finanzierung durch den Staat. Er dachte nicht mal daran, sich um Arbeit zu bemühen. Sein Leben lang saß er auf der faulen Haut; hatte mit knapper Not seinen mickrigen Hauptschulabschluss mit einem Durchschnitt von 4,3 geschafft und danach nichts Neues mehr in Angriff genommen. Ihm hätte eine weiterführende Schulbildung, oder die Wiederholung seiner letzten Klassenstufe, sicher erheblich gut getan, jedoch war er sich für all das zu schade. Er hatte nämlich gemerkt, dass seiner einer von dem Geld, das ihm durch den Staat zusteht, bestens leben kann. – Wozu also selber malochen gehen?

Und wenn man ihm mal einpaar mögliche Arbeitsstellen ausschrieb, um die er sich kümmern sollte, so hielt es ihn dort zumeist nie lange, denn er fand stets Gründe, sich dort wieder zu verdrücken. Seine Ausrede hieß dann jedes Mal: „War nix für mich! Kein gutes Betriebsklima!“

So ließ er sich also Tag ein Tag aus durchfüttern, machte selber keinen Finger krumm und gammelte stets faul und reichlich „wohl genährt“ in seinem Zimmer rum und zockte seine geschätzten Fantasy-Spiele an seinem PC. Für ihn hatten diese mittlerweile so was wie einen Ersatz für die Realität eingenommen; er saß nahezu permanent vor seinem Bildschirm und mied allmählich immer mehr seine realen Kontakte. Marti hatte mit ihm sogar mal eine Zeit lang Funkstille gehabt, weil es ihn derartig in seine „tolle neue Welt“ verschlagen hatte. Mittlerweile bestand jedoch wieder der Kontakt zwischen den beiden. Natürlich versuchte auch Marti immer wieder, ihn davon zu überzeugen, endlich mal was aus sich und seinem Leben zu machen, jedoch stets ohne Aussicht auf Erfolg. Yukozuna verharrte aus tiefster Überzeugung auf seinen Standpunkt. Deswegen hatte er es sich auch schon mit dem größten Teil seiner einstigen Freunde verscherzt. Nur Marti war ihm bisher immer eine „treue Seele“ geblieben. Dies wusste er leider auf bitterste Weise auszunutzen. Er begehrte Marti und das wusste sie, schaute jedoch auch darüber jederzeit hinweg und tat alles daran, ihm immer eine gute Freundin zu sein. Allerdings fühlte sie sich dabei zu häufig alles andere als wohl, wenn er wieder einmal mit seinen notlüsternen Nachrichtsattacken, die er ihr andauerend per E-Mail oder SMS schrieb, auf die Barrikaden ging. Sie verhielt sich darauf dann zumeist unterschiedlich: Mal ignorierte sie die und versuchte krampfhaft, ein neues Thema einzulenken; manchmal wiederum, wenn es ihr seelisch mal wieder besonders arg zusetzte, dass Akiba für sie sexuell nicht großartig viel übrig hatte und sie sich diesbezüglich nach Bestätigung sehnte, nicht unattraktiv zu sein, ließ sie sich sogar darauf ein und startete so manch „anregende Unterhaltung“ mit ihm, wenn auch er sie körperlich kein bisschen entzückte. Wie bereits angesprochen, war Yukozuna sehr beleibt und obendrein ziemlich ungepflegt. Nein, auch Marti hatte schon ihren gewissen Geschmack, aber in der Not frisst der Teufel nun mal Fliegen, wie es so schön heißt...

Marti sah Yukozuna online als sie gerade jene Nachricht von ihm gelesen hatte, die da hieß:

„Hi du. Na, wie geht’s? Wann hättest du mal wieder Zeit etwas zu machen?“

Marti schrieb ihm eine Antwort: „Die Ereignisse überstürzen sich grad etwas. Mein Freund ist letzte Nacht sehr plötzlich verstorben!“

Sie zögerte keine Sekunde, ihm das so offen und direkt zu schreiben. Ziemlich zügig antwortete Yukozuna: „Aha. Dann bist du also jetzt frei?! Dann kann ich dich ja bestimmt nun öfter sehen und bei dir übernachten?“

Marti fühlte sich von Yukos aufdringlichem Gehabe mal wieder ziemlich überrumpelt, wie so oft schon. Zwar brauchte sie, was Akibas Tod anging, wirklich kein sonderliches Mitgefühl, aber dennoch nervten sie Yukos Manieren; seine überaus dreckige, egoistische Art, die absolut nicht wundern ließ, dass er auf dem letzten Loch pfiff und keine Arbeit fand, wenn er sich darum denn wenigstens mal bemüht hätte...

„Danke für dein Mitgefühl!“ schrieb Marti ironisch.

Er darauf: „Was soll ich da groß schreiben? Er war ein Arschloch! Nach alledem, was du mir immer über den erzählt hast... Jetzt komm schon, wollen wir mal wieder telen und es uns am Hörer machen?“

Wieder einmal war so ein Zeitpunkt gekommen, an dem Marti ihn zu ignorieren beliebte. Sie ging auf keine weiteren eingehenden Nachrichten von ihm mehr ein. Diese wurden im übrigen auch immer nerviger:

„Ich könnte dich jetzt anrufen! Hab grad sturmfrei und ich bin geil!“, „Noch da? Hab Lust, es dir zu besorgen!“, „Welche Stellungen könntest du dir vorstellen?“, und so ging es immer weiter.

Diese Obszönitäten wurden von Marti immer wieder nur genervt weg geklickt. Marti wurde langsam zornig. Sie fühlte sich von diesem notgeilen Fettsack regelrecht ausgenutzt und sie bereute es merklich, dass sie nach all der ganzen Zeit immer noch so freundlich zu ihm war, anstatt ihm endlich mal klar zu machen, dass es so nicht weitergehen konnte. Doch so war diese naive Person leider immer! Sie ließ gedanklich noch mal ihre so genannte „Freundschaft“ mit Yuko revue passieren. So weit sie denken konnte, war dieser immer nur auf das Eine aus. Wollte sie mit ihm mal über allgemein übliche Themen reden, so fasste er sich jedes Mal so kurz wie nur möglich um dann gleich wieder zu „seine speziellen Themen“ überzuleiten. Marti fragte sich ernsthaft, ob man eine Freundschaft, die sich im Grunde nur auf diese „eine Ebene“ beschränkte, überhaupt als eine solche betiteln konnte. Sie stellte dies langsam immer mehr in Frage und verlor die Lust an dem Chatgespräch mit ihm. So versuchte sie ihn nun, wie schon so oft, abzublocken:

„Sorry, aber mir geht’s nicht gut. Ich denke, ich geh wieder offline...“

Yuko darauf nur: „Okay, bye! Und überleg dir schon mal, wie du es dir mit mir am heißesten vorstellen könntest...“

Mit einem genervten Grummeln schloss sie ihr Messager-Programm. So was Notgeiles und Verständnisloses wie Yuko musste wirklich erst noch erfunden werden, dachte Marti sich wütend. Ihre Stimmung war ja bereits den ganzen Tag durchweg schon angespannt gewesen, aber das hatte alles noch einmal tüchtig aufgemischt. Ihr war klar geworden, dass nicht jeder in ihrem „genannten Freundeskreis“ auch tatsächlich ein Freund war. Ferner dachte sie auch, dass manche Menschen vielleicht erst gar nicht dazu im Stande waren, Freundschaften zu haben; egoistische, selbstgefällige Menschen wie Yukozuna Mattori, die überhaupt nichts anderes im Kopf haben als ihre eigenen Bedürfnisse gestillt zu bekommen und zwar durch ihre vermeintlichen „Freunde“, die in ihren Augen eh nur als Mittel zum Zweck galten....

Martis Stimmung war nun trüber den je und sie fragte sich wieder, was denn noch alles kommen würde...

Da landete plötzlich Muse hinter ihr, welche anscheinend einfach durch ihre Zimmerdecke geschwirrt gekommen war.

„Sei gegrüßt!“ lachte sie.

„Muse! Du bist zurück gekommen?!“ Marti schaute den Shinigami überrascht an.

„Sicher. Immerhin hast du noch was, das mir gehört!“ sagte Muse und ihr Blick fiel schlagartig auf das Death Note, welches immer noch auf Martis PC-Tisch lag.

„Aber du hattest es doch bereits zurück genommen, oder doch nicht!?“

„Schon, aber ich musste es nochmals zu dir schaffen, und das äußerst fix!“ erklärte Muse knapp: „Aber das brauchste nicht in allen Einzelheiten zu wissen.“

„Aha?“ Marti verstand nicht wirklich, um was es eigentlich ging.

„Jedenfalls“, fuhr Muse fort: „Ich glaube, es ist bei dir schon recht sicher! Jetzt muss ich mir nur dringend etwas einfallen lassen, wo ich es am besten hier verstecken kann. Ich will nicht, dass man es mir einfach wegnimmt, Menno!“

„Hm, klingt als hättest du grad ein wenig Ärger!?“ ahnte Marti.

„So kann man’s schon ausdrücken. Nur würde ich dabei das ‚ein wenig’ vielleicht in ‚ein wenig viel’ ändern.“ Muse seufzte und fuhr schließlich fort: „Ich bin nun einmal etwas verpeilt, ja, das mag sein. Ich passe wirklich nicht immer besonders gut auf meine Sachen auf; insbesondere meinem Death Note! Aber trotzdem habe ich immer noch genug Würde, es zu führen! Ja, das hab ich!!“

„Lass mich raten, deine Leute haben Wind davon gekriegt, dass ich es erhalten und benutzt habe!?“

„Exakt! Und die sind, seit dem damaligen Vorfall mit diesem Typen Light Yagami, wirklich einiges empfindlicher geworden! Ja, sogar regelrecht paranoid!!“ Muse schlotterte.

„Was für ein Vorfall war denn das eigentlich?“ fragte Marti immer noch unwissend. Dieser Fall wurde ja einstmals von jenen Menschen, die überhaupt davon wussten, äußerst diskret behandelt. Wie also hätte sie davon jemals etwas erfahren sollen? Muse seufzte und wollte grad zu einer näheren Erklärung ansetzen, da klingelte es plötzlich an Martis Wohnungstür. Diese schritt sofort neugierig heran: „Wer kann denn das um diese Zeit noch sein?“

Sie betätigte an ihrer Wohnungstür die Taste zum Entriegeln der unteren Haustür, mit jener üblichen Erwartung, dass der/die vermeintliche Besucher/in nun die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf schreiten würde, doch blieb es nun völlig still. Nicht mal die Haustüre unten hatte sich geöffnet.

„Hm? Komisch“, sagte Marti: „Ob sich da jemand vielleicht nur verdrückt hat!?“

Langsam ging sie die Treppe im Flur hinunter, um nach dem Rechten zu sehen. Das Treppenhaus war dunkel und still. Schließlich erreichte Marti die Eingangstür des Hauses, vor der in der Tat überhaupt keine Menschenseele anzutreffen war. Marti schaute hinaus, sowohl nach links als auch nach rechts, doch es war niemand da. Da fiel ihr Blick plötzlich auf etwas, das auf dem Boden, direkt vor der Haustür, abgelegt worden war – ein Korb, prall gefüllt mit einer Vielzahl verschiedener Süßigkeiten. Schokolade, Donuts, Muffins, Bonbons, nahezu alles Mögliche war darin vertreten. Alles war auf verschieden farbigen Servietten gebettet. An dem Henkel dieses Korbes fiel Marti ein kleiner, mit Klebeband, befestigter Zettel auf, auf dem mit einer ziemlich hastigen Handschrift die Worte: „Vielen Dank.“ geschrieben standen. Mehr nicht. Marti verstand erst gar nicht, von wem dieser Korb wohl stammen könnte und sie glaubte erst, dass er wahrscheinlich für wen anders hier in diesem Haus bestimmt war. Doch dann fiel ihr plötzlich wieder jener Vorfall von heute Mittag ein; ihr kam dieser sehr merkwürdig gepolte, junge Mann wieder in den Sinn, der sich recht unfreundlich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Konnte es sein, war wirklich er das, der ihr diesen Korb eben gebracht hatte? Wollte er sich auf diese Weise nun etwa doch erkenntlich zeigen? Marti fühlte sich wieder einmal etwas irritiert. Da kam auch schon Muse angeflattert und musterte den Korb sogleich lachend.

„Na sie mal einer an! Dat is ja mal zu goldig!“ Ihre Stimme klang, wie so oft, auch hier wieder mal ziemlich sarkastisch.

„Das ist ja echt lieb!“ murmelte Marti nun leicht verlegen: „Hmm, wenn er es denn überhaupt war... Und wenn doch!?... Warum hat er denn nicht gewartet? Warum ist er so einfach wieder geflüchtet!?...“

Muse schwirrte daraufhin empor und rief: „Bin gleich zurück, das werden wir schnell wissen, wer das nun war!“

Und mir nichts, dir nichts, war sie zum Himmel hinauf davon geflattert. Mit einem eilenden Tempo zog sie an sämtlichen Dächern der Nachbarwohnblöcke vorbei, dabei immer wieder mit dem Blick gen abwärts gerichtet, um eine bestimmte Person zu erspähen. Schnell, wie sie war, wurde sie in der Tat schon bald fündig. Auf der rechten Straßenseite bog in ziemlich schnellen Schritten jener Fremde in die nächste Gasse ein, den sowohl Muse als auch Marti zu erwarten beliebten. L blickte sich dabei stets prüfend in alle Richtungen um, um sicher zu gehen, dass ihm auch ja niemand gefolgt war.

„L Lawliet. So, so.“ Muse nickte: „Jener Mensch, der schon bald abkratzen soll, tze. Na denn, werde dem wohl mal ein bissl hinterher spionieren, um zu gucken, was er noch so treibt!“

Nachdem L in die nächste Gasse eingebogen war, verlangsamten sich seine Schritte allmählich wieder. Er atmete recht schnell und unruhig, und schien stets in Sorge zu sein, dass ihn vielleicht doch jemand gesehen haben könnte.

Er durchlief die Innenstadt, in welcher zu dieser Uhrzeit, kaum mehr jemand seine Wege kreuzte. Die Geschäfte hatten bereits geschlossen und es trieben sich nur noch wenige Menschen dort herum. Wenn mal jemand Ls Wege kreute, schenkte er demjenigen keine Beachtung und hielt seinen Kopf stark nach unten gesenkt, dass man sein Gesicht möglichst nicht sah. Nach der Innenstadt folgte noch eine lange, schmale Straße; dann noch zwei Weitere, die jedoch etwas kürzer ausfielen. Der Weg, der Ls Bestimmungsort von Martis Wohnung trennte, war nicht gerade so nahe, bemerkte Muse. Sie blieb ihm dicht auf den Fersen. Sie war von einer gewissen Neugier gepackt, wo und vor allem wie ein solch seltsamer Mensch wie er überhaupt hauste. Sie war auf Etliches vorbereitet, jedoch nicht auf das, was sie dann letztendlich am Ende seines langen Weges erwartete: Sein großes, einladendes Anwesen, welches einer Villa glich. Muse konnte es erst nicht fassen und klatschte sich an die Stirn.

„Was denn, isser reich, oda so? Das versteh ich nun aber gar nicht! Macht einen auf armen Hungersnöter und dabei wohnt der etwa... hier!??“

Verwirrt und überwältigt zugleich folgte sie ihm zur Türe hinein. Jetzt wollte sie um keinen Preis mehr so schnell wieder weg, denn sie wollte sich alles doch zu gerne genauer ansehen.

L begab sich nun mit langsamen Schritten in sein großes, sehr geräumiges Wohnzimmer und ließ sich müde in seinen Sessel fallen, worauf er sich wieder in seine für ihn übliche Sitzlage warf, bei der er seine Beine zu seiner Brust hin anwinkelte. Er lehnte seinen Kopf entkräftet an der Lehne zurück und schloss für einen Moment seine übermüdeten Augen. Er atmete tief durch.

„Ich habe es geschafft.“ waren seine leisen Worte. Er wirkte auf einer gewissen Art erleichtert, einen Schritt hinter sich gebracht zu haben, vor dem es ihn arg gegraut hatte. Dennoch bemerkte Muse, dass ihn innerlich ein tiefer, seelischer Schmerz zu quälen schien, und sie war sich ziemlich sicher, dass dieser bestimmt mit seinem nahe stehenden Tod im Zusammenhang stand.

Nach einigen ruhigen Minuten stand er von seinem Sessel auf und schleppte sich mit weiteren schweren Schritten in die ebenfalls recht üppige Küche, um sich dort an seinem Kaffeeautomaten eine Tasse zu brühen. Muse ging dabei nur eins durch den Kopf: „Das kann doch unmöglich sein, dass der hier ganz alleine wohnt. Hier hätte praktisch‚ne ganze Großfamilie Platz, ey!“

Wie hätte Muse auch ahnen oder gar wissen können, wie die Umstände wirklich gewesen waren. Dieser Teil, für den der Fall KIRA gewissermaßen ja auch mitverantwortlich war, war ihr nie bekannt geworden. Wer aus ihrer Welt, mit Ausnahme der dahin gegangenen Rem und eventuell noch Shiozzan, hätte sie darüber auch aufklären können, und vor allem weshalb...

Drum fragte sich Muse die ganze Zeit, wie es so einen wie L, einen vermeintlich heruntergekommenen Irren, in so ein großes Haus verschlagen konnte. Sie fing schon an, erste fatale Spekulationen zu spinnen, von wegen, er wäre in dieses Haus vielleicht einst eingebrochen und hätte alle Insassen ermordet und beiseite geschafft, um sich selbst hier einzuquartieren, doch da schüttelte sie auch direkt wieder den Kopf und meinte zu sich selbst: „Ne, ne, ne, wo bin ich nur mit meinen Gedanken. Das ist derart unmöglich... hach!“

Ls kränkliches Auftreten und die Tatsache, dass ihm nur noch 23 Tage zum leben blieben, stimmten Muse in gewisser Weise nachdenklich wie auch traurig und Letzteres war bei ihr wirklich von höchster Seltenheit. Sie hasste es, denn diese Gefühle waren ihr schon beinahe zu menschlich. Ihr wurde fast schlecht dabei.

„Mann oh Mann, der Typ ist doch nicht mal älter als Marti und dann dieser Zustand!!“ bebte es ungehalten aus ihr heraus.

Ls Kaffee war nach einpaar Minuten fertig gebrüht. Er öffnete ein unteres, kleines Schrankfach und entnahm diesem ein Döschen mit Würfelzucker drin, von dem er satte 12 Stück in die Hand nahm und diese eiskalt in seinen Kaffee schmettern ließ, dass dieser sogar schon ein wenig überschwappte. Einpaar Spritzer landeten auf dem ansonsten recht sauberen Küchenboden.

„Was, bitte...? Der’s ja ‚n Junky, oder was!??“ Muse war geschockt.

Er nahm einen Teelöffel aus der Küchenschublade und rührte langsam in seinem noch brühend heißen Kaffee herum. Vorsichtig pustete er an diesem. Dann bewegte er sich wieder in sein Wohnzimmer, setzte sich wieder auf seine kuriose Art in seinen Sessel zurück und zückte aus der Schublade eines sich direkt neben dem Sessel befindlichen Tischchens eine große Tüte Bonbons, deren Inhalte er nacheinander vereinzelt in seinen Kaffee tunkte und dann anschließend mit sichtlichem Wohlgenuss ablutschte.

Muse schüttelte nur immer wieder zitternd den Kopf und begann spöttisch zu singen: „Junky – Junky – Junky – Freak!!“

L schien es allerdings wirklich sehr zu munden, denn er seufzte ab und zu entspannt. Immerhin hatte er sich diesen Genuss seit so vielen Monaten harter Depressionen nicht mehr gegönnt. Da war es für ihn ein umso intensiveres Erlebnis, denn immerhin waren Süßigkeiten seine bisher einzige große Leidenschaft gewesen...

Sein Treiben wirkte auf Muse fast schon hypnotisch, denn sie konnte ihren Blick kaum mehr von diesem schrägen Wesen entziehen. Zu erschrocken und zu überwältigt war sie nunmehr. Doch da wurde sie plötzlich ganz überraschend und äußerst unsanft von hinten gepackt und, ehe sie es sich versah, gegen die nächste Ecke geschlagen. Benommen arbeitete sie sich langsam wieder hoch und sah sich nun erschrocken um. Vor ihr schwebte plötzlich ein anderer Shinigami. Sein Antlitz war sehr düster, doch konnte man klar seine eingefallenen, dunkelgrauen Augen erkennen, zu deren unteren Rändern sich zwei tränenartige schwarze Bahnen bis zu seinem Kinn hinunterzogen. Er hatte schwarzes, wildes Haar, welches ihm bis zu den Schultern ging. Sein Gesicht war, ähnlich dem von Muse, sehr mager und knochig, als wäre es schon lange vermodert. Sein Mund wies Male auf, die darauf schließen ließen, dass dieser einst zugenäht worden war und er ihn nur mit aller Mühe wieder losreißen konnte. Die Nähte, die noch zugeschnürt waren, gingen ihm um seinen ganzen Kopf herum als wäre dieser einst in zwei Hälften geteilt worden. Um seine Stirn trug er ein Stirnband, was ihm einen gewissen rebellischen Touch verlieh. Er trug eine halbzerfetzte Collegejacke, auf deren Rückseite die reichlich verwitterte, nur noch knapp lesbare Ziffer 449 stand. Seine dürren Beine wurden umhüllt von einer zerfetzten Sporthose, welche wohl einst mal einen ansehnlichen Blauton besaß, wovon nun mehr bloß ein trübes grau übrig geblieben war. Seine Schwingen, die ihn, ebenso wie Muse, in der Luft schweben ließen, waren, im Gegensatz zu ihren, federn und in einem graugrün gehaucht.

„Latok!!“ schrie Muse plötzlich ganz aufgebracht: „Was, zum Obergeier, treibst’n du hier, Idiot?“

„Das ‚Idiot’ will ich überhört haben!“ räusperte sich Latok: „Ich komme im Auftrag des Großen Shiozzan, der allmählich ungeduldig wird bezüglich deines Death Notes! Wenn du also nun die Nettigkeit besäßest, es mir zu geben, wo du dich schon so einfach klangheimlich aus dem Staub gemacht hast...!“

„Ich glaub, ich spinne!“ Muse war plötzlich wie von Sinnen: „Aber das ist ja wieder mal typisch! Du warst schon immer Shios Liebling; schon als wir noch ganz jung waren! Du warst für ihn immer wie ein Abbild von ihm, was dich nur stets in deinem Irrglauben bestärkt hat, etwas Besseres zu sein!“

„Laber doch soviel du willst, Herzblatt!“ keifte Latok mit einem eingebildeten Tonfall zurück: „Du wiederum warst schon immer einer der schlimmsten Problemfälle in unserer Welt und ich hab dich auch niemals leiden können! Wundert mich jetzt auch nicht, dass du schon wieder mal Ärger machst! Also gib mir jetzt endlich dein Death Note!“

„Den Teufel tu ich! Verschwinde, ich hab zu tun!!“ schrie Muse Latok an und zischte eilig davon, durch die Mauer aus der Villa hinaus.

„Glaub ja nicht, dass du mir so einfach entkommen kannst!“ knurrte Latok: „Du tust, was der Große Shiozzan dir befohlen hat, sonst greif ich ein!“

Mit diesen Worten folgte er ihr im Blitztempo. Sehr schnell hatte er sie eingeholt. Muse war bereits im Begriff, zu Martis Wohnung zurück zu fliegen. Sie hatte die Lotusgasse schon bald erreicht als Latok sie noch rechtzeitig aufhalten konnte und sie direkt gewaltsam in den Schwitzkasten nahm.

„Hey, was soll das, du mieser...“ keuchte Muse. Latoks Griff war durchaus nicht ohne und drückte ihr bald die Luft ab.

„Rück’s raus, du behämmertes Unwesen!“ zischte Latok bedrohlich: „Sonst zieh ich an dir noch Saiten auf, die du dein Lebtag nicht mehr vergessen wirst!“

„Nie...mals!!“ rief Muse, die allerdings langsam wirklich der Entkräftung nahe stand. Sie würde Latoks Würgegriff nicht mehr lange standhalten können. Dennoch blieb sie stur und frech als sie mit ihrer letzten, verbliebenen Luft hervorbrach: „Wenn du glaubst, du kannst mich mit deiner... uff... sinnlosen Gewalt ein...schüchtern, dann bist du... keuch!... dümmer als jeder Mensch!“

Latok verstärkte seinen Druck nochmals, so dass Muse nun ernsthaft zu ersticken drohte. Sie konnte sich unter seinem Griff nicht mehr bewegen. Latok triumphierte innerlich bereits um seinen sicheren Sieg, da griff Muse zu der letzten Chance, die ihr in diesem Fall noch blieb – Sie holte mit ihrem rechten Stiefel aus und verpasste Latok einen ordentlichen Tritt in seine Weichteile, deren Ziel sich von ihrem Standpunkt aus glücklicherweise noch recht günstig bot. Schmerzverkrampft ließ Latok von ihr und krümmte sich jammernd in sich zusammen. Dummerweise gehörte dieser zu jener Sorte Shinigami, die zu den Schmerzempfindlichsten gehörte, was, zu seinem „Glück“, nur die allerwenigsten wussten, denn das hätte seinem ansonsten so vollkommen wirkenden Ruf nur unnötig geschadet. Er hatte eben das Pech, dass ausgerechnet Muse darüber nur allzu gut bescheid und es stets bestens auszunutzen wusste. Es war Latoks einzige physische Schwachstelle und Muse amüsierte dies jedes Mal aufs Neue.

„Du gemeines Drecksbiest!!“ brüllte Latok während er sich vor Schmerzen kaum noch gescheit in der Luft halten konnte.

„Selber Schuld wenn du mich nicht in Ruhe lassen kannst...“ grinste Muse und krachte schnellstens in Martis Wohnung hinein – direkt durch deren Zimmerdecke. Diese wurde von der überstürzten Erscheinung regelrecht aufgescheucht. Erschrocken fuhr sie von ihrem PC-Stuhl auf; sie war grad dabei, sich der Computerkoloration eines ihrer Auftragsbilder zu widmen.

„Du lieber Himmel, Muse! Was ist denn in dich gefahren?“ rief Marti nur verwirrt: „Siehst ja ziemlich fertig aus. Ist irgendwas passiert?“

„Hmhm, reden wir am besten nicht weiter darüber.“ winkte Muse aufgeregt ab und tat ihr übriges, besser schnellstmöglich wieder zu Atem zu kommen, um auf ein anderes Thema zu lenken. Immerhin sollte sie Marti ja „Bericht erstatten“.

„Nun“, begann sie: „Der Korb ist in der Tat von deinem Typen, den du aufgegabelt hast! Anscheinend wollte er sich wirklich noch bei dir erkenntlich zeigen! Der lebt aber voll komisch, sag ich dir – In so ‚nem riesengroßen Protzhaus, wo eigentlich nur Menschen mit massig Moneten hausen! Und der lebt da scheinbar ganz allein und taucht Bonbons in seinen Kaffee.“

Marti sah Muse nur konfus an: „Äh?“

„Ja, ja! Und du, ne? Behalte das Death Note bitte! Schließ es gut weg, vergrab es am besten irgendwo und lasse niemanden je davon wissen, okay?!“ Muse trat dicht an Marti heran. Ihr Blick wirkte beinahe schon flehend, auch wenn er noch so ausdruckslos zu sein schien. Marti hingegen hatte jedoch in diesem Moment ganz andere Gedanken, ausgelöst durch die leidige Neugier, und sie konnte Muses Worten einfach nicht weiter Beachtung schenken.

„Warst du also bei ihm zuhause?“ fragte sie.

„Jo! Also, machst du’s?“ Muse wollte ihr Death Note um jeden Preis in Martis Obhut bringen. Sie wusste, dort könnte Latok es niemals hinfort nehmen. Einem fremden Shinigami war es nämlich nicht gestattet, menschliche Besitztümer zu entnehmen, selbst wenn es sich dabei um ein Objekt handelte, welches eigentlich aus deren Welt stammte und einst einem anderen Shinigami gehörte. Die Bedingung dafür wäre, dass Muse ihre Rechte, ihr so genanntes Besitztum, völlig an Marti abgab, dass fortan sie den alleinigen Anspruch auf das Heft hatte. Muse dürfte es dabei allerdings auch wieder zurückfordern, doch lag dies dann in Martis Bereitwilligkeit, ob sie es dann auch zurück bekäme. Und Muse vertraute ihr inzwischen fast blind. Sie hatte das sichere Gefühl, das Richtige zu tun und niemand würde dann an das Death Note mehr heran können. Irgendwann würden sich die Gemüter schon wieder beruhigt haben und Muse könnte ihren Besitz dann auch bestimmt wieder zurück erbitten. So wollte sie Marti also nun das Angebot machen; doch diese schien an diesem Abend ganz und gar weg getreten und im Rausch, jegliche Auskunft über den „merkwürdigen Fremden“ zu erfahren.

„Wohnt er weit weg von hier?“ fragte sie eifrig.

„Ne!“ antwortete Muse knapp, und fügte direkt an: „Nimmst du jetzt mein Death Note?“

„Bringst du mich mal dahin?“, so Martis Gegenfrage.

„Ich brauche dringend einen Menschen, der mir meine Rechte an das Death Note abnimmt. Wenigstens für eine Weile!“ jammerte Muse.

„Okay, okay!“ willigte Marti schließlich endgültig ein, wenn auch weiterhin nur sehr knapp.

„Vielen Dank! Dann vergrab es am besten noch gleich und mach damit ja nichts weiteres, ja?“ bestand Muse auf ihr Versprechen.

„Ja, ja, ja.“ antwortete Marti nur desinteressiert: „Also, du sagst, der wohnt in einer Art Villa!?“

„Jo!“ nickte Muse: „Ich hoffe, ich kann dir da wirklich vertrauen und du behandelst das Death Note so als wäre es gegenstandslos! Ihr Menschen hegt einfach zu viele Schwächen, um ein solches Heft bei euch tragen zu können... Es geht mir nur darum, es eine Zeit lang nicht zu besitzen, aber es dabei nicht völlig zu verlieren, wie es nämlich sonst der Fall sein würde.“

„Jetzt sag mir doch endlich: Kannst du mich mal dahin führen? Ach, bitte, bitte, bitte...!“Marti lächelte Muse mit einem derartigen Dackelblick an, dass diese kaum mehr etwas verstand.

„Äh, warum denn?“ meinte sie schließlich: „Du hast ihm geholfen und er hat sich entsprechend bedankt! Jetzt müsstet ihr doch eigentlich quitt sein!?“

„Ach, bitte!“ wiederholte Marti nur und starrte Muse immer noch liebäugelnd an.

„Ich versteh euch Menschen nicht...“ Muse schüttelte nur den Kopf.

„Machst du’s?“ fragte Marti und tanzte erwartungsvoll um Muse herum, die dann schließlich nur noch stöhnend einwilligte: „Hach, na gut, na gut! Nur hör bitte endlich auf mit diesem Geschmalze! Das kann ein Shinigami absolut nicht ab...“

„Danke!!“ Marti fiel Muse euphorisch um den Hals, was für diese mehr als unerwartet kam. Umso unangenehmer war es ihr. „Hör bloß auf, das ist ja furchtbar!“ grollte sie.

„Morgen Mittag, ja?“ fragte Marti aufgeregt.

„Von mir aus... Aber zuerst verwahrst du das Death Note! Darum bitte ich dich ganz inständig!“

„Mach ich, kein Problem!“ versicherte Marti nun zufrieden und begab sich zu ihrer kleinen Kommode neben ihrem Bett. Sie öffnete dessen Schublade und zückte daraus einen kleinen Schlüssel hervor. Dann nahm sie das Death Note, welches sich noch immer auf ihrem PC-Tisch befand, und ging damit in ihr Wohnzimmer zu einer Vitrine, die an einer großen Schrankgarnitur angebaut war. Sie enthielt in gut sortierten Reihen diverse Bücher und DVDs. Marti nahm einige von diesen heraus und Muse erkannte hinter ihnen ein kleines, versiegeltes Fach, dessen Türe Marti mit dem Schlüssel nun vorsichtig öffnete. Darin befand sich etwas Erspartes, was Marti einst von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hatte. Jedoch war von diesen einstigen 2000 Yen nicht mehr viel übrig geblieben, denn nach all den Jahren wurde davon immer mal was weg genommen, wenn es mal wieder darum ging, ihren tollen Freund Akiba auszuhalten, der sie auch finanziell immerzu gern auszunutzen beliebte. Marti war nur froh, dass dies nun vorbei war und umso mehr ärgerte sie, dass diese erleichternde Wende wirklich erst zu spät eingetreten war, wenn sie nun ihren letzten verbliebenen 50 Yen entgegen schaute... Sie seufzte kurz, dann legte sie das Death Note hinein und verschloss den Safe langsam, worauf sie ihn wieder mit den Büchern und DVDs sicher abdeckte. Muse betrachtete diese Lösung allerdings mit großer Skepsis: „Hm, du meinst wirklich, dass es darin sicher ist?“

Marti nickte: „Es existiert nur ein einziger Schlüssel und den habe ich!“ Sie hielt Muse den kleinen Schlüssel demonstrierend entgegen. Diese legte naserümpfend ihren Kopf schief: „Sei ja vorsichtig! Shinigami können jederzeit überall hindurch gleiten. Aber andererseits... wenn ich dir jetzt alle Rechte des Death Notes zuspreche, wird keiner diesen Schritt gehen dürfen.“

„Wie, was?“ Marti verstand natürlich überhaupt nicht, wovon Muse eigentlich redete. Diese winkte auch sogleich ab: „Ach, das musst du nicht weiter hinterfragen!“

Daraufhin näherte sie sich Marti und legte ihre rechte knochige Hand auf ihre Schulter. Dabei schaute sie Marti eindringlich an, was diese beinahe schon erschaudern ließ.

„Alle sämtlichen Rechte an das Death Note gelangen nun in deinen Besitz – Dir, Martina Chista Sakamoto!“

Marti schaute Muse immer verwirrter an: „Hm? Ist das was Besonderes?“

„Ja, du bist nun Herrin über mein Death Note und könntest mit diesem theoretisch alles machen, was du nur willst! Doch ich warne dich, es nicht zu tun! Lass es ja, wo es jetzt ist bis ich wieder drauf zurück komme, okay?“ Muse schüttelte Marti schon fast an ihren Schultern als sie nun auch ihre andere Hand an ihrer Linken anlegte. Nun schritt Marti einpaar Schritte zurück und befreite sich locker aus Muses Griff.

„Schon gut, schon gut!“ rief sie langsam genervt: „Als ob mich das Heft weiter groß interessiert. Mir ist egal, was mit dem passiert! Ich habe es lediglich aufgrund deines Angebots genutzt, welches nun mal notwendig war! Jetzt hör auf, mich damit zu nerven und lass mich wieder an meine Arbeit gehen! Ich hab noch was fertig zu machen...“

Marti wendete sich um und ging in ihr Zimmer zurück. Im Inneren wurde ihr der Shinigami grad eben doch ein wenig unbehaglich und sie wollte sich dieser Situation möglichst schnell entziehen. Muse spürte dies sogar, war aber letztlich ganz froh, dass Marti tatsächlich diese genannte Einstellung zu dem Death Note vertrat. Sie hoffte es zumindest, dass dem wirklich so war. Sie flatterte Marti zu ihrem Zimmer nach. Diese setzte sich nun an ihren Schreibtisch und zückte ihre Stifte und ein leeres Blatt Papier hervor. Dann begann sie mit einem sehr feinen Druckbleistift etwas zu skizzieren. Muse sah ihr dabei die ganze Zeit neugierig über die Schulter und meinte schon recht bald so etwas wie ein katzenartiges Wesen zu erkennen, welches aus einigen Linien, Kreisen und Ovalen allmählich entstand. Irgendwann jedoch sah Marti von ihrem Papier zu Muse auf und meinte: „Bitte, ich kann es nicht so gut leiden wenn man mir beim Zeichnen die ganze Zeit zuguckt!“ Sie sah Muse auffordernd an.

„Sorry vielmals!“ säuselte der Shinigami leicht eingeschnappt: „Ich habe nur still bewundert wie gekonnt du das kannst!“

Marti lächelte leicht. Daraufhin hob Muse nun mit ihren kräftigen Drachenschwingen vom Boden ab und schlüpfte durch Martis Zimmerdecke aus deren Wohnung hinaus. Marti war an diesem Abend noch hinreichend mit dieser Zeichnung beschäftigt. Die sollte schließlich bis morgen fertig sein, was dann gegen 3 Uhr früh auch endlich der Fall war. Gut vier Stunden hatte das Bild in Anspruch genommen, doch am Ende war Marti mit dem Ergebnis ganz zufrieden. Nur gut, dass morgen bzw. heute Wochenende war, wo sie nicht arbeiten musste...
 

Muse war wieder hinauf geglitten in jene dunkle Welt der Shinigami. Auf ihren Wegen, die sie dort entlang schwebte, stürzte ihr plötzlich ihr geschätzter Latok entgegen, was sie allerdings bereits erwartet hatte.

„Du behämmerte Drecksau!!“ schrie er sie zornig an: „Das machste nicht noch mal, klar?!“

„Wer weiß...“ grinste Muse frech. Der wütende Latok versperrte ihr den Weg und hielt sie dabei sogar ziemlich wüst an ihren Oberarmen fest, doch Muse schüttelte ihn gekonnt mit aller Kraft von sich ab.

„Was willst du noch von mir?“ fragte sie mit einer gelangweilten, ruhigen Gestik.

„Das weißt du ganz genau! Rück’s raus!!“ zischte Latok bedrohlich, doch Muse gähnte nur unbeeindruckt.

„Was denn?“ fragte sie dann: „Wenn du dieses Heft meinst... Nun, ich besitze kein der gleiches mehr.“

„Hä?“ Latok darauf nur völlig irritiert.

„Ja, es gehört nun einem Menschen. Marti. Ich hab darauf keinen Bock mehr.“ Muse kicherte kess. Latok hielt für einen Augenblick lang inne. Er wusste einerseits, dass er das Death Note nun nicht mehr so einfach hinweg nehmen konnte, andererseits wurde ihm im selben Moment klar, welch folgenschweren Fehler Muse mit dieser Aktion begangen hatte. Er schwieg und erhielt in seinem finsteren Gesicht einen beunruhigend nervösen Eindruck.

„...Was hast du getan...?“ knurrte er leise. Seine Stimme vertiefte sich als er fassungslos fort fuhr: „Ist dir denn überhaupt nicht klar, was passiert, wenn man einem Menschen die Rechte seines Death Notes zuspricht?“

„Hm? Wieso, was denn?“ fragte Muse nun auch irritiert. Sie schien in der Tat nicht im geringsten bescheid zu wissen, worauf Latok hinaus wollte.

„Sag, war denn die Sache mit Yagami Light kein Zeichen genug dafür, wie gefährlich ein Death Note für eine menschliche Seele werden kann?“ wetterte Latok. Muse bemerkte dabei, dass er es plötzlich sogar selbst mit der Angst zu tun bekam. Mit einem Mal wurde er ziemlich zittrig und unruhig. Man sah ihm an, dass er dieses Mal keineswegs mit einem seiner Wutanfälle zu Übertreibungen neigte. Das beunruhigte nun auch Muse, doch konnte sie sich nicht echt erklären, was denn an ihrer Aktion wirklich so derart schlimm gewesen sein sollte. Sie konnte Marti vertrauen, da sie doch immerzu darauf plädierte, kein weiteres Interesse an diesem Heft zu haben...

„Marti kannst du doch nicht mit diesem Yagami vergleichen!“ wollte Muse zu einer Erklärung ansetzen, doch Latok ließ sie gar nicht weiter zu Wort kommen als er sie nur hysterisch anschrie: „Das spielt doch, verdammt noch mal, keine Rolle!!! Muse! Mit einem Death Note geht man niemals so derartig leichtfertig um! Es ist kein einfaches Heft, es ist ein Objekt der finsteren Macht und allein wir Shinigami sind in der Lage, es zu kontrollieren! Menschen hingegen haben keine Macht darüber, nein, das Death Note erhält Macht über SIE, wenn sie es erst einmal besitzen! Dann werden SIE besessen – mehr und mehr! Das Death Note übernimmt nach einer kurzen Zeit allmählich immer mehr die Kontrolle über ihr Denken und Handeln, und ich sage dir, da kommt gewiss nichts Gutes bei heraus! Ich dachte wirklich, das wüsstest du nach all dem Schlamassel...?!“

Muse geriet ins Stocken. Mit einem Mal wurde ihr ganz komisch und sie begann allmählich die Situation zu erkennen. „... oh, oh?!“

„Ja ‚oh, oh’, mehr hast du wohl nicht zu sagen, hä?!“knurrte Latok: „Aber das war klar; so was von klar bei dir... Und der Große Shiozzan und ich müssen all deine Fehlgriffe immer ausbaden, nur dass selbst wir diesmal gänzlich machtlos sind...“

„Und es gibt wirklich keinen Weg, das Ganze noch einmal rückgängig zu machen, indem ich ihr das Death Note wieder entnehme und mir die Rechte wieder auf mich zurück sprechen lasse?“ fragte Muse, die sich mittlerweile nur noch wie ein winziges Häufchen Elend vorkam und Latoks Antwort auf diese Frage am liebsten gar nicht erst gehört hätte.

„Einmal übertragen – Seele dunkel! So was lässt sich nicht mehr rein waschen und du kannst ihr das Death Note auch nicht mehr abspenstig machen, selbst wenn sie es dir anstandslos zurückgeben würde. Sie wird auf ewig an der finsteren Macht dieses Heftes gefesselt sein und ihr zugrunde liegen.“

„Dann nehme ich das Heft zumindest aus ihrer Reichweite!?“ erklärte sich Muse nun bereit und tat alles daran, ihre Reue bestens zum Ausdruck zu bringen. Doch Latok winkte nur kopfschüttelnd ab: „Kannste vergessen! Das Death Note wird seinen Weg immer zurück zu ihr finden. Da kannst es noch so bei dir versteckt bunkern. Fehlanzeige! Kalt! Aus! Finito!“

„Verbrennen?“, so ein weiterer Vorschlag Muses.

„Auf gar keinen Fall!! Das hätte zur Folge, dass sowohl diese Marti als auch du, sowie all die Menschen, die Marti ins Unglück zu ziehen gedenken wird, aufs Erbärmlichste zugrunde gehen werden. Alle Schicksale sind bereits bestehend und können nicht mehr verhindert werden. Die Zukunft ist geschrieben und nicht mehr veränderbar! Versuchen wir dies, indem wir das Heft vernichten, so hätte das Folgen gleich der Endzeit und zwar nicht nur für die Menschenwelt, sondern auch für UNSERE, liebe Muse...“

Er räusperte sie verächtlich an. „Versuch es nicht weiter... Passiert ist nun mal passiert und das war’s dann jetzt! Ich sag nur – vielen Dank!“

Muse senkte betreten ihr Haupt. Strähnen ihrer blonden, strohigen Haare verteilten sich über ihr Gesicht. Sie flüsterte verständnislos und uneinsichtig zu Latok: „Es darf doch nicht einfach so hinnehmbar sein! Irgendeine Möglichkeit muss es doch geben!! Ich scheiß auf alle eure Regeln!“

„Hach Muse“, sagte Latok nun auffallend mitleidig: „Wann wirst du endlich erwachsen und erwachst aus deiner eigenen Welt, in der du den lieben langen Tag vor dir in deinem Chaos hinlebst? Unser Totenreich war stets unbekümmert und für uns heil. Warum musst du immer kommen und für Probleme sorgen?“

Muse seufzte. Sie krampfte sich zusammen. Dann schlug sie einige Male kräftig mit ihren Drachenschwingen und hob schließlich ab. Latok ließ sie wortlos ziehen. Er musste selbst erstmal die ganze Sache verdauen, was allerdings unmöglich sein würde. Die Katastrophe hatte ihren Einstieg, der nun einmal nicht mehr aufzuhalten war. Doch die übereifrige Muse wollte es einfach nicht wahr haben und nun alles daran setzen, es doch noch zu verhindern. Ihr war es egal, was Latok ihr eben gesagt hatte; ihr war alles egal. Sie wollte einfach das Beste draus machen und lebte in der gebührend naiven Hoffnung, wirklich noch etwas verändern zu können. Von nun an würde sie durchgehend über Marti wachen – wie eine Art Schutzengel. Sie wollte sie genau im Auge behalten und ihr nicht mehr von der Seite weichen, um darüber zu wachen, ob und wie sich die Situation weiter entwickeln würde. Und wenn nötig, würde sie alles Mögliche dran setzen, eventuelle aufkommende Unregelmäßigkeiten zu verhindern. Dabei war ihr natürlich alles andere als wohl, denn sie hatte ja überhaupt keine Ahnung, was sie wirklich noch erwarten würde...
 

Gegen 9 Uhr morgens des 09. Oktobers 2005, Samstag, schlug Marti ihre Augen auf. Sie hatte zum ersten Mal seit einer Ewigkeit einen richtig guten Schlaf genossen. Es war ein so ungewohnt neues Gefühl plötzlich ganz ohne Akiba zu sein; sie konnte es selbst kaum glauben. Sie fühlte sich wie ein völlig neuer Mensch. Sie verspürte Euphorie, Ungebundenheit, Erlösung und vollkommene Zufriedenheit; all das, was ihr seit Jahren verwehrt worden war und sie sich in ihrem Leben nie mehr hätte vorstellen können. Dabei hätte sie normalerweise noch immer in so was wie einem Schockzustand sein sollen, doch davon war hier weit und breit keine Spur mehr. Jene negativen Gefühle und Gewissensbisse, die sie gestern noch mit sich rum getragen hatte, waren nun mehr wie weg geblasen und sie hätte es selbst nicht für möglich gehalten. Sie seufzte fröhlich als sie plötzlich Muse auf ihrem Kleiderschrank entdeckte, wie diese dort oben in der Ecke der Zimmerwand ziemlich eng eingepfercht hockte. Sie kauerte dort und schien leicht zu dösen.

„Muse? Du wieder hier? Hab dich gar nicht bemerkt!“ rief Marti gut gelaunt. Nun fuhr Muses Kopf hoch; ihre dunkelgläserne Brille saß ihr etwas schief auf ihrer kleinen Nase, was einen hauchdünnen, hellblauen Schein, ausgehend von ihrer Augenhöhlen, zuließ. Sogleich rückte sie ihre Brille wieder gerade, streckte sich einmal herzhaft und flatterte dann zu Marti herunter. Aufmerksam betrachtete sie ihren neu erkorenen „Schützling“ von allen Seiten. Sie tastete sie abwechselnd ihre Hände, Füße, Beine, Hüften, Schultern und ihr Gesicht sorgfältig ab. Dabei starrte sie ihr erschreckend tief in ihre Augen. Marti sah Muse darauf nur schief an und rümpfte skeptisch die Nase: „Was machst’e denn da? Is’ irgendwas?“

„Hm, bisher siehst’e mir noch nicht nach einem Dämon der Hölle oder dergleichen aus, schön!“ stellte Muse mit Erleichterung fest.

„Ähm, danke, für dieses... Kompliment!?“ Marti verstand natürlich überhaupt nichts.

„Jedenfalls freut's mich, dass es dir noch gut zu gehen scheint!“ lachte Muse sichtlich erfreut.

„Hast du mir gestern irgendwas ins Essen gemischt oder warum bist du so...?“

„Ne, ne, schon gut! Alles ist bestens! Marti, was für ein schöner Tag es doch heute ist, oder?!“ versuchte Muse nun mühevoll abzulenken: „Und wir wollten doch, wenn ich mich nicht irre, zu deinem Typen, damit du zu ihm ja schön menschlich lieb sein kannst, ohne ihn töten zu wollen, oder?!“ Nun zog Marti eine gänzlich schiefe Miene.

„Äh, Muse? Hallo? geht’s dir nicht gut, oder so? Was laberst du für einen Stuss?“

Diese überaus seltsame Art machte sie natürlich mehr als skeptisch. Irgendetwas schien den Shinigami zu bedrücken, das merkte Marti sehr wohl.

„Ach, wieso? Mir geht es doch bestens. Ähm, dir doch auch, oder!?“ Muse lächelte äußerst gequält. Es war keineswegs zu verbergen, wie gestellt dieses war. Dann fuhr sie fort: „Und weißt du was? Ich habe mich entschieden, dir künftig noch etwas mehr Gesellschaft zu leisten als bisher, weil... na ja, weil ich eben gern mit dir abhänge! Joa!“

Marti zog eine Augenbraue hoch. Sie konnte nicht so recht glauben, dass Muse da nicht irgendetwas zu verbergen hatte. Jedoch fühlte sie sich so ziemlich im Klaren, dass es wohl momentan nicht viel bringen würde, sie näher darüber auszufragen. So wollte Marti nun auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. Einem, dem sie ziemlich viel Bedeutung beimaß. Sie wendete sich um Richtung Schreibtisch und wies auf ihr neues Bild, welches sie Muse nun stolz präsentierte.

„Sieh mal, das kriegt er von mir!“ Muse blickte einem A4-formatigen Bildchen entgegen, welches eine braunfellige Katzenlady zeigte, die einem grauen, schwer verstruwwelten Kater mit dem Kopf eine zärtliche Liebkosung verpasste. Beide waren umgeben von bunten Sternchen, Blüten und klitzekleinen Herzchen. Die Farbgebung hatte dabei stets einen purpurnen Charakter. Die beiden Kätzchen selbst waren in dem in Japan sehr verbreiteten und geschätzten „Chibi-Stil“ gezeichnet; einem Zeichenstil, der mit Hilfe von extragroßen Köpfen und Augen als besonders niedlich galt, während die restlichen Körper oftmals stilisiert klein ausfielen. Muse war von diesem Bild jedenfalls beeindruckt. Wenn auch Shinigami für solche Dinge nicht wirklich was übrig hatten, so war sie dennoch fasziniert von dem, was ein einzelner Mensch an Ausdruck und Lebendigkeit auf einem einzigen Stück Papier erzeugen konnte.

„Herrlich, Marti!“ lobte sie und konnte ihren Blick kaum von dem Bild lassen, was Marti sehr erfreute, denn sie war immer glücklich, wenn andere ihre künstlerischen Ergüsse als 'gut' bezeichneten.

„Da wird sich dein Typ ganz bestimmt freuen!“ grinste Muse.
 

Am frühen Nachmittag führte Muse Marti zu jenem großen Anwesen des mysteriösen L Lawliet. Marti war die ganze Zeit schon sehr aufgeregt, was sich anhand von stetigen gut aufgelegten Bemerkungen stark bemerkbar machte. Diesmal war Muse all das nur recht, denn sie war über jede Gestik Seitens von Marti erleichtert, die darauf schließen ließ, dass ihre Seele noch nicht verflucht zu sein schien, wie es Latok ja leider voraus prophezeite. Das Wetter war für einen herbstlichen Tag im Oktober angenehm warm. Auf den Straßen sammelten sich die herabgefallenen bräunlichen Blätter der Bäume, die in so manchen Straßen in ganzen Reihen eine Allee bildeten. Alles bot in Verbindung mit dem herbstlichen Laub auf den Straßen ein harmonisches Bild, geprägt von der wärmenden Sonne, die zwischen einpaar leichten Wolken die Straßen erfüllte. Sie hauchte das komplette Umfeld in einen goldenen Braunton, was dem Begriff des „Goldenen Herbstes“ sehr gerecht wurde. Diesem zu Ehren sollte in dieser Stadt auch ab der folgenden Woche ein großes Herbst-Festival stattfinden; 'Für die bunte Vielfalt des Herbstes und dem glücklichen Abschied von dem Sommer', so hieß es. Auf dieses Fest freute Marti sich schon seit Wochen...

Der Weg zu Ls Anwesen war nicht allzu weit. Muse hatte keinerlei Schwierigkeiten damit, ihn wiederzufinden. Im Nu hatten beide die letzte lange Straße erreicht, die nun pfeilgrade auf die Villa zuführte. Mit jedem Schritt wurde Marti nervöser. Sie war erfüllt von unstillbarer Vorfreude und Aufregung.

Die Villa war rund herum geziert mit einer kleinen Grünfläche, die einen großen Kontrast zu dem Betongrund bot, der in diese vom Wege aus überleitete. Einpaar Zierbäume waren ebenfalls dort. Allerdings wirkte alles reichlich ungepflegt und düster. Es schienen bereits seit vielen Monaten keine gärtnerischen Aktivitäten mehr statt gefunden zu haben, wenn nicht sogar seit Jahren. Unkraut machte sich an den kalten, dreckigen Gemäuern breit, Efeu wuchs von den Dächern und baumelte mittlerweile auch schon verblüht über sämtliche Fenster und Mauern des großen Anwesens hinweg. Alles wirkte hier so uneinladend, verbittert und leblos. Da konnte selbst das sonnige Herbstwetter nicht viel ausrichten. Marti wunderte sich über diesen Anblick schon ziemlich und konnte sich nun nicht so recht vorstellen, dass dieser seltsame Kerl tatsächlich hier ganz allein leben sollte.

Langsam schritt sie auf die breite Eingangstür zu, auf die eine ebenso große Treppe zuführte. Oberhalb dieser Türe waren zu beiden Seiten je eine Überwachungskamera angebracht. Auch an der Sprechanlage über der Klingel mit dem Namensschild „W a t a r i“, geschrieben in einer edlen Schreibschrift, schien eine solche Kamera montiert worden zu sein. Marti klingelte einmal vorsichtig an und wartete nun ab. Ihr Bild hielt sie dabei säuberlich eingerollt in ihrer rechten Hand. Nachdem nach gut 30 Sekunden keine Regung in Sicht- oder Hörweite war, klingelte sie erneut, doch es blieb auch nach weiteren 30 Sekunden des Abwartens alles ruhig als stünde diese Villa absolut leer.

„Ähm, Muse?“ sagte darauf Marti: „Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“

„Warte, das haben wir gleich!“ antwortete Muse und flatterte einfach durch die Tür hindurch in das Anwesen hinein. Marti blieb davor weiterhin stehen und wollte sich schon darauf einstellen, vermutlich ein anderes Mal wiederkommen zu müssen. Da kam Muse plötzlich sehr eifrig wieder durch die Tür zum Vorschein.

„Der ist aber da!“ rief sie sichtlich aufgebracht: „Er sitzt aber reichlich abstinent zusammen gekauert in seinem Sessel! Also, entweder ist der von seinem ganzen Fresskram mittlerweile dermaßen high geworden, dass er gar nichts mehr mitbekommt, oder aber er will einfach nichts mitbekommen!“

„Was, sag bloß!?!?“ Marti sah Muse nur ungläubig an. Sie spürte in diesem Moment ein aufkommendes Gefühl der Enttäuschung in sich. Sie fragte sich, was dies zu bedeuten hatte und war wieder drauf und dran, es sogar persönlich zu nehmen. Ihr Selbstwertgefühl war krank und schwach und sie hatte nun den Eindruck, als könnte dieser jemand vielleicht ja damit gerechnet haben, dass sie ihn aufsuchen würde, weswegen er sich bewusst dagegen vergrub. Natürlich war dies ziemlich weit her geholt, aber so dachte Marti zu oft.

„Was willst du jetzt tun?“ fragte Muse direkt. Marti atmete tief durch – dann ging ihr eben noch so verdutztes Gesicht in eine entschlossene Miene über. Auf einmal schien so etwas wie ein Kampfgeist in ihr aufzusteigen als sie dem Shinigami gereizt antwortete: „Was will ich schon machen? Natürlich Sturm klingeln!!“

Und sie drückte wie von Sinnen auf der Klingel herum – ganz schnell hintereinander und das durchweg gute 5 Minuten lang. Sie versuchte dabei auch schon so manche Melodie auf dieser Klingel zu „spielen“, schlichtweg einfach, weil sie immer mehr in Rage geriet. Doch zu dem gewünschten Ergebnis führte auch das nicht. Dennoch wollte sie nicht aufgeben. Sie trommelte wild und mit vereinten Kräften gegen die Tür, worauf sie lauthals rief: „Ich weiß, dass du da bist! Was soll das Ganze?? So mach gefälligst auf!“

Alles blieb still. Langsam schwindete Martis Energie. Sie seufzte erschöpft. Muse schwebte die ganze Zeit über stillschweigend hinter ihr und hatte alles passiv beobachtet. Nun aber glitt sie näher an Marti heran und meinte: „Der Kerl ist ein Fall für sich! Du solltest deine Energie besser nicht länger an ihm verschwenden, Marti!“

Marti schnaubte: „Ich frage mich nur, warum der dann gestern überhaupt noch mal bei mir aufgekreuzt war. Sein verfluchtes Körbchen hätte sich der doch ruhig schenken können, wenn er allenernstes glaubt, hier den arroganten Arschkerl raushängen lassen zu müssen!!“

Mit diesen Worten stampfte sie wütend von dem Grundstück davon, durch die Stadt bis zu ihrer Wohnung zurück. Dabei flatterte Muse noch nervös um sie herum, denn mit einem Mal ahnte sie nichts Gutes mehr: „Hey, hey! Ich kann die Haustüre doch auch öffnen, indem ich wieder hindurch gleite und sie dir von innen öffne! Dann regelt ihr beide das wie Erwachsene!“

Doch Marti ignorierte sie völlig. Wie in Trance marschierte sie bis zu ihrer Wohnungstür und schloss diese energisch auf. Drinnen angelangt begab sie sich in ihr Zimmer, auf dessen Schreibtisch jener „vermeintlich nett gemeinter“ Geschenkekorb platziert war. Bisher hatte Marti von dessem Inhalt noch nichts angerührt, denn bei Geschenken hielt sie sich erstmal immer noch eine ganze Zeit zurück, um sie erfreut auf sich wirken zu lassen, ehe sie sich an deren Nutzen bediente. Doch von ihrer Freude war nun nicht mehr das Geringste übrig geblieben. Eilig schnappte sie ihn sich und lief schnurstracks im üppigen Tempo zurück zu seiner „protzig-tollen Niederlassung“. Muse folgte ihr immer noch und sah bereits Schlimmstes kommen.

„Das ist garantiert irgend so ein feiner Kerl mit reichen Eltern, der sich für, weiß Gott, wen hält und meint, ihm würde es ja so mies gehen, damit ihn auch ja alle Welt voller Mitleid auf Händen trägt! Aber dem wird sein Verhalten schon ordentlich vergehen!!“ zischte Marti den Weg über vor sich hin. Sie war derart zornig, dass sie sich nahezu selbst vergaß. Sie schunkelte den Korb, den sie an dessen Griff hielt, dermaßen kräftig hin und her, dass beinahe schon sein ganzer Inhalt hinaus zu poltern drohte.

„Jetzt mach doch mal halblang, Marti!“ bat Muse bereits zutiefst besorgt. Sie hatte das Gefühl, als wäre dies wahrscheinlich ein erstes Anzeichen für jene Wandlung, die ihr Latok vorhin noch prophezeit hatte. Zumindest konnte sie sich einen derartigen Ausraster bei Martis vermeintlichem Charakter gar nicht so recht vorstellen oder sollte sie sich nun doch geirrt haben? Jedenfalls behagte ihr die Situation überhaupt nicht.

„Muse, halte du dich da gefälligst raus!!“ schrie Marti sie energisch an. Bald war sie in die letzte Straße vor Ls Anwesen eingebogen. Muse blieb kurz stehen, hielt es dann aber für angebracht, Marti weiterhin zu folgen. „Nein, Marti!!“ rief sie ihr nach.

„Doch!!“ antwortete diese ihr wüst entgegen und eiferte nun direkt das letzte Stück bis zu der Villa. Sie musterte noch ein letztes Mal die Eingangstür, dann lief sie zu der linken Seitenfassade, zu welcher sich in zwei Reihen je vier üppige Fenster erstreckten.

„Muse! In welchem der Räume hält sich der Fatzke grad auf?“ fragte Marti ohne ihren Blick von den Fenstern zu lassen.

„Es müssten die äußersten zwei von rechts der unteren Reihe sein.“ antwortete Muse entnervt. Da nahm Marti eins der Muffins aus dem Körbchen und schleuderte es wutentbrannt gegen die Fensterscheibe des vierten unteren Fensters. Sie trief dieses ziemlich genau und warf sogleich die nächsten Muffins nacheinander mit aller Kraft dagegen. Jeder von ihnen hinterließ, aufgrund der klebrigen Fettglasur, einen scheußlichen Fleck an der Scheibe. Die guten Teile zersprangen aufgrund dieser enormen Wucht, mit der Marti sie dagegen schleuderte, sofort in sämtliche klebrige Häppchen. Dann nahm Marti einige der Tafeln Schokolade, die der Korb ebenfalls enthielt, und schlug auch diese nacheinander gegen das Fenster. In diesem Fall war der Aufprall einiges lauter, aufgrund ihrer härteren Beschaffenheit.

„Deine gestellten Heuchler-Almosen kriegste hiermit wieder zurück, du elende Pfeife! Dass du's nur weißt!!“ tobte Marti.

„Mensch, Marti!“ warf Muse erneut ein: „Jetzt lass doch bitte endlich gut sein!“

„Nein, dem zeige ich, was ich von seiner Undankbarkeit halte! Ich hasse solche Kerle wie ihn!!“ schimpfte Marti bloß und nahm einpaar Donuts, die sie daraufhin ebenfalls gegen das mittlerweile stark verschmierte Fenster polterte. Einige blieben sogar dran kleben. Der Korb war nun leer und Marti ballerte schließlich auch diesen mit gehobenen Kräften gegen das Fenster als sich dieses plötzlich ganz überraschend öffnete, während der Korb auf die Dachrinne fiel und darin seinen Halt fand.

„Was bitte ist denn... hier los?“ rief ein völlig übermüdet dreinblickender L, der verdutzt und sichtlich genervt aus dem Fenster lugte.

Da schlug Martis unbändigende Wut auf einmal, so als wenn überhaupt nichts gewesen wäre, wieder in ein fröhliches, unbekümmerte Lächeln um, welches sie L nun direkt entgegen brachte und ihm ein euphorisches Winken schenkte: „Hi du! Vielen Dank für deinen Geschenkekorb! Schön, dass du doch da bist!!“

L starrte sie nur ganz entgeistert an und schaute sich daraufhin sein Fenster, mitsamt allen daran verteilten Essensresten an, die sich um sein ganzes Fenster bis runter zur Dachrinne hin breit gemacht hatten. Ihm sah eine regelrechte Verwüstung entgegen und er verstand zuerst rein gar nichts. Als er sich die einzelnen Stücke allerdings genauer betrachtete und unter dem Fenster dann auch noch jenen Korb entdeckte, den er ganz klar als seinen wieder erkannte, machte sich leichtes Entsetzen in ihm breit.

„Was soll denn das??“ rief er entrüstet zu Marti hinunter. Diese grinste jedoch nur über beide Wangen und fragte ihn gut gelaunt: „Machst du mir jetzt auf? Bitte, bitte, bitte!“

„Nach dieser 'netten' Aktion sicher nicht.“ gab L nur beleidigt zurück: „Was bitte ist in Sie gefahren? Und überhaupt, woher wissen Sie eigentlich, wo ich wohne, hm??“ Er wollte grad von seinem Fenster wegtreten, um es wieder zu schließen, da rief Marti ihm energisch zu: „Sorry, aber das hast du dir selbst zu zuschreiben, wenn du mich so frech abwimmelst!“ Mit diesen Worten streckte sie ihm eingeschnappt und mit verschränkten Armen die Zunge raus. Da hielt L inne. Er hatte bereit den Fensterladen griffbereit, um dieses zu schließen, doch irgendwas hielt ihn, es doch noch nicht zu tun. Er fühlte sich in diesem Moment schlichtweg verloren und überrumpelt. Er wusste nicht recht, was er jetzt tun sollte. Ohnehin war es ihm ein großes Rätsel, was diese Person denn immer noch groß von ihm wollte... Letztlich sah er Marti nur mit müdem Blick an. Dann fragte diese nun wieder etwas ruhiger: „Bitte, darf ich nicht wenigstens für einpaar Minuten mal eben reinkommen? Bitte! Ich habe doch extra was für dich...!“

Mit diesen Worten zückte sie ihr Bild hervor, welches sie aus lauter Frust vorhin ganz unachtsam in ihre Jackentasche zerknittert hatte. Es war nun gewiss kein allzu schöner Anblick mehr; zumindest wenn man es sich aus der Ferne betrachtete.

L seufzte: „Hach! Meinetwegen... Aber wirklich ganz kurz! Ich habe nicht viel Zeit und ehrlich gesagt auch keinen Nerv für irgendwas...“

Jubelnd eiferte Marti zu der Eingangstür und siehe da, L drückte den Entriegler. Sie trat ein. Sogleich stand sie in einem großen Saal, an dessen Wänden einige Gemälde und auch Fotos von einpaar Kindern angebracht waren. Marti schaute sich interessiert um als sie von dort aus gleich durch einen Korridor lief. Zu dessen linker Seite war eine zweispurige Tür, in dieser L merkbar desinteressiert stand. Seine Haltung war äußerst gekrümmt und er hielt seinen Kopf gesenkt. Er machte einen leichten Buckel. Beide Hände hielt er dabei in den Taschen seiner schlabberigen Jeans gesteckt. Sein Blick war teilnahmslos zu Boden gerichtet. Dabei hingen ihm einige Strähnen seiner unordentlichen, durcheinander geratenen Haare in seinem Gesicht und verdeckten es regelrecht. Seine nackten Füße hatte er leicht überkreuzt während er sich an den Türrahmen lehnte, Dabei kratzte er sich mit dem einen Fuß an seinem Bein.

Marti fiel in diesem Moment nur eins ein: Noch nie zuvor hatte sie einen dermaßen unzivilisiert wirkenden Menschen erlebt. Jedoch ließ sie sich von diesem Gedanken nichts anmerken und tat ihr Bestes, weiterhin erfreut und glücklich rüber zu kommen. Sie wollte L die Hand reichen: „Hallo! Ich glaube, ich hatte mich dir gar nicht vorgestellt als du bei mir warst. Ging ja auch alles so entsetzlich schnell, nicht wahr?! Ich bin jedenfalls Martina Sakamoto; doch alle nennen mich Marti, also nenn mich ruhig auch so!“

L reagierte auf Martis ausgestreckte Hand nicht. Er ließ beide Hände weiterhin in seinen Hosentaschen vergraben und schaute nur äußerst spärlicg aus einem Augenwinkel zu Marti auf.

„Schön, und was wollen Sie von mir?“ hauchte er mit leiser Stimme nur passiv. Marti verstummte nun doch. Ihr wurde mit einem Mal etwas unwohl, weiter zu reden wenn ihr Gegenüber von einer solchen Gleichgültigkeit geprägt war. Ihr aufgeregtes Lächeln schwand ihr nun gänzlich aus ihrem Gesicht.

„Naja...“ machte sie nur und wusste nicht recht, wie sie die Sache nun weiter angehen sollte. Muse war natürlich wieder die ganze Zeit an ihrer Seite und beobachtete alles, wie immer, still und passiv. Dann endlich brachte Marti schüchtern hervor: „Ich wollte mich halt auch bei dir nochmal für den hübschen Korb bedanken! Ich fand es irgendwie... sehr lieb von dir!“

„Aha, wirklich komische Geste des Dankens, ihn mir derart unbeherrscht gegen mein Fenster zu schleudern...“ Ls Stimme war ein leicht verächtliches Fauchen zu entnehmen.

Marti bekam mit, wie er zwischen seinen etlichen Haarsträhnen, die ihm in seinem Gesicht hingen, nur die Augen verdrehte.

„Ich war halt wütend!!“ rechtfertigte sie sich: „Aber ich habe die Überraschung für dich dabei, mit der ich mich eigentlich bei dir bedanken wollte...“

Erst hielt sie beschämt ihr immer noch zerknittertes Bild versteckt in ihrer Jackentasche. L jedoch schaute Marti nun auf einmal doch mit einem Hauch von Neugier an als er seinen Kopf zu ihr aufrichtete und sie nun erwartungsvoll anblickte. Diese grinste etwas gequält und meinte dann: „Nun ja, so was Tolles ist es zwar nicht und ich bezweifel auch stark, dass es überhaupt deinem Interessensgebiet entspricht, aber... Hach, hier halt!“

Und sie hielt ihm das Bild mit den zwei harmonisch ineinander verknuddelten Katzen entgegen, wenn auch dieses immer noch recht zerknittert war. Nun wurden Ls Augen sichtlich größer. Mit einem Mal richtete er sich von dem Türrahmen auf und trat näher an Marti heran. Er nahm ihr schweigend das Bild ab und betrachtete es eindringlich, wobei er es untypisch an seinen zwei oberen Ecken festhielt, dass es lose von seinen Händen herab hing; praktisch als würde er ein Stück Wäsche halten. Marti verwunderte dies schon etwas, doch sie war in diesem Augenblick einfach zu aufgeregt, um sich damit näher zu befassen. Ihr Puls ging mit einem Mal seltsam schnell.

L betrachtete sich das Bild sehr genau. Mal zig er es näher an sein Gesicht heran, um sich scheinbar auch die winzigsten Einzelheiten genauer anzuschauen, dann entfernte er es wieder etwas mehr davon und drehte es ein wenig schräger abwechselnd in die eine und andere Richtung. Dann zog er eine Augenbraue hoch bis tatsächlich ein ganz leichtes Lächeln über seinen Mund glitt.

„Hm, hm, wunderschön! D-das hast du ge-zeichnet?“ stockte er nun leise. Zum ersten Mal hatte er sie geduzt! Ganz plötzlich!

Marti schmunzelte sehr verlegen.: „Ja! Nur für dich...“ Plötzlich spürte sie wie ihr auf einmal der Kopf glühte. Offensichtlich war sie ein wenig rot geworden. Oh nein, dachte sie und wendete ihren Blick eilig von L weg, damit er auch ja nichts davon mitkriegen würde. Muse kicherte amüsiert. L hingegen war weiterhin gänzlich auf das Bild fixiert. DAS Geschenk für ihn – NUR für ihn! Er schüttelte berührt den Kopf als könnte er es kaum fassen.

„Hm, danke!“ wisperte er: „Das ist echt sehr hübsch! Ich glaube, das hänge ich mir an meinen Schreibtisch!“

„Im ernst?“ Marti wollte diesen plötzlichen Wandel erst gar nicht glauben.

„Sicher. Du hast Talent! Und dann noch für mich...“ L schien sich wirklich sehr zu freuen, wenn auch sein tristes, blasses Gesicht kaum eine Emotion zuließ. Innerlich jedoch berührte es ihn zutiefst, dass irgendjemand so an ihn gedacht hatte, dass er ihm ein solches mit viel Herz und Mühe entstandenes Geschenk machte. Mit einem Mal war ein Teil seiner inneren verbitterten Kälte gegenüber seinen Mitmenschen etwas angetaut. Er merkte, dass er scheinbar doch jemandem irgendwas bedeutete und dass dies nicht nur von Mitleid, aufgrund seines Zusammenbruchs, geprägt sein konnte. Dieses Bild sprach Bände. Es tat ihm unweigerlich gut, auch wenn es ihm nach wie vor überhaupt nicht behagte, zu irgendeinem Menschen plötzlich einen Kontakt hergestellt zu haben. Doch anscheinend konnte und wollte diese äußerst temperamentvolle und scheinbar doch so feinfühlige junge Frau einfach nicht locker lassen, wofür er ihr nun sogar in gewisser Weise dankbar war.

Er ließ seinen Blick immer noch nicht von dem Bild. Marti wurde innerlich immer unruhiger. Sie erfreute es sehr, dass er sich dermaßen über ihr Geschenk freuen konnte. Das hätte sie wirklich nicht mehr erwartet, nach alledem, was eben noch gewesen war...

L nickte ehe sich seine dunklen Augen wieder Marti widmeten: „Danke nochmal! Du hast mir damit eine schöne Freude gemacht.“

„Nicht der Rede wert! Gern geschehen!“ lächelte Marti erleichtert; dabei fiel ihr schwer, seinen Blick ebenso tief zu erwidern, denn sie merkte, wie sie das immer nervöser machte. Dem ganzen wurde noch die Krone aufgesetzt als L plötzlich ihre Hand nahm und diese dankend schüttelte. Wieder stieg ihr die Röte ins Gesicht und ihr Herz wurde unkontrolliert schnell.

„Ich bin Ryuzaki.“ stellte L sich nun vor: „Du heißt also Marti?“

„J-ja!“ brachte Marti nur völlig verlegen hervor. Muse hingegen wurde in diesem Moment hellhörig: „Was? Ryuzaki? Warum lügt der Kerl sie denn so dreckig an? Das ist doch keineswegs sein richtiger Name!?!“

Marti kicherte: „Tut mir übrigens leid, das mit dem Fenster und dem Korb...“

„Schon okay. Ich mache mir aus so was nichts weiter... Willst... du noch 'nen Kaffee?“

„Kaffee? Und ob!!“ triumphierte Marti überglücklich, wo sie sich doch zu den leidenschaftlichen Kaffeetrinkern zählte. So gingen beide nun durch die zweispurige Tür in Ls Wohnzimmer hinein, wo dieser Marti sogleich einen Platz auf seiner Couch anbot, die sich als äußerst gemütlich und weich entpuppte. Während L daraufhin rasch in die Küche lief, um für Kaffee zu sorgen, musterte Marti derweil das große geräumige Wohnzimmer. Alles war hier äußerst ordentlich eingerichtet und es gab nicht, was hier nicht hingehörte oder irgendwie falsch platziert war. Die Fenster waren groß und hochkant. Marti fiel dabei auch jenes Fenster gleich in den Blick, an dem noch immer die vielen Schmutzflecken ihrer vorherigen Wutattacken pappten. Dieses befand sich nun links von ihrem Standpunkt aus.

Bald kam L zurück mit einem silbernen Tablett, auf dem zwei vor sich hin dampfende Kaffeetassen standen, neben denen ferner noch ein Döschen voll mit Würfelzucker und eine kleine Kanne mit Kondenzmilch platziert waren. Er stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab und schob Marti eine der Tassen zu. Dann nahm er sich seine und setzte sich damit in seinen Sessel, der parallel zu der Couch platziert war. Wieder setzte er seine Füße in dem Sessel auf und winkelte seine Beine bis zu seiner Brust an. Wieder war Marti etwas irritiert, wollte es sich aber auch weiterhin ja nicht anmerken lassen. So nahm sie ihren ersten genüsslichen Schluck von ihrem Kaffee, den sie bevorzugt schwarz trank. Nun war L es, der sie völlig perplex anstarrte.

„Du trinkst ihn schwarz??“ fragte er ganz aufgebracht.

„Klar, trink ich so schon seit Ewigkeiten...“ antwortete Marti locker.

„I-gitt...“, so L darauf. Nun öffnete er das Döschen mit dem Würfelzucker und nahm gleich eine ganze Hand voll davon heraus, worauf er sie alle zugleich in seinen Kaffee fallen ließ. Dabei kleckerte er ein wenig ungeniert, was dabei einfach vorhersehbar war. Doch anscheinend war ihm das noch nicht genug und er nahm sich nochmal eine ganze Hand voll und schüttete sie alle in seinen Kaffee hinein. Mit einem kleinen Löffelchen rührte er nun in seiner Tasse herum; zumindest versuchte er es, denn durch die vielen Würfel, die niemals alle zugleich in dem Kaffee zergehen konnten, da sie sich bis oben hin füllten, war dies gar nicht mal so leicht. Marti rümpfte nur angewidert die Nase.

„Sag mal, hast du keinen Geschmacksinn?? Das sind mindestens an die 15 Stück...!?“

Doch L nahm völlig unbekümmert die Tasse hoch und einen ersten intensiven Schluck.

„Hm, ich weiß.“ sagte er: „Eigentlich noch etwas zu wenig...“

Und er fügte nochmal drei weitere Würfel hinzu. Marti konnte es sich nicht verkneifen, sich einmal kurz zu schütteln. So was hatte sie nun wirklich noch nie erlebt. Er erschien ihr von Mal zu Mal schräger...

„Ich bin halt verwöhnt.“ meinte L entspannt und schlürfte ungeniert laut an seiner Tasse. Dann ließ er von ihr und schaute wieder zu Marti hinüber als er nun fragte: „Also Marti, warum bist du überhaupt hier? War es wirklich nur wegen des Bildes? Und wie hast du eigentlich hierher gefunden?“

„Nennen wir es Schicksal!“ antwortete Marti und lächelte kess: „Ich für meinen Teil bin jedenfalls froh, dass wir uns begegnet sind.“

L schwieg daraufhin nur. Er sah Marti unentwegt mit großen Augen an ohne jegliche emotionale Regung in seinem Gesicht. Marti erwiderte seinen Blick beschämt und musterte ihn insgeheim ebenso neugierig. Beide wussten in diesem Moment nicht, was sie von dem anderen halten sollten …

Entfesselt

L schlürfte seinen Kaffee; Marti tat dasselbe. Beide schwiegen sich immer noch an. Mal wendeten sie abwechselnd ihren Blick voneinander ab und musterten diverse Sachen im Zimmer. Ab und zu schauten sie aus dem Fenster, welches ihnen einen herrlichen Ausblick auf das malerisch schöne goldene Herbstwetter bot. Dann nippten sie erneut an ihren Kaffeetassen. Irgendwann fragte L dann plötzlich: „Hm, Kekse?“

Und ehe Marti überhaupt antworten konnte schritt er auch schon zu seinem Abstelltisch, öffnete dessen integrierte Schublade und holte einpaar Schokotaler heraus, die sich in einer Plastikdose befanden.

„Ich hoffe, diese Sorte magst du überhaupt!?“ sagte L skeptisch als er sich mit den Keksen im Schlepptau wieder in seinen Sessel zurück hockte und Marti drei davon überreichte.

„Und ob!! Ich danke dir!“ rief Marti fröhlich: „Nichts ist doch schöner als diese Schokokekse genüsslich in den Kaffee zu tunken und zu sehen, wie sich blitzschnell die Schokolade vom Keks löst, was dem Kaffee obendrein eine besonders leckere neue Note verleiht. Kaffee in Verbindung mit Schokolade schmeckt einfach nur traumhaft; fast schon wie süße Milch, find ich!“ Sie kicherte aufgeweckt.

Ls Augen wurden daraufhin sichtlich größer. Seine Miene blieb ernst als er ihr antwortete: „Ich hätte es nicht treffender beschreiben können.“

Martis Grinsen konnte ihrem Gesicht einfach nicht entweichen. Sie tauchte ihren ersten Schokotaler in ihren Kaffee hinein. Die Glasur begann sogleich sich zu verflüssigen und in den Kaffee überzulaufen. Mit Genuss biss Marti das angefeuchtete, aufgeweichte Stück des Kekses ab, wobei ihr ein Stückchen versehentlich abhanden kam und auf ihrem Oberteil landete. Das passierte ihr bei solchen Aktionen leider öfter schon mal. L ließ aus dem Mundwinkel heraus ein leichtes Lächeln zu, was Marti sogleich bemerkte und ihn nur beschämt angrinste. Ls Miene wurde schnell wieder zu seiner typisch Ernsten. Er seufzte. Doch Marti gab so schnell nicht auf. Sie wollte mit ihm das Gespräch suchen und war nun im Begriff, ein solches anzukurbeln: „Nun Ryuzaki, was machst du eigentlich so?“

Mit ruhiger, reichlich emotionsloser Stimme antwortete L: „Ich? Nun, ich studiere an der Uni. Zum Glück sind grad Semesterferien, so dass ich auch mal wieder ein bisschen mehr Zeit für mich selbst nutzen kann. Die brauche ich auch mal...!“

Muse rümpfte wieder skeptisch die Nase. Irgendwas gefiel ihr an ihm und dem, was er sagte, überhaupt nicht. Hing es entweder mit seinem nahe stehenden Tod zusammen, dass er Marti hier scheinbar bloß Geschichten erzählte? Muse jedenfalls hatte es schlichtweg im Gefühl, dass er ihr keineswegs die Wahrheit sagte, wenn auch sie von ihm bislang sonst nie etwas wissen konnte, aber es war ihr schon allein optisch direkt ziemlich klar, dass er nie im Leben ein einfacher Student sein konnte, der momentan einfach seine Ferien genoss. Sie machte sich ihre Gedanken...

„Aha?“ antwortete Marti interessiert: „Welches Semester denn und mit welchem Schwerpunkt?“

„Nach was sehe ich denn für dich aus?“ fragte L mit einem Hauch von Ironie in seiner Stimme. Marti grübelte munter. Sie fasste sich dabei nachdenklich ans Kinn: „Hmm, hmm... Kunst? Ganz sicher doch Kunst, nehme ich an, hm!?!“

„Warum?“ löcherte L sie direkt: „Hab ich etwas so Künstlerisches an mir?“

„Dich hat meine Zeichnung vorhin sofort interessiert, du hast einen eigenartigen Stil an dir, bist scheinbar auch eher der ruhigere Typ... Wie wir Künstler nun mal so ticken!“

„Aha. Nette Interpretation. Vielleicht auch gar nicht so verkehrt...“ hauchte L mit einem geheimnisvollen Unterton.

„Lieg ich denn richtig?“ fragte Marti nun erwartungsvoll.

„Nicht ganz, aber du könntest auf der richtigen Spur sein...“ Er zwinkerte bissig.

Marti wurde leicht aufgeregt: „Grrr, Ratespielchen sind fies!“

„Nicht unbedingt“, entgegnete L: „Manchmal liegt die Lösung näher als man glaubt.“

„Hmm, dann bestimmt Literatur!?“ riet Marti, doch L schüttelte den Kopf.

„Wie wär’s dann mit Geschichte? Kunstgeschichte wahrscheinlich, hm!?“ – L ließ ein leichtes, wenn auch bissiges Lächeln zu, worauf er auch diese Annahme Martis verneinte.

„Menno, hab keinen Bock mehr!“ gab sie schließlich auf.

„Du scheinst mir nicht gerade eine Kämpfernatur zu sein, wie?!“ belächelte L sie ein wenig: „Na, dann spann ich dich mal nicht weiter auf die Folter: Naturwissenschaft im zweiten Semester!“

Muses starrer Blick verfinsterte sich noch mehr. Sie schien jede einzelne Lüge wahrlich wie einen Stich zu fühlen. Allmählich machte sich in ihr großes Entsetzen breit und sie neigte immer mehr dazu, Marti irgendwie zur Seite zu lotsen, um sie vor diesem überaus komischen Kerl zu warnen. Dennoch tat sie es nicht, sondern wartete erstmal noch ab.

„Oha, nicht schlecht!“ lachte Marti: „Und, spannend?“

„Wie man’s eben so nimmt...“ gab L müde zurück: „Für jemanden wie dich wäre es wahrscheinlich nichts!“

„Was, wieso?“ Marti sah L nun entsetzt an. Sie hatte schon wieder sogleich die groben Befürchtungen, dass L sie vielleicht, wie so vermeintlich viele andere auch, für nicht intelligent genug halten würde. Doch da erklärte er direkt: „Du solltest andere Wege gehen und lieber etwas aus deinem Talent machen, denn das hast du zweifelsohne!“

Marti hielt inne. Im selben Moment taten ihr ihre Vermutungen von grad eben auch schon wieder leid und sie war im Begriff, sich selber für ihre voreiligen Schlüsse zu hassen. L bemerkte diesen dazu gehörigen Ausdruck in ihrem Gesicht sehr schnell, denn er sah sie die ganze Zeit überaus aufmerksam an; aufmerksamer als es Marti je hätte annehmen können.

„Naja“, stöhnte sie nur: „Ich verdien mir ‚nen Hungerlohn mit Auftragszeichnungen. Aber wenigstens ein Anfang...“

„Was nimmst du pro Bild?“ fragte L sogleich.

„Nun ja, kommt auf den Aufwand an... Mein bisher Kostenaufwendigstes wäre ein farbiges A3 für 40 Yen, und...“

„Zu wenig!“ protestierte L sofort: „Viel zu wenig!“

„Naja, aber so toll sind meine Künste doch noch lange nicht und wenn ich höher ginge, würde garantiert schon bald niemand mehr was bezahlen wollen, und...“

„Jetzt hör auf!“ unterbrach L sie erneut mit barschem Ton: „Du scheinst nicht viel Ahnung von Wirtschaft und Kostenaufstellungen im Hinblick auf Arbeitsaufwand zu haben, nehme ich an?! Jeder, der die Kunst auch nur annähernd zu schätzen weiß, wäre bereit, mehr dafür hinzulegen. Du lässt dich eiskalt ausbeuten, Marti!“

„Pah, dann kennst du halt meine ganzen Leute schlecht!“ meckerte Marti direkt los, mit der Neigung, sich schnell wieder in Rage zu reden.

„Dann sind die es nicht wert und du suchst dir Neue!“ beharrte L auf seinen Standpunkt.

„Dann könnte ich es auch gleich sein lassen!!“ wetterte Marti aufgeregt entgegen.

„Probier’s doch wenigstens mal! Dann wirst du sehen, dass ich recht habe!“ schlug L letztendlich vor. Dabei blieb er ausgesprochen ruhig, während Martis Atem hörbar schneller wurde. Sie hasste es abgöttisch, wenn andere sie dermaßen nieder redeten. In ihren Augen hatte „dieser Ryuzaki“ nämlich grad absolut keine Ahnung und kannte die ganzen Umstände nicht. Da wollte sie sich von ihm nicht länger irgendwelche Ratschläge gefallen lassen, die doch, nach ihrem eigenen Ermessen nach, sowieso nichts bringen würden.

Sie versuchte nun ihr Bestmöglichstes, von diesem Thema schnell wieder wegzukommen. Auch L gefiel dieses nicht länger. Ihm war bewusst, dass er an dieser Stelle bei Marti wohl einen wunden Punkt erwischt haben musste, was ihn an ihr direkt ein wenig zu nerven begann.

Er nahm sich nun auch einen Schokotaler und tauchte diesen in seinen Kaffee. Die Glasur weichte auch bei ihm sehr schnell auf. Er bemerkte, dass Marti ein merklich trauriges Gesicht zog, worauf er ihr tröstend jenen Keks zuschieben wollte, was jedoch darin ausartete, dass einige Schokoflecken vom Keks direkt auf den Couchtisch tropften.

„Huch!“ machten beide zugleich. Marti musste wieder leicht kichern, während L nur ein wenig beschämt mit den Schultern zuckte und ihr den Keks eilig übergab: „Nimm ihn mal besser schnell!“

„Oh, danke dir!“ freute sie sich und aß ihn schnell auf, bevor sich seine Glasur auch noch auf ihre Klamotten verteilte. Er schmeckte, durch den Kontakt mit Ls Kaffee dermaßen süß, dass sie beinahe schon Zahnschmerzen bekam. Sie schüttelte sich und setzte grad mit einem verspielten Tadel an L an: „Also, weißt du, irgendwie glaube ich, dass du...“, als in diesem Moment plötzlich ihr Handy klingelte, welches in ihrer Hosentasche steckte und nun aufgeregt vibrierte. Ziemlich überrascht schreckte Marti hoch, während L sie nur fragend ansah. Eilig zückte sie es hervor und schaute direkt auf das blinkende Display. Es zeigte eine ihr völlig unbekannte Nummer an. Nur ihrer Vorwahl war zu entnehmen, dass sie derselben Ortschaft entstammte. Aufgeregt ging Marti ran: „H-hallo? Hier, Sakamoto-chan.“

„Hier spricht das Hauptkommissariat Tokyo, Kriminalabteilung. Guten Tag, verehrte Sakamoto-chan!“

Die Polizei! Ein riesiger Schrecken durchfuhr in diesem Moment Martis Glieder. Sie bekam mit einem Mal große Angst und wurde sehr unruhig.

„Verdammt, was könnten die denn jetzt noch von mir wollen??“ fragte sie sich im Stillen. Zitternd brachte sie schließlich am Handy hervor: „J-ja? W-was wo-wollen Sie denn?“

„Es geht um den Todesfall Ihres Lebensgefährten Chemitoshi Akiba! Wir würden Ihnen dazu gerne noch einpaar Fragen stellen nachdem wir nun soeben die Ergebnisse der Obduktion vorliegen haben!“

Marti erschrak erneut. Ob die nun etwa doch irgendetwas festgestellt hatten, was sie als Mörderin in Betracht kommen ließ? Marti fühlte sich fast der Ohnmacht nahe als sie nun mehr ein unbehagliches Schwindelgefühl heimsuchte. Schließlich gab sie aufgebracht einen Einwand kund: „Was wollen Sie mich da noch groß fragen? Der Fall ist doch klar, oder etwa nicht!?“

Der Beamte am Telefon schien Martis Unruhe gewiss zu bemerken und so sagte er: „Bleiben Sie ruhig! Es sind wirklich nur einpaar wenige offene Fragen, die uns noch bleiben und zu denen wir gerne Ihre Stellungnahme hätten!“

Marti schnaubte tief. L hingegen kümmerte sich seelenruhig um seinen letzten Keks, den er nur in kleinsten Bissen auf seiner Zunge zergehen ließ als er ihn zuvor komplett in seinen Kaffee getunkt hatte. Der Keks war bereits dabei zum Teil in seiner Hand in die Tasse hinein zu bröseln. L schien damit förmlich herum zu spielen und sich über den Anblick des sich auflösenden Mürbegebäcks zu freuen, was man seinem nahezu begeisterten Grinsen zu deutlich ansah. Marti würdigte er dabei nun keines Blickes mehr, so als wäre sie überhaupt nicht anwesend. Doch in diesem Fall war ihr das sogar mehr als recht...

„Kommen Sie bitte noch gleich zum Hauptkommissariat!“ forderte der Beamte sie nun mit sehr ernster Stimme auf: „Es ist wirklich wichtig!“

Marti holte tief Luft. Anscheinend würde sie nicht drum rum kommen. So sagte sie also letzten Endes zu: „Na gut... Bin... b-bin gleich da!“

Und sie drückte die Taste zum Beenden des Gesprächs. Sie seufzte lautstark und fuhr nervös von ihrem Platz auf. L war grad dabei, den letzten Krümel seines zerflossenen Kekses aus seiner mit Schokolade verschmierten Hand zu lecken, was alles andere als ästhetisch aussah. Daraufhin nahm er einen letzten kräftigen Schluck aus seiner Tasse, an deren Boden nun etliche Krümelreste hafteten, die L nun nach und nach in seinen Mund fließen ließ. Marti sah ihn nur mit völlig verstörten Augen an und rief mit hektischen Handbewegungen: „Ich muss weg und zwar dringend!!“

Darauf wisperte L nur wie in einer Art Trance: „Du hast so recht gehabt – Schokokekse und Kaffee ergeben zusammen die beste Kombination...“

Er lächelte benebelt als wäre er vollkommen weggetreten und würde jegliche Art von äußeren Einflüssen nicht im Geringsten mehr wahrnehmen. Dies verunsicherte Marti ziemlich. Sie wiederholte erneut: „Bin weg, äh, bis bald, ja!?“

Doch L reagierte immer noch nicht. Er blickte noch immer auf seine soeben geleerte Tasse, an deren Boden noch letzte Spuren von Krümelresten pappten. Er hielt daraufhin die Tasse schräg und starrte mit einem Auge tief in sie hinein bis er sie schließlich um 180° kippte und seinen Kopf dabei ebenfalls zurück lehnte.

„Ähm, Ryuzaki?“rief Marti langsam richtig verzweifelt. Da reagierte L schließlich als er zu ihr einen schnellen Blick warf, den er jedoch auch im selben Moment wieder abwendete, um sich weiter seiner Tasse zu widmen: „Hm, was? Ach so, ja, mach’s gut!“

Marti rümpfte nur die Nase. Er wirkte auf sie in irgendeiner Weise recht fanatisch und irgendwie schräg. Gab er sich doch bis zu diesem beunruhigenden Anruf noch als relativ in Ordnung, so hatte Marti nun leichte Bedenken. Sie hielt noch ein letztes Mal inne bevor sie das Wohnzimmer verließ und schaute sich noch einmal nach L um. Dieser jedoch ließ keine Reaktion im Hinblick auf ihren Abgang vonstatten. Sein Rücken war ihr nun, von ihrem Blickwinkel aus gesehen, zugewandt. Abweisender konnte er nicht sein. So hetzte sie nun schließlich in flotten Schritten aus dem Zimmer durch den großen Korridor aus der Villa hinaus. Muse schwebte ihr dabei, wie immer, hinterher.

„Was soll ich jetzt nur tun?“ zeterte Marti ganz aufgelöst zu ihr.

„Mensch, bleib ruhig und geh einfach hin! Ich sagte dir doch bereits mehrfach, dass dir nichts geschehen wird!“ versuchte Muse sie zu beruhigen, jedoch vergeblich.

„Du hast immer leicht reden!“ bockte Marti: „Als ob du dich in unserem scheiß System auskennen würdest um das beurteilen zu können! Menschen sind kaltherzige Wesen und immer darauf aus, aus allen sämtlichen Dingen sofort ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, um andere fertig zu machen! Ich bin geliefert, sag ich dir! Die werden früher oder später alles heraus finden!“

„Kein Mensch auf der ganzen Welt würde dabei von einem Death Note ausgehen, liebe Marti!“ widersprach Muse: „Nur die Wenigsten wissen, seit dem Fall Yagami Light von damals, über die fremde Macht bescheid und das beschränkte sich lediglich auf diejenigen, die damals in diesem Fall eingeweiht waren. Also reichlich wenige!“

„Sehr leichtsinnig, Muse!“ zischte Marti angespannt und beschleunigte ihre hektischen Schritte Richtung Innenstadt noch zusätzlich als würde sie von was extrem Grauenvollem verfolgt werden...
 

In der Mitte der Innenstadt, in einer Abzweigung zu einer Seitenstraße hin, befand sich das besagte Polizeipräsidium, dem zusätzlich noch zwei weitere große Gebäude angebaut waren; nämlich das regionale Rathaus sowie das Staatsgefängnis Tokyo. Alle drei Gebäude waren äußerst hoch gebaut und hielten locker mit den vielen anderen riesigen Hochäusern und Wolkenkratzern Tokyos mit, die sie in unendlichen Massen umgaben.

Marti trat näher an das Präsidium heran. Einige steinerne Bildnisse geschichtlicher Ereignisse zierten den Torbogen, unter dem sich die große Eingangstür des Gebäudes befand. Ansonsten wirkte dieses im Hinblick auf seine Fassadenmauern äußerst trist und in seiner ganz bestimmten Art und Weise beängstigend. Die Eingangstür ließ sich drehen. In zaghaften Schritten passierte Marti diese nun schließlich und gelangte in das große Foyer, wo sich zu ihrer Linken gleich eine Rezeption befand, hinter der zwei Beamte alle eintretenden Leute empfingen.

„Guten Tag!“ begrüßte man sie: „Was können wir für Sie tun?“

Marti wurde nervöser den je, was man ihr sogleich anmerkte.

„Ich bin zu dem Fall Chemitoshi Akiba vorgeladen worden; als seine damalige Freundin Martina Sakamoto-chan.“

Die Beamten zogen sich kurz zurück und hielten über ein Sprechgerät Rücksprache mit einer oberen Abteilung. Dann schließlich wiesen sie Marti in ein entsprechendes Zimmer in der fünften Etage: der Abteilung für Kriminalfälle.

Marti benutzte den Fahrstuhl und erreichte bald jenes Stockwerk. Wieder wurde ihr ganz komisch als würde sie jeden Augenblick umfallen. Der gesamte eiskalte Flur, bestehend aus etlichen geschlossenen Türen, außer denen ansonsten hier pure Leere herrschte, ließ Marti geradezu erstarren.

Zimmer 513 hatte man ihr zugeteilt. Dort würde man sie bereits zu einer Befragung erwarten. Langsam steuerte Marti mit klopfendem Herzen auf das Zimmer zu. Sie befand sich auf Ebene 504/505. Die Zahl nahm zu, je mehr sie lief... 508... 509... 510... Bald würde sie es geschafft haben. 511... 512... Nun stand sie davor: 513 – Verhörraum; so stand es auf dem Schild, welches neben der geschlossenen Tür an der Wand angebracht war. Marti wäre am liebsten im letzten Moment doch noch umgekehrt, doch wusste sie, dass sie sich nicht drücken durfte, denn grad das hätte sie nämlich verdächtig gemacht. So klopfte sie zögernd an die Tür und wurde sogleich herein gebeten. Drei Kommissare saßen hinter einem großen Schreibtisch und empfingen sie freundlich.

„Seien Sie gegrüßt, Sakamoto-chan!“ grüßte einer von ihnen und reichte dazu Marti die Hand.

„Erstmal bitten wir vielmals um Vergebung, dass wir Sie an dem schönen sonnigen Herbstnachmittag zu uns in unser kaltes Büro gerufen haben, aber es musste leider sein!“ fügte der eine Kommissar, Toki Zoshi, wie sein Namensschild an seinem Hemd verriet, freundlich hinzu. Seine beiden Kollegen gaben Marti ebenfalls die Hand und stellten sich dabei vor. Nun sollte Marti auf dem Stuhl Platz nehmen, der sich unmittelbar vor dem großen Schreibtisch befand, hinter dem die drei Beamten sie nun aufmerksam musterten.

„Was gibt’s denn noch?“ fiel von Marti sogleich die Frage: „Ich weiß doch auch nicht mehr als Sie und die ganze Sache quält mich eh schon genug!“

„Bitte beruhigen Sie sich!“ rief Zoshi direkt entgegen: „Wir waren bei der Obduktion Ihres verstorbenen Freundes anwesend und haben Folgendes zu Protokoll nehmen müssen...“

Sein Kollege hielt einen Block in den Händen bereit und begann zu verlesen: „... Plötzlicher Herzstillstand mit sofortiger Todesfolge um 3.53 Uhr am 8. Oktober 2005.“

„Uns quält nun die Frage, warum dies in Ihrer Wohnung geschehen ist und Sie zu dem betreffenden Zeitpunkt nicht dort waren.“ lenkte der zweite Beamte, genannt Wotan Fukata, nun erwartungsvoll ein. Alle drei blitzten Marti förmlich mit skeptischen Blicken an als hätten sie einen leisen Verdacht, der sich ganz eindeutig gegen sie richtete...

Marti wurde ganz blass und sie haderte nach geeigneten Worten. Es würde nun kommen, wie sie es die ganze Zeit schon erwartet hatte. Was sollte sie jetzt bloß tun...

Müheselig stotterte sie leise: „Nun... wie... s-soll ich sagen...“

Die Beamten starrten sie nun eindringlicher denn je an. Ihre Mienen verfinsterten sich plötzlich auffallend.

„Ich...“ stammelte Marti weiter: „Er... nun... er kam eigentlich jeden Tag zu mir...“

„Aha, nun denn, verständlich, da Sie ja seine Freundin waren“, antwortete Zoshi: „Nur fragen wir uns nun, weshalb Sie ausgerechnet in dieser Nacht, besser gesagt ja schon beinahe morgens, außer Haus waren, und dann noch zusätzlich an einem Werktag. Ist das bei Ihnen so üblich?“

Wieder verzweifelte Marti regelrecht daran, darauf eine passende Antwort zu finden. Sie spürte wie sie erschreckend nahe dran war, den Dreien auf den Leim zu gehen. Keine Paar Minuten mehr und sie würden sie durchschaut haben, dem war sie sich sicher. Sie schluckte und japste aufgeregt, was von den Dreien nicht unbemerkt blieb.

„Schon allein Ihr nervöses Verhalten hier macht uns, ehrlich gesagt, schon sehr stutzig, dass da anscheinend irgendetwas nicht ganz koscher gelaufen sein muss!“ warf der dritte Kollege Yaga Ukari schonungslos ein. Zoshi berührte ihn sogleich leicht an seinem Ärmel und meinte dabei leise zu ihm: "Nicht gleich so direkt, bitte!"

"Aber ich habe langsam echt das dumpfe Gefühl, dass..." wollte sich Ukari rechtfertigen, doch Zoshi ließ ihn gar nicht erst ausreden, sondern warf ihm eine klare Mimik zu, die ihm zu verstehen gab, dass er sich vorerst zurück halten sollte.

Marti war nun völlig am Ende. Sie holte aufgeregt Luft und atmete hörbar laut wieder aus. Dies grenzte schon bald fast an Hyperventilation.

"Wollen Sie was trinken?" bot der Kollege Fukata schon fast besorgt an.

"Nein, nein, es geht schon!" lehnte Marti bewusst ab: "Es ist nur... hach, es ist halt alles viel zu viel für mich! Ihre Anschuldigungen machen es mir auch nicht leichter..."

Sie senkte betrübt und entkräftet den Kopf.

"Ja, aber es ist unser gutes Recht zu erfahren, warum es zu solch merkwürdigen Begebenheiten kam!" gab Ukari frech zurück.

"Ist man also direkt ein Verbrecher und Mörder, wenn man sich eines Nachts mal nicht gut fühlt und deswegen ein bisschen nach draußen Luft schnappen geht??" schrie Marti nun hysterisch.

"Das hat hier keiner gesagt!!" begann Ukari plötzlich zu brüllen: "Mäßigen Sie sich oder Sie gelangen sofort in Untersuchungshaft!"

"Herr Kollege..." mischte sich Zoshi ein, um Ukari erneut zurückzuhalten. Schließlich wollten sie Marti eigentlich in Ruhe verhören ohne ihr das Gefühl zu geben, gleich als Verdächtige durchzugehen, wenn auch sich diesbezüglich insgeheim alle drei einig waren, dass ihnen die Sache schon recht seltsam vorkam.

Doch Marti wurde nun regelrecht aufbrausend und erlitt einen Anfall von Hysterie.

"Ihr scheiß Bullen schaut doch nie dahinter!!" kreischte sie wie von Sinnen: "Für euch ist der Fall immer sofort klar, was?!!"

Ihre Haare sträubten sich wüst, ihr perlte der Schweiß im Gesicht, die Pupillen ihrer Augen erhielten ein merkwürdiges rotes Leuchten. Ihr ganzes Gesicht schien sich mit einem Male verfinstert zu haben.

Den Beamten wurde mit einem Mal ganz seltsam zu Mute. Bei allen Dreien schien sich allmählich etwas zu bestätigen. Diese junge Frau schien gewiss etwas an sich und in sich zu haben, was ziemlich eindeutig dafür sprach, für den Tod des Chemitoshi-san verantwortlich zu sein.

Ganz aufgeregt legten sie ihre Hände an ihre Waffen, die sie an ihren Gürteln immer bei sich trugen.

"Werden Sie bitte wieder ruhig!" forderte Zoshi beinahe schon panisch.

Marti kam plötzlich etwas in den Sinn: Sie konnte sich sehr wohl aller Verantwortung entziehen. Ebenso konnte sie einfach weglaufen. Ihr würden alle Rechte und Freiheiten der Welt gehören, solange sie zuletzt nochmals einen versichernden Blick auf die einzelnen Namensschilder der jeweiligen Beamten warf und von ihrem äußerst guten Gedächtnis Gebrauch machen würde...

Wie ein Blitz sprang sie von ihrem Stuhl auf und rannte zur Zimmertür hinaus. Die drei Beamten sprangen sogleich hinterher.

"Bleiben Sie stehen! Sofort!!!" schrien sie ihr nach und folgten ihr eilig durch den Flur, durch den sie nun schnellstens reisaus nahm.

Sie wollten es eigentlich bevorzugt vermeiden, Waffengewalt ins Spiel zu bringen, jedoch ließ Marti ihnen einfach keine Wahl. Sie rannte gerade ihre letzten Schritte zu der nach unten führenden Treppe, als Zoshi als Erster seine Waffe hervorzückte und nach ihr schoss - Marti konnte dem Schuss jedoch im letzten Augenblick ausweichen.

Eilig rannte sie die Treppe hinunter. Ihre Beine überschlugen sich dabei regelrecht und sie musste schwer Acht geben, dass sie auf halber Strecke nicht umknickte. Immerhin waren es vier Stockwerke, die sie hinunter zu rennen hatte. Die drei Herren Polizisten folgten ihr ebenso eilig.

Als sich auf der Treppe des dritten Stockwerkes ihr Weg mit einem anderen Beamten kreuzte, der ihr gerade nichtsahnend entgegen spazierte, forderte Zoshi diesen sogleich lauthals auf, sie festzuhalten. Gerade als Marti an ihm vorbei gehastet war, registrierte dieser den Ernst der Lage und er konnte die Flüchtende gekonnt aufhalten als er sie an ihrer Jacke zu fassen bekam.

"Nicht so hastig, junge Dame!" sagte er. Marti wehrte sich mit allen Kräften, indem sie nach ihm schlug und trat, wobei sie energisch brüllte: "Lassen Sie mich sofort los!!"

Sie wendete ihre Sicht dem Beamten zu, dessen Griff sich daraufhin nur noch verfestigte.

"Keine Gewalt, ist das klar?!!" herrschte er sie an. Mit einem dämonischen Blitzen in den Augen machte sie sich seinen festen Griff an ihrer Jacke zum Nutzen als sie ihm einen letzten äußerst schweren Tritt gegen die Knie verpasste, was seinen Halt auf der Treppe nun stark einschränkte und sie ihn gekonnt hinunter reißen konnte. Schmerzhaft polterte er die 30 Stufen in die nächste Etage hinunter, während Marti hingegen eilig weiter rannte.

Jedoch hatten die drei Herren dadurch, dass sie durch ihren Kollegen für einpaar Sekunden zum Halten gekommen war, einen kleinen Vorsprung gewonnen und konnten die Flüchtige nun um einiges dichter verfolgen. Zoshi schrie erneut: "Zum letzten Mal: Stehen bleiben!!"

Marti gelangte bald zur Treppe des vorletzten Stockwerkes. Sie spürte wie sich ihre Verfolger langsam immer dichter hinter sie drängten. Nicht mehr lange und sie würden sie eingeholt haben. Langsam verlor sie an Tempo. Fukata erhob seine Waffe und löste einen Schuss - Marti vernahm an ihrer rechten Seite einen lauten Knall, gefolgt von einem aufkommenden Schmerz in ihrem rechten Arm und einigen nach vorne schießenden Blutspritzern. Man hatte sie gestreift. Nur knapp hatte sie die Kugel verfehlt und ihr eine Schürfwunde am Arm beigebracht. Marti stieß einen kurzen Schrei aus; eher aus dem Schrecken heraus. Fukata schoss erneut - Diesmal hatte er sie erfolgreich getroffen!

Unter schwersten Schmerzen brach Marti schreiend mitten auf der Treppe zusammen und hielt sich, so weit es ihr noch möglich war, dabei am Geländer fest, um nicht runterzustürzen. Der Schmerz, der sich durch ihre gesamte rechte Schulter zog, war unausstehlich. Es war als würde diese wahrlich zerspringen. Doch es half alles nichts, sie musste weiter! Nur mit ihren letzten, noch verbleibenen Kräften arbeitete sie sich auf der Treppe wieder hoch und rannte die letzten Paar Stufen schließlich ins Erdgeschoss herab, wobei sie sich schmerzgekrümmt mit ihrer linken Hand ihre bluttriefende rechte Schulter hielt. Fukata zielte erneut auf sie, doch Marti gelang es, dem Schuss noch einmal geschickt auszuweichen als sie eilig in eine Kurve, gleich neben der Treppe im Erdgeschoss, einbog. Sie hatte die Eingangstür, neben der Rezeption, schon im Visier und war im Begriff drauf zu zusteuern. Die Beamten gaben weitere Schüsse ab. Natürlich wurden durch all den Lärm auch alle anderen in dem Gebäude ansässigen Beamten und Kommissare hellhörig, die dann auch sogleich ihre Räume verließen um nach dem Rechten zu sehen. Es dauerte nicht lange, da hatte man Marti schon umzingelt. Etliche Kollegen stellten sich ihr mit ihren auf sie gerichteten Waffen in den Weg, so dass sie letztlich nur noch anhalten konnte.

"Oh nein!" stöhnte sie nun als sie einer nahezu endlosen Reihe von wütenden Beamten entgegen blickte.

"Geben Sie's auf, es ist zwecklos, Sakamto-chan!" meinte Zoshi: "Ergeben Sie sich! Sofort!!"

"Neiiiiin!" krächzte Marti jedoch noch immer energisch gegen an, wenn auch sie sich allmählich der Entkräftung nahe fühlte. Schließlich sank sie fast schon automatisch mit gesenktem Kopf auf ihre Knie hernieder; inmitten sämtlicher Polizisten, die sie allesamt eingekesselt hatten. Die Lage war für sie auswegloser als sie es je hätte sein können...

Leise begann sie zu murmeln: "Muse...? Muse... bist du noch da?..."

Ihre Stimme klang heiser und schwach. Die vielen Beamten konnten ihre Worte nicht hören, sondern bemerkten lediglich, dass sie irgendetwas vor sich hin murmelte.

"Geben Sie endlich auf?" fragte Fukata: "Es hat keinen Zweck für Sie! Es ist das Beste so!"

"Sie sind festgenommen!" fügte Ukari hinzu.

Marti reagierte nicht im geringsten auf sie und ihre Worte. Sie wirkte nun mehr so als wäre alles um sie herum nicht da. Wie in einer Art Trance neigte sie ihren Kopf leicht zur Seite und erhoffte sich, Muse zu sehen. Diese war in der Tat die ganze Zeit bei ihr gewesen und hatte sich lediglich etwas mehr im Hintergrund aufgehalten, aber sie hatte das gesamte Geschehnis mit verfolgt und schwebte nun unmittelbar neben Marti in der Luft. Sie näherte sich der entkräftet am Boden liegenden jungen Frau mit einem eindeutigen Ausdruck von Besorgnis in ihrem sonst so starren, kalten Gesicht.

"M-Muse..." Marti hielt sich noch ein letztes Mal mit allen ihr noch verbliebenen Kräften zusammen. Ihr wurde durch den hohen Blutverlust fast schwarz vor Augen. Alles um sie herum drehte sich und erlangte eine trüb flimmernde Schicht.

"Marti!" zischte Muse und beugte sich nun in unmittelbarer Nähe zu Marti herunter um ihre Augenhöhe zu suchen. Marti hielt ihren Kopf noch immer tief gesenkt, um zu verhindern, dass die Polizisten auch nur irgendetwas davon bemerkten, dass sie zu dem Shinigami sprach, der hingegen ja für die Augen eines jeden anderen gänzlich unsichtbar war.

"Sie sind festgenommen wegen Gewalt gegen die Staatsmacht!" hörte Marti Ukaris Stimme nur noch schemenhaft sagen. Sie spürte, dass sie jede Sekunde bewusstlos zu werden drohte.

"Marti. Warum nur dieser Aufstand?" hörte sie nun die Stimme Muses: "Jetzt hast du dich ganz schön in was reingeritten, du dumme Nuss!"

Marti zitterte am ganzen Körper. Der Schweiß spross ihr dabei nur so aus den Poren, dass mittlerweile ihre gesamte Kleidung feucht triefte. Das Blut, welches im hohen Maße aus ihrer Schulter strömte, hatte derweil nahezu die gesamte rechte Seite ihres Oberteils in ein dunkles Rot getränkt.

Nur äußerst müheselig brach sie noch hervor: „Muse... M-Muse, bitte! Gleite zu mir nach Hause und hol das Death Note!“

„Ich soll... was!?“ Muse erschrak und sah Marti nur ungläubig an als hätte sie sich verhört.

„Bitte hinterfrage es nicht, sondern tu mir einfach den Gefallen! Bring es mir her, klar...“ Mit diesen Worten brach Marti in tiefe Bewusstlosigkeit zusammen. Sofort stürzten etliche Polizeibeamte über sie her, fühlten ihren Puls und forderten einander auf, schnell einen Arzt zu holen und sogleich eine freie Zelle für sie zu reservieren. Eins stand fest, so schnell würde sie hier vorerst nicht mehr heraus kommen.

Während man die bewusstlose Marti langsam vom Boden aufnahm und sie dabei wieder zu Bewusstsein zu kommen versuchte, verharrte Muse schockiert in der Luft und schaute dem Treiben nur regungslos zu. Sie musste Martis Aufforderung innerlich erst einmal verarbeiten. „Hat sie wirklich allen Ernstes nach dem Death Note verlangt?“, fragte sie sich fassungslos: „Sie ist also im Begriff von ihm Gebrauch zu machen und andere Menschen bewusst umzubringen?!“

Muse wurde langsam immer deutlicher, in welch tiefem Schlamassel sie mittlerweile steckte; sowohl sie als auch Marti. Jene Katastrophe, von der Latok gesprochen hatte, schien nun besiegelt und es gab kein Zurück mehr. Und würde Muse all dies nicht nur noch schlimmer machen, wenn sie Martis Bitte nun so einfach nachkommen würde? Andererseits hatte sie eh keine Wahl mehr; Marti war die alleinige Herrin über das Death Note und spätere Schicksalsschläge würden so oder so eintreffen. Das war nun einmal vorher bestimmt nachdem Muse ihre Rechte auf sie übertragen hatte. Ferner konnte sie Marti einfach nicht mehr länger so leiden sehen. Insgeheim war sie ihr dafür einfach schon zu sehr ans Herz gewachsen...

Durch ihr unkontrolliertes Fehlverhalten war Marti in dem Todesfall Chemitoshi nun natürlich zur Verdächtigen geworden, etwas damit zu tun zu haben. Von einem einfachen Unglücksfall ging nun niemand mehr aus. Marti musste hier weg und zwar dringend! Das war Muse klar und sie konnte ihr einzig und allein dadurch helfen, indem sie ihr das verhängnisvolle schwarze Heft brachte. Eine alternative Möglichkeit gab es da nun mal nicht. Dennoch war diese natürlich von schweren Konsequenzen geprägt, die Muse zu tragen haben würde. Sie war bei dem Großen Shiozzan ohnehin auf der schwarzen Liste vorgemerkt und sie konnte alles nur noch schlimmer machen bis ihr die unerträglichsten Strafen drohen würden. Es war ihr fraglich, all dies auf sich zu nehmen, nur damit sich eine Menschenseele aus ihrer verhängnisvollen Situation retten konnte. Muse seufzte bestürzt und fühlte sich hin und her gerissen. Andererseits war ohnehin alles zu spät.

„Na denn, besser werden kann es ja sowieso nicht mehr! Warum nicht also gleich das ‚volle Programm’...“ tat Muse schließlich die Situation mit einem Hauch ihres typischen Galgenhumors ab und steuerte daraufhin zu Martis Wohnung.
 

Währendessen war Marti in einen kalten engen Raum des Polizeipräsidiums gesperrt worden. Zuvor hatte sich ein Amtsarzt um sie gekümmert, indem er die Kugel aus ihrer Schulter entfernt und die Einschusswunde behandelt hatte. Noch immer war sie bewusstlos und man hatte daher entschieden, sie erstmal in diese Zelle zu setzen bis sie wieder vernehmungsfähig sein würde. So hatte man sie dort auf einem schlichten Bett gebart. Diese betreffende Zelle war allein zum aufwachen von unter Arrest stehenden Personen vorgesehen. Man nutzte sie auch häufig zum Ausnüchtern von Trunkenheitskandidaten...

Bis zum frühen Abend hin verweilte Marti dort in einer Art Tiefschlaf, zumal man sie obendrein mit diversen Beruhigungsmitteln versorgt hatte. Hin und wieder schauten Aufseher nach ihr durch einen kleinen Spion an der Zellentür. Sie hielt alle Glieder von sich gestreckt und blieb absolut regungslos. Plötzlich drang Muse durch das Gemäuer der Zelle hindurch; ihr Körper verhielt sich dabei jenseits aller Materie.

„Hier steckst du also!“ stellte Muse mit einem Hauch von Erleichterung fest. Marti reagierte nicht. Muse beugte sich zu ihr hinunter und musterte ihren reglos dar liegenden Körper. Ihre rechte Schulter war mit einem dicken weißen Verband abgebunden worden. Martis Antlitz wirkte auf Muse äußerst blass und erbärmlich. Der Shinigami war langsam sogar ganz froh, ihr zur Hilfe gekommen zu sein, wenn auch dies gewiss harte Konsequenzen mit sich bringen würde.

Muse starrte die tief schlafende Marti lange an. Dann strich sie ihr einmal sanft über die Stirn und rief schließlich vorsichtig: „Marti... komm zu dir!“

Sie näherte sich ihr dabei noch etwas mehr; jedoch erntete sie von ihr nicht die geringste Reaktion. Sie versuchte es erneut, wobei sie etwas lauter sagte: „Hey Marti!“

Noch immer keine Regung! Marti schien in ihrem Schlummer regelrecht gefangen. Nun wurde es Muse langsam zu viel und sie verpasste Marti einen gezielten Klaps ins Gesicht.

„MARTI, jetzt komm endlich zu dir, verdammt!!“ Ihr Tonfall wurde hörbar aggressiver.

Erschrocken riss Marti ihre Augen auf und fuhr blitzschnell hoch.

„Was... was ist?“ fragte sie aufgeregt.

„Endlich bist du wach!“ sagte Muse nun erleichtert.

„Muse?!“ rief Marti: „Wo bin ich...?“

Sie musterte diese kalte, graue Umgebung, die ihr diese erschreckend kleine enge Zelle bot und verstand zuerst gar nicht, wie sie denn hier eigentlich her gekommen war.

„Weißt du denn gar nix mehr!? Du bist bekloppt geworden und hast dich gegen alle Bullen hier frech zur Wehr gesetzt!“ klärte Muse sie auf und beliebte dabei gleich wieder eine ihrer vorwurfsvollen Äußerungen kund zu tun: „Du machst’n Scheiß, du! Hier kommste im Leben nicht so schnell wieder heraus!“

Nun erinnerte sich auch Marti wieder. Ihr zuerst noch ganz bestürztes Gesicht begann nun langsam raffiniert zu grinsen. Ihr Gemüt entspannte sich merklich.

„Hmm, doch doch, Muse!“ zischte sie zufrieden.

Ihre Miene verfinsterte sich dabei auf einmal, ihre Haare sträubten sich leicht und ihre Augen erhielten plötzlich ein seltsames rotes Leuchten in den Pupillen. Muse behagte dies gar nicht und sie wich verunsichert zurück als Marti schließlich von dem Bett hochfuhr und sie nun eindringlich anstarrte: „Ich nehme an, du hast ES bei dir, nicht wahr?!“

Daraufhin hielt sie der völlig entsetzten Muse ihre Hand entgegen und forderte nun einschlägig: „Gib es mir!“

Muse starrte sie darauf entgeistert an und haderte nach möglichen Ausschweifungen, um sie von ihrem irrsinnigen Vorhaben vielleicht noch abbringen zu können. Doch sie ahnte schon, dass dies in keinster Weise von Erfolg gekrönt sein würde. Marti schien irgendwie verändert als wäre sie in diesem Moment nicht sie selbst. Sie wirkte mit einem Mal ganz wahnsinnig und fixiert als würde es für sie nur noch das Death Note geben und alles andere jenseits ihres Interesses.

„Na, gib es mir schon! Wird’s bald?“ wiederholte Marti, wobei sich ihre Stimme sogar noch etwas verfinsterte.

„Marti...“ entgegnete Muse dann: „Bist du denn sicher, dass dies der richtige Weg ist?“

„Jetzt fang nicht an das noch zu hinterfragen! Du weißt es doch selbst am besten...“ fauchte Marti sie mit wütender Miene an und forderte noch ein letztes Mal energisch: „Jetzt rück’s schon raus!“

Wie gerne hätte Muse sich noch im letzten Moment gesträubt, doch sie wusste, dass es eh nichts mehr gebracht hätte. Mit gesenktem Kopf zückte sie somit nun endgültig das Death Note hervor und überreichte es Marti, ohne sie dabei anzusehen. Dabei nuschelte sie nur leise: „Ich hoffe, du weißt, was du da tust! Ich hab nämlich langsam das Gefühl, als wäre dies gar nicht mehr der Fall...“

Eifrig krallte sich Marti nun das Heft und löste dessen Taschenkuli, worauf sie eine leere Seite aufschlug. Doch bevor sie die Miene des Kulis löste um ihn darauf anzusetzen, harkte sie noch einmal nach: „Und man kann eine Todesart und ihre näheren Umstände, die zu diesem führen sollen, also selbst festlegen?“

Nur äußerst spärlich sah Muse sie daraufhin an und antwortete ebenso leise: „Ja, so ist es...“

„Völlig frei? Auch wenn dabei noch weitere Menschen zu Tode kommen?“fragte Marti weiter.

„Genau.“ Muse drehte sich nun vollkommen von ihr weg, was Marti jedoch nicht großartig registrierte. Ihre dämonischen Augen blitzten nun knallrot auf und sie ließ ein bissiges Grinsen zu.

„Nun, ihr scheiß Bullen“, begann sie: „Ihr hättet euch lieber nicht so sehr in meine Angelegenheiten einmischen sollen! Ich hatte meine Gründe, aber ihr habt mich aufs Übelste bedrängt! Das möge nun jetzt euer Verhängnis werden, hahaha!“

Marti brüllte ihr Gelächter lauthals heraus als sie anfing, in das Death Note zu schreiben, während Muse sich nur noch zusammen krampfte und aus der Zelle verdünnisierte...
 

Es musste gegen 21 Uhr gewesen sein als der Reporter Sashi Brown einen ohrenbetäubend lauten Knall vernahm, der aus der Richtung der Stadtmitte kam und den Boden unter seinen Füßen zum Beben brachte. Er war gerade im Begriff mit dem beiliegenden kleinen Löffel seinen Cappuccino umzurühren, den er sich in einem gemütlichen kleinen Café inmitten der Tokyo Stadtmitte schmecken lassen wollte. Ein unheilvolles Beben und Rumpeln folgte dem Knall und erfüllte das gesamte Innenstadtviertel. Auch alle anderen Anwesenden des Cafés wurden in diesem Moment ganz starr und schauten nur völlig irritiert drein.

Dieses lautstarke Gerumpel durchdrang förmlich ihre Glieder hindurch und drohte sie vor Schreck nahezu zu lähmen. Brown ging es in diesem Moment nicht anders und dennoch fasste er sich ein Herz und hastete eilig aus dem Café nach draußen um nach dem Rechten zu sehen. Als er die Türschwelle zum Café passiert hatte, musste er sich jedoch sogleich den Kragen seines wohligen Rollkragenpullovers über seinen Mund und seine Nase stülpen als er sogleich von erstickend dichtem Qualm umkesselt wurde, der obendrein einen starken Anteil an Schutt und Asche enthielt, was ihm sogleich übel durch die Haut brannte.

„Du lieber Himmel, was ist hier los?“ schrie Brown-san entsetzt. Eine ältere Dame schleppte sich müheselig an ihm vorbei und rief auf ihrem flüchtenden Wege in das Café hinein: „Das Rathaus ist, mitsamt Polizeipräsidium und Stadtgefängnis, soeben explodiert! Es regnet Blut und Leichen!!“

Sie schrie hysterisch und hielt sich entkräftet an der Mauer des Café-Gebäudes fest, denn sie drohte in jedem Moment ohnmächtig zu werden. Auch unzählige andere Leute rannten mit dem Schrecken in den Gliedern durcheinander an Brown vorbei, der nun völlig ungläubig und erstarrt die total verqualmte Umgebung musterte. Alles war in dichtestem Nebel gehüllt und kaum mehr zu erkennen, außer die dicken Bruchfetzen eines ehemals existierenden, riesigen Gebäudes... Niemand wusste, wie er sich nun verhalten sollte – Jeder fühlte sich als Opfer; als Gejagter einer unbekannten Bedrohung, aus der es kein Entkommen zu geben schien.

Die Situation war einfach grauenvoll! Doch Brown fühlte sich dazu berufen, noch einmal zurück ins Café zu seinem Tisch zu laufen, dort eilig seine Kameraausrüstung zu schnappen und jenen Unglücksplatz aufzusehen, von dem dieses gesamte Unheil ausging. Er musste es einfach tun! Sein Beruf als lokaler Reporter Tokyos ließ ihm keine andere Wahl und er musste sich beeilen. Schnellstens hatte er seine Sachen an sich genommen, worauf er sich in unkontrollierten schnellen Schritten auf dem Weg Richtung Stadtmitte zum Rathausplatz machte.

Es fiel ihm ausgesprochen schwer, gegen all den Dunst anzukommen und vorwärts zu laufen, als sich dieser schon sehr bald in seine Augen brannte. Sämtliche Bruchteile des zerfetzten Gebäudes bissen sich an seiner Haut und seiner Kleidung fest. Überall roch es nach Rauch und verbranntem Fleisch. Ihm war nahezu übel als sich einige Passanten um ihn herum in manchen Ecken der Stadt erbrachen, während andere der Bewusstlosigkeit nahe waren und sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Doch Brown musste durchhalten. So schnell ihn seine Füße tragen konnten, kämpfte er sich durch den Qualm bis zum Rathausplatz durch. Je näher er seinem Ziel kam, umso dichter wurde der Rauch und umso rötlicher verfärbte sich sein Dunst. Dieser unheilvolle Geruch wurde immer intensiver und es begannen bald erste Funken aus dem Qualm hervor zu peitschen.

Brown merkte, dass er in diesem Szenario praktisch unmöglich eine seiner pflichtigen Reportagen halten, geschweige denn irgendwelche Fotos schießen konnte. Nahezu gar nichts war mehr zu sehen, bis auf die immer deutlicher hervor stechenden Flammen, inmitten eines dicken schwarzen Qualms. Lediglich einpaar Silhouetten weiterer panisch flüchtender Passanten passierten seinen beschwerlichen Weg und drohten ihn fast umzurennen. Es dauerte nicht lange als er über den ersten Leichnam stolperte und daraufhin zu Boden ging. Vor sich auf dem Boden registrierte er nur schemenhaft etwas verkohltes Längliches, das sich bei längerem Hinsehen als ein völlig verstümmelter, abgetrennter Arm erwies, der durch den Brand, kaum mehr als solcher zu erkennen war. Das war selbst einem ansonsten recht abgehärteten Mann wie Brown zu viel. Ihm wurde vor Schreck die Luft abgeschnürt und er erhielt einen Würgereflex. Doch als wäre dieser grausige Fund inmitten dieses scheußlichen Szenarios nicht schon schlimm genug, so musste er unmittelbar darauf feststellen, dass es zwischen all den Funken inmitten dieses dichten Qualms Fleischfetzen regnete.

Eilig rannte Brown in die nächste Ecke und übergab sich schließlich. Ihm war nun dermaßen schwindelig geworden, dass auch er das Gefühl hatte, all diesem Unglück nicht länger standhalten zu können und umzukippen. Schwermütig hielt er sich an einer Mauer fest und arbeitete sich an diese gestützt weiter zum Unglücksort vor. Er durfte nicht aufgeben, wenn auch es ihm noch so schwer fiel, auf den Beinen zu bleiben. Das Gift des dicken Rauches hatte sich bereits in seiner Lunge ausgebreitet. Er konnte kaum noch richtig atmen.

Wie in Trance bemerkte er die Sirenen einiger Einsatz- und Krankenwagen des örtlichen Hospitals, wie sie mit ihrem Fernlicht eilig aus dem Nebel, mitten durch die Stadt, vorgefahren kamen. Auch sie kamen dabei nur spärlich voran, da sie besonders stark aufzupassen hatten, nicht irgendwelche Passanten anzufahren, die immer noch in all ihrer Panik entgegen gehastet kamen. Des Weiteren flogen ihnen durch den dicken Nebelschwall immer wieder diverse Bruchstücke und zerfetzte Leichenteile entgegen, worauf sie ebenfalls arg Acht geben mussten. Es dauerte nicht lange, da wurden die ersten Wagen von einigen besonders großen Bruchfetzen stark demoliert, wobei einer von ihnen ein besonders großes Stück direkt mitten durch die Windschutzscheibe einkassierte, worauf dieser nun völlig aus dem Verkehr gerissen wurde und mit einem weiteren Wagen zusammen stieß. Der lautstarke Krach von Scherben und einem eisernen Aufeinanderprallen war zu hören, sowie die darauf folgenden Alarmsirenen dieser Unfallwagen.

Browns Angst stieg bis ins Unermessliche; den anderen Anwesenden erging es nicht anders. Sie konnten allesamt nicht schnell genug aus der Stadtmitte fliehen. Längst waren unter ihnen auch bereits mehrere durch die vielen umher fliegenden Bruchteile des zerschmetterten Gemäuers zu Tode gekommen und langen in ihren Blutlachen verteilt auf dem eingenebelten Asphaltboden der Innenstadt herum.
 

Einige Kilometer von der Innenstadt entfernt hatte sich lediglich leichter Dunst in Form eines aufkommenden Nebels aufgetan, der aus dem Katastrophengebiet empor gestiegen war. Viele Leute lugten aus ihren Fenstern oder gingen gar vor ihre Türen um sich der Lage zu vergewissern. Das laute, von Panik erfüllte Geschrei der flüchtenden Menschenmassen aus der Innenstadt drang bis zu diesem ruhigen abgelegenen Viertel hervor und irritierte die dort Ansässigen natürlich enorm.

„Du liebe Güte,“ rief eine ältere Frau zu ihrer Nachbarin: „Was ist da bloß los?“

„Ob irgendein Unglück passiert ist!?“ antwortete diese sehr verunsichert und mit einer sichtbaren Unruhe in ihrem Gesichtsausdruck: „Herr je, das ist doch nicht normal, dass die da so derartig herumschreien?!“

Wie erstarrt blickten beide in Richtung des aufkommenden Nebels, welcher sich nun auch immer weiter zu diesem Viertel hin verteilte...

Aus diesem ging in holprigen langsamen Schritten am Horizont eine Gestalt hervor, die sich nun müheselig mit gesenktem Kopf durch die einzelnen Gassen dieses Viertels schleppte. Sie wirkte äußerst angeschlagen. Einige Brandverletzungen erfüllten ihre freien Arme und ihre Kleidung war an manchen Stellen leicht eingerissen und angekokelt. Es war Marti, wie sie stumm und entkräftet kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen konnte. An ihrer Seite folgte ihr Muse, die stillschweigend neben hier herflatterte. In deren Seitentasche ihres ledernen Outfits steckte jenes unheilvolle schwarze Heft, welches all dieses schreckliche Unglück veranlasst hatte als Marti kürzlich jenen Eintrag darin verfasst hatte:
 

„20.30 Uhr, 9 Oktober 2005

Hauptkommissar Toki Zoshi geht in die Dienstwagen-Werkstatt des Polizeipräsidiums Tokyo und entnimmt dort fünf Kanister Benzin, sowie einen Gassprenger. Während alle seine Kollegen in ihren Aufenthaltsräumen wachen, breitet er mit dem Sprenger all das Gas im Foyer des Rathauses aus und vergießt das Benzin der fünf Kanister sowohl im Rathaus als auch in dessen Anbauten: dem Polizeipräsidium und dem Stadtgefängnis. Zuvor öffnet er in Letzterem die Zelle, in der ich mich befinde, und verharrt fünf Minuten in seiner Situation, so dass ich noch genügend Zeit habe, mich in Sicherheit zu bringen. Nach Ablauf dieser fünf Minuten nimmt Zoshi ein Streichholz und entzündet dieses mitten im Foyer des Rathauses.

Punkt 21 Uhr wird dann wohl alles gelaufen sein, ihr scheiß Drecksbullen, haha!!“
 

„Marti,“ flüsterte Muse vorsichtig: „Sag, war das wirklich richtig? Ich meine, bist du jetzt etwa zufrieden...?“

Doch Marti antwortete ihr nur mit einem teilnahmslosen Schweigen und absoluter Nichtbeachtung. Sie schien geistig nicht mehr wirklich anwesend zu sein als sie sich mit letzten Kräften zu jenem Ort kämpfte, wo der einst ernannte „Meisterdetektiv L“, für sie nur bekannt als „Ryuzaki“, sein ihm überlassenes Anwesen hatte.

Dieser lehnte zum selbigen Zeitpunkt wieder einmal nachdenklich und ausgesprochen niedergeschlagen an einem der Fenster seines Wohnzimmers und blickte in die Ferne, wo ihm ebenfalls längst der seltsam aufkommende Nebelwall aufgefallen war, der sich nun mehr auch für diese Ortschaft sichtlich rot verfärbt hatte. Von Weitem konnte er das Heulen der anrückenden Feuerwehrautos und Krankenwagen vernehmen, die selbst seine schalldichten Fenster leicht durchdrangen.

„Hm,“ machte L leise und hielt sich den Daumen seiner rechten Hand vertieft an seinen Mund: „Das sieht mir nicht gut aus. Was da wohl vorgefallen ist!?“

Seine gesamte Konzentration widmete sich nun diesem bedenklichen Dunst. Umso erschrockener wurde er als es an seiner Tür plötzlich klingelte.

„Wie, was, nanu...??“

Erst vermutete er bloß einen Irrtum, doch als sich das Klingeln nur wenige Sekunden später wiederholte, entschied er sich, in seinen Dunkelraum zu schreiten, welcher mit mehreren Bildschirmen und Apple-Computern ausgestattet war; alles Einrichtungen, die zu Zeiten seiner vielen Ermittlungstätigkeiten veranlasst worden waren. Dort betätigte er an einem der Rechner einen kleinen Knopf, der einen der Monitore aktivierte, der ihm nun einen Einblick in das Geschehen vor seiner Haustür verschaffte. Dieser schockierte ihn sogleich als sich ihm darauf der Anblick einer völlig hernieder krümmenden Marti bot, wie sie sich sichtlich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Er verstand nun gar nichts mehr und musterte das kleine milchig dargestellte Bild auf dem Monitor genauer. Marti hob leicht ihr Gesicht gen der kleinen Kamera über der Türklingel an und L konnte in ihr von völliger Schwäche geprägtes Gesicht sehen. Es musste etwas passiert sein, waren sofort seine Gedanken, jedoch wusste er nun gar nicht recht, wie er sich zu verhalten hatte. Noch immer wäre es ihm am liebsten gewesen, jedem Kontakt zur Außenwelt gänzlich aus dem Weg zu gehen, denn was würde ihm das denn noch bringen... Dann aber musste er sich dieses gequälte Antlitz Martis noch einmal genauer zu Gemüte führen und er war sich nicht sicher, ob es wiederum tatsächlich das Richtige war, sie in ihren ersichtlichen Qualen wirklich sich selbst zu überlassen. Andererseits könnte er ja auch einfach schnell zum Telefon greifen und einen Arzt verständigen und das völlig anonym. Diese Idee gefiel ihm am besten und er war schon im Begriff, sein Telefon zu nehmen um die entsprechende Nummer anzuwählen als er nach den ersten zwei Ziffern plötzlich inne hielt. Er dachte wieder daran, wie Marti ihm gestern in seiner ähnlich misslichen Lage einfach so geholfen hatte und das obwohl er für sie ja eigentlich ein völlig Fremder gewesen war. Dann war sie ferner zu ihm zurück gekommen und hatte ihm auch noch dieses Bild geschenkt. Abgesehen davon, dass L es in keinster Weise verstehen konnte, weshalb sie all diese Mühen einfach so auf sich genommen hatte, so musste er sich eingestehen, dass es ihn insgeheim schon ziemlich berührt hatte, dass er anscheinend tatsächlich irgendeinem Menschen auf Erden in irgendeiner Form noch wichtig war, obschon Marti in seinen Augen noch immer als eine Fremde galt. Fakt war für ihn wiederum, dass er sie in ihrem jetzigen Zustand nicht einfach so abwimmeln konnte; das ließ sein Gewissen einfach nicht zu und er hatte es bereits im Gefühl, dass es ihm wahrscheinlich danach nur noch viel schlechter gehen würde, wenn er diese Frau einfach von irgendeinem Notarzt heimlich hätte abtransportieren lassen, so als hätte er nie im Leben auch nur ansatzweise mit ihr etwas zu tun gehabt.

L seufzte schließlich und setzte sein Telefon wieder zurück an dessen Station. Nachdem er daraufhin auch seinen Überwachungsmonitor ausgeschaltet und den Dunkelraum verlassen hatte, näherte er sich in bedachten langsamen Schritten seiner Haustür, wobei er immer noch daran zweifelte, wirklich das Richtige zu tun. Doch dann öffnete er seine Tür letztendlich doch, worauf er jedoch im selben Moment völlig überrascht wurde als ihm Marti vor seinen Augen direkt zusammen brach und mitten in seine Arme stürzte, jenseits allen Widerstands. Glücklicherweise konnte er sie gerade noch rechtzeitig auffangen und stützen.

„Marti!?“ rief er geschockt und registrierte sogleich ihre Brandverletzungen sowie ferner ihre abgebundene rechte Schulter, die von einer Schussverletzung gezeichnet war.

Mit allen Kräften zog er Marti in seine Stuben hinein. Ihr Kopf vergrub sich dabei in seine warme Brust. Anscheinend war sie nun bewusstlos.

Dennoch versuchte er sie vorsichtig anzusprechen: „Marti? Hey, was ist passiert?“

Er hob ihr Gesicht mit einer Hand sanft an. Ihre Augen waren geschlossen. Mit leichtem Tippen gegen ihre Wangen versuchte er ihr Bewusstsein wieder zu erlangen, doch es schien für’s Erste zwecklos. Lediglich ein leises Keuchen ließ Marti vonstatten, wobei sich ihr Gesicht gequält verzerrte.

„Marti?“ rief L erneut und mit einem Hauch von Hoffnung. Ihre schwachen Augen blinzelten ihn nun leicht an und sie säuselte leise in eher unverständlichen Worten. „Hm... Ryu...zaki...“

Ls Augen ließen einen besorgten Ausdruck zu als er Marti fassungslos fragte: „Was ist dir denn nur widerfahren und warum kommst du ausgerechnet wieder zu mir??“

Er verstärkte seinen Griff noch ein wenig, mit dem er sie sicher stützte. Marti haderte sichtlich nach Worten, doch sie war dazu einfach viel zu schwach, um ihm gescheit antworten zu können. So war sie schon bald erneut weg getreten.

L wusste, dass es momentan einfach keinen Sinn machte, mit ihr das Gespräch zu suchen. So würde es wohl vorerst das Beste sein, sie in sein Bett zu verfrachten, damit sie sich erst einmal erholen konnte. Ferner hielt er es für sinnig, sich erstmal ihren Verletzungen anzunehmen. Sie musste ziemliche Schmerzen haben, da war er sich ziemlich sicher.

So rückte er ihren linken Arm um seine Schultern und hob sie vom Boden auf um sie sachte nach oben in sein Zimmer zu tragen. Er stellte dabei direkt fest, wie leicht sie doch war, was es ihm enorm erleichterte, sie eilends die Treppe rauf zu tragen.

Sein Zimmer, in welchem er nur äußerst selten mal zu seinem längst fälligen Schlaf kam, befand sich unter dem Dach und bildete zur Seite des Bettes hin eine Dachschräge. In dieses legte er Marti nun vorsichtig hinein. Sie schien von alle dem noch immer rein gar nichts mit zu bekommen.

Nun musterte L vorsichtig ihre Verletzungen. Da sie nur ein kurzärmliches purpurnes Oberteil trug, fiel ihm direkt ihre abgebundene rechte Schulter auf. Durch den Verband zeichnete sich inzwischen neues, angestautes Blut ab. Auch ihre leichten Verbrennungen blieben nicht unbetrachtet und das nun ganz genau. L war einfach nur entsetzt und fassungslos.

„Du lieber Himmel, was hast du nur mitgemacht??“ rief er geschockt, wobei er sich die schlimmsten Sachen ausmalte.

Vorsichtig löste er nun den Verband und eine blutig triefende Wunde eröffnete sich ihm. Für ihn stand nun unmittelbar fest, dass er sie eilends zu versorgen hatte, wenn auch er von solchen Dingen eigentlich nicht viel Ahnung hatte. Jedoch würde er wohl das Nötigste tun können, so dachte er sich als er sich runter ins Badezimmer zu dem dort befindlichen Medizinschränkchen begab, um dort nach Desinfektionsmittel, Antibiotika und Verband zu greifen. Vorsichtig nahm er sich daraufhin Martis Schussverletzung an als er diese zuerst sanft desinfizierte. Marti blieb dabei völlig ruhig. Sie schien tatsächlich noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit zu weilen. Mit leichten Bewegungen massierte er die Antibiotische Salbe in ihre Wunde ein und betrachtete sich dabei immer wieder ihr Gesicht, welches einen überaus entspannten Eindruck machte als würde sie grad etwas sehr Schönes träumen.

Schließlich fiel ihm wieder ihre „Rettungsaktion“ für ihn ein und er konnte es sich nicht verkneifen, ein leichtes Lächeln zu zulassen als er ihr leise zuflüsterte: „Nun, anscheinend ist hier ein wenig Schicksal mit im Spiel: Jetzt muss ich mich bei dir revanchieren, was?!“

Er vollendete seine Behandlung indem er ihr schließlich den Verband anlegte und behutsam zu zog. Dann wollte er leise aus seinem Zimmer schreiten, um Marti in Ruhe genesen zu lassen, doch dann hielt ihn noch irgendetwas davon ab. Er bewegte sich noch einmal zu seinem Bett hin und betrachtete sich die darin friedlich schlummernde Marti genau. Seine Miene war ernst, sein Körper starr. Sein Blick wanderte unwillkürlich zu seinem Schreibtisch hin, an dessen Pinnwand er Martis Bild geheftet hatte, welches sie ihm noch am vergangenen Nachmittag geschenkt hatte. Er konnte es sich selbst nicht recht erklären, weshalb er noch immer derartig berührt von diesem Geschenk war.

„Warum?“, so fragte er sich still in seinem Inneren: „Warum sollte mich diese fremde Frau eigentlich mögen? Das ergibt alles keinen Sinn, oder etwa vielleicht... doch irgendwie?“

Er sah Marti erneut mit tiefem Blick an und seufzte. Diese Situation war selbst ihm, der sonst stets für nahezu alles eine logische Erklärung parat hatte, einfach zu viel.

Konsequenzen

Noch in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober 2005 erreichte die schreckliche Nachricht über den Großbrand in der Stadtmitte Tokios sämtliche Fernsehsender und Zeitungsredaktionen in ganz Japan. Es war dabei die Rede einer rätselhaften Explosion dreier sich anbauender Gebäude zur gleichen Zeit mit über 2.000 Todesfällen. Laut vieler Recherchen und Untersuchungen schien es bisher keinen einzigen Überlebenden zu geben, was unter derartigen Umständen auch wirklich äußerst bedenklich gewesen wäre... Das lodernde Feuer, welches die Explosion mit sich brachte, konnte inzwischen Dank der tapferen Einsatzkräfte der Feuerwehr fast vollständig bekämpft werden und die gesamte Innenstadt lag nun in einem kräftigen Dunst. Der Geruch von verbranntem Fleisch hatte sich in alle Richtungen hin ausgebreitet, was nun auch den allerletzten Einwohner wohl über diesen schrecklichen Vorfall informiert haben musste.

Mittlerweile hatte sich der Reporter Sashi Brown wieder gefangen; machte allerdings vor der Kamera, vor der er nun seine Reportage halten wollte, einen äußerst betretenen Eindruck während er alles, was man bisher wusste, über den regionalen Sender TRN (Tokio’s Regional News) an die Öffentlichkeit brachte. In äußerst geschwächten Worten trug er stockend in seinem Mikrofon vor: „Eine Katastrophe, die wie aus dem Nichts erstieg als es plötzlich einen tosenden Knall gab und alles in flammende Fetzen flog. Dicker Rauch erfüllt unsere einst lebensfrohe Stadt mit Betrübtheit und es wurden bislang über Tausende verbrannte Leichen geborgen. Die Rede ist von unserem städtischen Rathaus, welches mitsamt Polizeistation und Stadtgefängnis offenbar einfach explodiert ist – Mit sämtlichen Insassen als Todesopfer! Wie es zu dieser scheußlichen Situation kam, darüber kann bislang nur spekuliert werden! Vermutlich handelt es sich um eine interne Gasexplosion, ausgehend vom Keller des Rathauses, was sogleich auch Einfluss auf beide Nebengebäude genommen hat. Jedoch untersuchen unsere Ermittler diesen Fall bereits verstärkt und wir werden sicher mehr wissen nachdem wirklich alle Flammen komplett beseitigt worden sind. Wir halten Sie darüber weiter auf dem Laufenden. Mein Name ist Sashi Brown, vielen Dank!“

Während Brown-sans Vortrag hasteten im Hintergrund sämtliche Feuerwehr- und Noteinsatzkräfte umher. Einige hielten Feuerwehrschläuche parat, andere rückten mit Leichenbahren an und transportierten so manches Brandopfer bereits darauf ab. Jeder Einzelne von ihnen versuchte sein Bestmöglichstes und doch kam jede Hilfe zu spät. Die Chance, dass nach dieser Explosion auch nur ein einziger Insasse überlebt hatte, war nahezu fatal. Dennoch wollte es gar niemand so einfach hin nehmen und manche erhofften sich regelrecht ein Wunder. Erst recht wenn es sich dabei um jene Angehörige der betreffenden Insassen handelte...
 

Von der aufgehenden Sonne war an diesem Morgen aufgrund des dicken Dunstes nicht viel zu sehen. Der Himmel behielt eine auffallend rötlich trübe Färbung zurück. Erst wollte der dichte Nebelschwall die ersten Sonnenstrahlen nicht durch lassen, doch nach einer ganzen Weile hatte er sich dann doch zumindest ein wenig gelegt.

Es musste früh am Morgen gegen 7 Uhr gewesen sein als Marti langsam ihre Augen aufschlug und ihr Umfeld nur schemenhaft unscharf wahrnahm. Sie richtete sich langsam in jenem fremden Bett auf, in das man sie vergangene Nacht gelegt hatte. Dabei spürte sie in ihrer Bewegung sogleich eine gewisse Hemmung im Bezug auf ihre rechte Schulter, die bis hin zu ihrem Oberarm in einen festen Verband gehüllt worden war. Sogleich kam ihr der Geruch dieser für sie gänzlich fremden Umgebung recht ungewohnt vor. Es roch seltsam süßlich, gespickt vom Hauch eines Putzmittels und frischer Wäsche.

Marti rieb sich die Augen, worauf ihre Sicht allmählich klarer wurde. Sie konnte allerdings kaum zuordnen wo sie sich befand. Dieses kleine, aber recht ordentlich gehaltene Zimmer mit der Dachschräge über dem Bett war ihr völlig fremd. Überhaupt fühlte sich ihr Kopf ausgesprochen leer an, denn sie konnte sich an rein gar nichts erinnern, was zuvor gewesen sein könnte. Sie schaute sich irritiert um.

„Was mache ich hier nur plötzlich?“, fragte sie sich ratlos.

Da kam plötzlich Muse herbei geflattert, welche schnurstracks durch die Dachschräge dieses Zimmers hindurch geflattert kam.

„Na, hübsch geträumt, liebe Marti-chan?“ kicherte sie aufgeweckt.

Marti jedoch war alles andere als erfreut und fragte sie nur aufgeregt: „Verdammt, Muse, wo bin ich hier? Wie komme ich hier hin?“

„Nun, warum du nochmals hierher gelaufen bist, ist auch mir in der Tat ein Rätsel“, antwortete Muse: „Du hättest gut daran getan, lieber gleich nach Hause zu rennen, denn jeglicher Kontakt zu anderen Personen könnte gefährlich sein!“

„Wovon redest du denn jetzt wieder?“ fragte Marti immer verwirrter.

Muse starrte sie daraufhin hinter ihren bläulich glühenden Brillengläsern nur erstaunt an und haderte nach den fragenden Worten: „Weißt du denn etwa... gar nichts mehr von dem, was gestern passiert ist? Das Death Note?“

„Mein Death Note... wo ist das überhaupt?“ Von diesem verhängnisvollen Heft hingegen schien Marti immer noch uneingeschränkt zu wissen. Lediglich ihre Erinnerungen an dessen Handhabung hatte sich eindeutig in ihrem jetzigen Zustand verdünnisiert.

Nachdem Muse kurz schwieg, erklärte sie unsicher: „Nun ja, ich hab’s noch bei mir. Du hattest es mir gestern zuletzt noch gegeben, ehe es dich wieder hier hin verschlagen hatte! Hm... du... weißt wirklich gar nichts mehr über den gestrigen Abend?“

„Alles, was ich weiß, ist, dass ich gestern Nachmittag bei diesem Ryuzaki gesessen und auf einmal einen Anruf von der städtischen Polizei erhalten habe, die mich zu einem Verhör vorladen wollten! Sag... war ich denn überhaupt dort...? So ein Mist, ich weiß wirklich gar nix mehr...“

Marti senkte traurig den Kopf, während Muse erschrocken auffuhr und Marti nur völlig besorgt anstarrte. Deren Stimme klang so ruhig und unschuldig als wäre sie tatsächlich nie an diesem gestrigen Schicksal beteiligt gewesen. Sie schien auch überhaupt noch gar nichts von dessen Folgen zu wissen. In diesem Augenblick wurde Muse eines völlig klar: In Marti schienen bereits zwei gänzlich unterschiedliche Seelen zu weilen, wobei jene, die vom Death Note geleitet wurde, drauf und dran war, ihre eigentliche immer mehr zu verdrängen.

Muse seufzte und wusste nicht, was sie jetzt bloß tun sollte. Sollte sie Marti etwa wirklich über alles aufklären? War dies denn tatsächlich der richtige Weg? Marti schien ja so schon reichlich verunsichert. Muse haderte verzweifelt nach den richtigen Worten, was ihr noch zunehmend erschwert wurde, je öfter sie in Martis fragendes Gesicht blickte.

„Nun“, begann Muse schließlich: „J-ja, du warst schon da, nur...“

„...Ja?“ Marti starrte Muse erwartungsvoll an. Ihr war es deutlich anzusehen, wie sehr sie eine gebührende Aufklärung erleichtern würde. Allerdings war dies für Muse durchaus fragwürdig, was wohl geschehen würde, wenn sie wirklich die eiskalte Wahrheit erfahren würde.

„Hm... na ja... du warst halt sehr geschwächt von all dem Trubel um den Fall deines Mackers Akiba... da bist du dort halt o-ohnmächtig geworden... ja, so war es wohl!“stotterte Muse schweren Herzens, wobei jedes Wort ihr Gefühl des Unwohlseins nur noch steigerte.

„Was?“ fragte Marti immer noch verunsichert: „Aber... das würde ich doch wissen. Zumindest noch meine Ankunft bei der Polizei!“

Dann schaute sie sich erneut um und lenkte, zu Muses eigener Erleichterung, gleich auf ein anderes Thema: „Und wo bin ich hier jetzt gelandet?“

„Bleib ruhig!“ versuchte Muse sie zu besänftigen, worauf sie ihr über die Schulter strich, was für sie ein Appell darstellen sollte, sich wieder in dem Bett zurück zu legen: „Dein Death Note werde ich jedenfalls vorerst bei mir halten bis du wieder auf den Beinen bist, klar?!“

Sie musste wieder schlagartig an die Worte Latoks denken, welch schweres Ausmaß all die Umstände um Marti noch nehmen könnten, wenn sie ihre Rechte an dem Death Note weiterhin behielt. Es war bereits alles zu spät, und das war allein Muses verspielter Naivität zu verdanken. Sie verspürte in diesem Moment große Angst und Sorge, was wohl erst der Große Shiozzan demnächst mit ihr machen würde...

„Muse?“ riss Marti sie nach einigen Sekunden ihrer geistigen Abwesenheit schließlich aus ihre Gedanken.

„Hm, verzeih mir, Marti! Nur...“

„Woher kommt überhaupt dieser Verband? Ich habe irgendwie das Gefühl als wüsstest du über jede Einzelheit genauestens bescheid...!?“ Marti schaute den ratlosen Shinigami nun naserümpfend an mit der Erwartung, endlich eine Erklärung zu erhalten.

Da fielen Muse schließlich jene Worte der „letzten Rettung“ ein und es platzte mit einer recht erzwungenen Heiterkeit aus ihr heraus: „Sei glücklich, Marti! Dein lieber, toller Ryuzaki hat dich glücklicherweise rechtzeitig gefunden und sofort verarztet!“

Marti hielt überrascht inne: „Was, Ryu...zaki!?“

„Ja, ja, ja, ich weiß, dass du ihn scheinbar sehr gerne hast! Und du bist gestern Abend bei deinem Ohnmachtsanfall halt blöd gefallen, aber das ist natürlich kein weiteres Problem, solange dein Superheld Ryuzaki in der Nähe ist, nicht wahr?!“ tobte Muse regelrecht rum, sackte allerdings im selben Moment auch schon in die nächste Ecke herab und keuchte ein leises „Ach, du riesige Scheiße!“zu sich selbst, ehe sie Marti gegenüber wieder ein arg gespieltes Grinsen entgegen brachte und leise zu singen begann: „You need a hero, you’re holding out for a hero until the end of the night...“

Martis Augen begannen in diesem Moment nun ungläubig und erfreut zugleich zu leuchten.

„Ich... bin bei ihm... in seinem Zimmer!?“ fragte sie noch einmal, ehe sie aus dem Bett auffuhr, wobei sie sich direkt auch schon wieder zusammen krampfte als ein ziehender Schmerz sich über ihre rechte Schulter bis hin zu ihrem Arm erstreckte.

„Au... Ich muss wohl aber wirklich ganz besonders blöd gefallen sein, ahh...“ jammerte Marti kläglich.

„Über mehrere Treppenstufen hinweg...“ redete Muse die Sache eilig raus und blickte erneut gequält drein.

„Na, vielleicht kann mir ja Ryuzaki gleich alles Nähere erklären!“ meinte Marti: „Na, ich werde ihn dann wohl mal direkt suchen gehen!“

„Jetzt kann dir das ja nicht schnell genug gehen, was?!“ lachte Muse und ließ Marti aus dem Zimmer ziehen, in der Hoffnung, dass sich Ls eigene Erläuterungen zu der Sache ja nicht mit den Ihrigen widersprachen.

Leise trat Marti die Treppe hinunter. Von unten waren aus einem der Zimmer gewisse Töne zu hören, die entweder einem Radio oder einem Fernseher entstammen mussten. Die Tür dieses entsprechenden Zimmers war einen Spalt weit geöffnet. Marti erkannte es wieder; es musste sich um sein Wohnzimmer handeln, in welchem sie noch gestern Mittag mit ihm zusammen gesessen und Kaffee getrunken hatte, ehe sie der Anruf des städtischen Polizeipräsidiums erreicht hatte. Langsam und sogar ein wenig zaghaft näherte sie sich nun dieser Tür, ehe sie diese nun zu passieren gedachte. In der Tat erkannte sie in dem Zimmer sogleich „ihren Ryuzaki“ wieder, wie dieser, genau wie gestern, in seiner fragwürdigen Sitzhaltung in seinem Sessel hockte, genüsslich eine Tasse Kaffee schlürfte und dabei in einen rosaglasierten Donut biss. Vor sich hatte er auf dem Couchtisch ein iBook stehen, dessen Bildschirm gerade ein Fenster anzeigte, in welchem ein Nachrichtensprecher die aktuellen Geschehnisse über jenes Schicksal kund tat, von dem Marti derzeit noch überhaupt nichts ahnte. L folgte diesem höchstkonzentriert. Er hielt seinen Kopf dabei im unmittelbarstem Abstand vom Bildschirm seines iBooks, dass sein Gesicht mit diesem fast schon in Berührung kam.

Marti sah ihn, von ihrem Blickwinkel ausgehend, nur von seiner Rückseite, doch sie erkannte die Lage direkt. Noch immer ziemlich zurückhaltend klopfte sie nun an die Tür um sich endlich bemerkbar zu machen. L erhob daraufhin leicht seinen Kopf, worauf er sich einen knappen Augenwinkel weit zu Marti umblickte.

„Ach, du bist es. Guten Morgen!“ begrüßte er sie kühl.

„Ja, das bin wohl ich, hast recht!“ antwortete Marti mit leichter Ironie während sie nun langsam näher an ihn heran trat. Doch L wendete seinen Blick nun wieder vollständig seinem Bildschirm zu, statt sich weiter groß an Marti zu stören; zu gefesselt war er von den aktuellen Begebenheiten, die sich vergangene Nacht am Rathausplatz abgespielt hatten. Dabei hielt er ganz starr seinen angebissenen Donut in seinem Mund und lutschte an diesem laut herum, um seine rosa Glasur genüsslich aufzusaugen.

Der Sprecher der Online-Nachrichten verkündete derweil: „Den Flammen ist nun langsam Einhalt geboten. Doch noch immer weiß man nichts über die Ursachen dieser schrecklichen Tragödie! Die ersten Rettungswagen konnten bislang nur Leichen bergen. Trotzdem gibt man die Hoffnung nicht auf. Ich schalte nun zu meinem Korrespondenten des Senders TRN Sashi Brown, der sich nun direkt an jenem Unglücksort befindet!“

„Vielen Dank!“ leitete Brown-san ein, der nun vor einer in Schutt und Asche versenkten Ruine stand, von welcher nach wie vor eine Menge schwarzer Qualm den Himmel empor stieg.

„Allein in dem einst hier hiesigen Rathaus mussten sich zur Zeit der Explosion noch über 100 Personen aufgehalten haben, von denen ein Großteil bereits als tot identifiziert werden konnte!“

Marti, die diesen Bericht nun direkt neben L mit verfolgte, hielt geschockt inne. Für sie war diese erschütternde Nachricht etwas völlig Neues, denn sie wusste ja rein gar nichts mehr, so als wäre gestern Abend rein gar nichts Spektakuläres in ihrem Leben vorgefallen. Sie verstand auch nicht mal ansatzweise, worum es hier eigentlich genau ging. Sie sah lediglich jenen ihr bekannten Rathausplatz, in der Stadtmitte, wie, statt den besagten drei Gebäuden, nur noch ein eiserner Qualm aus Schutt und Asche gen Himmel empor stieg.

„Ach du Scheiße, was ist denn da passiert? Ein Unglück, oder was?“ fragte Marti in ihrer naiven, unwissenden Art und erinnerte sich sogleich im Schrecken daran, dass sie doch noch gestern Nachmittag einen Anruf erhalten hatte, der ganz klar von dort ausgegangen sein musste. Sie schüttelte ganz entgeistert den Kopf. Ihr kam das Ganze in diesem Moment nur noch äußerst unrealistisch vor. War das Polizeipräsidium etwa unmittelbar nach diesem Anruf explodiert? Wieder stellte sie sich ferner die Frage, ob sie denn wirklich gestern noch dort gewesen und glimpflich davon gekommen war – mit einer Verletzung. Vielleicht jener, die sie nun an ihrer verbundenen Schulter verspürte?...

Marti wurde ganz unbehaglich und sie begann L zu fragen: „Dieses Unglück da... was genau...?“

„Vermutlich eine Gasexplosion, wenn man jegliche Spur krimineller Einflüsse erst einmal außen vorlässt“, polterte es gleich aus L heraus: „Jedenfalls sind alle drei Gebäude, mitsamt aller Insassen, nun futsch, adé, finito!“

„Aber...“ Marti suchte nach Worten, doch L fuhr sogleich nüchtern und unparteiisch mit der Frage fort: „Hast du gestern im Laufe des Tages irgendetwas Auffälliges gesehen?“

Er wendete seinen Blick nun in vollster Aufmerksamkeit Marti zu. Seine Miene blieb finster, ernst und voller Erwartung. Dies machte Marti direkt noch unruhiger als sie es ohnehin bereits war.

„Ich... ich war doch gestern selber noch dort! Äh, ich meine, ich sollte es zumindest, nur...“ Ihr fiel rein gar nichts mehr ein, was sie dem noch hinzufügen konnte und brachte schließlich nur ein lautes Seufzen hervor mit den abschließenden Worten: „Hach, es ist seltsam, aber ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was gestern bis hin zum Abend noch alles gewesen war...“

„Hm, hm.“ L nickte nachdenklich: „Weißt du denn wenigstens noch, wann du in etwa dort gewesen bist?“

„Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?“ herrschte Marti ihn in ihrer Nervosität nur aufgeregt an: „Ich sagte doch grad, dass ich weder weiß, ob ich nun dort war, noch ob was sonst noch den Rest des Tages abging. Das musst du mir glauben! Es kotzt mich selber doch an...“

„Hmm...“ Ls Gesichtsausdruck wurde nun zusehends mitleidig und er wisperte letztendlich nur ein leises: „Schon gut!“

„Ich glaube, viel eher müsstest DU mir erklären, was ich hier eigentlich mache!“ stammelte Marti immer noch unbeherrscht: „Wie bin ich hier denn her gekommen??“

Ls Augen wurden in diesem Moment deutlich großer und er fragte sie völlig überrascht: „Wie, selbst das weißt du nicht mehr? Dass du gestern Abend hier auf einmal aufgekreuzt bist und vor mir anscheinend dein Bewusstsein verloren hast...? Gar nichts? Totaler Blackout?“

„Ich war... bewusstlos?“ Marti kam das alles wirklich immer merkwürdiger vor. L hingegen verschlang hin dessen das letzte Häppchen seines Donuts und spülte es mit einem ordentlichen Schluck seines extrem übersüßten Kaffees hinunter.

Martis Blick fiel nun wieder auf ihre verletzte, abgebundene Schulter und hielt sich diese. Sie kam sich in diesem Moment einfach nur noch hilflos vor, als ob es jemand auf sie abgesehen hätte und ihr Schlimmstes anzutun gedachte. Sie konnte sich allerdings nicht vorstellen, um wen es sich dabei nur handeln konnte, wenn’s denn überhaupt so war.

Leise sagte sie: „Hast du... mir diesen Verband angelegt?“

Langsam ließ L nun seine Tasse auf den Couchtisch sinken und stellte sie auf diesen ab. Dann berührten seine entblößten Füße den blauen Teppich auf dem Boden als er sich aus seinem Sessel erhob und einmal herzhaft streckte, wobei sich sein weißes, lockeres Oberteil ein wenig anhob, so dass Marti leicht seinen Bauchnabel sehen konnte.

„Naja“, begann er: „So wie du gestern drauf warst, hättest du dich unmöglich selbst versorgen können...“

Er näherte sich nun Marti und starrte sie eindringlich an, worauf er sie sanft bei der Schulter berührte. Dann löste er vorsichtig den Verband um sich die Verletzung nun anzusehen. Marti ließ ihn gewähren, wenn auch es ihr äußerst unangenehm war, da sie sich nach wie vor hilflos ausgeliefert fühlte.

Nachdem L den Verband erfolgreich von ihrer Schulter gelöst hatte, sah ihm eine eiterige offene Fleischwunde entgegen, die allerdings auf einem Guten Weg war, langsam zu verheilen. Marti verspürte einen Hauch von Frische über ihre Wunde gleiten, was in dieser einen zwiebelnden Schmerz aufkommen ließ. Marti verkrampfte ein wenig.

„Oh, tut’s dir weh?“ erkundigte sich L, der dies anscheinend sogleich bemerkt hatte.

„Schon, ja...“ stöhnte sie.

„Ich werde sie dir nochmals ein bisschen mit Antibiotika behandeln...“ meinte L: „Am besten ruhst du dich danach noch was aus, damit es schonend heilen kann, ja?“

„... wenn ich nur wüsste, wofür das alles gut sein soll, wenn ich ja nicht einmal weiß, wie ich an diese verfluchte Verletzung überhaupt gekommen bin!“ keifte Marti genervt.

L schwieg kurz. Ihm tat Marti in diesem Moment sogar ein wenig leid, meinte dann aber direkt: „Nun, ich will dich zwar nicht noch mehr verunsichern, aber offenbar stammt diese Wunde von einem Schuss!“

Marti erschrak und riss sich sogleich von L los: „Was, ein Schuss?? Du meinst, dass wirklich irgendjemand auf mich geschossen hat?“

L zuckte mit den Schultern: „Woher soll ich das wissen? Ich hab’s nur festgestellt, weil ich schon eine gewisse Ahnung habe, wie so was aussieht. Ich denke, da müsstest eher du mehr wissen!“

„Verdammt noch mal, Ryuzaki, ich habe dir doch gesagt, dass...“ wollte Marti loswettern, bemerkte jedoch im selben Moment, dass dies eh nichts weiter brachte und sie verstummte bloß in weiterem Seufzen.

„Ja, Marti, ich weiß ja...“ nickte L: „Wie dem auch sei, ich werde nun erstmal deine Wunde versorgen und dir einen neuen Verband anlegen.“

Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er mit gesenktem Kopf und seinen Händen in den Hosentaschen vergraben an Marti vorbei und trat aus dem Zimmer hinaus. Marti schaute ihm nach, folgte ihm jedoch nicht. Zu sehr hatte sie die ganze Situation nervlich überstrapaziert. L wandte sich noch mal zu ihr um und forderte sie erneut auf: „Jetzt komm schon! Wichtig ist erstmal, dass dein Arm wieder in Ordnung kommt!“ Seinem Gesicht war weiterhin nicht die geringste Spur irgendeiner Emotion zu entnehmen und doch klang in seiner Stimme ein leichter Unterton von Mitgefühl, was Marti spüren ließ, dass er es nur gut zu meinen schien. Diese kam ihm mit einem stillen Seufzen daraufhin nun doch langsam hinterher. Beide schritten jene Treppe hinauf, die in Ls kleinem Dachzimmer führte. Dort angekommen setzte sich Marti mit ernster Miene auf sein Bett und hielt ihm ihre verletzte Schulter entgegen, wobei sie sich bewusst darum bemühte, ihn dabei nicht anzuschauen als er sich daraufhin nun dieser widmete. Er öffnete nun die Schublade seiner kleinen Nachtkommode, die sich direkt neben seinem Bett befand, und holte daraus ein Desinfektionsmittel, ein Antibiotikum und Verbandzeug hervor, welches er nach Martis gestriger„Erstverarztung“ vorsorglich dort hinein verfrachtet hatte.

„Jetzt halt still! Es könnte ein wenig brennen...“ forderte er Marti leise auf, worauf er das Desinfektionsmittel auf ein dünnes Tuch auftrug und sich damit Martis Schusswunde näherte. Ein letztes Mal hielt er noch kurz inne, ehe er die Wunde nun leicht mit dem Zeug kontaktierte. – Sofort zuckte Marti zusammen und jammerte kläglich: „Auuuhh, aaahhhh, pass doch gefälligst auf, du Idiot!!“ Sie rutschte auf dem Bett in einen guten Abstand von L weg. Dieser hielt sie daraufhin vorsichtig an ihrem Arm und versuchte nun sein Bestmögliches, um sie wieder zu besänftigen: „Tut mir ja leid, aber es muss halt sein! Jetzt komm wieder etwas näher und...“

„Nein, nein, nein!“ unterbrach ihn Marti sogleich hysterisch: „Ich denke, ich werde auch so über die Runden kommen!“

Sie stand daraufhin von seinem Bett auf und war im Begriff, das Zimmer zu verlassen.

„Nun komm schon!“ wollte L sie nun aufhalten: „Setz dich bitte wieder hin! Du riskierst nur, dass sich deine Wunde am Ende noch entzündet, was letzten Endes ziemlich bittere Folgen für dich haben könnte. Möchtest du das wirklich!?“

Marti stand bereits in der geöffneten Tür als Ls Worte sie erreichten, worauf sie noch einmal inne hielt und zögernd ihren Kopf senkte. L stand nun ebenfalls von seinem Bett auf und schritt nun langsam an Marti heran, worauf er sie erneut sanft an ihrem Arm fasste und ihr nun vorsichtig zuhauchte: „...Ich will dir doch bloß helfen, Marti. Jetzt sei doch bitte nicht so...!“

Marti verharrte ein letztes Mal in Schweigen, dann schließlich sah sie L kurz aus einem Blinkwinkel heraus an als sie leise seufzte: „Nun gut, okay, hast ja gewonnen! Aber sei bitte etwas vorsichtiger!“

So ging sie nun wieder zu Ls Bett zurück, wo sie nun wieder Platz nahm und auch L sich erneut neben sie setzte, um nun sein ersehntes Übriges an ihrer Wunde zu tun. Gewiss war es für Marti alles andere als angenehm und sie hatte sich während der leidigen Konfrontation mit dem Desinfektionsmittel ganz schön zusammen zu reißen, aber letzten Endes ging alles dann doch schneller vorüber als sie es erwartet hatte und sie spürte am Ende doch den Hauch einer Erleichterung, nachdem L den Verband noch ein letztes Mal ein wenig straffer zog.

„D-danke“, murmelte Marti: „Und du meinst wirklich, es wird heilen...?“

„Warum sollte es nicht?!“ antwortete L nur knapp, wobei er seinen Blick gezielt zu Boden richtete, während er neben ihr auf dem Bett in seiner typischen Sitzhaltung kauerte.

Beide saßen sie nun da und verharrten in stiller Schweigsamkeit und das für noch einige Minuten lang. Dann schließlich wendete L sein Gesicht nun doch langsam zu Marti und suchte deren Blickkontakt.

„Ich glaube, du solltest besser auf dich aufpassen...“ sagte er ihr beinahe schon im Flüsterton, wobei er selbst nicht recht verstand, warum er ihr gerade das nun plötzlich sagte. Marti musterte ihn daraufhin leicht und antwortete ihm mit einer hörbaren Gereiztheit in ihrer Stimme: "Wie soll ich das machen, wenn ich mich nicht im geringsten an irgendetwas erinnern kann, hach..."

Mit diesen Worten erhob sie sich von ihrem Platz und verließ das Zimmer, ohne ihn noch eines einzigen Blickes zu würdigen. Er merkte, dass sie die ganze Sache sehr mitgenommen haben musste, wenn auch er sich selbst überhaupt keinen Reim darauf bilden konnte, wie es dazu eigentlich gekommen war. Er war sich ebenso ratlos wie sie und es tat ihm insgeheim sogar ein wenig Leid für sie. So blieb er still auf seinem Bett hocken und verweilte in seinem kleinen Dachzimmer noch eine ganze Weile lang nachdenklich.
 

Muses Gehör wurde von der erzürnten Stimme des Großen Shiozzan bereits erfüllt als sie noch zusammen mit Marti in Ls Wohnzimmer verblieben war, wo sich diese nach ihrem Ausschreiten aus dem Dachzimmer auf der Couch zurück gezogen hatte.

"Muse", so erklang seine mächtige Stimme, welche allein nur für Muse wahrnehmbar war: "Muse!! Komm zurück und bring auf der Stelle dein Death Note! Unverzüglich!!"

Muse horchte erschrocken auf. 'Oh nein, ich hab's doch geahnt', so dachte sie sich und fühlte sich nun arg in die Enge getrieben. Sie antwortete lediglich mit einem sehr gehaltenen Schweigen. Marti starrte auf der Couch liegend nachdenklich an die strahlend weiße Decke des Wohnzimmers und war ganz in sich selbst vertieft. Die Schmerzen in ihrer Schulter waren inzwischen spürbar abgeklungen, was wohl allein Ls Fürsorge zu verdanken war. Einerseits verspürte Marti tiefste Dankbarkeit für seinen sofortigen Einsatz, jedoch fragte sie sich skeptisch ob dieser merkwürdige junge Mann tatsächlich ganz allein in diesem überaus großen Haus wohnte, was wirklich äußerst schwer vorzustellen war. Sie merkte, dass sie über ihn ja bisher noch so gut wie gar nichts wusste.

Muse schaute derweil sehr besorgt zu Marti als die Stimme Shiozzans sie erneut einholte: "Zum letzten mal, Muse - Sofort!!"

"Shio, jetzt nicht!" murmelte Muse daraufhin leise.

Marti hatte dies nicht überhört und sah Muse sofort fragend an: "Was?"

"Ach, nix", antwortete Muse sogleich und mühte sich, ihr gegenüber möglichst unauffällig lässig rüberzukommen: "Nur wieder einpaar familieninterne Meinungsverschiedenheiten, nichts weiter..."

"Hmm..." Marti verfiel nun in eine gewisse Trübsinnigkeit als sie sich wieder zurück legte und erneut in ihre Gedanken verlor, die sich ihr permanent im Kreise drehten. Es gingen ihr derartig viele verschiedene Dinge durch den Kopf, die wohl auch einen gewissen Einfluss auf ihr weiteres Handeln nehmen würden. Ihre Nachdenklichkeit, geprägt von eiserner Stille, blieb von Muse keineswegs unbemerkt und sie wollte mit ihr gerade das Gespräch suchen, als der Große Shiozzan erneut ihren Namen rief und das diesmal erzürnter den je: "MUSE!"

Nun konnte der Shinigami einfach nicht mehr länger an sich halten und sie polterte wutentbrannt zurück: "Verdammt noch mal, Shio, jetzt nicht!! Meine Güte, bist du lästig! Ich hab zu tun!!"

Marti schaute nun etwas erschrocken über Muses ausfallendes Verhalten drein. Sie verstand natürlich gar nicht, um was es eigentlich ging. Da wendete sich ihr Muse schließlich wieder zu: "Was wirst du jetzt tun? Ich meine, er hat sich um dich gekümmert und es scheint mir, als wäre dieser Kerl an sich gar nicht mal so schlecht gepolt, wenn auch er mit Abstand das Allerfreakigste ist, was ich bei euch Menschen je gesehen habe!"

"Ja, ich weiß..." seufzte Marti nur.

"Deine Hilfe von vorgestern hat bei ihm offensichtlich gesessen, nehme ich an!" Muse lächelte leicht. Da erhob sich Marti plötzlich von der Couch und schritt Richtung Tür. Dabei starrte sie weiterhin nachdenklich ins Leere. Wortlos ging sie aus dem Zimmer in die Küche hinein.

"Ha, na sieh mal einer an, die hat doch ganz sicher was vor!" lachte Muse, entschied sich dann aber doch erst einmal kehrt zu machen, um einen sicheren Platz für das Death Note zu suchen. Gerade wollte sie sich umwenden um empor zu flattern, da blickte sie auf einmal in das wütende Antlitz ihres "netten Genossen" Latok, der sich vor ihr demonstrativ aufbäumte.

Muse verdrehte nur genervt ihre Augen und meinte mit ihrer typisch kecken Art zu ihm: "Nicht du schon wieder, hau ab!" Sie war im Begriff wortlos an ihm vorbei zu flattern, doch dies wollte er nicht ohne Weiteres zulassen und versperrte ihr erneut den Weg. Auch als sie es nochmals versuchte, an ihm vorbei zu hasten, schob er sich ihr wiederholt einfach eiskalt entgegen und machte sich dabei nur noch breiter als es ohnehin schon der Fall war. Sein Blick verharrte dabei äußerst streng in ihrem Gesicht und blieb kalt und fordernd.

"Jetzt werd mal nicht albern! Lass mich gefälligst durch!" protestierte Muse und versuchte weiterhin an diesem "nervigen Kraftprotz" vorbei zu kommen, was jedoch zusehends vergeblicher wurde. Latok wurde höchstens nur noch energischer und drückte sich sogar mit aller Kraft gegen Muse, um sie regelrecht zurück zu schieben.

"Du willst wohl schon wieder 'nen saftigen Tritt einkassieren, oder was?!" drohte Muse wütend: "Es ist mein Recht, hinzuflattern, wo immer ich hin will, kapiert?!"

"Nein! Nicht, solange du das Death Note bei dir trägst!" widersprach Latok: "Ich bin gekommen, um dich nun höchstpersönlich zu dem Großen Shiozzan zu bringen und zwar mit deinem Death Note zusammen! Also wirst du jetzt mit mir mitkommen - sofort!"

Muse wendete ihren Kopf zur Seite wobei einige Strähnen ihrer langen, spröden Haare ihr Gesicht vermummten, so als hätte sie sich in diesem Moment am liebsten unsichtbar gemacht. Leise, aber mit klaren Worten, sagte sie schließlich: "Was wollt ihr denn noch mit diesem Schinken? Er ist alleiniges Eigentum von Martina Sakamoto-chan! Es ist zwecklos, bei mir nach diesem zu suchen..."

"Dann holst du es uns jetzt und wir werden es vernichten! Wir zerstören es; entsagen ihm jegliche Existenz!" zischte Latok. Muse erschrak: "Was, wie bitte? Das kann doch nicht euer Ernst sein!? Du weißt, was das zu bedeuten hat, Latok!??"

Dieser nickte stumm. Dabei starrte er sie mit eiskalten Augen an, die nicht mal mehr den Hauch von irgendeinem Mitgefühl zuließen. Muse wurde starr vor Schreck als sie sich der Situation nun bewusst entgegen sah.

"Latok!!" rief sie entsetzt und ungläubig zugleich. Dieser schwieg und wendete ihr schließlich seine Kehrseite zu, gespickt mit seinen großen, federnden Schwingen.

"Latok!!" wiederholte Muse: "Das würde sowohl mein Ende als auch selbiges von Marti bedeuten!! Das... das kann dir doch unmöglich egal sein!? So grob und gefühllos du auch immer sein magst - SO extrem bist nicht einmal du, dass dich diese Tatsache absolut kalt lassen würde!?"

Latok wandte sich noch einmal zu Muse um und antwortete: "Es ist deine eigene Schuld!"

Dann verfiel er erneut ins Schweigen. Muse starrte ihn weiterhin ungläubig und entsetzt zugleich an. Wie sollte sie mit dieser endgültigen Strafe nur klar kommen? Es war einfach Tatsache: Würde man das Death Note, welches einst Eigentum des Shinigamis Muse gewesen war und nun einem Menschen übertragen wurde, zerstören und das gleich in welcher Art und Weise auch immer, so würden sowohl Muse als auch die betreffende Person, der das Heft nun gehörte, dem sofortigen Tod geweiht sein; sie wären vernichtet und ihre Seelen würden weder Himmel noch Hölle, kennen. Nein, dieser Tod würde noch weitaus schlimmer für sie werden, denn die ewige Verdammnis entsprach weit finstereren Mächten als man es sich je hätte vorstellen können und niemand wagte es jemals, auch nur im Entferntesten darüber zu spekulieren. Muse wusste, dass sie wohl keine Wahl haben würde und dennoch war sie immer noch fest entschlossen, alles Erdenkliche zu tun, um es zu verhindern, obgleich sie selbst wusste, dass Marti bereits verloren war. Sie klammerte sich an jeden noch so winzigen Hoffnungsschimmer, dem Schlimmsten vielleicht doch noch auf irgendeine Weise entfliehen zu können. Immerhin hatte sie alles allein zu verschulden und sie konnte sich beim besten Willen nicht einfach den ihr drohenden Strafen des Großen Shiozzan zu beugen, anstatt alle weiteren Folgen wenigstens noch zu verhindern zu versuchen. Marti war ihr dafür einfach zu wichtig geworden und sie würde für sie kämpfen. Koste es, was es wolle...

"Latok!" schrie sie nun in einem äußerst wütenden Tonfall: "Ich erdulde eure Flüche und Konsequenzen nicht mehr länger! Ich fühlte mich grundsätzlich noch nie zu euch dazu gehörig und ich habe echt keinen Bock mehr auf euch! Marti gehört jetzt das Death Note und daran werdet und könnt ihr nichts mehr ändern, verstanden?!"

Ihr Gesicht verdunkelte sich. Es schien ihr zum allerersten Mal in ihrem langen Leben wirklich ernst zu sein, wenn es darum ging, eine feste Entscheidung zu fällen.

Latok spürte dies sehr genau, antwortete ihr jedoch lediglich damit, dass er sich noch ein Stückchen weiter von ihr distanzierte.

"Hörst du, Latok?" rief Muse erneut: "Mich schert ihr einen Dreck, solange ihr eine unschuldige, junge Frau mit reinzieht, deren bisheriges Leben so abgrundtief zerstört war, dass sie sich keinen anderen Ausweg mehr wusste als mit Hilfe des Death Notes endgültig einen Weg hinaus zu finden. Ja, verdammt, dazu habe ich ihr verholfen, okay, und vielleicht war es auch falsch von mir, klar! Aber jetzt ist es nun einmal so und ich werde ihr nicht mehr von ihrer Seite weichen und sie dabei vor euch allen beschützen, koste es, was es wolle!"

"Zu welchem Preis machst du diesen Irrsinn, Muse??" herrschte Latok sie nur überreizt an: "Zu welchem Preis, hä? Du weißt selber am besten, was bereits geschehen ist - deinetwegen! Und das bedeutet nun mal jetzt auch, die dafür vorgesehenen Konsequenzen zu tragen. Du willst zu deiner Verantwortung für diesen Fehler stehen? Gut! Aber dann tue das in dem ehrenhaften Namen eines Shinigami!"

Muse merkte allmählich, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, die Sache weiter mit ihm zu diskutieren, geschweige denn darüber zu verhandeln. Sie war sich im Klaren, dass er nicht eher Ruhe geben würde bis sie ihm das Death Note ausgehändigt haben und anschließend mit ihm kommen würde, um beim Großen Shiozzan ihre gebührenden Strafen abzuholen, ehe man sie, mitsamt Marti, für immer in den Untergang stürzte. So blieb ihr nur noch eine einzige Möglichkeit, den für sie nötigen Schritt zu wagen, zu dem einiges an Überwindung gehörte, sie aber nun bereit war, ihn zu begehen.

"Verzeiht mir, hochehrwürdiges Volk der Shinigami! Verzeiht, dass ich Euch nie die gebührende Genossin sein konnte", so sprach sie nun und wendete sich von Latok ab: "Ich werde mein Death Note jedenfalls nicht hergeben, wenn ich Marti dafür ins Unglück stürzen muss, auch wenn Ihr es noch so von mir fordert! Dann werde ich lieber mein eigenes Leib und Wohl riskieren und von Euch gehen - für immer! Ich werde Eurer Welt, in die ich nie wirklich reingepasst habe, entsagen!"

"Exil?" brach es kurz und knapp aus Latok heraus, der Muse dabei noch immer nicht ansehen mochte: "Ich nehme an, du weißt in deiner kindlichen Naivität sicherlich nicht, dass..."

"Jetzt halt endlich dein verfluchtes Maul und stell mich nicht immer nur als dumm dar!!" schrie Muse ihn völlig außer sich an: "Ja, ich weiß es selbst, was mir wahrscheinlich blüht und JA, den Schritt werde ich trotzdem gehen!"

Nun blickte Latok sie doch noch ein letztes Mal eindringlich an. Sein Gesicht war erfüllt von grenzenloser Fassungslosigkeit.

"Ähm... Muse?"

"Es ist alles gesagt!" schloss diese ihre Worte nun endgültig ab: "Ich werde jetzt gehen, mich weiter Marti annehmen und alles so hinnehmen, wie es nun mal kommt. Danke!"

Mit diesen Worten schwirrte sie davon und entfernte sich immer weiter in die neblige Ferne des Himmels. Latok sah ihr beklemmt nach. So wie sich der Nebel um ihren ganzen Körper legte, so löste sich dieser umso mehr in ihm auf und glitt ins pure Nichts über. Für Latok war es die Gewissheit, dass er sie zum letzten Mal in ihrer lebendigen Form gesehen haben würde. Wortlos starrte er ihr nach, ohne auch nur das geringste Gefühl von Mitleid oder gar Verständnis zu empfinden. Nachdem einige Sekunden in völliger Stille vergangen waren, brachte er schließlich doch jene letzten Worte über seine kahlen Lippen hervor: "So sei es dann!", ehe er nun empor flog und zurück in die Welt der Shinigami überging.
 

L hockte noch immer zusammen gekauert sitzend auf seinem Bett. Er dachte in höchster Konzentration nach und es schien, als würde ihn nicht das Geringste aus seiner inneren Ruhe bringen können. Nicht mal die sich plötzlich öffnende Zimmertür änderte etwas an diesem Zustand. Erst als Marti daraufhin vorsichtig ihr Gesicht aus ihr zum Vorschein kommen ließ und ihn schüchtern ansprach: "Ryuzaki?", erhob L sein müdes Haupt und schaute sie zuerst etwas perplex an als er kurz inne hielt und dann schließlich fragte: "... äh, ja? Was denn?"

Langsam trat Marti nun ins Zimmer ein, worauf dieses mit einem Mal von einem verlockend köstlichen Duft erfüllt wurde, welcher ganz klar auf frische, mit süßen Bohnen gefüllte Pfannkuchen schließen ließ, welche Marti in Form kleiner Fische, auf einem größeren breiten Teller nun näher an L heran brachte. Obendrein waren diese allesamt mit Ahornsirup übergossen, was ihren süßen Geschmack noch intensivieren würde.

"Ich denke mir, du bist sicher hungrig, hm?!" sagte Marti als sie den Teller nun sachte auf dem Nachttisch abstellte: "Und außerdem vielen Dank! Meiner Schulter geht es schon einiges besser!"

Sie bewegte daraufhin demonstrativ ihren rechten Arm auf und ab. L jedoch hielt wieder seinen Kopf gesenkt und starrte höchstfixiert zu Boden, so als wäre sie gar nicht wirklich anwesend. Das erstaunte Marti schon ziemlich und sie näherte sich ihm, um nach dem Rechten zu sehen.

"Ist irgendwas, lieber Ryuzaki?" hakte sie nach.

L schüttelte langsam den Kopf: "Nein, wieso? Ich lieb nur diese unbekümmerte Ruhe, die für mich nun mal von Nöten ist, um mich konzentrieren zu können..."

"Ach ja? Und auf was konzentrierst du dich grad so dermaßen?" Marti kam die Sache doch etwas seltsam vor. Sie mochte es gar nicht, wenn man ihr gegenüber derartig abweisend war; das erinnerte sie nur wieder an gewisse vergangene Zeiten... L schwieg. Da versuchte Marti es erneut, indem sie etwas anderes ansprach: "Übrigens hast du in deiner Küche ja wirklich so einiges an guten Sachen gebunkert, aus denen sich viele Köstlichkeiten machen lassen. Du und deine Familie, ihr macht durchaus sinnige Hamstereinkäufe, hehe!"

Noch immer zeigte L keine Regung. Langsam kam es Marti immer seltsamer vor und sie musste sich allmählich regelrecht zu einem weiteren Lächeln zwingen.

"Ähm, willst du jetzt was essen, oder nicht?!" fragte sie zögernd und suchte seinen Blickkontakt. Ohne diesen zu erwidern, antwortete L nur kurz und bündig: "Du hast mir ja was hingestellt. Danke."

Marti konnte sich nicht mehr länger zurückhalten, ein tiefes hörbares Seufzen loszulassen. Sie spürte wie sie seine kalte Art merklich kränkte. Wie schon so oft in ihrem Leben, fühlte sie sich nun auch in dieser Situation mehr als ungerecht behandelt und sie war sich sogleich jener quälenden Sache bewusst, dass dies nur wieder eine von ihren vielen schlechten Erfahrungen sein würde, an der sie nun erst einmal wieder eine ganze Weile lang zu nagen hatte.

Traurig wendete sie sich ab, stand vom Bett auf und eiferte zur Tür, worauf sie das Zimmer mit den gekränkten Worten verließ: "Also gut, dann war's das jetzt, nicht wahr?!"

Nachdem sie die Zimmertür hinter sich ins Schloss fallen gelassen hatte, schritt sie nun Richtung Haustür die Treppe hinunter. Nur noch wenige Schritte trennten sie von Außerhalb. Sie war grad im Begriff, die Klinke hinunterzudrücken als sie auf einmal eine sanfte Berührung an ihrem rechten Arm verspürte und sogleich inne hielt. Sie blickte sich um und hörte die ruhigen Worte: "Geh noch nicht!" als sie dabei direkt in zwei große dunkle Augen blickte, die ihr die Botschaft dieser klaren Bitte nur allzu deutlich bestätigten. Sachte zog L ihren Arm leicht in seine Richtung um sie von der Haustür ein gutes Stück zu entfernen.

"Aha, und warum jetzt doch nicht!?" fragte Marti leicht säuerlich.

"Nun, du solltest dich besser noch schonen. So eine Schussverletzung heilt schließlich nicht von heute auf morgen. Und außerdem hast du doch bestimmt noch nichts gegessen, nehme ich an!?" erklärte L ihr ausgesprochen ruhig und gelassen.

"Und wenn schon. Ich merke, wenn ich nicht willkommen bin..." seufzte Marti gereizt und drehte ihren Kopf bewusst zur Seite, damit er möglichst nicht sehen konnte, wie sie dabei mit den Tränen kämpfte. Für einige Sekunden verstummte L, dann meinte er jedoch in einem ausgesprochen schüchternen Tonfall: "Ich habe nichts dagegen, wenn du noch etwas bleibst..." Dann fügte er noch etwas lockerer hinzu: "Außerdem, hey, du hast mir so einen großen Berg an Pfannkuchen gebacken, den ich nur zu ungern ganz alleine vertilgen mag. Also komm jetzt und hilf mir dabei...!"

Er mühte sich zu einem leichten Lächeln, was ihm auch einen kleinen wenig gelang. In seinem so trüben, blassen Gesicht erkannte Marti nun mehr ein deutliches Zeichen von Reue, was sie direkt wieder etwas milder stimmte. Zumindest ließ sie jenen Widerstand, sich von seinen Berührungen los zu reißen, in diesem Moment allmählich locker und sie entfernte sich nun einpaar Schritte von der Tür weg in seine Richtung.

"Na gut, okay!" gab sie nun klein bei: "Ich verstehe nur nicht, warum du dich so verhältst. Das eben fand ich jedenfalls ausgesprochen unfreundlich von dir, Ryuzaki!"

"Verzeih mir, Marti. Es ist nur..." L wurde wieder zunehmend betretener und er rang förmlich nach den richtigen Worten, die ihm jedoch so schnell einfach nicht einfallen wollten: "Nun ja... es ist... halt eben für mich etwas ungewohnt, auf einmal wieder in Gesellschaft zu sein, nachdem ich mich hier Monate lang allein zurück gezogen habe..."

"Wieso das?" fragte Marti darauf: "Du wohnst hier also wirklich ganz alleine?"

Sie konnte es überhaupt nicht nachvollziehen. Doch L nickte tatsächlich als Antwort: "Wenn man sein Leben lang Vollwaise war und eigentlich nie wirklich Freunde gehabt hat..."

Marti wurde immer ungläubiger: "Was? Aber..." Sie malte sich im Gedanken die tragischsten Umstände aus, musste dabei jedoch direkt an ihre Worte zurück denken, die sie noch kürzlich erst geäußert hatte von wegen dass L garantiert reiche Eltern hätte und aus diesem Grund als äußerst verzogen und arrogant gelten würde. Nun jedoch machte dieser wirklich nicht mehr den geringsten Eindruck - eher das exakte Gegenteil war der Fall und sie bereute ihre Äußerung zunehmend.

Noch ehe sie ihm weitere Fragen stellen konnte, sagte er ihr mit sanfter Stimme: "Nun komm! Am besten setzt du dich zu mir ins Wohnzimmer und ich werde dir dann alles in Ruhe erklären. Was hältst du davon?"

Marti nickte nur stumm, worauf L seine Hände nun wieder lässig in seine schlabberigen Hosentaschen vergrub und in Richtung Treppe zu seinem Dachzimmer voran schritt.

"Geh du ruhig schon mal ins Wohnzimmer! Ich werde derweil die Pfannkuchen und noch etwas mehr herbei holen." bat er sie, was Marti sofort einwilligte und sich ins Wohnzimmer begab. Dabei kam neben ihr plötzlich wieder Muse zum Vorschein, die nun wieder mit ihren voll ausgebreiteten Schwingen an ihrer Seite wachte. Für diese stand nun eines felsenfest; sie würde für Marti da sein, solange es ihr möglich war.

Draußen wehte frischer Herbstwind, worauf sich viele bräunlich gefärbte Blätter von den Bäumen lösten und in Massen in dem Vorgarten von Ls großem Anwesen verteilten. Die letzten Sonnenstrahlen wärmten die Umgebung angenehm auf und konkurrierten mit der kühlen Herbstbrise, die sich nun langsam immer mehr verstärkte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von: abgemeldet
2010-06-25T22:27:40+00:00 26.06.2010 00:27
hey,

mensch, das war ja ein langes Kapitel, ... nicht das ich etwas dagegen hätte! :)
Ja, habe es jetzt durchgelesen, obwohl ich gerade absolut keine Zeit für FFs hab- leider. Aber ich war ja gespannt wie die story weitergeht.

Du hast die Stimmung der Geschichte mal wieder optimal rübergebracht
und alles tadellos beschrieben. Dieses Kapitel hat dazu beigetragen, dass meine Abneigung sich gegen Marti verstärkt hat =)
Ihre Persönlichkeit hat sich ziemlich verändert seitdem sie das Death note hat. Das hast du schön rübergebracht.

Ich weiß ja nicht, ob die Szene bei der Polizei wirklich
realistisch ist, aber sie hört sich nicht so an.
Ich glaube nicht, dass ein Polizist nicht weiß, dass er einen
Verdächtigen gleich damit konfrontiert, dass er verdächtigt wird,
zumindest nicht in solch einem Fall. Und auch, dass sie angeschossen
wurde, war vielleicht ein wenig übertrieben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Polizist auf jedem schießt, der unbewaffnet ist
und keine Gefahr darstellt.Aber das sind nur Mutmaßungen meinerseits.

Und soweit ich weiß, kann man mit dem Death note eine Person nicht töten, wenn dadurch auch andere Menschen umkommen. Sprich, wenn sie nur
diese bestimmten Polizisten töten will, dann kann sie das nur, wenn
durch die Tötungsweise keine anderen Menschen zu Schaden kommen.

Ansonsten habe ich eigentlich nichts zu meckern. Du schreibst toll.
Ach, eine Kleinigkeit fällt mir doch noch ein.
Wenn du direkte Rede benutzt, musst du dahinter ein Komma setzen.

Bsp: "Ich hasse dich" , schrie sie aus vollem Leibe.

Das wars jetzt aber wirklich =)

Bis zum nächsten Kapitel.

LG

Von:  myKingdomHearts
2010-03-13T19:51:02+00:00 13.03.2010 20:51
wow deine ausdrucksweise ist echt guut!!! ich hab mich voll gefreut endlich ne geschichte zu l die wirklich gut ist hört sich auch recht spannend an!!! freu mich schon wie es weitergeht =)
Von: abgemeldet
2010-03-08T19:13:34+00:00 08.03.2010 20:13
Da bin ich wieder=)

Dieses Kapitel war echt lang -nicht das ich mich beschweren würde xD- wollte es nur mal so erwähnen.

Ich habe eine leise Vermutung, wie es weiter gehen könnte bzw. glaube erste Anzeichen heraus gelesen zu haben, aber ich hoffe, ich liege falsch.
Kann es sein, dass ich da etwas zwischen L und Marti anbahnt?
Ich kann mir L mit einer Frau einfach nicht vorstellen (und mit einem
Mann schon gar nicht xD). Das passt meiner Meinung nach einfach nicht zu ihm. Aber es gibt ja genug Leute, die das anders sehen.
Egal, wie es weiter geht, ich werde es auf jeden Fall weiter lesen.

Ich finde übrigens, dass Marti total launisch ist. In der einen Sekunde ist sie total ruhig und in der nächsten flippt sie aus.Um ehrlich zu
sein ist sie mir schon etwas unsympathisch.
Das war so gemein von ihr, dass sie Ls Geschenk gegen das Fenster geworfen hat. Ich muss zugeben, dass ich dachte, L öffnet ihr mit Absicht nicht. Ich hatte einfach vergessen, dass er ja in seiner Sitzposition schläft.

Ich bin wie immer gespannt, wie es weiter geht.

LG

PS: Könntest du mir den Gefallen tun und beim nächsten Mal vielleicht mehr Absätze machen? Ich bin immer wieder in der Zeile verrutscht.

Von: abgemeldet
2010-01-27T22:20:23+00:00 27.01.2010 23:20
Juhu, da bin ich wieder=)

Fangen wir mit einem klitzekleinen Kritikpunkt an:
Ich fande lediglich die Verhaltensweise von Marti, als L aufgewacht ist und gehen wollte, ein wenig ...ja... unauthentisch.Ich habe sie eher als schwache, unterdrückte und zurückhaltende Person kennen gelernt. Vor allem ja auch, weil sie schwere Zeiten durch ihre Beziehung durchgemacht hat. Sie wirkte am Anfang doch wirklich wie jemand, der sich nicht durchsetzen konnte etc. Ich hätte eher gedacht, dass sie ihn irgendwie einfach gehen lässt.Aber gut, das ist jetzt nur meine ganz persönliche Interpretation ihrer Person. Nimm es dir daher nicht so zu Herzen, wollte es nur mal erwähnt haben.

So und nun zum Positiven *grins*

Ich finde, dass du L super gut wider gegeben hast. Ich kann mir gut vorstellen, dass er auf andere undankbar und vielleicht sogar arrogant wirkt. Und auch, dass er sich nicht hat helfen lassen wollen ... das passt sehr gut zu ihm. Und ich glaube ich brauche dir nicht nochmal zu sagen, dass deine Ausdrucksweise wirklich hammermäßig ist. Was mir noch sehr positiv aufgefallen ist, ist, dass du alles sehr detailliert beschreibst z.B. wo sie kocht und das ganze mit den Gerüchen etc.Damit erschaffst du immer eine Atmosphäre und man kann sich alles sehr gut vorstellen.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass andere denken, diese FF sei nicht sonderlich gut. Ich bin eigentlich überhaupt kein Fan von eigenen Charakteren, aber deine FF finde ich echt super gut, sodass ich mich immer auf das nächste Kapitel freue. Also, lass dich entmutigen.

Bis zum nächsten Kapitel=)


Von: abgemeldet
2010-01-14T20:48:52+00:00 14.01.2010 21:48
es wird zunehmend spannender. Ich bin ja total darauf gespannt, was Near zurückschreibt oder ob er es überhaupt tut. Ich fände es toll, wenn sie sich treffen würde. Mal sehen.
Ich werde es auf jeden Fall weiter verfolgen und freue mich schon auf das nächste Kapitel=)

PS: Deine Ausdrucksweise ist ein Traum!
Von: abgemeldet
2010-01-02T13:14:50+00:00 02.01.2010 14:14
Hallo,

als erstes muss ich sagen, dass ich deinen Ausdruck sehr gut finde.
Auch die Geschichte an sich, scheint interessant zu werden.
Es hat mich etwas irritiert, dass da steht, dass die Fanfic abgeschlossen ist - das ist sie aber nicht ne? Wie dem auch sei, ich werde es auf jeden Fall weiter verfolgen. Ich bin nämlich gespannt, was Marti noch alles damit macht und ob L ihr auf die Schliche kommt.

Bis zum nächsten Kapitel =)


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