Die Rückkehr
Lucy setzte sich auf den umgefallenen Baumstamm und legte eine Hand an den Diamanten um ihren Hals.
Es war die letzte Erinnerung an das Einhorn. Sie trug die Kette immer, denn sonst würde sie alles, was damals passiert war, abstreiten.
Es gab doch keine Einhörner und magische Portale!
Was für ein Unsinn!
Das waren Fantasien eines Kindes!
Doch der Diamant belehrte sie eines Besseren.
Seit 9 Jahren kam sie nun schon jeden Tag hierher, um das Einhorn erneut zu sehen. Doch jedes Mal ging sie enttäuscht nach Hause zurück. Sie wusste, dass es kindisch war noch mit 15 Jahren an Einhörner zu glauben, doch sie erinnerte sich noch genau an das Versprechen, welches sie dem Tier vor 9 Jahren gab.
//Ich werde dich befreien!//
Sie hielt immer ihre Versprechen.
Selbst, wenn sie es einem magischen Geschöpf gegeben hatte, welches sie wahrscheinlich nie wiedersehen würde.
Versprechen war Versprechen.
Sie würde nie die Gestalt des Tieres aus ihrem Kopf verbannen können.
Die Eleganz, die Würde.
Die prachtvolle Mähne und der Schweif.
Sein Fell war so weiß wie frischer Schnee und doch so warm wie die Sonne gewesen.
Seine Augen hatten die Farbe von flüssigem Perlmutt und sein Horn erstrahlte elfenbeinfarben.
Nicht umsonst waren Einhörner die meist begehrtesten Tiere.
Sie hatten eine Eleganz und Seltenheit, der kein anderes Lebewesen strotzen konnte.
Deshalb wurden sie auch lange gejagt.
Lucy würde auch nicht die Ketten vergessen. Schwer und rostig. Wie aus einer anderen Welt.
Sie erinnerte sich an jede Kleinigkeit.
Wie an jedem Tag schaute sie zum Horizont, an dem langsam hinter den Bergen die Sonne unterging.
Die Schatten wurden länger und tauchten den Wald in ein Labyrinth, in dem man bei Nacht so manch zwielichten Gestalten begegnete.
Lucy wollte aufstehen und wieder nach Hause zurückgehen, doch etwas ließ sie sitzen bleiben.
Sie schaute sich um, doch sie konnte nichts außergewöhnliches erkennen. Verwundert zuckte sie mit den Schultern und wollte gehen.
Ein leises Schnauben erklang.
Überrascht fuhr sie abermals herum und lächelte.
„Da bist du ja endlich!’’
Sie rannte auf das Einhorn zu und schlang ihre Arme um den Körper des Tieres.
Es war noch genauso schön, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte.
Trotz seiner Ketten.
Das Einhorn wieherte leise und rieb seinen Kopf an Lucys Arm.
„Ich wusste, dass ich mir dich nicht eingebildet habe!’’
Sie strich leicht über das weiße Fell des Einhorns, als es seinen Kopf hob und zu dem Portal hinüberschaute.
„Dieses Mal werde ich mit dir kommen! Ich werde dich befreien!’’
Lucy trat neben dem Einhorn an den Rand des Portals und streckte eine Hand aus.
Als sie durch das Portal hindurchpackte, fühlte sie, wie die Luft wärmer wurde und als sie die Hand wieder herauszog, lag auf dieser wie Puderzucker ein goldener Staub.
Feenstaub!
Lucy nickte entschlossen und sagte:
„Wir können gehen! Ich habe hier nichts mehr zu verlieren!’’
Sie griff in die Mähne des Einhorns und auf sein gutmütiges Schnauben hin durchschritten sie das Portal.
