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Dandelion

von

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Damsel

 

 

Leon hätte sich selbst verfluchen können in dem Moment, als die Klingel hinter der Tür des Pet Shops erklang und er seinen ausgestreckten Finger wieder von eben jener Klingel nahm, die er Sekunden zuvor betätigt hatte.

Als ob er es nicht besser wusste, dass immer, wenn ihm diese leise vermaledeite Stimme zuflüsterte, er könnte doch ruhig mal wieder bei D vorbeischauen, irgendwas aus dem Ruder zu laufen begann. Und trotzdem tat er es. Jedes Mal.

Nahezu lautlos öffnete sich die schwere Holztür und noch ehe Leon doch noch schnell auf dem Absatz umdrehen und zurück zu seinem Auto gehen konnte, hatte sich Chris, der ihn begleitete, auch schon durch den schmalen Spalt, der sich vor ihnen aufgetan hatte, hindurch gequetscht und war auf der Suche nach D.

Seufzend folgte Leon seinem kleinen Bruder durch die Eingangshalle und den langen Flur dahinter. Was sollte er auch sonst machen?, kicherte das sadistische Stimmchen triumphierend.

 

In einem dieser unendlich auftauchenden Räume, deren Anordnung und Zweck sich bei jedem Besuch zu ändern schienen, fand Leon schließlich D und Chris, die sich über irgendetwas amüsierten. Zumindest hörte er Ds Stimme, worauf eine Weile Stille folgte, die der Count dann mit leisem Lachen quittierte.

Die Hände tief in den Taschen vergraben, betrat Leon das mit allerlei unnützem Pflanzenkram bis unter die Decke vollgestellte Zimmer. Als er an einer besonders üppig blühenden Pflanze vorbei ging, fühlte er sich auf der Stelle von tausenden Augen beobachtet. Leon schauderte kurz und zog die Schultern hoch. Er hasste es, hier zu sein und nicht alles überblicken zu können. Ständig lauerte irgendwo irgendwas in diesem elenden Grünzeug, das alles überwucherte. D passte hervorragend in diese Umgebung, wobei Leon nicht klar war, ob der Count sich der Umgebung angepasst hatte, oder die Umgebung ihm. Und dann hatte er ihn endlich gefunden. D saß in einem seiner verschnörkelten Sessel und war vollständig ausgehfertig angezogen.

"Will die Eiskönigin etwa einen Ausflug machen?", kommentierte Leon das Aussehen seines Gegenübers, der einen dicken Wintermantel und einen dazu passenden Hut trug.

"Es muss wohl wieder Dezember sein, wenn Sie mich mit Ihrer Anwesenheit beglücken, habe ich Recht, Officer Orcot?", konterte D mit einem Lächeln, das so nichtssagend vielsagend war, dass Leon die Augen etwas zusammenkniff und auf den Knaller wartete, der diesem harmlos wirkenden Lächeln unweigerlich folgte.

D erhob sich langsam aus dem Sessel und kam auf Leon zu. Sein langer Wintermantel raschelte mit jedem Schritt, den der Count tat. "Das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mich zum Flughafen bringen, Officer."

Leon schob seine Hände noch etwas tiefer in seine Jackentasche. "Wie kommst du denn darauf?", grummelte er und machte D Platz, der ihn auf seinem Weg zur Tür unweigerlich angerempelt hätte, wenn Leon nicht rechtzeitig beiseite getreten wäre.

"Hätte ich sonst hier auf Sie gewartet?"

"Besteht wenigstens die Chance, dass du dann für immer verschwindest, wenn ich dich zum Flughafen fahre?", murrte Leon, dem es vor sich selbst peinlich war, wie sehr diese dämliche Frage nach einem Ja, natürlich fahre ich dich klang.

D beließ es bei seinem sphinxhaften Lächeln und schritt mit seinen für ihn typischen fließenden Bewegungen zur Tür, als wäre er ein ruhiger Strom, der gemächlich durch sein Flussbett plätscherte. Kein Hindernis, weder Stein, noch ein im Wasser liegender Baum, und erst recht kein Officer konnte ihn auf seinem Weg aufhalten.

Eine kleine Hand zupfte Leon am Ärmel, der verstimmt dem wallenden Mantelsaum nachsah, der durch die Tür verschwand. Leon spürte die bittenden Blicke seines kleinen Bruders, ohne dass er ihm den Kopf zuwenden musste, und die ungestellte Frage traf Leon natürlich dort, wo ihn sonst nichts so einfach traf.

"Schön." Leon biss die Zähne aufeinander. D in Kombination mit Chris war eine denkbar schlechte Zusammenstellung, wenn es darum ging, Leon um etwas zu bitten und ihm somit die Bürde einer Entscheidung aufzuerlegen.

 

"Wer passt denn auf deine ganzen Viecher auf, so lange du verreist?" Leon lenkte sein Auto auf die Hauptstraße und fädelte sich vorsichtig in den Feierabendverkehr ein. "Sag jetzt nicht, dass ich das übernehmen soll!", fiel dem Polizisten gleich darauf eine mögliche Antwort auf seine Frage ein. "Und wo ist überhaupt dein Gepäck? Bei deinen komischen Klamotten bräuchte es mindestens acht große Koffer..."

Ds Lippen bogen sich amüsiert. "Ich verreise nicht, Officer Orcot", erklärte er vorsichtig, als würde er einem kleinen Kind etwas erklären. "Wir holen etwas am Flughafen ab."

Verblüfft trat Leon auf die Bremse. Hinter ihm hupte es empört, aber für die nächste Frage musste er D ansehen. "Denkst du, ich bin dein Taxi?" Er spie das Wort Taxi förmlich aus.

Leons Empörung perlte ohne Spuren zu hinterlassen an D ab, der mit im Schoß gefalteten Händen dasaß und sich seelenruhig die Gegend ansah. Mit jedem Jahr, das verstrich, merkte er, wie sehr ihm diese Weihnachtszeit mehr und mehr Spaß zu bereiten begann. Erst recht, weil Officer Orcot zu dieser Zeit besonders einfallsreich zu sein schien, was seine vorgeschobenen Gründe anging, um den Pet Shop aufzusuchen. Die Unterhaltung durch den jungen Mann kam ihm dabei ganz gelegen – und Leon scheinbar auch, selbst wenn er das ziemlich schlecht verbergen konnte.

Das Hupkonzert hinter ihnen wurde immer penetranter, was D nicht im geringsten aus der Ruhe brachte. Lächelnd sah er zu Leon, der ihn mit offenem Mund anstarrte. Er wandte sich zu Chris um, der auf der Rückbank saß und abwartend zu den beiden Erwachsenen sah.

"Wir holen einen neuen Bewohner für den Pet Shop ab", lüftete D endlich das Geheimnis seines Vorhabens.

Chris' Augen strahlten begeistert, worüber sich Leon kurz freute, auch wenn der Auslöser dafür D war.

Die Wagen hinter ihnen hatten mittlerweile auch eingesehen, dass sich das Hindernis nicht aus dem Weg hupen ließ, und so fuhren sie nun in engem Bogen um sie herum, wobei man nicht damit sparte, Leon mit entsprechenden Gesten zu überschütten.

"Es geht ihm ziemlich schlecht", setzte D seine Erklärung fort. "Es wurde jahrelang von einem Pet Shop zum nächsten gebracht, aber mit jedem Wechsel wurde sein Zustand schlechter. Und so wie es momentan dran ist, erlebt es den Jahreswechsel wohl nicht mehr."

Das war Leons Stichwort. "Es gibt ernsthaft mehrere Filialen deiner Flohbude?" Der Polizist lachte unvermittelt los. "Gib's zu, D, du hast dir irgendein altes Viech aufschwatzen lassen und bist dir jetzt zu fein, es zuzugeben. Aber weißt du was?" Leon beugte sich mit wichtiger Miene zu D hinüber, der ihn unschuldig anblinzelte. "Wenn ich mitbekomme, dass du den alten Fellbalg irgendeinem gutgläubigen Menschen andrehst, sehen wir uns wieder." Er klang lauernd.

"Sie haben mich durchschaut, Officer!" D hob abwehrend die Hände, doch sein Lächeln entlarvte die Lüge. "Und ich gehe jede Wette ein, dass wir uns ohnehin früher oder später wiedersehen, nicht wahr?"

Leon brummelte etwas vor sich hin, das D großzügig überhörte. Dann trat er das Gaspedal durch, dass der Schneematsch unter den Reifen hochflog, und schwieg, bis sie auf dem Parkplatz des Flughafens anhielten.

 

"Als ob ich sonst nichts zu tun hätte!", maulte Leon, als sie das weihnachtlich geschmückte Terminal durchquerten.

Chris rannte bereits auf die riesige Glasfront zu, und bestaunte die startenden und landenden Flugzeuge. Und auch D hatte ein genaues Ziel. Er warf einen kontrollierenden Blick auf die große Anzeigetafel, auf der sämtliche ankommenden und startenden Flüge vermerkt waren, und schritt dann zielstrebig auf einen Schalter zu.

Misstrauisch beäugte Leon die große Transportbox, die auf einem Kofferwagen zu ihnen geschoben wurde. Während D noch den Papierkram erledigte, versuchte Leon bereits, einen Blick in die Box zu werden, doch das Innere war so dunkel, dass er nichts in den Schatten erkennen konnte. Alles, was ihm entgegenkam, war ein äußerst strenger Geruch.

"Verdammt, D!" Leon wandte sich angeekelt ab. "Du öffnest besser mal die Box und schaust nach deinem Tier. So wie es riecht, scheint es den Flug nicht überlebt zu haben."

Ohne Eile näherte sich D seinem Begleiter, der sich hochdramatisch frische Luft zufächelte.

"Das ist widerlich, echt jetzt!"

"Das Tierchen lebt", sagte D knapp, ohne den von Leon empfohlenen Blick in die Box geworfen zu haben.

"Dem Gestank nach nicht...", widersprach Leon schroff. "Welches lebende Tier verbreitet denn bitte so einen Gestank?"

"Das weiß ich auch noch nicht", entgegnete D knapp, "aber ich lasse mich gerne überraschen." Sorgsam verstaute der Count die Papiere, die er am Schalter erhalten hatte und machte sich auf die Suche nach Chris.

"Wie ist das Vieh eigentlich durch die Quarantäne gekommen?" Leon, der den Kofferwagen zuerst vor sich her schob, es sich dank der Windrichtung und dem üblen Geruch, der ihm dadurch ins Gesicht wehte, anders überlegte und ihn dann lieber hinter sich her zog, gab sich Mühe, mit dem Count und Chris Schritt zu halten.

 

"Den Geruch bekomme ich nie wieder aus den Polstern!" Missmutig wuchtete Leon die Box in den Kofferraum seines Wagens und schlug schnell den Deckel zu, ehe die Duftwolke ihn erreichte. "Du schuldest mir eine Wagenwäsche", erklärte er D, während er sich auf den Fahrersitz fallen ließ und so schnell es ging, das Seitenfenster runterkurbelte. Selbst wenn sie auf der Heimfahrt alle erfroren, würde dieses Fenster keinen Millimeter mehr hochgekurbelt.

 

"Sayonara!", verabschiedete sich Leon von D, nachdem er noch großzügig die Box aus dem Kofferraum heraus gehoben und auf der obersten Treppenstufe des Pet Shops abgestellt hatte. "Viel Spaß mit deinem toten Vogel..." Leon tippte sich an die Stirn und schlenderte die Treppe hinab zu seinem Wagen, der mit vier offenen Fenstern da stand und hoffentlich bald ausgelüftet war.

Chris, der mittlerweile auf dem Beifahrersitz saß, winkte traurig D zu.

"Officer."

Leon, der gerade dabei war, einzusteigen, hielt inne. "Ich packe dir dein Tier nicht aus", rief er D zu und schüttelte bekräftigend den Kopf.

"Das meinte ich nicht." D nickte zu Chris hin.

Leon verstand sofort. Er beugte sich zu dem Jungen hinab. "Du willst ernsthaft dabei sein, wenn er das stinkende Vieh aus der Box nimmt?"

Chris nickte freudig.

"Und du wirst nicht heulen, wenn es – sagen wir – tatsächlich nicht mehr ganz so lebendig ist?"

Chris schüttelte grinsend den Kopf.

"Und wenn-"

"Jetzt machen Sie es doch nicht so spannend, Officer", unterbrach D Leon, der ihm einen schnellen giftigen Blick über das Dach hinweg zuwarf.

"Na los, dann verschwinde." Leon knuffte seinen kleinen Bruder freundschaftlich gegen den Arm. Chris fiel ihm dankbar um den Hals und keine drei Sekunden später war er aus dem Auto draußen und die Treppen zum Pet Shop hinaufgerannt.

"Ähm, D?" Leon spürte, wie ihm die folgende Frage förmlich den Mund verätzte, so ungern stellte er sie, doch er kam nicht drumherum. "Ich bin momentan an einem, äh, Fall dran, für den ich eventuell auch-auch, äh, Nachtschichten-"

"Chris kann gerne so lange hier bleiben", kam D dem stotternden Leon gnädig zu Hilfe.

"Vielen Dank!" Leon fiel auf den Fahrersitz, schnallte sich an und startete den Wagen. "Aber zuerst fahre ich zur Waschanlage. Wenn ich mit diesem Stallgeruch bei den Klienten auftauche, kann ich gleich wieder abdampfen...", sprach's und brauste davon.

D lächelte Chris freundlich zu. Er sah zur Box hinüber, in der sich noch immer nichts regte. "Wie gut, dass sie Rollen hat", stellte er fest und öffnete die Tür des Pet Shops.

 

Vorsichtig rollten D und Chris die Transportbox in den Pet Shop. Sie waren sich schnell einig gewesen, den neuen Bewohner in den schönsten Raum zu bringen, den der Pet Shop zur Zeit zu bieten hatte. Er war der höchste, den Chris hier jemals gesehen hatte. Pflanzen, deren Stämme zum Teil so dick wie Bäume waren, rankten sich in die Höhe. Durch ihre dichten Kronen war die Decke nicht mehr zu sehen. Und inmitten dieser friedlichen Oase stellten sie die Box ab.

D öffnete das Gitter an der Vorderseite und trat beiseite.

Es war noch immer alles still in der Box. Kein Laut drang zu ihnen nach draußen und dennoch war sich D sicher, dass alles in Ordnung sei. Chris schob die aufkommenden ängstlichen Gedanken beiseite, sein Bruder könnte doch Recht behalten und das Tier sei tot. D würde ihn niemals anlügen.

"Geben wir ihm etwas Zeit", machte D seinem kleinen Gast Mut, der gebannt vor der Box stand und den Eingang nicht aus den Augen ließ. "Es hat eine lange Reise hinter sich und so schwach wie es ist, wird es ein noch bisschen brauchen, um sich hier anzupassen."

Chris versuchte, ein Lächeln. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Zimmers und im Türrahmen erschienen all die anderen Bewohner des Pet Shops. Unter ihnen erkannte Chris die blonden Locken von Pon-Chan und den wilden Rotschopf von T-Chan, die als erste das Zimmer vorsichtigen Schrittes betraten. Pon-Chan hob ihre kleine Nase in die Luft und schnupperte sachte. An T-Chan geklammert, näherte sie sich der Box.

Staunend sah Chris zu, wie ihnen alle anderen folgten, jeder so, wie er konnte. Einige schlängelten sich über den Boden, andere gingen oder flogen, und ein paar krochen, aber alle hatten nur dieses eine Ziel: die Box mit dem unbekannten Bewohner. Sachte und ohne gegen die Box zu stoßen, legten sich einige direkt daneben. Von irgendwoher erklang leises Wimmern und Chris sah fragend zu D auf.

"Es ist ihre Art, ihr Mitgefühl auszudrücken." Ds Blicke schweiften über die bunte Meute, die sich in dem Zimmer versammelt hatte. "Sie leiden mit ihm." Seine Hand fuhr sachte über Chris' Kopf. "Du kannst gerne hier bleiben. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Wir sehen uns später."

Zusammen mit den anderen Bewohnern blieb Chris in dem Zimmer zurück. Er schwang sich auf ein Sofa, das in der Nähe stand und wartete.

 

 

Die enge Straße schlängelte sich im ebenso engen Zickzackkurs den Berg hinauf, dessen sonnenbeschienener verschneiter Gipfel weit hoch oben golden über den Wolken thronte.

Leon hatte keine Zeit, diesen atemberaubenden Ausblick zu genießen. Jede Unaufmerksamkeit auf dieser von steilen Abhängen gesäumten Serpentinenstrecke würde hier schnell bestraft werden und ihn im besten Fall das Leben kosten, sollte er auch nur etwas zu weit über den Fahrbahnrand kommen. Wie auf dem Boden festgeklebt scannten seine Augen jeden Meter der schmalen Bergstraße ab. Sollte ihm jetzt jemand entgegen kommen, dann hätten sie ein Problem...

Irgendwo auf halbem Weg den ehrfurchtgebietenden Giganten hinauf, lag zwischen rauem Fels und knorrig wachsenden, windgebeugten Kiefern eine Pension, wo ihn seine momentanen Auftraggeber bereits erwarteten. Er wusste noch nicht viel über den Fall, außer, dass es wohl um eine ungewöhnliche Häufung plötzlicher Todesfälle in dieser Gegend ging. Was, wenn er sich die dichten Wälder so ansah, wo sich zwischen harmlos dastehenden Bäumen unvermutet eine tiefe Felsspalte auftat, nicht ganz verwunderlich war. Der überall umher wabernde Nebel, der dicht über den Boden kroch, machte die Sache auch nicht gerade besser.

 

Erleichtert, die Strecke ohne besondere Zwischenfälle erfolgreich hinter sich gebracht zu haben, parkte Leon seinen Wagen auf dem ansonsten leeren Parkplatz vor der Pension.

Wie im Moos kauernde Pilze hockten die unterschiedlichen Gästehäuser in der nahen Umgebung. Etwas daran stach Leon sofort ins Auge: kein einziges der Fenster war beleuchtet, noch machte es sonst den Eindruck, als wäre hier viel los. Die Lampen über den Türen brannten nicht, die Kamine auf den Dächern rauchten nicht. Und was Leon am unheimlichsten fand: es waren totenstill.

Nichts davon passte zu den bevorstehenden Feiertagen, vor denen manch einer gerne in die Abgeschiedenheit floh, noch passte es zu dem in dieser Gegend einzigartigen Thema der Pension, die dank heißer Quellen, auf die man eher zufällig beim Eisenabbau gestoßen war, einem Onsen mit allen nur erdenklichen Bequemlichkeiten nachempfunden war.

Ein Kassenschlager, dachte Leon bei sich. Eigentlich.

Die Stille hier war unerträglich.

Leon erschauderte und sah sich vorsichtig um. Dieser Gedanke, wenn es denn einer gewesen war – hatte er ihn tatsächlich nur gedacht oder doch gehört? War da nicht eine Stimme in den wispernden Bäumen gewesen? Oder war sie aus Richtung des Felsen gekommen, an dessen zerklüfteter Wand dunkles Wasser hinabrann.

"So geht es jedem, wenn man das erste Mal hier ist."

Diese Stimme war real und Leon wandte sich ihr zu.

 

"Hallo, herzlich Willkommen, Mr. Orcot." Der Mann mit der randlosen Nickelbrille und den graumelierten Haaren, der aus dem Nichts aufgetaucht war, und von dem diese Begrüßung stammte, streckte Leon seine Hand entgegen, der sie mit ungutem Gefühl ergriff. Die Hand war warm, aber was hatte er sonst erwartet? Leon lachte in Gedanken auf. Geister? Schlimmer.

"Sie sind vermutlich nur die Stadt gewohnt, da ist es kein Wunder, wenn die Stille Sie hier zuerst mal überwältigt."

Leon lachte hilflos auf. "Es war offensichtlich, nicht wahr?"

"Das legt sich normalerweise nach ein oder zwei Tagen wieder." Der Mann führte Leon in den Empfangsbereich der Pension, wo er hinter den Tresen trat und mit einer Hand auf die an der Wand hängenden Schlüssel deutete. "Was die Gästehäuser angeht, haben Sie freie Auswahl." Der bittere Satz passte hervorragend zu dem bitteren Gesichtsausdruck.

Nachdenklich betrachtete sich Leon die lückenlose Parade der Schlüssel. "Geben Sie mir das Haus, das die meisten Probleme macht."

Sein Gegenüber versuchte vergeblich, sein Unwohlsein zu verheimlichen. "Oh – natürlich – gerne-" Der Mann druckste noch etwas herum, nahm dann aber doch einen der Schlüssel von seinem Haken und überreichte ihn Leon. "Wenn Sie sich doch noch umentscheiden, sagen wir, für ein Häuschen näher hier am Haupthaus, dann können Sie selbstverständlich jederzeit tauschen."

"Werde ich sicher nicht, aber Danke für das Angebot." Leon schulterte seinen Rucksack und machte sich gutgelaunt auf den Weg, sein Refugium für die nächsten Tage zu begutachten. Keine Vorgesetzten. Keine Kriminellen. Kein D. Alles, was ihn hier erwartete, war pure Entspannung und ein knapper Bericht an seinen Chef, dass die Leute hier vermutlich nur zu unachtsam waren, und deshalb zu Tode gekommen waren.

 

 

Mit untergeschlagenen Beinen saß Chris im Schneidersitz auf dem Sofa und hatte den Kopf auf eine Hand gestützt. In der anderen Hand hielt er ein Buch, das er sich aus den unzähligen Regalen genommen hatte und in dem allerlei Dinge über fremde mythische Tier standen. Er betrachtete sich lediglich die Bilder dieser seltsam aussehenden Wesen, denn für mehr reichte seine Konzentration gerade nicht. Immer wieder schweiften seine Blicke hinüber zu der Box, in der sich noch immer nichts regte.

Die meisten der anderen Bewohner hatten ihr Lager hier abgebrochen und sich wieder in ihre eigenen Räume verzogen. Bis auf Pon-Chan, die mit fröhlich baumelnden Beinen auf einem Hocker dicht an der Box saß und T-Chan, der neben Chris auf dem Sofa lümmelte und selig vor sich hin schnarchte.

D hatte schon ein paar Mal nach ihnen gesehen, Tee und Kuchen gebracht, später Sandwichs, und war dann wieder gegangen, um erneut in dem unendlichen Gängelabyrinth des Pet Shops zu verschwinden. Und auch Leon hatte angerufen und sich nach ihm erkundigt, ein paar Witze über Ds neueste Errungenschaft gemacht, berichtet, dass die Berghütte noch langweiliger als der Pet Shop sei, wobei man im Hintergrund die heiße Quelle plätschern hören konnte, in der es sich Leon gerade gutgehen ließ. Danach hatte er sich bis morgen verabschiedet und wieder aufgelegt.

Die Sonne war schon etwas länger untergegangen und langsam merkte Chris, wie er müde wurde. Mit jedem Blatt, das er in dem Buch umblätterte, schwand das bisschen Konzentration und schon bald fielen ihm die Augen von ganz alleine zu.

 

 

Nach dem überaus wohltuenden Bad in der heißen Quelle saß Leon nun zum Abendessen im Restaurant des Haupthauses und sinnierte darüber, was er noch an Informationen von den Besitzern über das Geschehen der letzten Monate hier erhalten hatte.

'Alles' hätte begonnen, nachdem man vor einigen Jahren die Pension samt Gäste- und Badehäusern renoviert hatte. Man hatte keine Kosten gescheut, die in die Jahre gekommene Anlage zu modernisieren. Mit Erfolg, fand Leon. Alle Wände hier waren mit edel aussehendem Holz vertäfelt, die Böden in den Gästehäusern waren mit teuren Tatamimatten ausgelegt und den krönenden Abschluss bildete die minimalistische, jedoch alles andere als billig scheinende Einrichtung. Man hatte sich alle Mühe gegeben, dem japanischen Original so nahe wie möglich zu kommen. Was absolut gelungen war. Vergaß man die Nummernschilder an den Autos der Besucher und ersetzte die Buchstaben des ein oder anderen Schildes durch Schriftzeichen, war die Illusion perfekt.

Es wirkte alles so unfassbar normal, dass er sich nicht vorstellen konnte, was hier angeblich geschah. Er fand nasse Flecken, die an den Wänden auftauchten, nicht besonders beunruhigend, immerhin war das hier eine abgelegene Badeanstalt für Touristen. Von Flüchen war die Rede gewesen und Geistern, die all jene heimsuchten, die es wagten, hier abzusteigen.

Aberglaube gepaart mit ein bisschen Urban Legend, aber Existenzbedrohend, wie es der Besitzer ihm gegenüber ausgedrückt hatte, fand er nichts. Wenn die Leute schlau waren, würden sie eher noch Profit aus ihren Gespenstergeschichten schlagen, anstatt die Polizei mit diesem Nonsens zu behelligen, nur weil der kleinste gemeinsame Nenner der war, dass ein paar Menschen, die die heißen Quellen hier besucht hatten, hinterher gestorben waren. An Dingen, an denen Menschen nun mal starben. Herzinfarkt, häuslicher Unfall und so weiter.

Leon hatte über alles nur den Kopf schütteln können. Das einzig unheimliche, das ihm bisher widerfahren war, war, dass irgendjemand in seiner Abwesenheit einen Futon in seinem Gästehaus vorbereitet hatte.

"Perfekt!", seufzte Leon und ließ sich angezogen wie er war, in die weiche Daunendecke fallen. Der Auftrag hier würde ein Klacks. Ein Klacks mit Wellness-Faktor, so viel war sicher.

Leon merkte, wie der Tag langsam seinen Tribut forderte. Die Fahrt hierher war lange gewesen und das Bad hatte seinen Teil dazu beigetragen, so dass er jetzt kaum noch in der Lage war, die Augen offenzuhalten. Ausziehen konnte er sich immer noch. Gleich. Nur kurz die Augen schlie-

 

 

Ein leises Scharren schlich sich gegen Morgen in Chris' tief schlafendes Unterbewusstsein und weckte den Jungen schließlich. Die Augen reibend setzte sich Chris auf. Eine Decke, die auf ihm gelegen hatte, rutschte zu Boden. T-Chan, der sich in einer Ecke des Sofas zusammengerollt hatte, murrte vor sich hin und trat gegen Pon-Chan, die kurz erschrocken auffuhr, nur um sich gleich wieder hinzulegen.

Chris streckte seine Hand nach der Decke aus, um sie wieder über sich zu legen, da hörte er das Scharren wieder, das ihn kurz zuvor aus dem Schlaf gerissen hatte. Es kam aus der Box. Eindeutig. Es musste das neue Tier sein.

Neugierig geworden verließ Chris sein Nachtlager und schlich zu dem rechteckigen Kasten hinüber, der vor dem großen Fenster stand. Gespannt trat Chris vor die Öffnung. Er musste etwas in die Knie gehen, um hineinzusehen, doch kaum tauchte sein Gesicht vor der Box auf, verstummte das Scharren darin.

Chris kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas im dunklen Inneren der Box zu erkennen, er sah in jede Ecke, aber so sehr er sich auch anstrengte, es war nichts zu sehen. Er seufzte enttäuscht und wollte gerade wieder zurück zum Sofa gehen, als ihm die winzige Bewegung im Schwarz der Schatten auffiel.

Mit angehaltenem Atem sah Chris zu, wie sich etwas aus dem Dunkel Richtung Öffnung schob. Eine kleine Pfote reckte sich ihm entgegen. Oder nein, keine Pfote. Ein Ärmchen vielleicht?

Chris ließ die angehaltene Luft, die in seinen Lungen zu schmerzen begann, raus und tat einen vorsichtigen Atemzug.

Er hatte so etwas noch nie gesehen! Das Ärmchen, das mit der Pfote erschien, sah alt aus. Sehr alt. Die Haut an dem dürren Arm glich der Haut einer wirklich alten Schildkröte. Aber nicht ganz. Chris fand keine Worte dafür, weil es das erste Mal war, dass er so etwas sah.

Fasziniert streckte er seine Hand dem kleinen Arm entgegen, der nun langsam alle Scheu abzulegen begann. Chris drehte seine Hand um und hielt dem Neuankömmling seine geöffnete Handfläche hin. Und auch die vermeintliche Pfote öffnete sich nun und die bis eben darin verborgenen fingerartigen Glieder streckten sich aus. Es war eine winzige, dunkle Hand mit ebenso winzigen und dunklen Fingernägeln, die nun über der ihr angebotenen Handfläche schwebten und sich dann senkte. Für die Dauer eines Wimpernschlags berührte die winzige Hand die Hand des Kindes und dann war es auch schon wieder vorbei.

 

"Es hat dir die Hand gegeben?" D, der ein Tablett mit Frühstück für seinen kleinen Besucher auf dem Tisch vor dem Sofa abstellte, nahm am anderen Ende des Tisches Platz und sah amüsiert dem kleinen Jungen dabei zu, wie er sich hungrig über das Mahl hermachte.

Nachdenklich sah er zur Box und dachte über die Beschreibung nach, die Chris ihm, so gut er konnte, von dem kleinen Wesen gegeben hatte. Er hatte einen Verdacht, aber so lange sich das Geschöpf ihnen nicht ganz zeigte, blieb es leider nur bei diesem ersten Verdacht. Sollte er sich bestätigen, dann gab es noch Hoffnung für das Kleine, dass es ihm bald wieder besser gehen würde – sie mussten nur das passende Zuhause finden.

 

 

Unabhängig aller Warnungen, die er gestern noch von den Besitzern des Onsen zu hören bekommen hatte, hatte Leon eine äußerst ruhige Nacht hinter sich. Keine Geister. Kein Spuk. Kein von der Wand tropfendes Wasser. Die Gerüchte waren eben nur das: Gerüchte.

Ein bisschen bedauerte er es zwar schon, dass sein Aufenthalt nun schon zu Ende gehen sollte, doch wem wollte er hier was vormachen? Die Zeit, die er hier unnötig herumsaß, um auf irgendwelche abergläubischen Erscheinungen zu warten, würde er lieber mit Chris verbringen.

"Bitte bleiben Sie, Mr. Orcot. Es zeigt sich nicht immer gleich in der ersten Nacht. Und ich schwöre bei allen meine Ahnen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht."

Die flehenden Blicke des Mannes weckten das schlechte Gewissen in Leon. "Wissen Sie, ich bin Polizist, kein Geisterjäger..."

"Die Leute sind nicht einfach so an den üblichen Sachen gestorben."

"Da sagen die Berichte aber etwas anderes." Ein bisschen fand es Leon schon amüsant, wie man hier einen eigenen Mythos zu fabrizieren versuchte. "Da war dieser übergewichtige Zugführer, der an einem Herzinfarkt verstarb. Eine etwa siebzig Jahre alte Frau, die-"

"Das mag ja alles sein", unterbrach der Mann Leon düster. "Aber in der Zeit, in der sie hier waren, konnte man zusehen, wie sie immer schwermütiger wurden. Beim ersten Mal berichteten sie mir noch aufgeregt von den weinenden Wänden, aber einen Tag später schien es sie schon nicht mehr zu stören. Die fröhlichen Menschen, die hier ankamen, gingen als Geister nach Hause."

Es kostete Leon große Mühe, nicht die Augen zu verdrehen.

"-und deshalb würden wir Sie gerne privat engagieren, wenn Ihnen das Recht ist."

Jetzt war Leon wieder hellwach. "Engagieren? Privat?" Er verschränkte die Arme vor sich auf dem Empfangstresen und beugte sich interessiert vor.

Der Mann nickte bekräftigend und Leons Lippen bogen sich zu einem breiten Lächeln. Leicht verdientes Geld, was will man mehr so kurz vor Weihnachten? Außerdem hatte er somit noch etwas länger Ruhe vor D und seinem Zooladen-Kram.

"Ich denke, wir kommen ins Geschäft!" Leon reichte dem Pensionsinhaber grinsend die Hand. "Ich müsste nur mal schnell telefonieren."

 

 

Die kommende Nacht blieb D bei Chris, Pon-Chan, T-Chan und der unbekannten Kreatur in der Box. Und wieder zeigte es sich gegen Morgen.

D überlegte kurz, ob er Chris wecken sollte, damit er das Schauspiel mitansehen konnte, doch da bemerkte er, dass der Junge bereits hellwach neben ihm saß und das fremdartige Wesen bestaunte, das zuerst langsam aus der Box kroch und dann mit unsicheren wackeligen Schritten zum Fenster hin tappste. Dort angekommen, zog es sich am Fensterbrett hoch und ließ sich darauf nieder.

"Endlich weiß ich, was es ist", flüsterte D erfreut.

 

"Wie geht’s Chris?"

D horchte auf. Die Stimme am Telefon klang nicht wie er es von Leon gewohnt war.

"Ganz gut. Und wie geht es Ihnen, Officer? Schon etwas neues von Ihrem Auftrag?"

Leon schnaubte kurz. Einen Moment dachte er darüber nach, D von der vergangenen Nacht zu berichten, die dieses Mal alles andere als geruhsam war, doch dann besann er sich. Hysterie war nicht ganz sein Metier.

"Kann sein, dass ich noch einen oder zwei Tage bleiben muss. Ich hoffe, das ist Okay."

"Natürlich."

"Hat sich das neue Tierchen schon gezeigt?"

Jetzt wusste D, dass etwas ganz und gar nicht mit Leon stimmte. "Hat es in der Tat und es ist sogar am Leben."

Leon überging den kleinen Seitenhieb kommentarlos, was absolut untypisch für ihn war. Er murmelte lediglich ein knappes 'Aha' und ging dann dazu über, das Gespräch zu beenden. "Richten Sie Chris bitte einen schönen Gruß aus. Ich-" melde mich dann wieder, hatte Leon noch hinzufügen wollen, doch seine Hand hatte den Hörer von ganz alleine zurück auf die Gabel gehängt.

 

In seinem Gästehaus angekommen, nahm Leon wieder an dem niedrigen Tischchen Platz, das in der Mitte des Raumes stand. Entrückt starrte er die Wand vor sich an, auf der seit letzter Nacht dunkle Flecken erschienen waren, die immer größer wurden und dann einfach an der Wand hinabliefen. Tatsächlich wie Tränen, dachte Leon bevor er diesen Gedanken wieder verlor.

Das Flüstern von Milliarden Windbewegter Blätter drang an sein Ohr. Abertausende Stimmen, die ihn an Dinge erinnerten, die er schon lange an der tiefsten Stelle all seiner Gedanken vergraben geglaubt hatte. Die Traurigkeit, die aus der Wand floss, floss in sein Herz, das ob der Masse schier überzulaufen drohte. Schwarzes Wasser wurde zu schwarzen Gedanken, die in jede einzelne Pore seines Körpers drangen.

Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie sehr er das vermisste, was für viele Menschen selbstverständlich war. Er vermisste es, ganz normal am Frühstückstisch zu sitzen etwa. Mit seiner Familie. Er vermisste die Leute, die sich darüber freuten, wenn er wieder nach Hause kam. Die erleichtert waren, dass ihm während seines Jobs nichts zugestoßen war. Er vermisste einfach – ein Zuhause. Nicht seine chaotische Wohnung, sondern ein Heim, wie sie es früher gehabt hatten. Alles, was Chris niemals bekam, weil er selbst einfach nicht das war, was Familie bedeutete. Er war nur der große Bruder, der sich zwar kümmerte, aber das war es auch schon. Hatte er jemals eine Veranstaltung besucht, wie es Eltern etwa taten? Alles, was er vorzuweisen hatte, war seine Anwesenheit und nicht mal die war besonders sinnvoll. Selbst im Pet Shop war Chris besser aufgehoben, als bei Leon, der, anstatt dass er sich darüber freute, dass Chris einen Platz gefunden hatte, wo er stets willkommen war, es ihm auch noch jedes Mal madig machte.

Das Wasser aus der Wand hatte Leon erreicht. Es traf ihn wie ein Stromschlag, als das eiskalte Nass seinen Fuß berührte.

Leon erhob sich wie in Trance und verließ sein Gästehaus. Er brauchte unbedingt ein Bad in der heißen Quelle. Danach würde es ihm sicher wieder besser gehen.

 

Im Badehaus begann Leon damit, sich zu entkleiden. Er wusch sich schnell und schritt dann auf die Schiebetür zu, die das Haus vom Badebereich trennte.

Es hatte geschneit, stellte sein Unterbewusstsein fest, ohne dass sein Körper auf den Schnee reagierte, durch den er barfuß lief. Die heißen Quellen lagen wie erschöpft da. Der dichte, warme Wasserdampf, der sonst immer über ihnen gehangen hatte, war verschwunden, ganz so, als sei das Feuer, das sie erwärmte, erloschen. Übrig geblieben waren lediglich dunkle Kreise, deren äußerer Rand bereits eine dicke Eiskruste gebildet hatte, und in deren klirrend kaltes Wasser Leon gerade hinabstieg.

Es tat wirklich gut, als er untertauchte und das Wasser über ihm eine erholsame Barriere zwischen sich und den Milliarden flüsternden Stimmen aus der Dunkelheit bildete.

 

Was ist es? Chris' lautlose Frage drang in D's Bewusstsein ein.

Etwas, dem wir dringend helfen müssen, entgegnete er ebenso stumm.

Das dürre Wesen mit der dunklen Haut und den langen zotteligen Haaren sah sie aufmerksam an. In seinen riesigen schwarzen Augen, die wie tiefe Bergseen wirkten, schwamm unendliche Traurigkeit. Es wandte sich von Chris und dem Count ab und blickte wieder aus dem Fenster zu irgendeinem fernen Punkt, den nur es sehen konnte. Das dünne Ärmchen mit der winzigen Hand tippte mit dem Fingernagel gegen die Glasscheibe. Klack, klack, klack.

Innerhalb eines Tages hatte es sich körperlich bereits gut erholt, womit kaum jemand gerechnet hatte. Es nahm jedenfalls Nahrung zu sich, auch wenn diese nur aus diversen Körnern und Früchten bestand. Dass es aß war ein gutes Zeichen. Doch selbst das konnte nicht über die erdrückende Schwermut hinwegtäuschen, die die Kreatur mit der Haut wie Baumrinde unentwegt aus dem Fenster starren ließ.

Das klingelnde Telefon ließ D aufhorchen. Er sah zu Chris, der der traurigen Dryade ein Stück Apfel hinhielt, den sie annahm und zur großen Freude des Jungen sogar aß.

"Ich bin gleich wieder zurück", entschuldigte sich D und verließ das Zimmer.

 

Leon hatte Tränen in den Augen, als D, Chris und die übliche Entourage aus dem Pet Shop ihn zwei Tage später im Krankenhaus besuchte. Er hatte ihnen alles erzählt. Von dieser lähmenden Traurigkeit, die ihn so plötzlich in seinem Gästehaus befallen hatte und auch von dem Holz, das das gleiche wie er gefühlt zu haben schien. Und dem Schock darüber, als er hier im Krankenhaus wachgeworden war und man ihm sagte, dass er beinahe in einer der plötzlich eiskalt gewordenen Quellen, von der er schwören konnte, dass sie normal heiß gewesen war als er hineinstieg, ertrunken wäre.

Zuerst hatte ihn D angesehen, als wäre er sich nicht sicher, ob die Unterkühlung nicht doch mehr Schaden bei Leon angerichtet hatte, als angenommen. Doch als Leon die Sache mit dem weinenden Holz erwähnte, fuhr der Count auf einmal kerzengerade von seinem Sitzplatz auf und murmelte etwas, das wie Das ist die Lösung! klang. Danach hatte er es ziemlich eilig gehabt, sich zu verabschieden und aus dem Krankenhaus zu kommen, worüber Leon natürlich ziemlich verstimmt war.

Erst eine Woche später sollte sich das Rätsel auflösen, nämlich dann, als Leon vor dem Pet Shop stand und einen Käfig in die Hand gedrückt bekam, in dem ein pelziges Tier saß, das Leon aus aufmerksamen Augen ansah.

"Was soll ich mit der fetten Ratte?", fragte Leon verblüfft.

"Das ist ein Fuchshörnchen, liebster Officer Orcot", flötete D zuckersüß, während er hinter sich die Tür schloss. "Und ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mir liebenswürdigerweise angeboten haben, es mit mir im Wald auszusetzen."

"Ich habe dir gar nichts angeboten", protestierte Leon und wollte den Käfig gleich wieder an seinen durchgedrehten Besitzer zurückgeben, doch der schlenderte bereits gutgelaunt die Treppen des Pet Shops hinab zu Leons Wagen und nahm seelenruhig auf dem Beifahrersitz Platz.

"Wenigstens stinkt es nicht mehr", murrte Leon, der den Käfig mit dem zeternden Fuchshörnchen in den Kofferraum hob.

Auf der Rückbank kicherte Chris vor sich hin. D hatte ihm alles über die Dryade erzählt, die in Leons Augen nichts als eine fette Ratte war. Er hatte ihm davon erzählt, wie der riesige uralte Baum, in dem die Dryade seit tausenden von Jahren gelebt hatte, geschlagen und zu Brettern verarbeitet worden war, mit denen man die Pension renoviert hatte, in der Leon beinahe in einer heißen Quelle ertrunken wäre. Die Dryade, die alleine zurückgelassen worden war, hatte unsäglich unter der Trennung von ihrem Baum gelitten und auch das Holz hatte getrauert.

Und D hatte ihm gesagt, dass eine Dryade immer in der Nähe ihres Baumes sein musste, weil sie sonst krank wurde. Und auch wenn der Baum jetzt eigentlich gar kein Baum mehr war, so war immer noch genug von ihm übrig, dass die Dryade für mindestens weitere tausend Jahre glücklich war.

 

 

 
 

E N D E

 


 



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