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... in den tosenden Abgrund (2002 / 02)

23. Kapitel - 2002 (Februrar)
 

„Du hast Fortschritte gemacht. Große sogar. Sehr gut“, nickt mir mein Englischlehrer anerkennend zu, klopft mir dabei auf die Schulter, während er mir meine Beurteilung hinhält.
 

„Danke“, sage ich kurz angebunden, nehme den Zettel entgegen und lege ihn unachtsam in meinen Block, den ich kurz darauf in meiner Tasche verstaue.
 

„Hast du jemandem mit dem du lernen kannst?“
 

„Ja“, gestehe ich knapp.
 

Mein Lehrer ist ein netter Mann, kaum älter als ich. Vielleicht gerade einmal Anfang dreißig. Er bleibt immer geduldig und ruhig, selbst wenn ich einmal die Beherrschung verliere und durch das kleine Klassenzimmer tobe, in dem wir zusammen lernen. Er ist von Beruf her Englischlehrer und gibt Nachhilfe nur nebenbei. Ich mag ihn, auch wenn ich mich ihm gegenüber nur wenig öffne. Es reicht mir, dass er mir die Sprache beibringt, die die ganze Welt zu sprechen scheint.
 

„Richte ihm meinen Gruß aus“, lächelt er mir zu, klemmt sich seine Unterlagen unter den Arm.
 

„Woher wissen Sie, dass es ein Junge ist?“, bin ich erstaunt.
 

„Wusste ich nicht. Bis eben“, schmunzelt Herr Gerdens, verabschiedet sich bei mir und lässt mich ein wenig verwirrt im Raum zurück.
 

Einen Moment lang zögere ich, dann zucke ich jedoch ergeben mit den Schultern, trete ebenfalls auf den Flur hinaus und mache mich auf den Weg. Ich treffe mich mit einem Tutor von mir, der mir dabei hilft meinen Schulabschluss zu schaffen. Gerade als ich aus dem Schulgebäude trete, klingelt jedoch mein Handy und ich halte inne.
 

Die Nummer auf dem Display ist mir nicht unbekannt und doch kann und will ich nicht glauben, dass ich sie wirklich vor mir sehe. Es dauert schier unendlich lange, bis ich mich wage, den Anruf entgegen zu nehmen.
 

Schweigend höre ich auf die schluchzende Frauenstimme am anderen Ende. Ich finde keine Worte. Was sollte ich ihr nach so langer Zeit auch noch zu sagen haben? Dennoch fühle ich mich gelähmt und verwundet. Ihre Stimme… sie ist mir so vertraut… sie reißt alte Narben auf, die ich verheilt wähnte. Doch Schatten lassen sich auch nicht durch ein neues Licht vertreiben.
 

„Schon gut“, flüstere ich rau. „Ich werde kommen.“
 

Damit lege ich auf. Wie angewurzelt stehe ich auf dem Schulhof herum, starre in den weitläufigen Himmel und sehe dunkle Wolken heraufziehen, die einen lang anhaltenden Regen versprechen.
 

Blind tippe ich eine Zahl ein, drücke den grünen Hörer und lausche nun auf das beständige Tuten. Es dauert eine Weile bis sich jemand meldet, denn ich weiß, dass Jamie mitten in der Arbeit steckt. Trotzdem ist es er selbst der rangeht.
 

„Raphael?“, höre ich seine überraschte Stimme, die mir einen Stich durchs Herz jagt.
 

„Du musst mit mir kommen“, sage ich leise. „Bitte.“
 

Eine Weile ist es still am Telefon, nur die Hintergrundgeräusche aus der Küche dringen zu mir vor. Die wütende Stimme des Chefs, das laute Zischen von Öl in Pfannen. Scheinbar hat er einen stressigen Tag im Tagungshotel, wenn bereits jetzt so viel Trubel herrscht. Beinahe tut es mir leid, dass ich ihn angerufen habe. Aber es ist eine Sache, die uns beide betrifft. Darüber vergesse ich unseren Streit.
 

„Ist gut. Wo treffen wir uns?“, scheint er mich genaustens zu verstehen.
 

„In einer Stunde in meiner Wohnung.“
 

„Okay.“
 

Jamie legt auf. Ich fühle mich taub. Stumpf.
 

Langsam, Schritt für Schritt, mache ich mich auf den Weg. Zwischen der Schule und der U-Bahn Station sage ich alle meine Termine für heute ab, auch mein Treffen mit Chris, der darüber sehr verwundert ist, es jedoch einmal mehr hinnimmt.
 

Ich bin mir unschlüssig ob ich Thomas anrufen soll, dann aber lasse ich es bleiben. Ich will erst einmal selbst sehen was das alles mit sich bringt. Ob sich meine Befürchtungen überhaupt bewahrheiten. Letztendlich ist es Erich den ich anrufe und verständige. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich ihm in dieser Situation mehr vertrauen kann als den anderen. Er wird nicht den Kopf verlieren, egal was passiert.
 

Bei meiner Wohnung angekommen, falle ich wie tot auf das Sofa, starre auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers und lasse meine Gedanken einander jagen. Ich kann es nicht aufhalten. So viel geht mir gerade durch den Kopf, dass ich schon fast befürchten muss, dass er platzt.
 

Das Klingeln aus der Tür reißt mich etwa vierzig Minuten später aus meiner Starre und ich lasse Jamie herein, der mich besorgt, wenn auch ein wenig distanziert, mustert. Ohne sich der Jacke oder Schuhe zu entledigen setzt er sich in den Sessel und sieht mich abwartend an.
 

„Was ist los?“, fragt er schließlich als ich nicht spreche.
 

„Mutter hat angerufen“, sage ich schlicht, sehe wie er erschrocken zurückzuckt. Auch er hatte seit seinem Auszug keinen Kontakt mehr zu unseren Eltern. Was auch immer zwischen ihm und Vater und Mutter vorgefallen ist, es ist wohl genauso unschön wie bei mir. Auch wenn er vielleicht nicht geschlagen wurde, so leidet er doch genau wie ich unter den seelischen Grausamkeiten unserer Erzeuger.
 

„Was hat sie gewollt?“, traut er sich nach einer Weile zu fragen.
 

„Sie sagt, dass Vater ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Krebs bricht aus.“
 

„Es geht also endgültig zu Ende mit ihm…“, murmelt Jamie undeutlich, verbirgt sein Gesicht in seinen Händen.
 

„Jamie…“, sage ich unsicher. „Was… was ist damals zwischen euch passiert?“
 

Langsam hebt mein kleiner Bruder den Blick, doch er geht durch mich hindurch. Er sieht in die lang verdrängte Vergangenheit, von der er sich losgesagt glaubte. Aber wie auch mich, verfolgen ihn die Dämonen von damals. Oder besser, der eine Dämon, der jetzt im Sterben begriffen ist.
 

„Mutter war immer wie ein Geist. Sie wandelte durch den Tag mit dem einen Gedanken, der sie vollständig ausfüllte. Vater ist ihr Ein und Alles, er beherrscht sie. Als du fort warst… nie war ich einsamer…“, erzählt Jamie stockend, mit Tränen in den Augen. „Niemand hat mich angesehen, niemand hat mich beachtet. Es war egal was ich tat, so lange ich nur nicht in Vaters Nähe kam. Mitschüler haben mich um meine Freiheit beneidet, aber ich… ich wäre froh gewesen, wenn es jemanden gegeben hätte, der… der da gewesen wäre…“
 

Jamie beginnt zu schluchzen, sein ganzer Körper bebt und zittert, er vergräbt seine Finger in den Sessellehnen, sucht krampfhaft nach Halt und Sicherheit. Langsam, zögerlich gehe ich zu ihm herüber, knie mich vor ihm hin und lege meine Hände auf seine Beine.
 

„Irgendwann habe ich dich vergessen… ich dachte, du wärst nur ein Traum gewesen…“
 

„Es tut mir leid“, flüstere ich. „Verzeih mir. Ich wollte dich beschützen und habe dich trotzdem alleine gelassen.“
 

„Schon gut. Du kannst es nicht mehr ändern.“
 

„Nein“, stimme ich betrübt zu. „Kann ich nicht.“
 

Jamie streckt mit einem Mal seine Hände nach mir aus, sinkt zu mir auf den Boden, lässt sich von mir auffangen und halten, während er seinen Gefühlen vielleicht zum allerersten Mal in seinem Leben freien Lauf lässt. Ich hatte Unrecht ihn zu verurteilen und von mir zu stoßen. Genau wie ich, hat er gelitten, doch ich konnte nur mich sehen.
 

Lange Zeit halten wir uns gegenseitig fest, spenden uns Trost und vergessen alles was zwischen uns gestanden hat. Es bedarf keiner Worte mehr, als Jamie sich schlussendlich von mir löst und aufsteht. In seinem Blick sehe ich, dass er bereit ist für einen Neuanfang. Wir werden sehr lange brauchen um alles zu verarbeiten und uns wieder näher zu kommen, aber hier und heute können wir den ersten Grundstein zu einem besseren Verständnis legen.
 

„Ich fahre ins Krankenhaus“, teile ich ihm meine Entscheidung mit.
 

„Gut. Ich begleite dich.“
 

„In Ordnung.“
 

Wir verlassen die Wohnung, gehen zusammen durch die Stadt, bis wir bei Jamies und Martinas Wohnung angekommen sind. Hier wechselt er seine Arbeitskleidung gegen normale Sachen, nimmt sich den Autoschlüssel seiner Frau, hinterlässt dieser noch eine Nachricht und dann steigen wir gemeinsam in seinen Ford Focus, den er sich irgendwann letztes Jahr besorgt hat.
 

„Letzte Bedenken?“, fragt er, hält den Schlüssel knapp über dem Zündschloss.
 

„Nein“, meine ich schlicht, schnalle mich an.
 

Der Motor springt an, Jamie setzt den Blinker, parkt aus. Es wird etwas über zwei Stunden dauern bis wir da sind. Eine lange Zeit zum nachdenken und grübeln.
 

---
 

Ich bin sehr froh, dass ich nicht alleine hier bin, als sich die automatischen Türen hinter mir schließen und die Hektik des Krankenhauses über mir hereinbricht. Gemeinsam mit Jamie trete ich an den Rezeptionsschalter und warte geduldig, bis die Schwester zu mir hochblickt.
 

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie leicht unfreundlich.
 

„Wo liegt Herr Karl Montega?“
 

„Sind Sie mit ihm verwandt?“
 

„Wir sind seine… Söhne“, würge ich hervor.
 

„Einen Moment“, antwortet sie knapp, hackt auf die Tastatur vor ihr ein, ehe sie missbilligend mit der Zunge schnalzt. „Er liegt noch auf der Intensivstation. Benutzen Sie den Aufzug um die Ecke. Seine Frau wartet im Wartezimmer auf der dritten Etage.“
 

„Danke.“
 

Jamie packt mich am Arm, hakt sich bei mir unter und ich bemerke wie unsicher sein Schritt ist. Ich lege meine Hand auf seine, geleite ihn zum Aufzug und drücke den Knopf mit der eingravierten Drei. Oben angekommen sehe ich mich um, folge einem Schild in Richtung des Aufenthaltsraums, höre schon bald die Stimme meiner Mutter.
 

Als wir eintreten, ruckt ihr Blick zu mir und ihr entfährt ein spitzer Schrei. Dann sackt sie in die Knie und der anwesende Arzt hat so seine liebe Not sie festzuhalten. Ich eile auf ihn zu, nehme ihm die Frau ab, presse sie an mich.
 

„Reiß dich zusammen“, brumme ich böse. „Mutter.“
 

„Sind Sie Raphael Montega?“, wendet sich der Arzt an mich, während er meiner Mutter den Puls fühlt und mich anweist, sie zu einem Stuhl zu bringen.
 

„Ja“, gebe ich knapp zur Antwort.
 

„Ihre Mutter sprach von Ihnen, wie gut, dass Sie da sind.“
 

„Das ist mein Bruder, Jamie“, lenke ich den Arzt von mir ab. Es ist mir unangenehm, dass er so spricht und es wühlt mich auf, dass ich in dieser mir so dermaßen fremden Frau, noch immer das Antlitz meiner liebevollen Mutter erkennen kann, die sie einst gewesen ist.
 

„Ich bin Doktor Richards“, schüttelt er Jamie und mir die Hand. „Ihre Mutter steht unter einem leichten Schock, aber es ist nichts um sich wirklich Sorgen zu machen.“
 

Ich nicke abwesend.
 

„Wie geht es ihm?“, stellt Jamie dann die entscheidende Frage, die mir einfach nicht über die Lippen kommen will. Das Gesicht von Herrn Richards wird schlagartig ernst und besorgt.
 

„Der Krebs hat sich in den letzten Wochen stark vergrößert, dass wir uns gezwungen sahen eine Notoperation einzuleiten. Allerdings erlitt er während der Behandlung einen Herzstillstand und musste reanimiert werden.“
 

„Lassen Sie ihn einfach abkratzen…“, spuckt Jamie feindselig aus.
 

„Jamie!“, sage ich scharf und er wendet sich mit einem hasserfüllten Blick von mir ab. „Entschuldigen Sie, der Stress, Sie verstehen?“
 

„Natürlich“, gibt Doktor Richards verwirrt zurück, beobachtet meinen Bruder eine Zeit lang sehr aufmerksam, ehe er sich wieder mir zuwendet. „Ich bin nicht gerne ein Schwarzredner, aber… Sie sollten sich darauf einstellen, dass Ihr Vater bald sterben wird. Auch wenn er sich wieder einigermaßen erholen sollte, so können wir das Ausbrechen des Krebses, nicht mehr länger verhindern. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.“
 

„Ich weiß“, antworte ich schlicht. „Meine Mutter wird es nur kaum verkraften.“
 

„Wir haben hier psychologisch ausgebildetes Personal, wenn Sie darauf zurückgreifen möchten“, bietet Herr Richards mir an, wirkt dabei nicht ganz so souverän wie er es wohl gerne hätte. Auch ihm fällt es offensichtlich nicht leicht diese einfache Tatsache vom sterben meines Vaters richtig rüberzubringen.
 

Bei mir und Jamie braucht er sich die Mühe aber auch gar nicht erst zu machen. Wir wussten schon immer, dass uns die Nachricht vom Tod dieses Mannes, nicht sonderlich schockieren würde. Zumindest nicht im negativen Sinn.
 

„Danke für Ihre Mühe, Doktor“, wehre ich ihn schließlich ab.
 

„Selbstverständlich. Ich… komme dann später noch einmal.“
 

„Ja.“
 

Damit verlässt uns der Arzt und ich sinke erleichtert in einen der Stühle. Mutter sitzt vor sich hin brabbelnd da, knetet ihre Hände und wirft immer wieder einen nervösen Blick zwischen mir und der Tür hin und her. Ich strecke meinen Arm nach ihr aus, umfasse ihre Hände, halte sie fest, sehe ich fest in die Augen und fühle mich in diesem Augenblick so unendlich traurig und verloren.
 

„Schon gut“, flüstere ich. „Ist schon gut.“
 

Tränen laufen ihr über die Wangen, ich streiche sie fort. Ihre Schultern fangen richtig zu beben an, ihr ganzer Körper zittert, sie wirft sich im Stuhl vor und zurück, schluchzt laut und hemmungslos und es zerreißt mir das Herz sie so zu sehen. Nur noch eine kümmerliche, kaputte Existenz. Nicht einmal mehr ein Schatten von dem, der sie einst war. Was hat sie nur so zugerichtet? Er, oder sie selbst?
 

„Ist gut, ist ja gut“, rede ich leise auf sie ein.
 

So vergehen die Minuten, schließlich auch die Stunden. Irgendwann hat meine Mutter genug geweint, lehnt sich schlafend an meine Schulter, während ich noch immer ihre Hände halten, die ganz verkrampft unter meinen liegen. Jamie ist unruhig auf und ab gegangen, hat sich schließlich irgendwann hingesetzt und mich grimmig angestarrt.
 

„Ich habe Angst vor mir selbst“, sagt er, als Mutter tief und fest schläft. „Weil ich nie geglaubt hätte, dass ich wirklich dazu fähig bin einem anderen Menschen den Tod zu wünschen.“
 

„Ich denke, viele würden so empfinden. In deiner Situation“, antworte ich nachdenklich.
 

„Aber du nicht, oder?“
 

„Wie meinst du das?“, frage ich nach, blicke zu meinem kleinen Bruder herüber. Jamie deutet mit dem Finger auf die Frau in meinem Arm, schüttelt verständnislos den Kopf.
 

„Ich könnte das nicht. Ich ekle mich schon vor dem Gedanken, dass sie mich auch nur anfassen könnte, aber du, du beruhigst sie sogar. Du bist für sie da, wie sie es nie war.“
 

„Das stimmt nicht“, widerspreche ich. „Mutter war früher… anders.“
 

„Wann?“, will Jamie mit argwöhnischer Stimme wissen.
 

„Als ich im Kindergarten war. Vor meinem sechsten Geburtstag.“
 

„Vater schlug dich mit acht zum ersten Mal, oder?“
 

„Ja. Aber Mutter begann zu trinken, als ich gerade in die Schule kam. Und Vater wurde zu diesem Zeitpunkt immer kälter und abweisender“, erzähle ich ihm. „Ich glaube, dass sie mit dem Trinken nie aufgehört hat.“
 

„Das wusste ich gar nicht“, gesteht Jamie leise, beinahe verschämt.
 

„Du warst doch nie zu Hause“, lächle ich nachsichtig. „Sie trank meistens abends, nach dem Essen, wenn er noch mal an seinen Schreibtisch ging und ich kurz danach ins Bett musste. Wenn sie mir einen Gute-Nacht-Kuss gab, habe ich manchmal ihre Fahne gerochen. Dann war es wieder besonders schlimm.“
 

„Und trotzdem…“
 

„Ja“, unterbreche ich ihn, streichle durch das Haar meiner Mutter, sauge ihren seltsamen Geruch in mir auf. Sie hat schon immer merkwürdig gerochen, auch wenn ich nie wusste woher da kam. „Weil ich diese andere Seite an ihr kenne. Als sie noch…“
 

Weiter komme ich jedoch nicht. Ich wüsste nicht wie ich es ausdrücken soll. Normal, liebevoll? Ich kenne sie eben noch, als sie wirklich und leibhaftig meine Mutter war. Sie war nie wie andere Mütter, immer etwas gesetzter in ihren Gefühlen, aber trotzdem hatte sie diesen liebevollen Blick, wenn sie mich ansah. Und das machte sie für mich zu meiner Mama. Auch wenn ich diesen Kosenamen schon bald zu Grabe getragen habe.
 

„Und Vater? Denkst du auch so über ihn?“
 

„Nein“, antworte ich unumwunden. „Nein, Vater war schon immer… anders. Früher hat er öfters gelächelt, wenn er mich sah, oder mich mal in den Arm genommen aber das war so selten, dass ich mich heute kaum noch daran erinnere. Ich kenne nur den jähzornigen und den innerlich verfaulten Vater.“
 

„Trotzdem wünscht du ihm nicht den Tod?“, bohrt Jamie weiter.
 

„Er stirbt doch bereits, Jamie“, sehe ich meinen kleinen Bruder wieder an. „Er stirbt. Was soll ich ihm da noch wünschen? Ich werde einfach nur froh sein, wenn es vorbei ist.“
 

Stunde um Stunde verbringen wir im Wartezimmer, ohne auch nur eine weitere Nachricht vom Zustand unseres Vaters zu hören. Mutter wacht zwischendurch einmal auf, geht auf den Gang hinaus und verschwindet einige Zeit. Weder ich noch Jamie kümmern uns groß darum. Denn auch wenn ich diese Frau nicht ganz so stark verachte wie Jamie es tut, so bin ich ihr doch nicht sonderlich zugetan. Soll sie machen was sie will.
 

Eine weitere Stunde vergeht und langsam werde ich etwas unruhig. Ich stehe auf und mache mich auf die Suche nach meiner Mutter. Irgendwie habe ich im Gefühl, dass sie irgendeine Dummheit anstellt. Ich finde sie allerdings bereits zwei Ecken weiter wo sie regungslos vor einem Kaffeeautomaten steht.
 

„Wo ist dein Portmonee?“, frage ich sie, erhalte jedoch keine Antwort.
 

Während ich vorsichtig in ihren Taschen nachschaue, wundere ich mich darüber, ob sie wirklich all die Zeit hier herumgestanden hat. Ich stelle bald fest, dass sie kein Bargeld bei sich hat und seufze. Aus meiner Börse fische ich die entsprechenden Münzen, werfe sie ein.
 

„Was möchtest du haben?“, richte ich erneut das Wort an sie, doch sie reagiert nicht. „Drück einfach auf den Knopf.“
 

Jetzt regt sie sich tatsächlich, wählt einen einfachen schwarzen Kaffee, von dem ich weiß, dass nur mein Vater ihn ohne alles getrunken hätte. Ich sage jedoch nichts dazu, drücke ihr den Becher in die Hand, als er aus der Maschine herauskommt und wähle dann für Jamie einen Kaffee mit Zucker und für mich einen einfachen heißen Zitronentee, den es zu meinem leichten Erstaunen auch gibt.
 

„Na komm, wir gehen zurück“, helfe ich meiner Mutter auf die Sprünge, schiebe sie mit meinem Ellbogen vor mir her, zurück ins Wartezimmer, wo Jamie grimmig aus dem Fenster starrt. Ich reiche ihm den Becher, den er mit einem leisen Dank annimmt.
 

„Wo war sie?“
 

„Stand vor dem Automaten.“
 

„Die ganze Zeit?“, will er ungläubig wissen.
 

„Scheinbar.“
 

„Sie ist krank“, stellt Jamie fest, nippt an seinem Kaffee.
 

„Ja, ich denke schon.“
 

Wieder schweigen wir uns an und warten. Das ist das allerschlimmste daran. Zu warten. In jedem Moment könnte Vater einfach sterben, dann wäre alles vorbei, der Alptraum von über einem Jahrzehnt, wäre zu Ende gegangen. Oder aber er erholt sich und die Ungewissheit nagt sich weiter zu einem durch. Man hat viel zu viel Zeit um über alles nachzudenken.
 

Auf unserer Seite des Gebäudes sieht man wie langsam die Sonne untergeht und ich bin überrascht darüber, wie spät es tatsächlich schon ist. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und tippe die Kurzwahl für Chris ein, die Eins.
 

Lange Zeit war dieser Platz leer. Thomas hat die Zwei, Jamie die Drei und Erich die Vier. Irgendwie dachte ich immer, dass ich so festlege, wer mir am wichtigsten ist, aber wenn ich so darüber nachdenke, dann stimmt das nicht ganz. Auch wenn Erich ganz hinten steht, ist er der Erste, den ich angerufen habe. Bisher ist er außer Jamie auch der Einzige, der überhaupt weiß, was heute passiert ist.
 

Und wenn Jamie, wie ich lange Zeit geglaubt habe, der wichtigste Mensch in meinem Leben gewesen ist, warum habe ich ihm dann nur die Drei gegeben? Von Anfang an hatte er diese Zahl, auch wenn ich ihm die Eins hätte zuordnen können. Ob ich schon damals geahnt habe, dass Jamie und ich nicht so unzertrennlich waren, wie ich es gerne angenommen habe?
 

Die Grübelei macht mich ganz wirr im Kopf und ich lasse es einfach bleiben. Chris rufe ich trotzdem nicht an, sondern stecke das Handy unverrichteter Dinge wieder in die Hosentasche. Noch weiß ich nicht wie dieser Tag zu Ende geht, deswegen will ich ihn noch nicht damit beunruhigen. Außerdem ist das eine Sache, bei der ich es im Gefühl habe, dass ich sie alleine durchstehen muss, wenn ich will, dass das alles einmal vorbei ist.
 

Irgendwann um kurz nach halb sieben kommt Herr Richards herein und ich kann nur mit hartem Griff verhindern, dass meine Mutter gleich auf ihn zustürmt. Reden tut sie allerdings bereits wie ein Wasserfall und es ist schwer sie wenigstens etwas zu beruhigen. Ich zwinge sie in ihren Stuhl zurück und sehe sie fest an.
 

„Lass es“, zische ich ihr zu und ihr Gebrabbel stoppt. Ihre Augen sind groß, blicken wirr zu mir auf und ich kann auch so etwas wie Frucht in ihnen lesen. Ob sie mich oder die Nachrichten fürchtet, kann ich nicht sagen.
 

„Wie geht es ihm?“, stellt Jamie erneut diese Frage aus dem Hintergrund. Er hat sich nicht einmal zu uns herumgedreht, starrt weiterhin wie eine Statue aus dem Fenster und in den dämmrigen Himmel hinein.
 

„Soweit ist er erst einmal über den Berg. Sein Zustand ist stabil und wir konnten ihn auf ein Zimmer verlegen. Er steht aber weiterhin unter Beobachtung. Sie können jetzt zu ihm, wenn sie wollen.“
 

„Gibt es rechtliche Dinge um die wir uns kümmern sollten?“, hake ich nach, weil ich dieses leidige Thema endlich vom Tisch haben will.
 

„Ihr Vater hat schon vor einiger Zeit alles mit einem Notar geregelt und auch sein Testament gemacht.“
 

„Woher wissen sie das?“, will Jamie wissen, bleibt weiterhin da wo er ist.
 

„Ich betreue ihren Vater seit ich die Krebsdiagnose bei ihm gestellt habe. Ich war anwesend, als er bei einem seiner Aufenthalte hier, mit dem Notar alle Details durchgegangen ist“, erzählt Doktor Richards in angespannter Haltung.
 

„Nun, dann wäre alles erledigt“, beschließe ich, fasse Jamie an der Schulter. „Wenn Sie so freundlich wären meine Mutter das Zimmer zu zeigen.“
 

„Sie… gehen nicht zu ihm?“, fragt Richards verwundert nach, als er bemerkt, dass wir im Begriff sind zu gehen. Ich halte an der Tür noch einmal an und drehe mich zu dem Arzt um.
 

„Nein“, sage ich schlicht. „Wir werden auf die Nachricht des Notars warten.“
 

Damit wende ich mich um, gehe mit Jamie im Arm hinaus. Das alles macht mich so krank und ich merke, dass ich keinen Augenblick länger in diesem verfluchten Haus bleiben kann. Die vielen Ärzte und Schwestern scheinen mich alle vorwurfsvoll anzusehen und ich selbst fühle mich unendlich schlecht dabei, meine Mutter einfach alleine zurück zu lassen.
 

Aber ich kann meinen Vater nicht sehen. Ich habe mir geschworen, ihm nie wieder unter die Augen zu treten. Er soll so alleine sterben wie er gelebt hat. Ein allerletztes Mal soll er sich vorhalten können, wie schlecht sein Leben verlaufen ist und wie einsam er im Grunde seines Herzens sicherlich ist. Es gibt keine Familie die um ihn trauert oder die Anteil an seinem Schicksal nimmt. Soll Vater sich mit unserer schwachsinnig gewordenen Mutter begnügen. Schließlich ist es ja scheinbar das, was er immer gewollt hat.
 

An Jamies Auto angekommen, bleiben wir stehen, jeder in seine eigenen finsteren Gedanken vertieft. Wir müssen verarbeiten was gerade geschehen ist.
 

„Kacke“, entfährt es Jamie irgendwann, ehe er das Auto aufschließt und sich auf den Fahrersitz fallen lässt. Ich brauche noch so meinen Moment und tigere unruhig und nervös auf dem Parkplatz hin und her. Dabei fahre ich mir wiederholt durch die Haare, ziehe daran, so als ob ich sie alle auf einmal ausreißen wollte. Dann hole ich erneut mein Handy hervor und diesmal rufe ich tatsächlich an.
 

Chris meldet sich beinahe augenblicklich und ich bin mir fast sicher, dass er den ganzen Tag nur auf meinen Anruf gewartet hat.
 

„Hey“, sage ich in dem schwachen Versuch unbeschwert und heiter zu klingen. Meine Stimme bricht allerdings und ich brauche einen langen Moment, ehe ich meine Sprache wieder gefunden habe. „Kommst du zu mir? Bitte?!“
 

Ich lege auf, als er mir zusagt, drehe noch einmal eine Runde ums Auto herum, ehe ich schließlich die Tür aufreiße und mich rechts von Jamie auf den Sitz plumpsen lasse. Ich schnalle mich an, starre grimmig vor mich hin, während er den Motor anlässt und anfährt.
 

„Bist du enttäuscht?“, frage ich Jamie nach einiger Zeit, in der wir nur stumm nebeneinander gesessen haben. Noch immer sehe ich stur aus dem Fenster, so wie mein kleiner Bruder vor nicht allzu langer Zeit.
 

„Ich weiß nicht“, gesteht er. „Auf der einen Seite schon… andererseits wäre es besser gewesen, wenn… oder nicht?“
 

„Ja, vielleicht.“
 

Mehr sprechen wir nicht miteinander. Die ganzen Stunden bis zu meiner Wohnung verbringen wir schweigend, grübelnd. Irgendwann auf der Autobahn fährt Jamie auf den Standstreifen, schaltet das Warnblinklicht an und lässt den Kopf gegen das Lenkrad sinken. Er weiß ebenso wenig wohin mit seinen Gefühlen wie ich. Sie sind widersprüchlich, wenig konkret. Es ist frustrierend.
 

Ich gebe meinem Bruder alle Zeit die er braucht, bis er wieder fit ist. Es dauert etliche Minuten lang, ehe er sich wieder aufrichtet, den Blinker setzt und sich wieder in den fließenden Verkehr einfädelt. Dann geht die Fahrt in Schweigen weiter.
 

Vor meiner Wohnung angekommen hält er an, lässt den Motor laufen und wir beide blicken zu Chris, der einsam auf der Treppenstufe hockt und uns entgegen sieht. Ich steige nicht sofort aus, sondern lege noch einmal meinen Arm um Jamie, ziehe ihn zu mir herüber.
 

„Ich bin für dich da“, flüstere ich. „Dieses Mal bin ich von Anfang an für dich da.“
 

„Danke“, kommt es rau zurück und ich spüre, dass er weint. „Ich hab dich lieb, wirklich.“
 

„Ich dich auch, Bruderherz.“
 

Ich küsse ihn auf die Stirn, schnalle mich ab und steige aus. Chris kommt auf mich zu, greift meine Hand und wir beide sehen Jamie hinterher, der etwas schwerfällig den Wagen dreht und sich auf den Heimweg macht.
 

„Was ist passiert?“, wispert Chris, greift nun meinen ganzen Arm und sieht sorgenvoll zu mir auf. Ich beuge mich langsam zu ihm herunter, küsse ihn sanft auf seine weichen Lippen und geleite ihn in meine Wohnung.
 

„Lass uns drinnen über alles reden“, beschließe ich und bin froh, als er dagegen keine Einwände erhebt. Gemeinsam betreten wir mein Wohnzimmer, doch ich kann mich momentan einfach nicht setzen, viel lieber würde ich Chris jetzt einfach nur im Arm halten.
 

So gehe ich mit ihm dann auch ins Schlafzimmer, lasse mich aufs Bett fallen, ziehe ihn mit mir, auf mich, küsse ihn noch ein paar Mal, ehe ich mich zur Seite rolle, ihn ganz fest umschließe und meine Nase an seinem T-Shirt reibe. Diese Nähe zu ihm gibt mir Kraft und Ruhe und ich kann viel besser über all diese Dinge nachdenken.
 

„Jamie und ich waren im Krankenhaus“, fange ich irgendwann an zu erzählen. Chris warme Hand streichelt mir schon seit einiger Zeit über den Rücken und ich finde das ungemein wohltuend. „Unser Vater hatte einen Herzstillstand, während man seinen Krebs operierte.“
 

„Wie geht es ihm?“
 

„Er hat sich erholt. Aber sterben wird er trotzdem sehr bald. Mutter war auch da. Sie ist total verwirrt und nicht mehr sie selbst. Sie hat über eine Stunde vor einem Kaffeeautomaten gestanden und sich kein bisschen bewegt.“
 

Chris hört mir schweigend zu, küsst hin und wieder meinen Haaransatz, während seine Arme sich ganz fest um mich schließen und ich mich ganz geborgen bei ihm fühle. Sein ruhiger Atem, das gleichmäßige Schlagen seines Herzens, sein Geruch nach Nüssen und Sonnenschein, seine Wärme und das Gefühl seiner weichen Lippen auf meiner Haut… alles ist so wie es sein soll. Ich fühle mich sicher bei ihm.
 

„Wie geht es dir?“, fragt Chris leise.
 

„Ich weiß nicht. Keine Ahnung“, ist meine einzige Antwort darauf.
 

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Jetzt geht es also auf das große Finale zu. Ich bin traurig.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  chaos-kao
2011-01-19T15:24:23+00:00 19.01.2011 16:24
Hey ^^
Schönes, bewegendes Kapitel, bei dem man ihre innere Zerrissenheit nachfühlen und verstehen kann ^^

Hab allerdings ein paar Fehlerchen rausgepickt ^^

„Nein“, meine ich schlicht, schnalle mich. Hier fehlt ein an

Früher hat öfters gelächelt. Hier fehlt ein er

Weder ich noch Jamie kümmern und groß darum.
Uns würde hier mehr Sinn ergeben ^^

„Lass uns drinnen über alles reden“, beschließe ich und bin froh, als er dagegen keine Einwende erhebt
Einwände wäre richtig ^^

Eins noch: Was ist ein Sonnenschwein? xDDD Stelle ich mir zwar sehr süß vor, aber ich weiß nicht, ob es ein Kompliment ist, wenn jemand zu einem sagen würde: Du riechst nach Sonnenschwein xDD

Lg
KaNi


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