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Du bist ein Heuchler (2001 / 10)

18. Kapitel - 2001 (Oktober)
 

Zwei ganze lange Wochen höre ich weder von Thomas noch von Chris etwas. Bei Ersterem überrascht es mich etwas, bei Letzterem nicht.
 

Mittlerweile ist Oktober geworden, die Bäume stehen in allerlei Farben und die Räumungsdienste sammeln das erste mickrige Laub von den Straßen ein.
 

Ich hocke einfach nur in meiner Wohnung, tue nichts, als mich selbst zu bemitleiden und zu verfluchen. Letztendlich bin ich auch nicht drum herum gekommen über die geschehenen und gesagten Dinge nachzudenken. Deswegen warte ich auch jetzt auf meinen kleinen Bruder.
 

Jamie hat sich mit Martina in der neuen Wohnung gut eingerichtet, mich auch mehrmals eingeladen sie zu besuchen, was ich jedoch immer abgelehnt habe. Martina beginnt nun ihr Jura-Studium, er selbst bereitet sich auf die Prüfungen Anfang nächsten Jahres vor, verlebt ansonsten seinen neuen Alltag. Er scheint glücklich zu sein.
 

Ab und an hat sich auch Erich mal gemeldet. Zwei oder drei Mal war ich im Laden, hab nach dem Rechten gesehen, mehr jedoch auch nicht. Als Mitinhaber bekomme ich auch so mein tägliches Geld. Ich habe Natalie zu meiner Assistenzchefin gemacht und sie schmeißt den Laden ganz gut. Für Erich soll es bald nach Frankreich gehen. Anfang Januar will seine Mutter ihn mit nach Paris nehmen.
 

Thomas verfolgt weiterhin seine Ausbildung als Kindergärtner. Aber was er seit unserem Streit getrieben hat, weiß ich nicht. Normalerweise ist er immer derjenige gewesen, der auf mich zugekommen ist. Dieses Mal scheint er jedoch auf mich zu warten. Dabei fällt mir so was immer so schwer.
 

Die Türklingel schreckt mich aus meinen Gedanken und langsam erhebe ich mich. Natürlich erwarte ich meinen kleinen Bruder, deswegen fällt meine Freude bei seinem Anblick eher spärlich aus. Kritisch werde ich von ihm gemustert, ehe er mir eine große Einkaufskiste voller Tupperware in die Hände drückt.
 

„Ich habe alarmierende Berichte von verschiedenen Seiten gehört, dass du dich wohl gerade nicht sonderlich nett behandelst. Deswegen habe ich dir ein drei Gänge Menü gekocht, damit du mir wenigstens nicht an mangelnder Ernährung sterben kannst.“
 

„Werd ich schon nicht“, wehre ich ab, was Jamie allerdings dazu veranlasst geradewegs in die Küche zu laufen und den Kühlschrank aufzureißen.
 

„Ich seh’s“, kommentiert er die darin vorherrschende Leere.
 

Derzeit esse ich, wenn überhaupt, meistens die Reste meines Müslis oder einige Brotscheiben mit Käse. Mehr braucht der Mensch schließlich nicht. Wasser ist genug da, also werde ich erst innerhalb von vier Wochen oder so sterben.
 

Mein kleiner Bruder nimmt mir die Kiste wieder ab, sortiert die Dosen in den Kühlschrank ein und wirft mir einen mahnenden Blick zu.
 

„Ich komme am Wochenende wieder und wenn du dann nicht mindestens die Hälfte davon gegessen hast, lasse ich dich Zwangsernähren.“
 

„Scheinbar hat da einer mit Thomas gesprochen“, bemerke ich spitz.
 

„Ja, habe ich“, kommt es trocken zurück.
 

Jamie schiebt mich schließlich ins Wohnzimmer, platziert mich auf dem Sofa, während er in der Küche herumzuwerkeln beginnt. Er hat auch einige Lebensmittel mitgebracht und hat sich scheinbar für das klassische Rührei mit Spinat und Püree entschieden.
 

Keine fünf Minuten später steht jedoch erst einmal eine Tasse dampfenden Früchtetees vor mir.
 

„Trink das. Wird dir mal ganz gut tun.“
 

Folgsam ergreife ich die Tasse vor mir, puste, wirble die Oberfläche auf und wärme meine kalten Hände daran. Scheinbar macht mein Kreislauf schlapp, wenn ich jetzt schon so eisige Finger habe.
 

Als ich die Hälfte der Tasse ausgetrunken habe, kommt Jamie mit einem Teller wieder, den er vor mir auf den Wohnzimmertisch stellt. Auffordernd hält er mir Messer und Gabel hin. Und weil er mein kleiner Bruder ist und mein Magen sich bei dem Geruch von frischem Essen verräterisch meldet, nehme ich beides in die Hand und fange an zu essen.
 

Jamie selbst trinkt nur eine weitere Tasse des Tees, sitzt ansonsten schweigend neben mir, beobachtet mich. Als ich nach einem Drittel wieder aufhören will, hebt er drohend einen Zeigefinger und nötigt mich, auch den Rest aufzuessen. Danach fühle ich mich ziemlich rund und satt.
 

„Geht doch“, murmelt er, streckt eine Hand nach mir aus, der ich allerdings ausweiche.
 

Überrascht hebt er eine Augenbraue, spart sich allerdings einen Kommentar und beginnt von sich aus über die Dinge zu reden, die in den letzten Wochen passiert sind.
 

„Ist es wegen dem was Thomas dir erzählt hat?“
 

„Er hat mir gar nichts erzählt“, wehre ich ab.
 

„Ich denke aber, dass er durchaus ein paar Dinge erwähnt hat, die dich ziemlich beschäftigt haben.“
 

Ich schweige daraufhin. Warte einfach auf alles was da wohl kommen mag. Von Jamie kommt jedoch erst einmal nur ein tiefer Seufzer.
 

„Rapha“, fängt er an, bricht allerdings aus Ermangelung an Worten wieder ab.
 

Er sieht mich mit einem gepeinigten Blick an, ringt die Hände, die er in seinem Schoß gefaltet hat und erst jetzt fallen mir die dunklen Ringe unter seinen Augen auf. Scheinbar hat er in der letzten Zeit nicht gut geschlafen. Innerlich versuche ich mich gegen alles zu wappnen, aber letztendlich kann mich nichts auf das kommende Geständnis vorbereiten.
 

„Weißt du, Rapha, ich habe in der letzten Woche ziemlich viel mit Thomas geredet. Er hat mir von eurem Streit erzählt und er hat ganz unmissverständlich klar gemacht, dass es da eine Sache gibt, die ich dir endlich mal erzählen sollte.“
 

Jamie wartet auf ein Zeichen von mir, aber ich kann nichts sagen, nichts tun, weil ich überhaupt nicht weiß, worum es hier geht. Scheinbar bin ich wohl der Einzige gewesen, der irgendwas ganz Entscheidendes verpasst hat.
 

„Wie war Vater zu dir, bevor ich geboren wurde?“, fragt Jamie recht unvermittelt und für einige Minuten starre ich ihn wortlos, mit geöffnetem Mund an. Das ist eine Frage, die ich nicht erwartet hätte.
 

„Was…?“, mache ich nur verständnislos, doch Jamie fährt mir dazwischen.
 

„Du bist acht Jahre älter als ich, also hattest du einige Zeit allein mit unseren Eltern. Wie waren sie zu dir? Ganz am Anfang?“
 

„Nett“, antworte ich schlicht, sammle mich und beginne ernsthaft darüber nachzudenken. Es ist lange her. Mehr als zwanzig Jahre. Ich starre unentschlossen auf meine Finger, trinke immer wieder einen Schluck des Tees, bemühe mich darum, alte Erinnerungen wieder auftauchen zu lassen, die ich so lange tief in mir drin verschlossen habe.
 

„Mum war fast genauso wie heute. Sie dachte immer an Vater, war aber nicht ganz so verwirrt wie sie es jetzt ist. Sie war lieb zu mir, nie streng, aber auch nie wirklich… mütterlich“, beginne ich schließlich. „Vater hat mich ab und zu angelächelt, mir auch mal über den Kopf gestreichelt, aber er hat sehr selten mit mir gesprochen. Meistens saß er hinter seinem Schreibtisch und hat gearbeitet.“
 

„Wann hat er angefangen dich zu schlagen?“, horcht Jamie nach, jagt mir damit einen eiskalten Schauer über den Rücken.
 

„Als ich sechs wurde.“
 

„Warum?“
 

„Ich weiß nicht“, gebe ich zu. „Es passierte einfach eines Tages. Ich war draußen Fußballspielen gewesen, mit einigen Jungs aus meiner Klasse und anderen Kindern von der Straße. Es hat geregnet und wir waren alle nass und schmutzig. Als Mum mich zum Abendessen reingerufen hat, bin ich einfach durch die Tür gerannt und stand im Flur.

Er kam die Treppe runter, sah auf die Pfütze zu meinen Füßen und verpasste mir eine Ohrfeige. Er sagte nicht warum er mich geschlagen hatte und er sagte auch nicht, dass ich den Boden wischen sollte. Letztendlich schlug er mich einfach.

Ich weiß noch, dass Vater den Flur nie gemocht hat. Er mochte die Fliesen nicht. Damals waren sie… hellgrau. Er wollte immer weiße Fliesen haben. Deswegen habe ich nicht verstanden, warum er mich schlug. Er mochte die Fliesen schließlich nicht.“
 

„Wann hat er angefangen dich auszuschimpfen?“
 

„Jamie…“, stöhne ich auf, doch mein kleiner Bruder schüttelt nur den Kopf.
 

„Es ist wichtig. Wann hat er angefangen dich auszuschimpfen?“, wiederholt er energischer.
 

„Ich weiß nicht genau wann. Meistens schlug er mich einfach. Er hat nie mit mir gesprochen, außer, wenn ich mit Zack oder anderen Jungen zusammen gespielt habe. Dann hat er angefangen zu schreien, mich eine Schwuchtel genannt“, antworte ich leise.
 

„Und dann bist du abgehauen?“
 

„Weißt du doch. Mit Sechzehn bin ich gegangen. Nachdem er Zack und mich erwischt hat.“
 

„Hattest du Angst?“, dringt Jamie weiter in mich ein. „Das er mich schlagen würde?“
 

„Ja“, sage ich. Nun etwas lauter als zuvor. „Ich habe gedacht, dass es dir genauso ergeht wie mir. Zehn Jahre habe ich seine Schläge ertragen, deswegen wollte ich dich unbedingt vor ihm beschützen.“
 

„Er hat mich nicht geschlagen, Raphael“, gesteht Jamie leise, kann mir dabei nicht mal in die Augen sehen. Seine ganze Gestalt ist eingesunken, er hat seine Hände fest gegen seine Stirn gepresst. Er zittert.
 

„Jamie, was willst du mir damit sagen?“, frage ich nach.
 

„Du hast die ganzen acht Jahre geglaubt, dass ich zu Hause misshandelt werden würde, dass ich durch die gleiche Hölle gehen würde wie du… aber das bin ich nicht, Raphael.“
 

„Ich versteh dich nicht…“, gebe ich verwirrt zurück.
 

„Vater hat mich nicht geschlagen! Ich wurde nicht misshandelt!“, wiederholt Jamie lauter, trotzdem will ich immer noch nicht begreifen.
 

Verzweifelt greift er nach meinen Händen, drückt sie fest an seine Brust, schüttelt immer wieder den Kopf. Scheinbar weiß er nicht, wie er mir seine Sache verständlich machen soll.
 

„Was ich dir damit versuche zu sagen ist: Ich habe dir all die Zeit nur etwas vorgespielt.“
 

Diese Aussage fällt auf mich nieder wie ein Hammerschlag. Bewegungslos sitze ich da, starre meinen kleinen Bruder an, der sich so fest auf die Lippe beißt, dass diese unter seinen Zähnen anzuschwellen beginnt.
 

Jamie hat mir etwas vorgespielt?
 

„Mutter und Vater haben mich nie geliebt, nie. Und das wusste ich vom allerersten Augenblick meines Lebens. Aber du hast mich geliebt. Du warst immer für mich da, Raphael. Als du gegangen bist, musste ich alleine zurecht kommen. Es war nicht schwer, schließlich gab es für mich nur eine Regel: Sei für deinen Vater unsichtbar!

Und das bin ich gewesen. Vater hat nicht interessiert was ich treibe. Er hat mich nie, in meinem ganzen Leben, auch nur eines Blickes gewürdigt. Er hatte seine tägliche Routine, wie ein vorgezeichneter Weg, den er abgegangen ist. Auf diesem Weg durfte ich nicht auftauchen, dann war alles prima. Er hat mich nicht gesehen.

Mutter hat sich soweit um mich gekümmert, dass ich weder verhungert bin, noch das ich ohne Kleider rumlaufen musste. Ich habe eine gute Schule besucht, meinen Realschulabschluss gemacht, kein Problem. Und dann bist du gekommen und hast mich geholt. Aber Raphael, ich hatte Angst!

Du warst der einzige Mensch, der sich um mich gekümmert hat, trotzdem warst du an jenem Tag ein Fremder für mich. Wir haben uns acht Jahre nicht gesehen und es ist kaum ein Brief von dir gekommen, ich hatte nur noch schwache Erinnerungen an dich. Und die letzte Szene von dir, die ich lebhaft vor Augen hatte, war die mit Zack.

Ein fremder, schwuler Bruder nimmt mich zu sich. Ich hab totale Panik bekommen. Und dann bist du auch noch jemand, der immer sehr schnell auf Tuchfühlung geht. Du hast etwas in mir gesehen, was ich in dir nicht finden konnte. Einen Vertrauten.

Ich habe mich schnell an dich gewöhnt und wollte dir schon früh sagen, dass ich nicht der bin, den du in mir siehst. Aber als du mir dann erzählt hast, was du alles für mich hinterlassen hast, konnte ich es nicht.

Ich hätte dir das Herz gebrochen und das wollte ich nicht. In der Zwischenzeit habe ich dich nämlich wirklich in mein Herz geschlossen und durch deine Geschichten aus unserer Kindheit, die du mir abends erzählt hast, habe ich mich an manche Dinge wieder erinnert, aber das Gefühl war ein anderes.

Für dich was alles real. Für mich nur ein ferner Traum.

Raphael, ich war erst acht, als du von Zuhause weg bist. Und eine Kindheit ohne jemanden zu verbringen, der dich liebt, lässt dich einiges ziemlich schnell vergessen oder für ein Hirngespinst abtun. Mir ging es nicht schlecht und ich konnte damit leben ungeliebt zu sein, aber ich habe immer befürchtet, dass du mich raus wirfst, wenn ich dir nicht vorgaukle der kleine, arme Bruder zu sein, den du in mir gesehen hast.“
 

Lange Zeit schweige ich auf diese immense Eröffnung. Mit einem Mal scheint mir ein Fremder gegenüber zu sitzen, der versucht mir zu erklären, dass die Erde nicht rund, sondern eine Scheibe ist.
 

Wenn der Jamie den ich kenne und liebe, nicht der Echte Jamie ist, wo ist dann mein wirklicher kleiner Bruder hin? Und wer ist der Mann, der vor mir sitzt? Habe ich die ganze Zeit nur einem Traum nachgejagt? Eine Fata Morgana geliebt?
 

Ich reiße meine Hände von Jamie los, rutsche an das andere Ende der Couch und wende mich von ihm ab. Ich kann ihn nicht ansehen. Alles an ihm erscheint mir falsch.
 

Mein kleiner Bruder hat zu Hause auf mich gewartet. Ich habe immer vor mir gesehen, wie er die Arme nach mir ausstreckt, wenn ich ihn abholen komme. Er hatte ein Lächeln auf seinem Gesicht und ist mir entgegen gelaufen.
 

Das war acht lange Jahre mein Traum für Jamies Rückkehr. Mein Ein und Alles.
 

Wo ist der kleine Junge, den ich so abgöttisch geliebt habe, weil er der erste Mensch in meinem Leben war, der mich mit einem Lächeln abgesehen hat? Hatte ich die ganze Zeit nur eine billige Kopie vor mir?
 

„Raphael…“, höre ich Jamies leise Stimme hinter mir. „Es tut mir leid. Ich konnte dir das doch nicht alles nehmen. Dein kleiner Bruder war deine ganze Hoffnung, aber… ich kann nicht dieser Junge sein. Ich bin stark, Raphael, ich muss nicht beschützt werden.“
 

„War es auch eine Lüge, wenn du mir gesagt hast, dass du mich lieb hast?“, frage ich mich erstickter Stimme, kann meine Tränen kaum noch zurückhalten.
 

„Nein“, kommt es schlicht zurück.
 

Fahrig wische ich mir über die Augen. So gerne würde ich mir das Herz herausreißen. Dieses verdammte Ding, das so weh tut in meiner Brust. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will das alles nicht hören!
 

„Ich liebe dich wirklich. Du bist mein großer Bruder und so sehe ich dich und so empfinde ich dir gegenüber. Aber anders als du es dir wünscht, bist du nicht mein Lebensinhalt. Und ich kann auch nicht der deine sein. Ich sollte es nicht sein. Das kann ich nämlich nicht erwidern.“
 

„Und was heißt das?“
 

„Das heißt“, rückt er näher an mich heran, schlingt seine Arme um mich, die mir in diesem Moment wie Schlangen auf meiner blanken Haut vorkommen. „Das ich immer für dich da bin, dich immer lieb haben werde und mir auch immer Sorgen um dich machen werde. Ich kümmere mich um dich und werde immer ein Teil deiner Familie sein.“
 

„HEUCHLER!“, brülle ich ihn an, stoße ihn von mir, drehe mich abrupt um und renne ins Schlafzimmer. Einfach nur weg von diesem Kerl! Energisch drehe ich den Schlüssel im Schloss herum, sinke an der Tür hinab und breche in Tränen aus.
 

Mein ganzes Leben war eine einzige, große und beschissene Lüge.
 

Mein kleiner Bruder, ein Hochstapler und Lügner, mein bester Freund ein Intrigant und Mitwisser! Alles Heuchler und Aasfresser!
 

Als ob es jemals irgendwen gekümmert hätte, wie es mir geht!
 

Es hat doch keinen interessiert, was für einen Scheiß ich mir reinziehen muss!
 

Thomas lebt in seiner verfickten Bilderbuchfamilie und ist eh immer der Sonnenschein vom Dienst! Und Erich kümmert das alles einen Dreck, schließlich haut er bald ab nach Frankreich! Oh, und seit neustem ist Jamie ein verlogener Bastard der auf Kosten anderer lebt.
 

Schön!
 

Prima!
 

Einfach super!
 

Hey, ich bin glücklich mit meinem Leben, könnte nicht besser laufen. Ich meine, wer braucht schon Eltern, Geschwister oder Freunde?! Ich ganz bestimmt nicht, damit bin ich durch! Fuck!
 

Immer wieder donnere ich meinen Kopf gegen das Holz in meinem Rücken, als ob ich so all die Gedanken aus meinem Hirn bekommen könnte. Am liebsten würde ich mir das Herz herausreißen. Aber wahrscheinlich ist sowieso nicht mehr viel davon übrig.
 

Bisher hat ja so ziemlich jeder darauf rumgetrampelt.
 

Mit mir kann man es ja machen! Bin ja nur der Trottel vom Dienst!
 

„SCHEIßE!“, brülle ich meine Wut und meinen Frust heraus. „FUCK! FUCK! FUCK!“
 

Gott, dass ist mir zu viel! Alles zu viel. Genug, aus, Schluss! Ich will nicht mehr!
 

Mir egal was alle anderen machen, aber ich hab keinen Bock mehr bei dem Müll dabei zu sein. Wenn mich scheinbar eh keiner hier haben will, kann ich genauso gut gehen. Ist ja nicht so, als wäre ich auf diese Wichser angewiesen.
 

Entschlossen stehe ich auf, trete auf meinen Schrank zu, fische mir meine große Sporttasche von oben herunter und werfe relativ wahllos alles hinein, was ich kriegen kann. Hauptsache ich habe Klamotten, meinen Ausweis, ein bisschen Kleingeld, dann passt das schon.
 

Ich schließe die Tür auf, schultere die Tasche und treffe im Wohnzimmer auf einen heulenden Jamie. Aber seine Tränen berühren mich nicht. Schließlich war es nicht sein Leben, das gerade gründlich zertrampelt worden ist.
 

„Wo… wo gehst du hin?“, fragt er brüchig.
 

„Geht dich nichts an, Arschloch!“, zische ich wütend zurück, schnappe mir noch meinen Schlüsselbund von der Anrichte und drehe mich ein letztes Mal zu dem Stück Scheiße namens ‚kleiner Bruder’ um. „Schließ ab, wenn du gehst.“
 

Damit rausche ich durch den Flur, zur Wohnungstür hinaus und die fast endlosen Stufen der Treppe hinab. Hinter mir kann ich Jamie rufen und schreien hören, ich bin mir auch ziemlich sicher, dass er mir hinterher rennt, aber ich achte nicht auf ihn.
 

Endlich draußen angekommen, nehme ich die Beine in die Hand, beginne zu rennen und bin ziemlich schnell außer Sicht des Hauses. Jamie hat keinen Führerschein, dementsprechend auch kein Auto, also wird er mir nicht lange auf den Fersen bleiben. Er ist ein unheimlich schlechter Läufer.
 

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Energisch schiebe ich mich Hans-Wilhelm vorbei in dessen Wohnung, knalle meine Sporttasche neben das Sofa, lasse mich darauf fallen und starre die nächste halbe Stunde grimmig vor mich hin.
 

Ich will nicht reden, nicht denken. Nein, am liebsten würde ich mir die Kugel geben, mich dabei aufhängen und am besten noch ertränken. Nur beim vierteilen bräuchte ich Hilfe. Hans-Wilhelm steht nur einen Moment im Türrahmen, mustert mich eingehend und verschwindet dann in seinem Arbeitszimmer.
 

Ich kann ihn auf Englisch reden hören. Da ich allerdings außer Deutsch keiner Sprache mächtig bin, verstehe ich kaum was er sagt. Er redet viel zu schnell und mit nur mit einem geringen Akzent. Nicht, dass ich mehr verstehen würde, wenn er anders reden würde.
 

Irgendwann ziehe ich die Couch aus. Zwar habe ich noch nie hier übernachtet, aber da Hans-Wilhelm mir angeboten hatte, bei ihm zu schlafen, weiß ich, dass er neben seinem Bett nur das ausziehbare Sofa hat. Es ist ziemlich bequem, scheinbar eine richtige Luxusanfertigung.
 

Willkürlich greife ich mir ein Shirt aus meiner Tasche, streife es mir über, nachdem ich alle meine Klamotten in irgendeine Ecke gepfeffert habe und mache mich dann auf die Suche nach Bettzeug. Das scheint er irgendwo anders aufbewahrt zu haben.
 

Im ersten Schrank finde ich allerlei Wein- und Sektgläser, einiges an gutem Geschirr und Silberbesteck. Scheinbar ist ihm das zu wertvoll als es in einem Keller oder der Küche vergammeln zu lassen. Einen weiteren Schrank daneben finde ich Spirituosen und Weine. Die Versuchung ist groß, aber ich widerstehe ihr. Noch einmal möchte ich nicht mit einer Beinahe-Alkoholvergiftung im Krankenhaus landen. Sehr unschöne Sache.
 

Außer Büchern und sonstigem Papierkram kann ich dann nichts mehr aufstöbern. Also lagert er das Bettzeug wahrscheinlich doch im Schlafzimmer. Warum er beides so umständlich trennt ist mir zwar schleierhaft, muss mich jedoch auch nicht weiter stören.
 

Ich suche hinter all den verschlossenen Türen nach dem Richtigen Raum, finde ihn im dritten Anlauf – davor habe ich das Bad, einen größeren Vorratsraum samt Putzutensilien, und eine Art Kinderzimmer gefunden – und durchwühle auch hier ein wenig die Schränke.
 

Es ist zwar furchtbar unhöflich, aber erstens glaube ich nicht, dass Hans-Wilhelm groß etwas dagegen hat und zweitens bin ich gerade nicht in der Stimmung um auf andere Rücksicht zu nehmen.
 

In der oberen Ablage des Kleiderschrankes werde ich schließlich fündig. Auch die Überzüge finde ich. Damit beladen kehre ich wieder ins Wohnzimmer zurück und mache mich an die Arbeit, Kissen und Decke zu beziehen.
 

Da ich seine Stimme nicht mehr hören kann, nehme ich an, dass sein Gespräch beendet ist. Und obwohl ich mich schon auf eine Fragerunde eingestellt habe, passiert eine weitere halbe Stunde nichts mehr. Irgendwann wird mir das bloße rumsitzen zu blöd und ich bediene mich an einem der beiden schmalen DVD Regale.
 

Eine bunte Mischung. Teilweise sind auch Filme dabei, die ich einem wie Hans-Wilhelm gar nicht zugetraut hätte. Arnold Schwarzenegger noch und nöcher, sogar Chuck Norris ist vertreten. Das geht eindeutig über meine Schmerzgrenze hinaus. Trotzdem lege ich schließlich einen altbewährten Arni-Streifen rein. Gemetzel ist immer gut.
 

Der Film läuft zwar vor meinen Augen ab, sehen tue ich ihn allerdings nicht.
 

Stattdessen habe ich Jamies Gesicht vor mir, dann den Streit mit Thomas und schließlich die Dinge, die ich Chris angetan habe. Ich frage mich, ob es nicht ein Fehler war hierher zu kommen. Allerdings kenne ich sonst niemanden, der mich ohne groß zu fragen bei sich aufnimmt und mir meine Freiheiten lässt.
 

Hans-Wilhelm ist ein ruhiger Charakter, sehr in sich gekehrt und ich glaube solange man ihn in Ruhe lässt, hat er kein Problem mit einem. Aber er ist herzensgut und sehr hilfsbereit. Hier ist wirklich ein Ort, an dem man sich mal verkriechen kann.
 

Und wenn er nicht auch gerade zu einem Lügner mutiert ist, dann weiß bisher niemand außer uns zweien, dass ich hier sein könnte. Schließlich habe ich weder Thomas, noch Jamie, noch sonst irgendwem erzählt, dass es Hans-Wilhelm war, der mich nach meinem Zusammenbruch zu sich nach Hause genommen hat.
 

„Heiße Schokolade mit Marshmallows, Raphael?“, fragt Hans-Wilhelm unvermittelt und ich zucke erschrocken zusammen. Ich drehe mich um und starre ihn einen Augenblick lang wie eine Kuh an. Er steht im Türrahmen, hat die rechte Hand lässig in die Tasche seiner Anzughose gesteckt, dass weiße Hemd ist bis zum Kragen zugeknöpft, doch die Krawatte fehlt.
 

„Gern“, antworte ich leise, schäme mich mit einem Mal für mein rüdes Eindringen.
 

Ohne ein weiteres Wort, aber mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, verschwindet Hans-Wilhelm zunächst im Bad dann in der Küche. Als er nach rund einer Dreiviertelstunde wiederkommt, hat er sich eine einfache Jogginghose und ein braunes Shirt angezogen, trägt zwei Tassen vor sich her und hat eine Tüte unter den Arm geklemmt, die bei jedem seiner Schritte knistert.
 

Ich rücke auf dem Sofa ein wenig nach rechts und mit einem leisen Ächzen, setzt er sich neben mich, reicht mir meine Tasse und wirft die Tüte voller Marshmallows auf den niedrigen Wohnzimmertisch vor uns.
 

„Das Geheimrezept meiner Mutter“, sagt er leise.
 

„Wogegen?“
 

„Ah, gegen alles“, schmunzelt er. „Es ist die klarste Erinnerung an meine liebe Mutter. Ihre junge, schließlich alte Hand, die mir eine Tasse reicht, der Duft von Schokolade liegt in der Luft und ein weißer Marshmallow tanzt vor meinen Augen auf und ab.“
 

Er seufzt leise und lächelt mir dabei zu.
 

„Glauben Sie mir, wenn ich eines Tages senil geworden bin, werde ich glauben, dass meine Mutter der Marshmallow war.“
 

Unwillkürlich muss ich lachen, was mich selbst ein bisschen erschreckt. Für Hans-Wilhelm ist es scheinbar so einfach all meine schlechten und negativen Gefühle und Gedanken einzuwickeln und wegzusperren. Nicht für immer, aber immerhin für einen Moment.

Es ist wie bei Chris. Bei beiden erlebe ich diese seltenen Augenblicke, in denen ich mich völlig frei und entspannt fühle, als ob nichts weiter wichtig wäre, als das was wir gerade tun. Und wenn wir nur heiße Schokolade trinken.
 

„Mögen Sie solche Filme?“, frage ich nach einer Weile in die Stille hinein, nicke dabei zum Fernseher hin, der kaum unser beides Interesse erregt. Scheinbar hat auch Hans-Wilhelm ganz andere Gedanken.
 

„Hm“, macht er nur. „Eigentlich nicht. Als Künstler könnte ich über sie philosophieren, aber das ist mir zu anstrengend. Und sinnlose Gewalt lehne ich ab.“
 

„Warum haben Sie dann so viele davon?“
 

„Die meisten waren Geschenke von Freunden oder Arbeitgebern in den Vereinigten Staaten. Die konnte ich natürlich nicht ablehnen. Manchmal habe ich sie mir auch selbst gekauft. Warum, kann ich nicht mehr sagen.“
 

Stutzig geworden, höre ich zum ersten Mal hin und stelle fest, dass der Film tatsächlich schon die ganze Zeit auf Englisch gelaufen ist und ich im Grunde kein Wort verstanden habe. Nicht, dass das bei solch handlungslosen Filmen groß von Bedeutung wäre.
 

Die verbleibenden anderthalb Stunden sitzen wir schweigend nebeneinander. Ich brauche keinen Dialog um zu begreifen worum es geht: Arni bekämpft Mönche und Verrückte, am Ende sogar einen Dämon um eine ziemlich nervige, ewig heulende Frau zu retten und stürzt sich am Ende selbst ein Schwert, weil der Dämon von ihm besitz ergriffen hat.
 

Wahnsinn! Ich bin begeistert… nicht.
 

Gerade als der Abspann beginnt, klingelt es an der Tür. Ich zucke erschrocken zusammen, wage es jedoch nicht mich zu rühren. Irgendwie wäre es auch albern mich zu verstecken. Trotzdem würde ich gerade nichts lieber tun.
 

Hans-Wilhelm erhebt sich, stellt seine Tasse ab und geht gemächlich durch die Wohnung, den kleinen Flur bis hin zur Tür, die er öffnet. Er sagt etwas, was ich aufgrund der Entfernung nicht verstehen kann. Geräusche ertönen, die darauf schließen lassen, dass der Besuch vor hat länger zu bleiben und sich hier ein wenig häuslich einzurichten.
 

Innerlich bis aufs äußerste gespannt hoffe und bete ich, dass es niemand ist, den ich kenne. Allerdings wird mir nicht einmal dieser Wunsch erfüllt, als keine Sekunde später niemand anderes als Chris durch die Wohnzimmertür marschiert kommt.
 

„Hi Raphael“, grüßt er knapp in meine Richtung, verschwindet dann sofort in der Küche.
 

„Wo ist denn meine Lieblingstasse, Opa?“, ruft er nach einem Moment hinaus, den Hans-Wilhelm genutzt hat um ebenfalls ins Wohnzimmer zu kommen, die Tür zu schließen und die Heizung ein wenig aufzudrehen.
 

„Ganz links“, gibt er als Antwort.
 

„Nicht da“, kommt es von Chris zurück.
 

Verdutzt wirft mir Hans-Wilhelm einen kurzen Blick zu und schmunzelt dann.
 

„Entschuldige, Chris, ich habe deine Tasse wohl Raphael gegeben.“
 

Mein Blick richtet sich von selbst auf die Tasse, die ich krampfhaft in meinen Händen halte. Sie wird von unten nach oben breiter, ist vollständig abgerundet und trägt als Motiv die Rückansicht eines Pinguins. Als ich sie herum drehe, sehe ich, dass auf der anderen Seite die Vorderseite des Vogels zu sehen ist und zwischen seinen Beinen kann ich ein kleines Küken erkennen.
 

„Yeah, Marshmallows!“, ruft Chris, als er nach kurzer Zeit ebenfalls ins Wohnzimmer kommt, sich prompt neben mir aufs Sofa fallen lässt und nach der Tüte auf dem Tisch greift. Er lässt zwei der weißen Würfel in seine Schokolade plumpsen und lehnt schließlich den Kopf nach hinten.
 

Es irritiert mich das er da ist und noch viel mehr irritiert mich, dass er scheinbar ganz normal drauf zu sein scheint. Zwar hat er mich bisher weder groß angesehen noch berührt, aber immerhin hat er mich gegrüßt und sitzt ziemlich nah an mir dran.
 

„Welchen Film möchtest du sehen?“, fragt ihn sein Großvater und ich bin nun beinahe wirklich versucht einfach aufzuspringen und mich in irgendeiner dunklen Schrankecke zu verstecken. Diese Situation überfordert mich maßlos.
 

„Hast du ‚Der 13. Krieger’?“
 

„Der mit Antonio Banderas?“, hakt Hans-Wilhelm eher skeptisch nach.
 

„Ja.“
 

„Ich dachte, du magst ihn nicht.“
 

„Tu ich auch nicht, aber der Schauspieler von Bulwai ist toll und dieser Blonde“, bemerkt Chris grinsend, angelt sich einen der beiden vollgesaugten Marschmallows aus der Tasse und kaut genüsslich darauf herum.
 

Es dauert einige Minuten, bis Hans-Wilhelm den entsprechenden Film in seiner doch recht umfangreichen Sammlung gefunden und eingelegt hat. Und es sich grausame Minuten für mich, in denen ich nicht weiß, was ich sagen soll, ob ich das überhaupt will und in denen ich mich frage was zum Teufel gerade um mich herum passiert.
 

Als der Streifen anfängt, rückt Chris noch näher an mich heran, macht seinem Großvater so auf dem Sofa Platz und greift schließlich nach meiner Hand, die er recht fest in seiner hält.
 

Der Film ist dieses Mal auf Deutsch und da ich ihn auch noch nicht kenne, schafft er es sogar mich einigermaßen zu fesseln. Allerdings lenkt mich Chris’ Daumen, der sanft über meinen Handrücken streicht, enorm ab.
 

„Chris…“, flüstere ich leise, einfach weil ich das Gefühl habe, dass wir darüber reden sollten. Über DAS was gerade passiert und über das was eigentlich meiner Meinung nach zwischen uns stehen sollte.
 

„Pst“, kommt es nur zurück. Er hat mich nicht einmal angesehen.
 

„Wir sollten…“
 

„Ich weiß“, sagt er. „Aber nicht jetzt, der Film.“
 

Sprachlos sitze ich neben Chris, der ganz gebannt den Film verfolgt. Immer wieder nippt er an seiner Schokolade, während meine ganz vergessen auf dem Tisch steht und ziemlich schnell erkaltet.
 

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Ungebetat und um 02:32 Freitagmorgen fertig gestellt



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  chaos-kao
2010-08-27T18:26:22+00:00 27.08.2010 20:26
Chris ist der Hammer ... er muss sich endlich richtig auf ihn einlassen ... so einen tollen Kerl wird er nie wieder finden! Allerdings finde ich, dass er bei der Sache mit Jamie vielleicht etwas überreagiert ... aber auf der anderen Seite ist es ja verständlich, weil dieser ja sein Lebensinhalt gewesen ist ...

Tolles Kapitel mit einer überraschenden Wendung ...
Ich freue mich schon auf das nächste! ^^
Lg
KaNi


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