Zum Inhalt der Seite

Bilder unserer Zeit

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ein Riss im Spiegel (2001 / 09)

16. Kapitel – 2001 (September)
 

„Hier!“, kommt es ungehalten von Thomas und nur kurz danach steigt mir der penetrante Geruch von chinesischem Essen in die Nase. Angewidert verziehe ich das Gesicht, überkreuze meine Arme und mache damit deutlich, dass er mir mit dem Fraß vom Hals bleiben kann.
 

„Oh nein, mein Lieber! Du wirst das jetzt essen und wenn ich dich dafür ans Bett fesseln muss!“
 

Die Schale wird mit neuerlichem Nachdruck unter mein Gesicht gehalten und nach einem giftigen Blick zu Thomas hin, nehme ich sie ihm ab. Die Essstäbchen folgen und schließlich wirft sich mein Kumpel neben mich auf das Sofa, auf dem ich nun schon seit knapp zwei Wochen nächtige.
 

„Was kommt im Fernsehen?“, fragt er weiter, erhält von mir jedoch lediglich ein Schulterzucken.
 

Wir schweigen uns an während wir unser Essen runterwürgen. Nun ja, ich würge, Thomas schlingt, als ob er seit drei Tagen nichts gegessen hätte. Und dabei bin ich derjenige von uns der fastet. Bedächtig schiebe ich mir ein Hühnchenstück in den Mund, kaue darauf herum und merke nicht einmal wie mein Magen zu rumoren beginnt.
 

„Wenigstens einer freut sich über das Essen“, kommentiert Thomas trocken, nippt an seiner Coladose und zappt quer durch das nicht vorhandene Fernsehprogramm.
 

Ich reagiere nicht auf seinen Einwurf, esse weiter meine Nudeln und wundere mich schon nicht mehr wo der ganze Geschmack hingekommen ist. Seit Jamie Anfang des Monats ausgezogen ist und meine Wohnung nun wieder so kahl und leer wie zuvor aussieht ist auch alles andere aus meinem Leben verschwunden.
 

Nie hätte ich gedacht, dass es mich tatsächlich so fertig machen würde meinen kleinen Bruder endgültig im Hafen der Ehe anlegen zu sehen, aber das erste Wochenende hat mich eines besseren belehrt. Ich habe mich so vollkommen zulaufen lassen, dass ich beinahe mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus gelandet wäre.
 

Nur Thomas und Erich ist es zu verdanken, dass ich jetzt hier auf dem Sofa sitze und lustlos an meinem chinesischen Essen nage. Meine Sauferei hat schließlich auch dazu geführt, dass mein bester Freund mich nun kaum noch eine Sekunde aus den Augen lässt. Alkohol gibt es für mich nicht mehr, an Drogen lässt er mich gar nicht erst ran und auch sonst achtet er darauf, dass ich nichts mit mir anstelle.
 

Das ich was zu essen kriege gehört ebenfalls dazu, denn nach meinem Privatgelage habe ich jede Nahrungsaufnahme verweigert, bis Erich mir schließlich angedroht hat mich ins Krankenhaus einliefern und Zwangsernähren zu lassen. Dabei ließ er sich eine plastische Darstellung der Schläuche und Gerätschaften nicht nehmen, was mich schlussendlich dazu brachte zumindest hin und wieder etwas Essbares meine Speiseröhre hinunter zu schieben.
 

Trotzdem fühlt sich alles schal und klebrig an, schmeckt für mich nach dem Haferschleim von Thomas’ Großmutter und hat einfach nichts appetitliches mehr an sich. Nicht, dass das Essen nicht an sich lecker gewesen wäre, aber irgendwie denke ich immer, das es nicht von Jamie gemacht ist.
 

Jamie hat während seiner Zeit bei mir sehr viel gekocht, alleine schon damit ich als Versuchskaninchen all seine Gerichte aus der Ausbildung probieren konnte. Egal was er sagte, ich fand es immer wahnsinnig toll wie er kochte, habe keinen Mängel gesehen und ihn zu meinem absoluten Spitzenkoch ernannt. All die Stunden in der Küche…
 

Wenn ich mich daran zurückerinnere, dann habe ich auch erst beschlossen mich abzuschießen, als ich vor dem Herd stand und mir bewusst wurde, dass ich gerade eine der letzten Tupperdosen mit Jamies Essen aufwärme.
 

Natürlich hat er nicht viel eingefroren, immerhin kann ich ja selber kochen, aber die Reste die von seinen Festmahlen immer übrig blieben, haben in diesem Moment wohl den Schalter umgelegt. Kein Jamie mehr, keine Dosen im Kühlschrank, kein Zeichen mehr davon, dass es ihn je in meiner Wohnung gegeben hat.
 

Einen Moment lange habe ich mit dem Gedanken gespielt das Essen einfach für alle Ewigkeit aufzubewahren – und hätte es wohl auch gemacht -, allerdings war es da schon zu spät und das Essen in der Pfanne.
 

Wenn ich so darüber nachdenke, dann bekommt der Spruch Liebe geht durch den Magen, eine ganz neue Bedeutung.
 

„Hey, hey“, kommt es beruhigend von Thomas, ich spüre seine Hände um meine Schultern, sein Gewicht, das sich in meine Richtung verschiebt. Die Schale verschwindet aus meinem seltsam durchnässten Blickfeld und kurz darauf liege ich auch schon heulend in Thomas’ Armen.
 

Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, als wenn Jamie gestorben wäre. Im Grunde wohnt er ja nur eine Stunde mit dem Auto von mir weg, aber diese Distanz tut einfach nur weh. Es ist nicht so wie früher.
 

Ich konnte es ertragen, dass er nicht bei mir war, weil ich wusste, dass er auf mich wartete. Auf mich, seinen strahlenden Helden. Seinen großen Bruder. Auf den einzigen Menschen, den er in seinem Leben brauchte. Aber jetzt hat er seine Martina, sein Leben und geht nach vorne. Er wartet nicht mehr. Zumindest nicht mehr auf mich.
 

„Ich will ihn wiederhaben“, schluchze ich, vergrabe meine Finger in Thomas’ Shirt, weine ganz ungeniert all meine Tränen, während ich mich hin und her wiege wie ein kleines Kind. Ich bin erbärmlich, dass weiß ich. Aber ich kann daran nichts ändern. Ich will meinen kleinen Bruder zurück. Nur er und ich, dass war mir immer wichtig. Nur er und ich.
 

„Ich will ihn wiederhaben… wiederhaben… ich will… wiederhaben“, stammle ich unzusammenhängend vor mich hin, schlage mit matter Kraft gegen Thomas’ Brust. Immer und immer wieder. Ich kann nicht aufhören. Weder zu weinen, noch zu schlagen. Ich kann einfach nicht aufhören.
 

Ein Ruck geht irgendwann durch meinen besten Freund, ich spüre etwas Feuchtes auf mein Haar tropfen und weiß ganz instinktiv, dass Thomas ebenfalls zu weinen angefangen hat. Sein Griff um mich wird stärker, er zieht mich zu sich hoch und ich vergrabe mein Gesicht an seiner Halsbeuge.
 

„Es tut mir so leid“, flüstert er mir tränenerstickter Stimme. „So leid, Rapha.“
 

Er murmelt sein Mantra, während ich das meine aufsage. Es sind Worte die wir beide schon immer sagen wollten, es aber einfach nie konnten. Ich weiß nicht wofür sich Thomas entschuldigt, oder warum er es jetzt tut, aber in diesem Moment verstehe ich, dass es nicht nur für mich schwer war.
 

Auch andere haben gelitten und leiden immer noch. Vielleicht wegen mir, vielleicht auch aus einem anderen Grund, aber sie leiden. Genau wie ich. Irgendwie bin ich nicht so besonders wie ich immer dachte. Doch trotz dieser Erkenntnis hört es nicht auf weh zu tun.
 

„Ich bin einsam“, kommt es rau aus meiner Kehle. „Ich bin so einsam…“
 

Selbstmitleid ist etwas Furchtbares. Es kehrt deine verrottete Seele nach außen und lässt jeden sehen was für ein armseliges Würstchen du eigentlich bist.
 

„Hör auf! Hör auf! HÖR AUF!“, schreit Thomas mich plötzlich an, schiebt mich ruckartig von sich weg und sieht mir mit verheulten Augen ins Gesicht. „Lass das!“
 

Eine ganze Weile starren wir uns nur an. Er ist ebenso über seinen Ausbruch erschrocken wie ich, denn seine Schultern verspannen sich, ehe sie locker nach vorne fallen und er den Kopf senkt, ohne jedoch den Blickkontakt zu mir abzubrechen. Er wirkt leidend, richtig gequält.
 

„Rapha, ich kann nicht mehr…“, flüstert er leise, kaum hörbar. „Was… was soll ich denn tun, hm? Sag’s mir! Ich weiß nicht mehr weiter… Gott, scheiße…“
 

Er rückt wieder näher an mich heran, umfasst mein Gesicht, streichelt es zärtlich und versucht sich an einem aufmunterndem Lächeln, was ihm jedoch kläglich misslingt.
 

„Ich liebe dich Rapha, wie man einen Bruder nur lieben kann. Ich habe dir meine ganze Familie geschenkt und trotzdem… trotzdem ist es nicht genug. Was soll ich denn noch machen? Ich würde dir das Universum in Flaschen abfüllen, wenn ich könnte, aber ich kann’s nicht. Sag mir, was ich machen soll, damit zu endlich begreifst, dass wir dich lieben! Was?!“
 

Ich habe Thomas noch nie so verzweifelt erlebt. Er ringt sichtlich nach Beherrschung und Worten, in seinen Augen funkeln neue Tränen, während sein ganzer Körper zu zittern angefangen hat.
 

„Warum muss es denn Jamie sein?“, fragt er mich schließlich. „Warum nicht ich, oder Erich oder sonst irgendwer? Warum verdammt noch mal muss es Jamie sein.“
 

„Er ist mein Bruder“, antworte ich mit rauer Stimme, nicht sicher, was Thomas mir eigentlich sagen will.
 

„Das bin ich auch!“, kommt es vehement von ihm zurück. „Vielleicht haben wir nicht dieselbe Blutgruppe und einen anderen Nachnamen, aber ich glaube, dass ich dir sehr viel näher stehe, als es Jamie jemals tun wird! Seit verfickten zehn Jahren gehen wir durch dick und dünn! Ich habe alles gemacht, ALLES!

Du bist mein kleiner großer Bruder, seit wir zum allerersten Mal gemeinsam gegen die Hauswand des Nachbarn gepinkelt haben. Ich war immer stolz auf dich, egal was du gemacht hast. Habe ich dir nicht den Rücken gestärkt? Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du bei uns gewohnt… was soll ich denn noch machen, Rapha?

Begreif doch endlich, dass du bereits eine Familie hast! Eine, die nicht nur ein Traum ist.“
 

Vollkommen entgeistert springe ich auf, schlage Thomas’ Hände von mir und bin wirklich gewillt mich hier und jetzt mit ihm zu prügeln. Ich wollte meinen besten Freund nie schlagen, nie, mit Ausnahme von diesem Moment.
 

„Jamie, ist mein Bruder“, bringe ich knirschend hervor. „Und ich liebe ihn! Er ist meine Familie! Und er ist genauso real wie alles andere!“
 

„Aber er hat dich nie so geliebt wie du es tust!“
 

Auch Thomas ist jetzt aufgesprungen, seine Hände sind zu Fäusten geballt, sein Gesicht ist rot angelaufen. Er ist unverhohlen wütend. Aber mir ist das egal. Niemand, nicht einmal er, hat das Recht so über Jamie zu sprechen.
 

„Sei still!“, zische ich Thomas an. „Was verstehst du schon davon, hä? Du bist in einer glücklichen Familie aufgewachsen, mit einem Vater und einer Mutter die dich lieben! Du kannst gar nicht verstehen wie es mir ergangen ist!“
 

„Das habe ich auch nie behauptet“, wehrt er fahrig ab. „Aber ich kenne dich nun schon lange genug um zu sehen was in dir vorgeht. Und ich lasse nicht zu, dass du dich wieder in ein Loch fallen lässt, nur weil Jamie nicht erkennt, dass er dir gerade das Herz in Stücke reißt!“
 

„Das würde er nie tun!“
 

„ER TUT ES ABER GERADE!“, brüllt Thomas mich jetzt an. „DU HAST KEINE AHNUNG WIE JAMIE WIRKLICH IST! DU SIEHST DOCH NUR WAS DU SEHEN WILLST!“
 

„Rede nicht so! Rede nicht so über ihn!“
 

„Und warum nicht?“, wird er leiser, lauernder. „Du willst es noch immer nicht verstehen, oder? Rapha, du bist der Einzige von euch beiden, der eine schwere Kindheit hatte.“
 

„HALT’S MAUL!“, brülle ich ihn an, gehe tatsächlich auf ihn los. Einen Moment lang ist Thomas vollkommen überrascht, dann trifft ihn meine Faust mitten ins Gesicht uns er geht zu Boden. Von unten funkelt er mich wütend an, wischt sich übers Kinn.
 

„Das Einzige worunter Jamie jemals leiden musste, ist die Tatsache, dass seine Eltern ihn nicht lieben. Aber im Gegensatz zu dir, kümmert ihn das herzlich wenig. Er hat ja Martina! Und er hatte sie schon seit er vierzehn ist.“
 

„Sei still, sei still, sei still, sei still…“, versuche ich mich gegen seine Worte zu wehren, dennoch dringen sie ungehindert in meinen Kopf.
 

„Du bist so sensibel, Raphael. Anders als Jamie. Dein kleiner Bruder kümmert sich wenig darum was andere von ihm denken. Er ist stark genug zu ignorieren, dass er keine liebevollen Eltern hat. Sieh endlich ein, dass Jamie dich nicht im Geringsten braucht.“
 

„HALT ENDLICH DIE FRESSE!“, schreie ist lautstark, packe Thomas am Kragen, schlage zwei, dreimal auf ihn ein, ehe ich mit Tränen in den Augen von ihm ablasse. Seine Lippe und seine Nase bluten, seine Wange ist rot geschwollen und trotzdem blickt er mich ganz unverwandt von unten her an.
 

Ich fühle mich schlecht bei diesem Blick und türme.
 

Einfach nur raus, raus. Egal wohin, einfach nur weg aus diesem verfickten Leben, das mich mit Füßen tritt und auf mich spuckt. Ich brauche das hier alles nicht. Ich kann das alleine, ganz alleine. Ich bin stark, ich schaffe das! Ging doch schon einmal ganz gut.
 

Ich brauche nichts und niemanden! Nur mich und…
 

Schwer atmend bleibe ich stehen, lehne mich an die raue Hauswand, sinke an ihr herab, heule und schluchze, schlage immer wieder gegen die Steine, spüre die alte Verletzung, den längst verheilten Bruch.
 

Damals, bei meinem Besuch zu Hause, habe ich mir die Hand gebrochen. Einige Jahre ist das nun schon her und ich habe nie daran gedacht, auch nicht, als meine Finger zu schmerzen anfingen. Aber jetzt fällt es mir wieder ein. Es ist ein Bruch, der lange schon wieder verheilt, aber dennoch vorhanden ist und weh tut.
 

Vielleicht, denke ich, bin ich genau an diesem Punkt. Es muss heilen, damit der Schmerz in den Hintergrund rückt und nur noch eine schwache Erinnerung ist.
 

Aber heilen kann es nur, wenn ich mit Jamie zusammen bin, da bin ich mir sicher. Thomas hat Unrecht mit dem was er gesagt hat. Er ist mein kleiner Bruder und ich weiß genau wie meine Eltern damals waren.
 

Ich weiß, dass mein Vater gewalttätig war und mich geschlagen hat und dass er… mich geschlagen hat. Damals war ich zu Hause… es hat mich getroffen. Jamie war noch klein. Als ich gegangen bin, war er acht. Das Alter in dem ich zum ersten Mal Prügel bezogen habe. Aber als ich letztes Jahr nach Hause gefahren bin, war mein Vater so apathisch… als ob nichts mehr wichtig wäre.
 

Aufstöhnend, fahre ich mir über das Gesicht. Ich weiß nicht was ich denken soll. Alles dreht sich in meinem Kopf und ich kriege keine Ordnung da rein. Es tut einfach noch zu sehr weh, dass Thomas sich so aufgeführt hat.
 

Er ist doch bloß neidisch auf Jamie!
 

Ich fühle mich von meinem besten Freund verraten und betrogen. Ganz genau kann ich es nicht festmachen, aber das er all das über Jamie gesagt hat… er hat damit eine rote Linie bei mir überschritten. Niemand darf schlecht über meinen kleinen Bruder reden, absolut niemand.
 

„Was mache ich bloß?“, frage ich mich selbst in der Stille um mich herum, erhalte jedoch keine Antwort. Niemand gibt mir eine Antwort auf all die Fragen die ich habe und auch wirklich niemand sagt mir, was ich jetzt tun soll. Wohin ich gehen soll.
 

Und aus diesem einfachen Grund bleibe ich dort sitzen wo ich gerade bin, wo auch immer das ist. Ich habe einfach keine Kraft mehr mich zu bewegen. Langsam ziehe ich die Knie an, bette meinen Kopf auf meine verschränkten Arme und schließe die Augen. Mir egal ob ich morgen aufwache oder nicht. Aber jetzt will ich einfach nur noch schlafen.
 

---
 

Mein Kopf schmerzt ein wenig, mir ist kalt und mein Unterleib tut weh. Vorsichtig sehe ich mich in dem großen Raum um, in dem ich liege. Ein Kleiderschrank steht mir direkt gegenüber und zu beiden Seiten des Bettes finde ich kleine Nachttischchen, jeweils mit einer Lampe bestückt.
 

Die Wände sind kunstvoll, jedoch nicht aufdringlich verziert. Handbemalt wie es aussieht. Ein Kleiderständer steht in der Ecke und an der Wand zu meiner Rechten ist ein schmales Brett angedübelt, auf dem sich drei Fotografien befinden.
 

Vorsichtig, mit der Decke um die Schultern, stehe ich auf, trete näher an die Bilder heran und erkenne augenblicklich die drei Mitglieder der Familie Berger. Das erste Foto zeigt Hans-Wilhelm mit dem gerade geborenen Chris auf dem Arm, danach sehe ich eine Szene aus der Schulzeit, während mir das letzte Bild einen Eindruck von einem ihrer Urlaube vermittelt.
 

„Sie sind wach, wie schön.“
 

Erschrocken fahre ich herum, sehe mich nun dem echten Hans-Wilhelm Berger gegenüber, der mich mit einem wachen Blick mustert.
 

„Ich habe einen ganz schönen Schrecken bekommen, als ich erkannte, dass Sie der vermeintlich Obdachlose waren, der vor meiner Haustür ein Nickerchen hielt. Ein Arzt war bereits hier und hat Sie untersucht. Sie hatten Glück. Ein wenig unterkühlt und eine leichte Blasenentzündung sonst nichts.“
 

Ich schweige ihn noch immer an, da ich einfach nicht weiß, was ich sagen soll. Ihm gegenüber will ich mich nicht erklären, auch wenn ich denke, dass ich es muss. Gleichzeitig frage ich mich, ob er Chris etwas gesagt hat und ob der Kleine gleich durch die Tür kommt.
 

„Keine Sorge“, liest Hans-Wilhelm meine Gedanken. „Noch weiß niemand, dass Sie hier sind. Aber, bitte, legen Sie sich doch wieder ins Bett. Sie sollten jetzt möglichst im Warmen bleiben. Kaffee?“
 

„Gern“, krächze ich leise. Scheinbar habe ich mir doch eine Erkältung eingefangen.
 

Hans-Wilhelm verschwindet wieder durch die Tür, erscheint jedoch wenige Augenblicke später mit einem Tablett in der Hand, auf dem zwei Tassen und eine Kaffeekanne stehen. Er balanciert alles zum Nachttisch zu meiner Rechten, stellt es dort ab, schenkt mir ein und reicht mir dann einen vollkommen schwarzen Kaffee.
 

„Milch und Zucker?“, fragt er nachträglich, lächelt, als ich den Kopf schüttle.
 

Nun schenkt auch er sich ein, lehnt sich gemütlich an das Kopfende des Bettes und streckt seine Beine auf dem Laken aus. Er seufzt angetan, rührt die Milch in seinem Kaffee um und nimmt einen ersten vorsichtigen Schluck.
 

„Ich habe Ihre Sachen in die Wäsche getan. Derzeit sind sie im Trockner.“
 

„Vielen Dank“, sage ich verspätet.
 

„Kein Grund mir zu danken. Ich kenne jemanden, der sehr böse mit mir wäre, wenn ich Sie da draußen hätte sitzen lassen“, schmunzelt er, zwinkert mir über den Rand seiner Tasse zu.
 

Hans-Wilhelm macht auf mich einen ganz anderen Eindruck als bei unserem ersten Treffen in der Galerie. Er wirkt lockerer, offener. Mehr wie ein Freund oder netter Großvater, als wie ein seriöser Geschäftsmann. Nicht mehr ganz so unterkühlt.
 

„Möchten Sie, dass ich jemanden für Sie anrufe?“
 

„Nein, danke. Ich komme alleine nach Hause“, wehre ich ab.
 

Er nickt mir zu, legt dann jedoch die Stirn in Falten und scheint über etwas nachzudenken. Er braucht mehrere Schlucke um mir von seiner Idee zu erzählen.
 

„Was würden Sie sagen, wenn ich Sie einladen würde, eine Zeit lang bei mir zu bleiben?“
 

Überrascht hebe ich eine Augenbraue.
 

„Ich wüsste nicht warum ich das tun sollte“, gebe ich dann eine klare Antwort.
 

„Einfach nur so“, hebt er die Schultern. „Ganz spontan und vielleicht auch, weil wir beide einen Menschen kennen, den wir sehr gern haben. Und weil ich denke, dass Sie jetzt nicht alleine sein sollten.“
 

Sein Blick wird ernst, musternd. Ich habe das Gefühl, dass er viel mehr weiß, als er zugibt. Dennoch lässt er davon nichts durchscheinen, sieht mich einfach unverwandt an und wartet auf meine Antwort.
 

Ich gebe ihm Recht, dass es wohl keine gute Idee wäre, alleine zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen. Vermutlich würde ich innerhalb der nächsten zwei Wochen still vor mich hinvegetieren, einfach nichts tun, außer mich zu bemitleiden.
 

Nach dem Streit von gestern, kann ich auch nicht zu Thomas und bei Familie Vogel macht alles eine schnelle Runde. Ich möchte mich mit keinem aus der Familie derzeit auseinander setzen. Jamie ist gerade erst zu Martina in die neue Wohnung gezogen… und somit ist die Liste meiner Freunde schwindend gering.
 

Der Laden befindet sich derzeit in der vollständigen Obhut von Erich, der mir zu verstehen gegeben hat, dass er auch von Frankreich aus alles Wichtige übernehmen wird. Seiner Meinung nach sollte ich langsam versuchen etwas Richtiges zu machen.
 

Irgendwie scheine ich gerade an einem Punkt angekommen zu sein, an dem ich mich vieler Probleme stellen muss, die ich vorher gerne umgangen bin. Aber weglaufen ist für mich nicht länger drin. Irgendwie muss es auch ohne Jamie nach vorne gehen.
 

„Warum nicht“, sage ich schließlich, meide jedoch den Blick in Hans-Wilhelms Augen.
 

Schweigend trinken wir unseren Kaffee und schließlich bin ich wieder alleine im Zimmer. Ich habe einen Tag Bettruhe verordnet bekommen. Sowohl vom Arzt als auch von Herrn Berger. Schließlich saß ich eine ganz Nacht lang im kalten Septemberwetter.
 

Doch die Ruhe um mich herum wird mir schnell zu viel. Ich brauche Geräusche, die Gewissheit, dass ich nicht alleine bin. Außerdem will ich nicht die Zeit haben über alles nachzudenken. Nicht jetzt. Es ist noch zu früh.
 

Ich schäle mich also aus der Decke, greife nach dem Bademantel, der am Fußende des Bettes bereit liegt, ziehe ihn über und knote ihn nur locker über der Hüfte zusammen. Dann gehe ich durch die Tür, durch die auch Hans-Wilhelm schon verschwunden ist und betrete das sehr großzügige Wohnzimmer dieser Wohnung.
 

Scheinbar muss sich Herr Berger um finanzielle Dinge keine Sorgen machen.
 

Obwohl man den Luxus überall sehen kann, ist es dennoch eine sehr warme, einladende Wohnung. Man fühlt sich nicht erdrückt, sondern heimisch. Alles ist in leichten Erdfarben gehalten und an jeder Wand hängt mindestens ein Foto. Vermutlich hat Hans-Wilhelm die alle gemacht.
 

Meistens sind es reine Naturaufnahmen von Berggipfeln aus hinunter in ein Teil oder einfach gerade auf den Horizont ausgerichtet. Hin und wieder erkennt man das ein oder andere Gebäude. Ländliche Häuser, Ruinen, Tempelanlagen.
 

Scheinbar ist Herr Berger viel in der Welt herumgekommen.
 

„China“, spricht er hinter mir, als ich mich gerade zu einem Foto lehne, dass einen herrlichen Sonnenuntergang hinter einem vergoldeten Kloster zeigt. Das Metall erstrahlt richtig, wirft eine eigene zweite Sonne.
 

„Sie sind wohl viel gereist“, stelle ich meine Vermutung.
 

„Früher, ja. Während meiner Ausbildung bei einem berühmten Fotografen bin ich oft mit ihm durch die Welt gereist um einzigartige Naturschauspiele in Bildern festzuhalten.“
 

„Muss spannend gewesen sein“, rede ich einfach weiter.
 

„Ja“, kommt es leise zurück. „Es war sehr aufregend dort auf den Bergen zu stehen und sich unendlich klein vorzukommen. Allerdings habe ich dadurch gelernt, dass ich viel lieber Menschen zeige. Den Alltag.“
 

„Warum?“, hake ich neugierig nach, während ich darauf lausche wie Hans-Wilhelm sich in einen Sessel sinken lässt und etwas auf dem Tisch abstellt.
 

„Die Menschen wollen das Besondere in ihrem Leben und sie suchen es in der Weite der Welt. Es ist exotisch wenn man erzählen kann, dass man auf dem Kilimanjaro war oder das Dach der Welt bestiegen hat“, beginnt er zu erklären. „Ich hingegen versuche den Menschen mit meinen Bildern zu zeigen, dass das Besondere jeden Tag um uns herum passiert. Man muss nur genauer hinsehen.“
 

„Und was sehen Sie?“, will ich es nun genauer wissen.
 

„Ich sehe den Menschen und ich sehe die Natur.“
 

„Das ist doch nichts Besonderes“, widerspreche ich verwirrt und drehe mich zu Hans-Wilhelm um, der ganz entspannt in seinem Sessel sitzt und die vor sich ausgebreiteten Fotografien betrachtet.
 

„Glauben Sie?“, fragt er nach, was ich ihm bestätige. „Warum finden Biologen die Natur wohl so spannend? Weil sie Dinge birgt, die für das menschliche Verständnis ganz außergewöhnlich sind. Pflanzen und Tiere sind anders als der Mensch und anders als jede andere ihrer Arten. Das nennt man Artenvielfalt.“
 

„Und?“
 

„Und…“, schmunzelt er leicht über meine Skepsis. „…neben dieser Artenvielfalt ist der Mensch. Der sich, von einigen Merkmalen abgesehen, rein äußerlich kaum von einem anderen Menschen unterscheidet. Wir haben, wenn wir nicht grade invalid sind, alle zwei Arme mit zwei Händen und zehn Fingern, zwei Beine mit zwei Füßen und zehn Zehen, zwei Augen, zwei Ohren, eine Nase, einen Mund, Haare auf dem Kopf und zwischen den Beinen und eine gleiche Anzahl von inneren Organen.“
 

Jetzt sieht Hans-Wilhelm zu mir auf, lächelt mich an.
 

„Oder irre ich mich?“
 

„N-Nein“, gebe ich überrumpelt zu und weiß nicht so recht worauf das alles hinaus läuft.
 

„Der Mensch ist also eine weit verbreitete Art aus der Gattung der Säugetiere, ein Tier unter Tieren, wenn auch etwas intelligenter als die meisten unserer Artgenossen. Aber gerade unsere vermeintliche Intelligenz macht uns zu dem dümmsten Wesen dieses Universums.

Einfache Tiere haben gelernt unter ihren Artgenossen zu leben, zumeist sehr friedlich. Sie unterteilen nur noch in Essbares und Ungenießbares und den Feind, der von einer anderen Art stammt.

Menschen hingegen führen Kriege unter denen alle ihre Artgenossen leiden müssen. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen Schuldigen und Unschuldigen, es trifft immer gleich alle. Noch viel wichtiger hingegen ist, dass der Mensch den Menschen bekämpft.“
 

„Tiere machen das auch“, widerspreche ich nun. „Zwei Löwenrudel die aneinander geraten bekriegen sich doch auch.“
 

„Schönes Beispiel“, pflichtet er mir bei. „Wenn zwei Löwenrudel einander treffen, dann kämpfen die beiden Anführer gegeneinander, der Verlierer zieht sich entweder zurück oder stirbt. Wenn er sterben sollte, dann ist sein Rudel ohne Führer, oder aber schließt sich dem Sieger an.“
 

Ich schweige zu dieser Ausführung.
 

„Zudem würde ein Löwe, niemals nach Indien reisen um mit einem Tiger zu kämpfen.“
 

„Geht doch auch gar nicht.“
 

„Wer weiß“, schmunzelt Hans-Wilhelm. „Rein theoretisch wäre es möglich. Ein Löwe könnte Afrika zu Fuß durchqueren, jagen und rauben, bis zur Küste, dort zwischen den Menschen umherschleichen, sich auf ein Schiff einschiffen, nach Europa reisen, bis nach Indien laufen und sich dort einen Tiger suchen.

Natürlich ist das unwahrscheinlich und vollkommen absurd, aber in der Theorie gäbe es diese Möglichkeit. Die Frage die sich stellt ist, warum tut der Löwe es nicht?

Weil er keinen Grund darin sieht. Tiere sind nie offensichtlich feindselig. Sie suchen nie den Streit. Der Streit ergibt sich durch die Umstände. Wenn eine Gazelle erlegt wurde oder der Platz am Wasserloch begrenzt ist. Denn Tiere haben nicht die Mittel sich selbst zu helfen, sie sind auf das angewiesen, was die Natur ihnen gibt.“
 

„Und was ist mit dem Menschen?“, frage ich reichlich verwirrt nach und habe schon längst wieder vergessen wie wir überhaupt auf dieses merkwürdige Thema gekommen sind.
 

„Der Mensch hat die Mittel sich selbst zu helfen, er nutzt sie auch. Gleichzeitig aber versteht sich der Mensch als Individuum anstatt als Einzelner unter Vielen. Er fühlt sich von der Welt und den Mitmenschen angegriffen. Anstatt das Leid Vieler zu lindern, lindert er nur sein eigenes. Er ist offen aggressiv gegen alles, vor allem sich selbst.“
 

„Und das heißt?“, hake ich noch einmal nach.
 

„Das heißt, dass der Mensch ein Geschöpf der Natur ist, aber den darin vorhandenen Regeln zuwider handelt. Und das finde ich faszinierend.“
 

„Aber ihre Bilder…“, beginne ich, breche jedoch ab, da ich nicht weiß wie ich meine Frage genau formulieren soll.
 

„Nun, ich fotografiere am liebsten Menschen aus ärmeren Regionen und Soldaten. Denn wenn das Leid groß ist, ziehen Soldaten durchs Land, mit geschlossenen Augen und Herzen, mit der Waffe im Anschlag, all jene zu töten die ihrer Meinung nach illegale Hilfestellung leisten.“
 

„Klingt mir danach als seien Sie Buddhist“, gebe ich zu.
 

„Ich hatte tatsächlich einmal die Ehre den Dalai Lama zu sehen, es war inspirierend. Wenn wir seine Worte beherzigen würden, wäre das Leben unter den Menschen sehr viel einfacher.“
 

Obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, nicht zu viel über alles nachzudenken, hat mir Hans-Wilhelm nun eine ganze Bandbreite von Themen gegeben, die mir nie in den Sinn gekommen sind, die ich allerdings sehr faszinierend finde.
 

Mir wird bewusst, dass ich nur sehr wenig von der Welt weiß und bisher kaum über meinen Tellerrand geschaut habe. Ich fühle mich ein bisschen philosophisch, auch wenn ich tief in mir drin weiß, dass ich nicht der Künstler bin, der mir gerade gegenüber sitzt. Ich betrachte die Dinge mit anderen Augen.
 

„Das war viel auf einmal“, gesteht Hans-Wilhelm ein wenig verlegen ein, erhebt sich, rafft die Fotografien zusammen und sieht mich eine Weile schweigend an. „Hätten Sie Lust mich in mein Studio zu begleiten?“
 

„Wozu?“, frage ich.
 

„Bei Ihnen braucht immer alles einen Grund, nicht wahr?“, schmunzelt er, wartet jedoch nicht meine Antwort ab. „Sehen Sie doch einfach zu. Oder, wenn Sie möchten, lassen Sie sich einmal selbst ablichten.“
 

„Ich bin kein Model.“
 

„Müssen Sie auch nicht sein. Ich fotografiere sehr gerne Menschen, wie Sie jetzt wissen.“
 

Ich kann mir ein schwaches Lächeln nicht verkneifen. Ja, jetzt weiß ich, dass er gerne Menschen fotografiert. Ich nicke ihm zu und bekomme von ihm im Gegenzug einige passende Kleider herausgelegt. Eine Anzughose und ein schlichtes, weißes Hemd, ebenso eine schwarze Krawatte. Nur die Schuhe passen mir nicht, sind mir zwei Nummern zu groß und so schlüpfe ich stattdessen in meine Turnschuhe.
 

Ich weiß nicht warum ich das hier mache, aber Tatsache ist, dass ich mich bei Hans-Wilhelm gut aufgehoben fühle. Er strahlt Ruhe und Sicherheit aus, als ob es nichts gäbe, dass ihn wirklich aus der Bahn werfen würde.
 

---



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  chaos-kao
2010-08-13T19:05:06+00:00 13.08.2010 21:05
Ein interessantes Kapitel. Ich habe ja mit vielem gerechnet, aber nicht mit Chris' Großvater. Ein faszinierender (alter) Mann. Und Thomas sein Ausbruch ist auch sehr gut beschrieben ... und ich kann seine Verzweiflung gut verstehen ... so ein bester Freund kann verdammt anstrengend sein ^^'

Ich freue mich auf alle Fälle schon auf das nächste Kapitel, denn dies ist eine der wenigen Geschichten hier auf mexx, die soetwas wie Tiefe besitzen ^^

Lg
KaNi


Zurück