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Bilder unserer Zeit

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Weihnachten auf zwei Planeten (1993)

2. Kapitel – 1993
 

Die diesjährige Weihnachtszeit nutze ich schon früh zum Geschenkkauf. Immerhin stehe ich seit einem Jahr auf eigenen Füßen und ich bin mir nicht sicher, ob Jamie meine Briefe jemals gelesen hat. Mein Erzeuger hat sie aller Wahrscheinlichkeit nach abgefangen und im Kamin verbrannt.
 

Die Menschenmassen ziehen an mir vorbei, eilig und ohne einander anzusehen. Jeder mit seinen eigenen Gedanken und Dingen, die es noch zu erledigen gilt. Ein hektisches Zeitalter. In sieben Jahren gibt es ein Millennium. Warum mir das gerade jetzt einfällt, weiß ich nicht so genau. Aber der Gedanke stimmt mich positiv und ich blicke mit einem Lächeln in eines der Schaufenster.
 

Es ist ein Modegeschäft und die Schaufensterpuppen tragen winterliche Kleidung. Der neuste Trend, wie ich annehme. Aber auch verflucht teuer und außerhalb meines Budgets. Auch wenn ich solche Klamotten nie tragen würde. Viel zu aufgesetzt und eitel. Ich persönlich mag es eher schlicht.
 

Während ich dastehe und den Herrenwintermantel genauer begutachte, muss ich unwillkürlich an Zack denken. Ich habe ein paar Mal versucht ihn anzurufen, aber jedes Mal hat er aufgelegt. Oder ich konnte seine Stimme im Hintergrund hören, wie er brummte, man solle auflegen, er sei nicht da.
 

Das tut mir weh, aber ich bin selber schuld. Ich habe ihn verletzt.
 

„Vielleicht sollte ich ihm auch etwas kaufen…“, murmle ich. „Aber nicht zu teuer. Er macht es vermutlich eh kaputt.“
 

Mit einem schmunzeln wende ich mich von dem Schaufenster ab. Dabei fällt mein Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. Auf einer Bank sitzt ein kleiner weinender Junge, der scheinbar leise nach seiner Mama ruft. Rasch überquere ich die Straße, setze mich neben ihn und reiche ihm ein Taschentuch.
 

Er sieht mich mit großen Augen an.
 

„Hey“, sage ich. „Ich bin Raphael.“
 

„C-Chrissy“, schluchzt er und ich muss mir ein Lachen stark verkneifen. Er kann ja nicht ahnen, dass er sich mit einem Mädchennamen vorstellt. Ich schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln.
 

„Hast du deine Mama verloren?“
 

Er nickt. Schnieft leise und wischt sich die Nase am Ärmel ab.
 

„Na na, schau mal. So geht das.“ Ich nehme das Taschentuch, das er noch immer in der Hand hält und putze ihm damit die Nase. Danach reibe ich seine Jacke so gut es geht sauber. Das alles lässt mich an Jamie denken. Der konnte sich auch nie die Nase richtig putzen.
 

„Hm, dann lass mal sehen was wir da machen“, überlege ich laut. „Hast du einen Rucksack dabei?“
 

„Den hat Mama.“
 

„Hm. Weißt du denn wo du wohnst?“, hake ich nach, doch der Kleine schüttelt den Kopf. Vermutlich kennt er sich hier nicht aus. Oder seine Eltern haben nie mit ihm geübt wie er seine Adresse aufsagt. „Okay. Wo warst du mit deiner Mama denn zuletzt?“
 

„In dem großen Kaufhaus.“
 

„Dann gehen wir dahin zurück und suchen deine Mama.“
 

Als ich ihm meine Hand hinhalte, greift er zögerlich danach, doch schließlich schenkt er mir ein atemberaubendes Lächeln. Wirklich süß der Kleine. Gemeinsam kämpfen wir uns also durch die Menschenmassen. Das Kaufhaus liegt nur knapp fünf Straßen weiter.
 

Wir schweigen, aber ich streichle immer wieder sanft mit meinem Daumen über seine Hand, damit er keine Angst hat. Jamie kommt mir wieder in den Sinn und nur mit Mühe unterdrücke ich die aufsteigenden Tränen. Mein Bruder fehlt mir.
 

„Ey, Raphi!“
 

Überrascht wende ich mich um, schlage bei Thomas ein, der, mit Einkaufstüten bepackt, hinter mir aus einem Geschäft getreten ist. Kurz darauf kommt eine ältere Frau zu uns, die Thomas als seine Mutter vorstellt.
 

„Wen hast du denn da an der Hand?“
 

„Chris. Er hat seine Mutter im Kaufhaus verloren. Ich wollte wieder dahin zurück. Vielleicht sucht sie da nach ihm, dann könnte man sie über eine Durchsage verständigen.“
 

„Gute Idee. Kommt mit zum Auto, dann fahre ich euch hin“, bietet Frau Vogel an, schenkt Chris eine Süßigkeit aus ihrer Tüte und führt uns allesamt zu ihrem Wagen, der um die Ecke auf dem kleinen Parkplatz steht. Thomas und ich verstauen die Einkaufstüten, während Chris von Thomas’ Mutter auf der Rückbank angeschnallt wird.
 

„Ich sitz vorne.“
 

Ich grinse nur, lasse mich neben dem Jungen in den Sitz fallen und streiche ihm einmal sanft über den Kopf. „Keine Angst, Chris. Wir finden deine Mama schon.“
 

Die Fahrt zum Kaufhaus dauert nicht lange. Thomas erzählt mir von seinen Weihnachtsplänen und Frau Vogel lädt mich spontan zu ihrer kleinen Weihnachtsfeier am fünfundzwanzigsten Dezember ein. Ich sage zu. Das ich Heiligabend oder die anderen Feiertage zu Hause verbringen werde, ist eher unwahrscheinlich.
 

Zu viert betreten wir das Gebäude, bahnen uns dann unseren Weg zum Servicepoint, der sich direkt im Erdgeschoss befindet. Ich trete näher und die Frau hinter dem Schalter sieht zu mir auf.
 

„Hi“, grüße ich knapp, deute dann auf Chris. „Der Kleine hat seine Mutter verloren. Vielleicht könnten sie eine Durchsage machen, damit wir wissen ob sie noch hier ist?“
 

„Natürlich“, stimmt sie zu. „Wie heißt er denn?“
 

„Chris.“
 

Sie nickt mir kurz zu, lehnt sich zum Mikrofon vor, drückt den Knopf.
 

„Die Mutter des kleinen Chris’ soll sich bitte am Servicepoint im Erdgeschoss melden. Ich wiederhole: Die Mutter des kleinen Chris’ soll sich bitte am Servicepoint im Erdgeschoss melden.“
 

„Danke.“ Ich beuge mich zu dem Jungen hinab, streichle ihm durch die Haare und ermutige ihn dann, dass seine Mutter bestimmt gleich hier sein wird.
 

Thomas und seine Mutter halten derweil etwas weiter abseits Ausschau, doch eine lange Zeit tut sich überhaupt nichts. Die Dame macht noch einmal eine Durchsage. Immer noch rührt sich nichts.
 

„Chris!“
 

Wir fahren gemeinsam herum, sehen eine junge Frau, die aus dem Fahrstuhl auf uns zu rast, die Arme weit ausgebreitet. Der Junge kreischt auf, läuft seiner Mutter entgegen, die ihn in ihre Arme reißt, an sich drückt und immer wieder überschwänglich küsst.
 

„Oh, mein Junge, mein Junge!“, höre ich sie sagen. „Alles gut, mein Schatz? Geht es dir gut? Gott, bin ich froh! Mein Schatz!“
 

Frau Vogel und Thomas treten näher heran, schieben mich sanft nach vorne, bis die Frau zu mir aufsieht und mich mit einem strahlenden Lächeln bedenkt.
 

„Hast du ihn gefunden?“
 

Ich nicke.
 

„Vielen, vielen Dank!“ Sie schüttelt meine Hand. „Ich hab nur einen Moment nicht aufgepasst, da war er schon weg. Danke, wirklich! Was kann ich für dich tun?“
 

„Schon okay. War nicht so wild.“
 

„Nein, bitte. Ich will mich erkenntlich zeigen.“
 

Ich winke ab. „Lassen Sie, ist schon okay.“ Damit wende ich mich an Chris, verabschiede mich von ihm und gebe Thomas ein Zeichen den geplanten Rückzug anzutreten.
 

„Warte!“
 

Ich drehe mich noch einmal um. Chris kommt auf mich zu, greift nach meinen Händen und schaut mich von unten her an.
 

„Danke, dass du meine Mama gefunden hast.“
 

„Schon gut. Ich hab dir ja gesagt, dass alles in Ordnung kommt.“
 

Chris nickt heftig, lacht mich freudig an und läuft schließlich zu seiner Mutter zurück, die ihn wieder in die Arme nimmt und an sich drückt. Sie hat Tränen in den Augen und die Frau vom Servicepoint reicht ihr ein Taschentuch.
 

„Los, Abflug!“, ruft Thomas mir zu. Er ist schon vorgegangen und hält mir die Tür auf. Seine Mutter ist nicht mehr zu sehen. „Meine Mum wollte jetzt nach Hause fahren und Apfelkuchen backen. Kommst du mit?“
 

„Hm... eigentlich brauch ich noch ein Geschenk für Jamie“, werfe ich nachdenklich ein.
 

„Alter, so ein Unsinn!“ Thomas gibt mir einen Schlag auf den Hinterkopf. „Du fährst dieses Jahr nach Hause, verstanden? Oder ich prügle dich dahin!“
 

„Schon gut“, wehre ich ab, trete an ihm vorbei ins Freie.
 

---
 

„Muuuum! Tommy hat schon wieder unsere Burg kaputt gemacht!“, kreischen die beiden Zwillinge unisono, deuten dabei anklagend auf meinen lachenden Freund, der sich auf den Boden herumrollt. Ungefähr so wie sein Hund vor einigen Minuten.
 

„Thomas, lass doch bitte die Zwillinge in Frieden. Wie alt bist du eigentlich?“, ruft Marianne – wie ich verlegen ihr Angebot sie zu duzen angenommen habe -, streckt dabei ihren Kopf aus der Küchentür und deutet dabei mit dem Kochlöffel auf Thomas, der sich noch immer nicht eingekriegt hat.
 

„Neunzehn, Mum“, antwortet er schließlich. „Ehrlich!“
 

Doch ihr Blick bleibt skeptisch. Sie murmelt etwas unverständliches, zieht wieder in die Küche ab und lässt ihre Kinder mit mir allein. Oder eher andersrum. Ich komme mir gerade etwas verloren vor. Ausgesetzt auf einem fremden Planeten.
 

„Hey, Raphael, spielst du mit uns?“
 

„Was wollt ihr zwei den spielen?“ Es ist irritierend wie die beiden absolut synchron sprechen können. Als wären sie eine einzige Person. Gruselig.
 

„Tommy-Kloppen.“
 

Ich blinzle verwirrt, werfe einen Blick auf meinen Kumpel, der endlich aufgehört hat zu lachen. Er reißt alarmiert den Mund auf, als ich den beiden Zwillingen zunicke.
 

„Nein, nein, hey…“, ruft er laut, versucht rückwärts zu krabbeln. „Raphi, das ist unfair. Drei gegen einen! Komm schon! Argh!“ Damit haben wir uns auf ihn gestürzt, während ich seine Beine festhalte und ihn an einer möglichen Flucht hindere, hauen die beiden Jüngeren mit zwei Kissen auf ihn drauf. Von Thomas kann man nur unterdrückte Laute hören.
 

Auch Ruben kommt angetapst, wedelt freudig mit dem Schwanz und schleckt mir einmal durch das Gesicht.
 

„Bah! Ruben! Ist ja eklig“, lache ich, nehme eine Hand von Thomas um den Golden Retriever zu streicheln. „Dabei hab ich doch heute geduscht.“
 

„Hier ist ja was los. Wie im Zirkus.“
 

Die Ankunft des Hausherren wird von den Geschwistern vollkommen ignoriert. Langsam stehe ich auf, reiche ihm eine Hand und stelle mich vor.
 

„Oh, Raphael, ja. Thomas erzählt einiges von dir.“
 

„Tatsächlich?“
 

„Ja. Aber nur Gutes.“
 

Ich atme erleichtert aus.
 

„Wo ist denn meine reizende Herzdame.“
 

„In der Küche. Kuchen backen.“
 

Er nickt verstehend, zwinkert mir zu und dreht sich auf dem Absatz um. Bernhard verschwindet wieder aus dem Wohnzimmer. Ich blicke ihm nachdenklich nach. Doch ein Kissen reißt mich aus meinen Gedanken.
 

„Was grübelst du denn da?“, fragt Thomas, seine beiden Brüder im Nacken gepackt und auf Abstand haltend.
 

„Nichts weiter.“
 

„So, ihr Maden“, wendet er sich an die Zwillinge. „Ab in die Küche. Geht Mama helfen. Und du kommst mit mir. Wir verziehen uns mal in ruhigere Gefilde.“
 

Er entlässt die beiden Kleinen, setzt ihnen noch einen liebevollen Tritt nach und führt mich dann durch den Flur zu seinem Zimmer. Dort lasse ich mich auf sein Bett fallen. Thomas schließt die Türe, setzt sich neben mich und bietet mir einen Keks an.
 

„Hat meine Mum gebacken. Keine Sorge.“
 

Ich schmunzle, greife mir einen und beiße genüsslich hinein. Wirklich lecker. Im Nu hole ich eine ganze Hand nach, was Thomas zum lachen bringt. Dann ist es still zwischen uns. Wir hängen jeweils unseren eigenen Gedanken nach.
 

„Wirst du dieses Jahr nach Hause fahren?“
 

„Ist nicht mehr mein zu Hause“, antworte ich mürrisch.
 

„Ich weiß. Trotzdem… fährst du?“
 

„Denk schon. Ich will Jamie wieder sehen.“
 

„Soll ich dich fahren?“, fragt Thomas weiter, greift nach einem Keks und schiebt ihn sich in den Mund. Er kaut genüsslich und ignoriert vollkommen das Rufen seiner Mutter. „Meine Eltern haben sicher nichts dagegen, wenn wir uns für eine Weile das Auto leihen. Und dann wärst du mit deinem Alten nicht alleine.“
 

„Hindert ihn trotzdem nicht.“
 

„Ach komm schon. Lass mich dich fahren. Ich mach mir Sorgen um dich.“
 

Überrascht setze ich mich auf, starre ihm sprachlos ins Gesicht, während er selbst nur resignierend die Schultern hebt.
 

„Was hast du denn gedacht, Mann? Ich bin dein Freund. Klar mache ich mir Sorgen, wenn ich dich zu einem Schläger fahren lasse“, erklärt er. „Und zu einem krass abgewiesenen Ex-Freund.“
 

Ich lache, ziehe ihn zu mir und umarme ihn. Etwas länger als normalerweise.
 

„Danke, Alter.“
 

„Ist doch klar.“
 

Die Tür wird aufgerissen und Marianne kommt wie ein Tornado reingestürmt.
 

„Wie oft soll ich dich denn noch rufen, taube Nuss? Das Essen ist fertig, Abmarsch!“ Sie macht sich absolut nichts daraus, dass sie ihren Sohn gerade aus der Umarmung eines Schwulen gerissen hat. Und dafür mag ich sie nur noch mehr. Auch das warme Lächeln das sie mir schenkt, nimmt mich immer mehr für sie ein.
 

---
 

Die mehrstündige Autofahrt in ehemals heimische Gegend ist die reinste Tortur. Auch ein netter Heiligabend im Kreise der Familie Vogel konnte mich nicht wirklich aufbauen. Trotzdem habe ich die erneute Kabbelei zwischen Thomas und seinen Brüdern sehr genossen.
 

Und auch wenn sich mein Kumpel alle Mühe gibt, gibt es nichts, was es mir in diesem Moment einfacher machen könnte. Ich leide stumm vor mich hin, während Thomas irgendeinen Hardrocksong mitgrölt.
 

Sein Navigationsgerät der Marke TomTom führt uns mit akribischer Sicherheit zu meinem alten Zuhause und nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf meine Gefühle. Langsam aber sicher kommt in mir ein Brechreiz hoch.
 

„Sind gleich da“, informiert mich Thomas während des Gitarrensolos. Ich kann nur nicken und undefinierbare Laute ausstoßen. Besorgt schaut er zu mir rüber, klopft mir dann auf die Schulter. „Ganz ruhig. Wird schon schief gehen.“
 

Wie Recht er hat.
 

Eine weitere qualvolle halbe Stunde später biegen wir schon in die Straße ein. Thomas sucht sich einen Parkplatz gegenüber dem Haus, stellt den Motor ab und spricht mir einmal mehr Mut zu. Letztendlich steigen wir aus, ziehen automatisch unsere Jacken enger, denn es weht ein furchtbar kalter Wind.
 

„Was zum Teufel…?!“, stoße ich aus, deute auf den BMW meines Vaters, der vollkommen intakt dasteht und mich schier zu verhöhnen scheint. „Was macht der Wagen hier?“
 

„Meine Eltern haben ihn kurz nach deinem auftauchen letztes Jahr hierher zurückgefahren“, antwortet Thomas. „Hast du echt geglaubt wir wären die Mafia oder so was, dass wir einen BMW verscherbeln?“
 

Er lacht. Mir jedoch gefriert das Blut in den Adern. Thomas hat mich angelogen. Der Wichser hat seine Wichskarre wieder. Dabei wollte ich ihm den Wagen extra abjagen um ihm noch eine auszuwischen. Und Thomas’ Eltern wissen jetzt wer mein Vater ist. Kacke!
 

„Das hättest du nicht tun sollen“, knurre ich, werfe einen wütenden Blick zu meinem Freund, der beschwichtigend die Hände hebt.
 

„Wenn wir es nicht getan hätten, dann hätte dein Alter einen Grund gehabt dich anzuzeigen. Und die Bullen hätten dich schneller eingesammelt als dir lieb gewesen wäre. Ich glaube kaum, dass es das ist was du wolltest, oder?“
 

Ich bin noch immer wütend, aber ich nicke zerknirscht. Er hat es nur gut gemeint und ich kann ihm und seinen Eltern wahrscheinlich echt dankbar sein, aber es kotzt mich trotzdem an. Am liebsten würde ich ihm eine Delle rein treten.
 

„Lass es!“, warnt Thomas, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. „Mach es nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist, okay? Schau lieber mal zur Tür.“
 

Ich wende mich um, schon auf das Schlimmste gefasst, als ich die Statur meines kleinen Bruders wahrnehme. Er ist größer geworden, die Haare sind länger, aber er hat noch immer das kleine Kindergesicht von früher. Auch wenn er jetzt schon neun ist.
 

„Jamie… oh mein Gott, Jamie!“, schreie ich, laufe auf ihn zu, packe ihn und ziehe ihn fest an mich. Sein Schluchzen dringt an meine Ohren, ich sauge den Duft ein, der von ihm ausgeht. Ich hab meinen kleinen Bruder wieder. „Jamie, Himmel! Geht es dir gut?“
 

„Ja“, jappst er, heult laut auf, gräbt seine Finger in meine Jacke und will wohl nie wieder los lassen. „Ich hab dich vermisst, geh nicht wieder weg. Bitte. Geh nicht wieder weg.“
 

„Jamie, ich… kann nicht. Tut mir Leid“, spreche ich leise, löse mich von ihm und wische ihm die Tränen von den Wangen. „Ich kann nicht hier bleiben. Es ist nur für heute.“
 

„Nein! Warum? Warum läufst du wieder weg?“
 

„Das ist nicht mehr mein Zuhause. Ich habe jetzt eine eigene Wohnung, Freunde, einen Job. Alles was ich immer wollte.“
 

„Und was ist mit mir? Du hast versprochen, dass du mich mitnimmst!“
 

„Das werde ich“, versuche ich ihn zu beschwichtigen, ziehe ihn wieder in meine Arme. „Das werde ich. Versprochen. Ich werde dich mitnehmen. Aber nicht heute.“
 

„Wann dann?“, fragt er leise, schlingt seine Arme um meinen Nacken.
 

„Wenn du älter bist.“
 

„Wann?“
 

Ich muss lachen. Er ist hartnäckig und richtig stur. Langsam aber sicher wird Jamie älter. Der süße Junge in ihm scheint sich zu verabschieden. Wenn ich nur da sein könnte um das mitzuerleben.
 

„An deinem sechzehnten Geburtstag. Wenn ich dich gefahrlos zu mir holen kann. Sechzehn, hörst du?“
 

„Wie lange ist das noch hin?“
 

„Rechne es dir aus. Du bist jetzt neun Jahre.“
 

Er verzieht missmutig das Gesicht, als er es sich ausgemalt hat.
 

„Das ist erst in sieben Jahren! Das ist viel zu lange, ich will jetzt mit.“
 

„Es tut mir leid. Das geht nicht, Jamie“, widerspreche ich ihm, lege ihm eine Hand auf die Schulter. „Das gäbe zu viel Ärger. In sieben Jahren, okay? Freu dich doch drauf.“
 

Millennium.
 

Jamie zieht eine Schnute. Er schmollt. Doch ich kann nichts daran ändern. Wenn er sechzehn ist hat er rechtlich gesehen die Möglichkeit auszuziehen. Auch das weglaufen ist dann einfacher. Zwar haben meine Eltern mir nie jemanden hinterher geschickt, aber selbst wenn sie es getan hätten, hätte ich beim Sozialamt genug Gründe vortragen können, weswegen man mir eine eigene Wohnung genehmigt hätte.
 

So habe ich meinen Eltern auch noch zusätzliche Kosten erspart, denn wäre mein Auszug auf offizieller Ebene geschehen, hätten sie mir eine Wohnung und meine Unterhaltskosten auszahlen müssen. Ich bin für mich selbst aufgekommen.
 

„Raphael, bist du das?“
 

Ich richte mich auf, schaue in das abgezehrte Gesicht meiner Mutter.
 

„Mum“, nicke ich ihr zu. Ich schiebe Jamie hinter mich, gehe nur zögerlich auf sie zu. Weder eine Umarmung, noch ein Handschlag. Eine Berührung wäre mir unerträglich.
 

„Ist das dein Freund?“ Sie deutet auf Thomas, der ans Auto gelehnt dasteht und zu uns herüber blickt. Ich schüttle den Kopf.
 

Ein Freund. Mein bester Kumpel.“
 

„Es tut gut dich zu sehen. Komm doch rein, bitte.“
 

„Nein“, lehne ich ab. „Ich hab mir geschworen nie wieder ein Fuß in dieses Haus zu setzen.“
 

„Ach Raphael, bitte. Komm nach Hause zurück. Ich flehe dich an.“
 

Ihr Gesicht wirkt müde und zerfurcht von den Jahren ihres Leidens. Aber es erweicht mich nicht mehr. Sie hatte die Wahl. Und nun muss sie mit ihrer Entscheidung leben. Schließlich wusste sie worauf sie sich einlässt.
 

„Es war deine Entscheidung. Er oder ich“, gebe ich unerbittlich zurück, streiche Jamie dabei beruhigend über den Kopf. „Du hast ihn genommen und mich verloren. Fairer Deal.“
 

„Das ist nicht fair“, widerspricht sie. „Das ist Erpressung! Warum muss ich mich zwischen meinem Mann und meinem Sohn entscheiden? Warum tust du mir das an?“
 

„Ich?“, schreie ich wütend, bemerke wie Thomas sich vom Auto abstößt und auf uns zukommt. Ich winke ab und er bleibt zurück. „Ich habe nichts getan, hörst du, gar nichts! Er hat mich nicht geliebt und er hat auch dich nicht geliebt! Wir waren nie mehr als eine soziale Verpflichtung für ihn! Du hast doch keine Ahnung wie er hinter deinem Rücken über dich spricht! Du willst es gar nicht hören!“, keife ich völlig außer mir, bin sogar kurz davor zu einer Ohrfeige auszuholen. Einzig und allein Jamies Anwesenheit hält mich davon ab.
 

Ich will nicht so sein wie mein Vater. Ich bin kein Schläger, aber es macht mich rasend zu sehen wie meine eigene Mutter noch immer die Augen davor verschließt was für ein Scheusal mein Erzeuger ist.
 

Ich weiß selbst gut genug, dass es auch eine andere Zeit gab. Eine Zeit, in der mein Vater mich liebte und sie auf Händen trug, aber das ist lange vorbei. Seit meinem sechsten Lebensjahr habe ich keine gute Erinnerung mehr an ihn und seit ich acht bin hat er mich geschlagen. Acht lange Jahre habe ich das ertragen, aber dann war es genug.
 

Und meine Mutter hat weggesehen. Sie kam danach zu mir, sagte mir, ich solle ihn nicht reizen, er wäre ja nur überarbeitet und es würde alles wieder gut werden. Aber das ist es nie. Es wurde schlimmer. Und das sie täglich zur Flasche greift scheint sie auch nicht zu realisieren. Sie ist nie betrunken, aber sie stürzt mehrmals am Tag ein Weinglas hinunter.
 

„Ich liebe dich, das weißt du“, spreche ich leise und der Drang sie zum umarmen wird übermenschlich. Aber ich darf mich nicht noch einmal einlullen lassen. „Zusammen können wir es schaffen. Gemeinsam in eine schöne Wohnung ziehen, ich gehe arbeiten und Jamie besucht weiterhin die Schule. Und du ruhst dich einfach aus, bis es dir besser geht. Wir könnten…“
 

„Was redest du da schon wieder?“, unterbricht sie mich forsch. Ihre Augen schauen gequält zu mir auf. Ihre ganze Gestalt ist eingesunken. Von ihrer einstigen Schönheit ist nichts mehr übrig. „Wir haben es hier gut. Ein schönes Haus und…“
 

„Sei still!“, schreie ich, schlage mit voller Wucht gegen die Häuserwand. Ich höre meine Knochen knacken, spüre den Schmerz, das betäubende Gefühl, das mein Gehirn überflutet als ich realisiere, dass ich mir die Finger gebrochen habe.
 

„Wenn du nicht endlich aufwachst ist es bald zu spät!“ Ich zittere am ganzen Körper, es bringt mich fast um sie so zu sehen. Noch viel fahler als vor zwei Jahren. „Ich werde dir Jamie wegnehmen, hörst du? Wenn du bei ihm bleibst, komme ich wieder und hole mir Jamie!“
 

„Nein!“, kreischt sie, stürzt auf mich zu, krallt ihre dünnen Finger in meine Jacke. „Nicht meinen Jungen! Nicht mein Kleiner! Warum tust du mir das an? Er ist mein Sohn!“
 

„UND DAS BIN ICH NICHT?!“ Jegliche Beherrschung ist gewichen. Ich spüre nur noch Wut und Abscheu. Jamie weicht zurück, flüchtet sich hinter Thomas, der ihn beschützend in den Arm nimmt. „BIN ICH ETWA NICHT DEIN SOHN?!“
 

Nebenan geht die Tür auf und Ute – die Nachbarin - kommt heraus, starrt verwirrt zu uns herüber.
 

„Raphael? Oh mein Gott…“, ruft sie aus, doch ich ignoriere sie.
 

„ER MACHT DICH KRANK, VERSTEHST DU DAS NICHT? ER HASST DICH!“
 

Ute stolpert die Treppen vor ihrem Haus herunter, rennt zu uns herüber, packt mich bestimmt und zieht mich von meiner Mutter weg, die unter meinen Worten immer kleiner geworden ist und sich beinahe apathisch hin und her wiegt.
 

„Raphael, nicht! Hör auf, du machst es nur noch schlimmer!“
 

„ES KANN GAR NICHT MEHR SCHLIMMER SEIN! ICH HABE KEINE FAMILIE MEHR!“, schreie ich sie an, hole zu einem Schlag aus, den Thomas jedoch abfängt. Ute zuckt erschrocken zurück, erholt sich jedoch schnell und sieht mir fest in die Augen.
 

„Er hat Krebs, Raphael. Dein Vater hat Krebs. Er wird sterben, hörst du?“
 

Ihre Worte gehen in dem Rauschen meines Blutes unter, das mir in den Kopf schießt als ich von dem Schmerz meiner gebrochenen Hand und meines verletzten Herzens ohnmächtig werde.
 

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2009-10-29T14:45:32+00:00 29.10.2009 15:45
Also dein Schreibstil hat mich jetzt auf ein Neues total überzeugt. Ist echt verwunderlich, was eine kurze Lesepause so ausmachen kann.
Wie du mit Worten umgehst und deine Sätze formulierst hat wirklich etwas richtig Erfrischendes. Ich kann's dir auch genauer gar nicht definieren, aber ich empfinde es so.

„Meine Eltern haben ihn kurz nach deinem auftauchen letztes Jahr hierher zurückgefahren“, antwortet Thomas. „Hast du echt geglaubt wir wären die Mafia oder so was, dass wir einen BMW verscherbeln?“
Das ist genial! Aber ich hätte es ihnen ja zugetraut *lach* Da siehst du mal, wie du uns Thomas und Co. verkauft hast... Aber ich finde diese Stelle hier ganz toll. Schön, dass wenigstens nicht der Wagen zwischen ihnen steht. Aber sag mal... hat denn Raphael gar keien Entlösung dafür bekommen? Hätte ihm doch sauer aufstoßen müssen dann...?

„ER MACHT DICH KRANK, VERSTEHST DU DAS NICHT? ER HASST DICH!“
Das merken die meisten Leute erst, wenn es schon viel, viel zu spät ist. Da kann man seine Mutter kaum für anklagen, auch wenn ich seine Wut so gut verstehen kann! Die ganze Szenen kommt mir so komisch vor... Wie er eigentlich zu Anfangs einafch nur mit einem unwohlen Gefühl da hingeht, seinen bruder glücklich(?) in die Arme schließt und dann dieser Streit, der von jetzt auf gleich so eskaliert... Ziemlich arg, aber wohl auch echt realitätsgetreu.

Und dann so ein "Schock"? Ich weiß nciht, scheint ihn ganz schön mitzunehmen. Wobei ich nicht wirklich verstehe, warum. War wahrscheinlich einfach zu viel, ne.

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Hm, eigentlich bin ich in keinster Weise verwirrt, nur interessiert, warum unser Raphael gleich ohnmächtig wird.

Tolles Kapitel. Wirklich. Hab's letztens schon gelesen gehabt, da aber kein Kommentar hinterlassen. Ich mag's aber auf jeden Fall gerne, weiter so, ja^^?
Von: abgemeldet
2009-10-27T11:33:43+00:00 27.10.2009 12:33
Ja, also da müsste ich jetzt grad mal überlegen wie verwirrt ich bin. Vielleicht zehn Prozent oder so, auf jeden Fall nicht sehr, und die Verwirrung kann ich dir sogar erklären *lach* Ist aber wieder eher so eine Sache von der ich glaube das ich sie mir hier noch selbst beantworte...

Also, erstmal finde ich es gut das er seine Vergangenheit nicht gänzlich hinter sich lassen kann, mal ganz abgesehen von Jamie, dem er ja sowieso versprochen hat ihn zu sich zu holen. Aber er hat ja auch versucht Zack noch zu erreichen und so...
Seine ganze Wut beschränkt sich einzig und allein auf den Vater und ich kann es wirklich nachvollziehen, er ist schließlich echt ein Arsch.
Das er immer noch gewillt ist der Frau, die ihm jahrelang nicht geholfen hat sondern lieber die Augen vor dem Offensichtlichen verschließt, noch zu helfen, zeugt ja nur davon das er sich sicher ist das seine Mutter damals wie heute einfach nicht dir Kraft hat aus eigenem Antrieb dieses Scheusal zu verlassen. Sie ist wohl so das beste Beispiel für die Menschen, die aus Bequemlichkeit bei jemandem bleiben der es nicht wirklich gut mit ihnen meint. Auch ihr Ausspruch, sie hätten es doch so gut, DAS HAUS wäre so schön, fand ich sehr bezeichnend. Das sie leiber an das Seelenheil ihrer Kinder denken sollte, scheint ihr nicht in den Sinn zu kommen. Ich glaube die Frau hat aufgegeben.

Jamie tut mir wahnsinnig leid. Ich schätze mal er leidet am meisten von allen unter der Situation und mir tut es leid für ihn das Raphael ihn nicht jetzt schon mit sich nehmen kann. Aber das würde wohl wirklich nur Probleme mit sich bringen, denn selbst wenn die Mutter nichts machen würde, das Scheusal von Vater würde etwas tun. Vielleicht nicht weil er Jamie so liebt, sondern einfach nur weil er Raphael so sehr hasst und die Beiden nicht zusammenbleiben lassen will. Und wenn er Jamie dann wieder ebi sich hätte müsste der darunter leiden.

Das 'die Wende' genau am Millenium sein wird finde ich ... mir fällt grad das passende Wort nicht ein. Jedenfalls werden so weder Jamie, noch Raphael den Tag vergessen.

Thomas scheint Raphael wirklich ein guter Freund zu sein. Schließlich haben er und seine Eltern dafür gesorgt, dass das gestohlene Auto wieder beim Vater landet und Raphael damit eine Menge Ärger erspart blieb. UNd auch das er als Unterstützung mit ihm zu seinem Elternhaus fährt ist bezeichnend.

Naja, ich fand das Kapitel gut, es war leicht zu lesen, gut verständlich und hat einem einen guten Einblick in Raphaels Gedanken und Handlungen gegeben. Wobei man am Ende ja sagen muss das er besser aufpassen sollte nicht so zu werden wie sein Vater, nach dem Ausraster Oo
Und ich bin ebenfalls gespannt, was die Nachricht bei ihm auslösen wird, was es für alle bedeutet.

LG Rhiska
Von: abgemeldet
2009-10-26T17:19:44+00:00 26.10.2009 18:19
Hmmm...Mein aktueller Verwirrtheitsgrad beträgt: 30% würde ich jetzt mal behaupten. Also, durch dieses Kapitel wurden einige Fragen auf jeden Fall geklärt udn die Geschichte wurde durchschaubarer, auch dank deiner netten ENS^^
Ich frage mich halt noch immer, was es mit Erichs Vater auf sich hat udn mit Erich an sich^^ Und natürlich, wo die Verbindung zum ersten Kapitel ebsteht, aber ich kann warten, bis es erklärt wird^^

Ja, jetzt zu dem Kapi an sich. Ich muss sagen, dass es schon unter die Haut geht. Vor allem die letzten paar Seiten, wo Rapha mit seiner Mutter spricht und seinem kleinen Bruder. das mit dem Bruder ist herzerweichend und mit der Mutter die Unterhaötung ist einfach traurig. Ich kann nciht verstehen, wie man sich selber und vor allem seine Kinder einem solchen menschen aussetzt! Ich meine, was ist das für eine Mutter, die den Vater schlagen lässt udn einfach wegsieht?! Ich versteh so etwas nicht. Da setzt bei mir der Verstand einfach aus. das will wirklich nciht in mein gehirn. Sicher, labern sie dann einen von wegen: Er meint es nciht so, oder er hat euch doch lieb, oder die Weiber haben Angst, alleine über die Runden zu kommen! Aber sehen, was sie ihren Kindern damit antun, das können sie nicht! Ich reg mich gerade so auf! Ich könnt echt kotzen, wenn ich sowas mitkriege! Das ist jetzt keine Kritik an deiner Geschichte^^ Ich find es super, wie du es geschrieben hast udn wie du das Thema einbringst. Wirklich klasse. Mich regt die Realität nur auf, die du sehr gut widergespiegelt hast.
Ja, udn dann der Satz, der Vater hättte Krebs. Als wenn es Rapha dadurch besser gehen würde. Als wenn seine Taten dadurch gerechtfertigt werden würden! Als wenn er dadurch ein anderer Mensch werden würde!
Meine Güte, diese Leute haben echt eine leicht verblendete Sichtweise!

Ich muss damit jetzt aufhören! Ich werd so wütend^^

Ich fand die Szene mit chris so süß. Und wie Rapha ihm geholfen hat^^ Das ist echt so knuffig gewesen^^ Zum Glück kam das am Anfang, sonst hätten mich emine Hasswellen auf Schlägereltern wohl um einiges an Gefühlen gebracht^^

Und Thomas finde ich auch klasse. Und seine ganze Familie ist klasse^^
Ich mag Thomas^^

Ich fand das Kapi wirklich super und ich freue mich schon auf das nächste! ich bin mal gespannt, wie Rapha auf die Nachricht reagieren wird, wenn er aus der Ohnmacht erwacht^^

LG Loona


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