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Seth

von

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Seth
 

Es war eine düstere Novembernacht und ich war allein Zuhause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah die Silhouette einer schmächtigen Gestalt mit einer überdimensionalen Sense in der Hand, deren wie ein Halbmond geformte Sichel im Widerschein des Lichts glänzte. Kurz darauf verdunkelte sich der Raum, als dichte Wolken sich vor den Mond drängten, der bis eben durch die Decke geschienen hatte. Was zum Teufel...?

Mein Blick wanderte ungläubig von dem Loch in der Zimmerdecke zu dem ungebetenen Gast, dessen Konturen ich nun besser erkannte, da meine Augen nicht mehr vom Licht geblendet waren. Sein Körper hob sich deutlich von der Dunkelheit um ihn herum ab und ich erkannte die Gesichtszüge eines Jungen, der kaum älter als fünfzehn Jahre sein mochte.

Nach etwas, das mir wie eine Ewigkeit vorkam, überwand ich meine Sprachlosigkeit und schrie ihn an: „Bist du bescheuert, mitten in der Nacht hier hereinzuplatzen und ein riesiges Loch in unserem Dach zu hinterlassen?“ Wütend schnappte ich nach Luft, wild in Richtung der Decke gestikulierend. Doch der Bengel ignorierte meine Worte vollständig und sprach stattdessen mit einer Stimme, die mir kalte Schauer über den Rücken jagte: „Ich bin der Tod, der alle Liebenden trennt. Ich bin der Tod, der Häuser und Burgen zerfallen lässt. Ich bin der Tod, der die Gräber füllt. Ich bin der Tod, der...“

„Schon gut, ich hab's kapiert!“, schnitt ich ihm das Wort ab. Es war einfach gruselig, dieser dunklen Stimme weiter zuzuhören, die so gar nicht zur jugendlichen Erscheinung des Burschen passte. Ganz zu schweigen davon, was er sagte. Der Tod? Das musste ein schlechter Traum sein. Doch ich wurde schnell eines Besseren belehrt. Mit einer raschen Bewegung richtete er seine Sense auf mich und fuhr in bedrohlichem Ton fort: „Clara Wesley, ich bin gekommen, dich zu holen! Deine Lebenszeit ist abgelaufen!“

Diese Begegnung wurde immer ärgerlicher. Geschickt duckte ich mich unter der Sense hinweg, sprang zur Tür und betätigte den Lichtschalter. Damit hatte der Bengel offenbar nicht gerechnet, und weniger noch mit der Kopfnuss, die ich ihm postwendend verpasste, denn er sah mich mit genau der Ungläubigkeit an, die mich vor kurzem noch gelähmt hatte. Ich bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick, verschränkte die Arme vor der Brust. „Was zum Teufel redest du, Bengel?“ Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. Seine seltsame Kleidung, bestehend aus einem schwarzen Gothic-Lolita-Kostüm und einem Kurzmantel derselben Unfarbe fügten sich seltsam harmonisch in die absurde Situation.

Der Junge rieb sich den offenbar schmerzenden Hinterkopf und jammerte, in nunmehr kindlichem Ton: „Was soll das? Ich mache auch nur meine Arbeit.“ Dann kramte er aus einer Innentasche seines Mantels ein Stück Papier, faltete es auf und reichte es mir. „Und übrigens heiße ich Seth.“

Sein trotziger Tonfall machte mich lächeln. Noch im Lesen antwortete ich: „Wie auch immer. Seth. Du liegst falsch. Ich bin nicht Clara Wesley. Mein Name ist Selina Curdroy. Frau Wesley wohnt nebenan.“ Als ich von dem Papier aufsah, das tatsächlich so eine Art Lebensvertrag zu sein schien, bemerkte ich Seths weinerlichen Gesichtsausdruck. Er ließ die Sense sinken und schluchzte, offenbar um Fassung ringend.

Plötzlich bekam ich Mitleid. „Hey, nun lass dich nicht hängen, du hast dich nur in der Tür geirrt. Oder besser: im Dach.“ Mein Blick wanderte abermals nach oben.

Seth folgte meinen Augen und brachte kleinlaut eine Entschuldigung vor. „Tut mir Leid, ich bringe das wieder in Ordnung.“ Seine Sense zerschnitt die Luft, er murmelte ein paar unverständliche Worte und wie durch ein Wunder fügten sich die Teile einem Puzzle gleich zusammen, bis es aussah, als sei nie etwas geschehen. Für einen Moment war ich sprachlos.

„Wie... wie hast du das gemacht?“

„Ein Erinnerungszauber“, sagte Seth leichthin, indem er die Sense absetzte. „Ich muss gehen. War nett, dich kennenzulernen.“

„Halt, warte, nicht so schnell!“, hielt ich ihn auf, erwischte einen Rockzipfel und zog ihn daran zurück.

„Was ist? Was willst du noch?“ Er klang genervt und zupfte seinen Rock zurecht. Seine Augen funkelten mich an.

„Willst du mitten in der Nacht die alte Lady aufwecken?“

„Das ist nicht deine Angelegenheit, Selina Curdroy. Ich habe einen Auftrag zu erledigen.“

„Möchtest du Kekse?“

Im Nu bröckelte seine Ich-bin-ja-so-erwachsen-Fassade, und kindliche Erwartung spiegelte sich in seinen Augen. Ein Grinsen huschte über mein Gesicht. Er war so leicht zu überlisten!

Keine zwei Minuten später saßen wir zusammen in der Küche bei heißem Kakao und den versprochenen Keksen. Seth hatte die Sense beiseite gestellt, seinen Mantel abgelegt und widmete seine Aufmerksamkeit nun gänzlich dem Mitternachtssnack. Während ich meinen Kakao trank, kam ich nicht umhin, Seth genauer zu mustern. Es fiel mir schwer zu glauben, dass dieser blonde Bengel, dem die kurzen Haare tief in die Stirn fielen, der Gevatter Tod sein sollte. „Sag mal.“

Er sah von seinem Teller auf.

„Wie kommt es, dass du es auf Frau Wesley abgesehen hast?“ Ich weiß nicht, was ich mir bei der Frage gedacht hatte, vielleicht trieb mich pure Neugier.

„Ich habe es nicht auf sie abgesehen“, meinte Seth ruhig, nachdem er den letzten Keks aufgegessen hatte, „Aber ihre Zeit ist um. Und da sie sich weigert, ihren Teil des Vertrags zu erfüllen, wurde ich geschickt, um sie zu holen.“

„Verstehe.“ Genau genommen verstand ich nicht das Geringste. Doch Seth erzählte unbeirrt weiter: „So läuft das eben. Ich weiß nicht, weshalb diese Wesley sich weigert zu sterben, aber es gibt keine Ausnahmen.“

Ich seufzte bei seinen letzten Worten. „Weißt du das wirklich nicht? Die wenigsten Menschen möchten ihre Lebenszeit hergeben. Es ist nur natürlich, dass sie ihr Leben so lange wie möglich auskosten möchte.“

„Das mag so sein. Aber der Tod ist nicht das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann.“

Ich staunte immer mehr. Der Bengel schien doch erwachsener zu sein als ich dachte. „Wie meinst du das?“, hakte ich nach.

„Das Schlimmste ist, zu verlernen, wie man lebt. Du solltest das doch am besten wissen, Selina Curdroy.“

Meine Augen weiteten sich. Wie konnte er davon wissen? Wissen, dass mich, seit ich meine Eltern verloren hatte, beinahe jede Nacht Albträume von ihrem Unfall heimsuchten und ich wünschte, an jenem Herbsttag mit ihnen gestorben zu sein. Dass ich im Haus meiner Tante nie wieder richtig glücklich war, ganz gleich, wieviel Mühe sie und mein Onkel sich gaben.

Deswegen hasste ich düstere Novembernächte.

Seth schwieg eine Weile und stand schließlich vom Tisch auf. „Danke für die Kekse und den Kakao.“ Schwungvoll warf er sich seinen Mantel über, ergriff seine Sense. „Danke für das Gespräch. Ich verstehe Frau Wesley nun besser. Dennoch...“

„Ich weiß. Keine Ausnahmen. Aber bitte,“ sagte ich mit einem nachsichtigen Lächeln, „lass ihr Dach heil.“

Seth lächelte ebenso. „Keine Angst. Diesmal nehme ich die Tür.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  dasFragment
2010-06-19T16:19:24+00:00 19.06.2010 18:19
>>Willst du Kekse?<<
Da hat meine Siz voll recht! Das war zu gut~~
(Ohne sie hätte ich diese süße kleine Story gar nicht entdeckt!!!)
>D
Ich fand die Geschichte tollich >.<
Vor allem Seth's Kleidungsstil X///3
*gleich in die Favos packt*
Von:  BlindDemon
2010-06-16T14:27:21+00:00 16.06.2010 16:27
"Möchtest du Kekse?"!
x//3

Boah, ich glaube ich habe mich in diese Geschichte verliebt! Das hat mir echt gut gefallen, meine Liebe *__* Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?
Ich mag es auch, wie du den "Gevatter Tod" dargestellt hast - genial!
Und dein Schreibstil ist sowieso toll!

Vielen Dank für die tollen Minuten, in denen ich diese Geschichte lesen durfte^^


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