Zum Inhalt der Seite

Weiße Amaryllis

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Weiße Amaryllis

*Taschentuchbox hinstell*

Allen, die näher am Wasser gebaut sind, empfehle ich, legt euch welche in eure Nähe, es könnte nötig werden.
 

http://www.youtube.com/watch?v=eoTbrZlRzYI&feature=related Ludovico Einaudi - The Snow Prelude N. 15
 

Weiße Amaryllis

26.09.2009
 

Meine Hände sind um das Lenkrad gekrampft, so stark, dass die Fingerknöchel schon hervortreten und meine Finger weiß werden. Wie lange ich schon so im Auto sitze ... ich habe keine Ahnung. Die Zeit ist für mich bedeutungslos geworden.

Zeit ... Was ist das überhaupt? Sie ist von Menschen definiert, von ihnen gemacht, um die Welt einzuteilen. Damit wir sagen können, was ein Tag ist, Stunden, Minuten, Sekunden. Überall um uns herum ist die Zeit, an fast jedem Handgelenk, in jedem Haus trifft man auf sie. Dieses kostbare, unsichtbare Gut, von dem niemand weiß, wie viel er davon hat.

Auch ich weiß es nicht, aber es interessiert mich nicht mehr. Macht es wirklich so einen Unterschied, ob es Tage, Monate, Jahre oder sogar Jahrzehnte sind? Nein ... Und doch würde ich all meine Zeit hergeben, wenn ich die Uhr dadurch zurückdrehen könnte. Es wäre ja nicht viel. Nur die letzten drei Monate. Nur dieser eine Tag, den ich ungeschehen machen will. Das ist doch nicht viel, oder? Aber für mich wäre es unendlich wertvoll.

Ich hole tief Luft, schließe für einen Moment die Augen und lehne den Kopf an die Nackenstütze meines Sitzes. Im Radio spielen sie ein Weihnachtslied. Stille Nacht, heilige Nacht klingt durch das Innere meines Wagens und lässt alte Erinnerungen in mir aufsteigen. Aber was heißt alt – sie sind noch kein Jahr alt und doch kommt es mir wie eine Ewigkeit vor. Die dritte Strophe setzt an, es reicht. Ich schalte das Radio aus und greife nach der in Papier geschlagenen Blume, die auf dem Beifahrersitz neben mir liegt. Die Wagentür fällt hinter mir zu, ich schließe ab und mache mich auf den Weg.

Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen, gestern hat es den ganzen Tag geschneit. Das eiserne Tor quietscht, als ich es aufziehe und mich hindurch schiebe. Die Anlage liegt verlassen da, nirgendwo auf den Wegen sehe ich einen Menschen. Nur ein Eichhörnchen, das nach Nüssen gräbt, die es im Herbst verscharrt hat, und ein paar Raben, die auf den kahlen Bäumen sitzen, beobachten meine Schritte. Mir ist es nur recht so. Es ist mir lieber, wenn mich niemand hier sieht. So gibt es keinen, der blöde Fragen stellt, wie in den ersten Tagen und Wochen. Hätten sie uns nicht alle einfach in Ruhe lassen können? Ist ein bisschen Privatsphäre im Angesicht dessen, was geschehen ist, zu viel verlangt? Wie die Geier haben sich die Reporter auf uns gestürzt und alles, was sie finden konnten, bis ins Kleinste zerpflückt.

Nur hin und wieder schweift mein Blick nach links oder rechts, um die Inschriften zu lesen, die in die Steine eingraviert sind. Namen, Daten, dort ein frommer Spruch. Das ist alles, was von jenen geblieben ist, die sich hier befinden. Wie auf einer Perlenkette reihen sich die Steine aneinander, manche mit Gestecken geschmückt, andere noch genauso verwildert wie bei meinem letzten Besuch, doch nun unter der weißen Schneepracht verborgen. Seit jenem ersten Mal bin ich diesen Weg nicht oft gegangen und dennoch kenne ich ihn auswendig, dass ich ihn mühelos auch im Tiefschlaf jederzeit finden würde.

Die Raben krächzen ihr Lied gegen den eisengrauen Dezemberhimmel. Nicht mehr lange und es wird wieder anfangen zu schneien. Da vorne muss ich noch um die Ecke gehen, ein paar Schritte, dann bleibe ich stehen. Aus makellosem weißem Marmor erhebt sich die Stätte vor mir, auf der dein Name steht. Du warst schon immer anders als die anderen, besonders. Ja, das trifft es ... du warst immer eine ganz besondere Art von Mensch. Es ist immer noch seltsam, in der Vergangenheit über dich nachzudenken und zu sprechen. Ich muss mich endlich daran gewöhnen, das weiß ich. Wenn mir das nur nicht so schwer fiele. Es zu sagen, hat so etwas furchtbar Endgültiges.

Ich streiche über den glatten, kalten Stein, fahre mit den Fingerspitzen über die goldenen Lettern, die deinen Namen bilden. Was gäbe ich darum, statt dieses kühlen Steins wieder deine warme Haut zu streicheln, deine Finger zu spüren, wie sie durch mein Haar fahren und das Band lösen, mit dem ich sie zusammenhalte. Du sagtest einmal, du würdest mich mit offenem Haar lieber mögen, es sähe wie ein Umhang aus schwarzer Seide aus. Eine ungewöhnlich poetische Formulierung, die damals über deine Lippen kam. Wahrscheinlich ist sie mir gerade deshalb so gut in Erinnerung geblieben. Ich tat dir diesen kleinen Gefallen jedenfalls, wann immer wir uns trafen, nur zu gern. Deine Küsse brannten überall auf meiner Haut.

Das einzige, was jetzt noch brennt, sind meine Augen, rot geworden von all den Tränen, die sie in den letzten Monaten verlassen haben. Mein Blick richtet sich nach oben, hin zu der Statue, die auf deinem Grabstein steht und über deinen ewigen Schlaf wacht. Oh ja, du warst immer etwas Besonderes. Selbst jetzt noch hält dein geliebter Drache statt eines Engels seine schützenden Flügel über dich. Du warst immer so stark ... Hast dich um deinen Bruder gekümmert, deine Firma geleitet und bist mit uns zur Schule gegangen. So stark, für die meisten Menschen kühl und unnahbar, nur nicht für Mokuba und mich. Wir wussten, dass du auch anders sein konntest, dass sich deine Lippen nicht nur zu einem fiesen Grinsen für Joey, sondern auch zu einem sanften Lächeln verziehen konnten. Für deine Kraft habe ich dich immer bewundert ... und doch, vor diesem Auto, das plötzlich ankam, konnte sie dich nicht beschützen. Ich konnte dich nicht schützen ...

Wieder steigen Tränen in mir auf, lösen sich und rollen mir über die Wangen. Wie jedes Mal, wenn ich an den Tag zurückdenke, als es passierte. Es ging alles so schnell. Wie hätte ich da reagieren sollen. Damit versuchen mich alle zu trösten, aber etwas, irgendetwas hätte ich doch tun müssen!

Ich fahre mir übers Gesicht, wische die feuchten Spuren von meinen Wangen, nur damit gleich die nächsten nachdrängen können. Dabei dachte ich, ich hätte angefangen, es zu verarbeiten. Ich nestele an dem Klebeband herum, welches das Papier an seinem Platz hält, löse die Streifen nacheinander und entferne die unansehnliche braune Hülle. Andächtig drehe ich die weiße Amaryllis, die ich in der Hand halte, betrachte sie mir von allen Seiten mit ihren drei großen, glockenförmigen Blüten.

Bis vor zwei Stunden habe ich nie verstanden, warum gerade das deine Lieblingsblume war. Die Floristin, bei der ich sie gekauft habe, war so freundlich, mich aufzuklären. Sie sagte, die Amaryllis stehe in der Blumensprache für Stolz. Da konnte ich mir ein leichtes, wenn auch bitteres Grinsen nicht verkneifen. Wie überaus passend. Ich habe nie zuvor einen Menschen getroffen, der so stolz ist ... war wie du – außer vielleicht Yami, aber das ist was anderes.

Vorsichtig lege ich die Amaryllis auf den Marmor, direkt zu Füßen des Drachen. Ich vermisse dich so sehr, Seto. Warum kann ich dir nicht einfach folgen? Ich will nicht mehr, ich sehne mich danach, wieder bei dir zu sein. Nur was soll dann aus Mokuba werden.

Er ist mit seinen zwanzig Jahren kein Kind mehr ... eigentlich. Und trotzdem kommt er seither manchmal zu mir ins Bett gekrabbelt und kuschelt sich an mich, wenn er nicht schlafen kann. Durch das ganze Chaos, das dein Tod ausgelöst hat, habe ich es noch gar nicht geschafft, aus der Villa auszuziehen. Es gab und gibt so viel zu tun und ich denke, eine Weile werde ich es auch noch da aushalten. Meine Gegenwart scheint Mokuba zu beruhigen und umgekehrt ist es genauso. Wenn ich bedenke, dass er in der riesigen Villa dann ganz alleine wäre ...

Eine Schneeflocke landet auf meinem Handrücken. Als ich aufblicke, sehe ich weitere, die sich aus den Wolken lösen und sanft zur Erde fallen. Wie lange stehe ich schon hier ... keine Ahnung, aber langsam spüre ich meine Zehen kaum noch. Ich will dich nicht alleine lassen, aber ich muss. Außerhalb der Mauern, die dieses Gelände einfrieden, geht das Leben weiter, auch wenn ich das Gefühl habe, als sei meines stehen geblieben. Mit einem letzten Blick auf dich und den Drachen wende ich mich ab und mache mich auf den Rückweg. Mokuba wartet zu Hause auf mich.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Tea_Kaiba
2011-06-01T21:22:10+00:00 01.06.2011 23:22
Kleiner Soundtrack-Fail... "das Video kann in deinem Land nicht angezeigt werden".
Aber das wird mich nicht davon abhalten, die FF trotzdem zu lesen!

*back*
Hm. Okay.
Ganz ehrlich...? Das war ein bisschen... too much, finde ich. Ich mag dunkle Geschichten, ich mag symbolischen Kram (besonders Blumensprache), aber das habe ich dir nicht so ganz abgenommen.

Ist allerdings nicht so schlimm, denn Anfang und Ende deiner FF sind dafür umso genialer - ich mag den Einstieg, auch wenn du es vielleicht mit dem Räsonieren über die Zeit einen Tick übertrieben hast.
Und diese Sätze sind beinahe perfekt (wenn es im FF-verse sowas gibt):
"Außerhalb der Mauern, die dieses Gelände einfrieden, geht das Leben weiter, auch wenn ich das Gefühl habe, als sei meines stehen geblieben. Mit einem letzten Blick auf dich und den Drachen wende ich mich ab und mache mich auf den Rückweg. Mokuba wartet zu Hause auf mich."
Von:  Onlyknow3
2010-02-14T22:15:00+00:00 14.02.2010 23:15
Traurig sehr traurig,ich kann mir Seto nicht als Toden vorstellen dafür hab ich schon zu viele Seto und Joey FFs gelesen.
War mal was anderes trotzdem ist er mir Lebend lieber.

Onlyknow3
Von: Karma
2009-11-11T04:12:15+00:00 11.11.2009 05:12
Du hattest definitiv Recht mit Deiner Taschentuchwarnung. Aber vielleicht hätte ich auch beim Lesen nicht unbedingt "Bright Eyes" von Art Garfunkel hören dürfen.

'Bright eyes
Burning like fire
Bright eyes
How can you close and fail?
How can the ligth that burned so brightly
Suddenly burn so pale?
Bright eyes...'

Irgendwie passt der Song perfekt zur Stimmung der FF - so perfekt, wie die Amaryllis zu Seto passt. Und auch wenn das so wahnsinnig traurig ist, dass ich nachher meine persönlichen Niagarafällle erst mal werde trocken legen müssen, so bin ich doch froh, dass Du das hier geschrieben hast und dass ich es lesen konnte. Die Story ist einfach schön, auch wenn sie diese traurige Grundstimmung hat. Man kann Dukes Verlust dabei irgendwie fast nachfühlen - und Mokubas Verlust auch. Die Beiden tun mir einfach unglaublich leid. Am liebsten würde ich sie trösten, aber ich wüsste wohl kaum die richtigen Worte, um diesen Schmerz zu mildern. Das wird wohl so nach und nach die allgegenwärtige Zeit tun müssen - falls das überhaupt geht.

Sehr schön gemacht, auch wenn es so zum Heulen ist. Deine Wortwahl ist einfach fantastisch.
*knuddel*

Karma
Von:  cosmos
2009-10-03T18:49:10+00:00 03.10.2009 20:49
ui eine mastershipping FF. :3
ich finde sie wirklich schön geschrieben!
... aber ... aber mit charakter death. ;;
der arme seto ... und duke und mokuba. Q///Q
+weins+
die idee mit der weißen amaryllis ist schön. (:
diese blume passt dank ihrer bedeutung perfekt zu seto ... nur schade, dass
sie dazu dienen musste sein grab zu schmücken. ._.

<3
cosmos


Zurück