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Melodie des Herzens

von

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Wahre Empfindungen

Melodin schaute nachdenklich zu Rakel hinüber, die auf seinem Bett lag und wie eine besessene las. Nicht irgendeinen Roman, sondern ein Buch über Medizin. Es war sehr dick, doch sie hatte nicht einmal zwei Tage gebraucht, um den Wälzer zu verschlingen, obwohl sie wohl kaum die Hälfte von dem, was da stand, verstanden haben konnte. Doch offensichtlich wollte sie es auch nicht verstehen, zumindest das meiste nicht. Denn ab und an hatte sie eine Seite oder ein Kapitel so oft gelesen, das es selbst dem unaufmerksamsten aufgefallen wäre.

Er wusste, was sie suchte. Und er wusste, dass es ihm egal war, ob sie es fand. Es war seltsam gewesen, während Rakel nicht einsehen konnte, warum er nie wieder spielen sollte, hat es ihn kalt gelassen. Im Gegenteil, er fühlte sich ein wenig, als hätte jemand eine sehr, sehr schwere Last von seinen Schultern genommen. Vielleicht hatte dieser jemand Rakel die Last aufgebürgt?

Er schaute auf seine Hand. Die Linke. Immerhin, so musste er zumindest nicht das Schreiben neu lernen. Und wenn er das Bedürfnis hatte, so konnte er auch nur mit der rechten dem Klavier unten im Wohnzimmer ein paar Töne entlocken, das war bisher nicht geschehen. Er verstand es selbst nicht, aber er wollte gar nicht mehr spielen. Früher hatte es sein Leben bestimmt, die Musik war in manchen Nächten das einzige gewesen, was bei ihm gewesen war, wenn seine Tante mal wieder außer Haus gewesen war, für Wochen, für Monate.

Sie liebte die Musik über alles, sie hatte nie viel von menschlicher Gesellschaft gehalten, das sie Melodin bei sich aufgenommen hatte, nach dem Tot seiner Eltern, entsprang vermutlich dem Wissen, das auch er ein hervorragender Musiker war, und er sie deswegen vermutlich verstehen würde. Verstehen, wie es ein anderer Mensch, dem die Musik nicht alles bedeutete, nie tun würde.

Doch die Wahrheit war, dass auch Melodin sie nicht verstanden hatte. Nie. Im Gegenteil, wie oft nur hatte er diese wunderschönen Töne verflucht, weil nur sie es waren, die bei ihm blieben. Immer. Er hätte einen Menschen gebraucht, der ihn tröstete, der für ihn sorgte, und nicht einen, der ihn jeden Tag aufs Neue dazu zwang, etwas zu tun, was er aus tiefsten Herzen hasste, obwohl er es so gut konnte.

Er hatte sich daran gewöhnt, irgendwann hatten auch ihm die Melodien etwas bedeutet, die er so wunderbar zu spielen vermochte. Er hatte sich von ihnen in ihre eigene Zauberwelt entführen lassen und gelernt, sie aus tiefster Seele zu hassen, und dennoch vom ganzen Herzen zu lieben.

Bis er Rakel kennen lernte. Sie ließ bloß den Hass über, sie bewies ihm, dass er auch ohne die Musik glücklich sein konnte, im Gegensatz zu seiner Tante. Und doch war sie diejenige, die nicht akzeptieren wollte, dass er nicht mehr spielen konnte. Es machte ihn unglücklich zu sehen, wie verzweifelt sie nach einer Lösung suchte, doch er mochte nicht mit ihr darüber reden. Er konnte seine Empfindungen nicht so in Worte fassen, das sie es verstehen würde, und er wollte, dass sie es verstand. Alles.

Er wischte die Gedanken mit einem Kopfschütteln beiseite, setzte das strahlendste Lächeln auf, das er zustande brachte, und wandte sich zu dem Mädchen. Er sprang von seinem Fensterplatz auf und erklärte ihr fröhlich: »Ich will etwas tun! Lass uns rausgehen, im Nachbarort gibt es einen Flohmarkt!«

Sie schaute ihn wieder mit diesem Blick an. Er war nicht mitleidig, aber er war auch nicht weit davon entfernt. Er mochte ihn nicht, aber was sollte er dagegen tun? Wenn er sie darauf ansprach, bedeutete es auch zugleich, alles andere anzusprechen, und das wollte er in keinem Fall.

»Flohmarkt?«, fragte sie und setzte sich auf.

»Ja. Komm schon, es ist besser, als wenn du dir an dieser Schwarte die Augen verdirbst«, er trat an sein Bett heran und hob das Buch hoch, um es auf seinen Schreibtisch zu schmeißen. »Du verstehst sowieso kaum zwei Sätze von diesem Fachchinesisch.«

»Das stimmt schon, aber manches hilft wirklich weiter und…«, sie konnte nicht einmal ihren Satz beenden, da zog er sie schon mit einem Ruck hoch und schob sie in Richtung Tür.

»Kein aber, wir gehen jetzt«, erklärte er grinsend.

»Melodin, jetzt hör mir doch erst einmal zu!«, fauchte sie, doch er schüttelte nur entschieden den Kopf.

»Du verdirbst mit nicht die Laune an so einem schönen Tag, vergiss es«, antwortete er und schob sie die Treppe hinunter.

»Ich will dir auch nicht die Laune verderben, ich will doch bloß…«, abermals unterbracht er sie, diesmal indem er sie zu sich umdrehte und ihr mit einem Kuss den Mund verschloss.

»Ich will das nicht hören, Rakel. Weder jetzt noch irgendwann. Selbst wenn du irgendwann irgendwo etwas finden solltest, das helfen könnte, es wäre mir egal. Mal ganz davon abgesehen: Meinst du nicht auch, die Ärzte hätten daran nicht schon längst gedacht?«

Sie zögerte einen Moment, hinter ihrer Stirn arbeitete es, dann schüttelte sie langsam den Kopf.

»Schon, aber es gibt auch Fehldiagnosen und…«, es war, als hätte er vor, sie heute keinen Satz beenden zu lassen, denn schon wieder unterbrach er sie.

»Nicht jetzt, nicht heute und auch sonst nicht, mein Stern«, sagte er und legte einen Finger auf ihre Lippen. Doch er sah ein, das er sie nie zum stillschweigen bewegen konnte, wenn er ihr nicht deutlich machte, das er einfach nicht darüber reden wollte. Doch es fiel ihm nicht ein, wie er es tun konnte, ohne hinterher darüber reden zu müssen.

Doch Rakel machte sich ihre eigenen Gedanken. Ihr war es sehr wohl aufgefallen, dass er immer abblockte, wenn sie damit begann, dass er sie immer unterbracht, wenn sie ihm etwas sagen wollte, doch sie verstand nicht, was in ihm vorging. Sie vermutete, dass er keine unbegründeten Hoffnungen geweckt haben wollte, wie falsch sie damit lag, ahnte sie nicht einmal. Dabei hatte sie doch etwas so wichtiges gefunden!

Ein guter Freund ihres Vaters war Arzt und ihr Vater hatte ihm den Fall geschildert, und der hatte Rakel ein Buch gegeben, in dem sie vielleicht etwas finden konnte. Und sie hat es gefunden. Eigentlich war es ganz leicht. Im Prinzip musste sie ihn bloß davon überzeugen, einen Arzt aufzusuchen, der sich auf solche Fälle spezialisiert hatte. Vermutlich würde nicht einmal eine Operation nötig sein.

Melodin war das egal. Es störte ihn, dass er nicht mehr so gut Autofahren konnte, das er bei manchen Dingen noch Hilfe brauchte, bei anderen immer Hilfe brauchen würde, aber er hatte schnell begriffen, das er mit nur einer Hand lange nicht so Hilflos war, wie ein Außenstehender vielleicht vermuten mochte.

Eigentlich müsste Rakel dies sehen. Eigentlich müsste sie bemerken, das er seinen inneren Frieden gefunden hatte, das es ihm gut ging, so wie es war, doch sie wollte einfach nicht. Und sie schien heute ihren besonders hartnäckigen Tag zu haben, denn sie waren kaum losgefahren, da fing sie schon wieder an.

»Melodin, ich weiß, das du davon nichts hören willst…«, begann sie und schaute ihn traurig an.

»Dann hör auf damit«, antwortete er und fühlte sich mit einem mal sehr alt und müde.

»Aber ich will dir doch bloß helfen. Wieso hörst du dir nicht zumindest an, was ich dir zu sagen habe?«, ihr Blick wurde vorwurfsvoll.

»Weil ich keine Hilfe will. Ich kann es dir noch nicht erklären…«, er seufzte. Wie er erwartet hatte, schaute sie ihn mit gerunzelter Stirn an und verstand nicht.

»Okay«, lenkte er ein, »ich höre dir zu.«

»Also«, begann sie. Und dann erzählte sie. Sie sprach von diesem Arzt, sie erzählte von Techniken, die es ihm ermöglichten, irgendwann vielleicht wieder zwei Hände nutzen zu können, und er hörte ihr zu, obwohl er nicht wollte.

»Bitte, geh zumindest zu ihm hin und hör dir an, was er zu sagen hat«, schloss sie. Er überlegte einen Moment, dann nickte er, schüttelte aber sogleich wieder den Kopf.

»Ich gehe hin und höre es mir an. Aber nur, wenn du die Entscheidung, die ich dann fälle auch komplett und ganz und gar akzeptierst. Einverstanden?«, er musste auf den Verkehr achten, deswegen schaute er nicht zu ihr hinüber. Aber er sah aus dem Augenwinkel, dass sie nickte. Das reichte ihm.

»Okay, ich werde morgen einen Termin machen«, fügte er sich. Und er tat, was er gesagt hatte. Am nächsten Morgen rief er die Nummer an, die Rakel ihm gegeben hatte und machte einen Termin für den nächsten Tag aus.

Er ging hin und er hörte es sich an, er machte die Tests mit und ging wieder nach Hause, wissend, das Rakel trotzdem nicht zufrieden sein würde. Und wissend, das ihm jetzt eine sehr schwere Wahl bevorstand. Und das er sie nicht hier treffen konnte. Ohne mit Rakel zu sprechen, rief er bei seiner Tante an. Er sprach mit ihr und beschloss, dass es wohl an der Zeit war, diesem Land für eine Weile den Rücken zu kehren.



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